Dunkler Gefährte
Shareholder-Value, Schwarze Löcher und Synekdoche
Ein Vorwort von Frank Nowatzki
Kann sich noch jemand an den Roman Tödliche Injektion erinnern? 1989? Ja? Nein? Wie auch immer, jedenfalls ist es diesem seinem Intermezzo mit der deutschen Erstausgabe, aber auch meiner anschließenden Achterbahnfahrt durch die Höhen und Tiefen des Verlagslebens geschuldet, dass es stets ein bewegender Moment für mich ist, wenn sich Jim Nisbets und meine Wege kreuzen.
Obwohl sich selbst in seiner Heimat, den USA, mehrere Jahre kein Verlag mehr für ihn zuständig fühlte, ist Nisbets Œuvre weiter gewachsen; inzwischen sind es neun Noir-Romane und zwei Lyrikbände. Er schreibt immer weiter und lässt sich nicht beirren. Anfang der Neunziger musste meine selbst ernannte kulturelle Mission aus finanziellen Gründen zurückstehen, und so hatten wir nur noch sporadisch Kontakt. Während dieser Flaute standen die den Noir so liebenden Franzosen Gewehr bei Fuß, allen voran François Guerif von Payot et Rivages. Und so kam es, dass Nisbets Romane mit kleineren Unterbrechungen zumindest ins Französische übersetzt wurden. Und Jahre später kam Jim Nisbet endlich auch in den USA unter, bei dem kleinen Kultverlag Dennis McMillan in Arizona, und Dark Companion — Dunkler Gefährte — wurde sogar für den Hammett Award 2006 nominiert. Ein steiniger, schmaler, nicht enden wollender Pfad für einen Schriftsteller, den Publishers Weekly »einen zeitgenössischen Titanen des Noir« nennt und von dem es heißt, er werde nie und nimmer einen Bestseller landen, doch seine Werke würden noch gepriesen werden, wenn die der heute abgefeierten Autoren längst vergessen seien.
Richtig angefangen hatte es für Jim Nisbet nach einem Treffen mit Barry Gifford. Der war selbst Autor und da-rüber hinaus der damalige Herausgeber der Reihe Black Lizard Books, die sich die Wiederentdeckung vergessener Großmeister wie Charles Willeford, David Goodis, Dan J. Marlowe, Peter Rabe und Jim Thompson auf die Fahnen geschrieben hatte. Auf diese Weise verhalf man Letzterem nach seinem tragischen Tod im Jahre 1977 — Thompson verhungerte buchstäblich als erfolgloser Schriftsteller — zum längst verdienten Klassikerstatus. Wie keine andere zuvor wies die Zusammenstellung zudem auf eine subversive Spielart innerhalb der Kriminalliteratur hin, die damals schon erahnen ließ, wie konkurrenzlos das Genre ist, wenn anonyme, reale Verbrechen aus Zeitungsschlagzeilen literarisch verarbeitet die Makel des Systems bloßstellen. Gifford suchte unter den zeitgenössischen Autoren nach jemandem, der diesen Faden aufnahm und weiterspann. Auf Empfehlung des befreundeten Autors und Verlegers Michael Wolfe, der u.a. Jim Carrolls Basketball Diaries verlegte, sah er sich Nisbets Debüt The Gourmet an und wollte sogleich den vergriffenen Erstling für die Reihe, der später unter dem Titel The Damned don’t die auch erschien. Zudem drückte Gifford dem Autor gleich noch ein paar Jim-Thompson-Romane in die Hand, auf dass dieser sich vertraut mache mit dem Credo von Black Lizard. Jim Nisbet schrieb daraufhin Lethal Injection und Death Puppet, bevor die ruhmreiche Black-Lizard-Ära in den Neunzigern mit dem Ausverkauf an Random House schlagartig vorbei war. Das Label wurde fortan auf mainstream-freundlichere Autoren und allseits bekannte Genregrößen ausgerichtet. Für den Newcomer Jim Nisbet, der in Tödliche Injektion das US-Strafrecht an den Pranger stellte — neben seinen Thrillerqualitäten liest es sich wie ein Moratorium für Todesstrafen —, war hier kein Platz mehr.
In Paris machte François Guerif Nisbet mit dem britischen Ausnahmeautor Robin Cook aka Derek Raymond bekannt, dessen Factory-Romane zu diesem Zeitpunkt in seiner Wahlheimat Frankreich größten Zuspruch erhielten und das obwohl Raymonds literarische Gratwanderung, Weltschmerz und stringenten Thriller-Plot zu vereinen, für Leser mit Retro-Geschmack eine Tortur sein musste. In seinen Memoiren machte Raymond keinen Hehl daraus, dass er schwarze Romane schrieb, um der eigenen Ohnmacht gegenüber den Miss-Ständen in der Gesellschaft Herr zu werden und mit Staat und Verwaltungsapparat der Thatcher-Ära abzurechnen. »Die Tatsache, dass manche von uns nur in diese Welt geboren wurden, um ermordet zu werden, ist für alle Welt deutlich zu erkennen, und ebenso, dass unsere generelle Tragödie darin besteht, dass wir die Gesellschaft so definieren, wie wir glauben, dass sie sein sollte, und dazu die Begriffe derer verwenden, die sie so aufrechterhalten, wie wir wissen, dass sie nicht sein sollte.« War es das Wissen um die Wertschätzung ihrer beider Werke im französischen polar, der sie auf einen Nenner brachte, oder die Vorliebe für einen auffällig großen Wortschatz, den sie, allen Genrekonventionen zum Trotz, sprachgewaltig in ihre Noir-Romane einbrachten? Jedenfalls korrespondierten die zwei fortan regelmäßig miteinander, bis zu Raymonds Ableben 1994. Drei Tage vor seinem Tod — beide waren sich des unabwendbaren Schicksals bewusst — schrieb ihm Raymond seine letzten Worte: »Keep writing, Jim!«
Nisbet, der dem Briten zuvor den Roman Prelude to a scream gewidmet hatte, verstand diesen Aufruf als Beschwörung und machte sich wieder an die Arbeit.
***
Dunkler Gefährte erzählt von einer ehemals heilen Welt, die aus den Fugen gerät, einer Welt, die uns sehr be-kannt vorkommt. Dass ein weltweiter, deregulierter Kapitalismus auch vor dem paradiesisch anmutenden Kalifornien keinen Halt macht und seinen Tribut fordert, ist für den indisch-stämmigen Protagonisten Banerjhee Rolf verständlicherweise schwer zu verdauen. Zuerst wird seine Arbeitsstelle wegrationalisiert, um das Kapital gnädig zu stimmen und dem Shareholder-Value zu frönen, dann werden ihm auch noch seine hart erarbeiteten Pensionsansprüche streitig gemacht. Die Lebenshaltungskosten und Immobilienpreise drücken mittlerweile auch im kalifornischen Paradies. Die Trivialisierung der Massenmedien ist ihm als Intellektuellem mit akademischer Ausbildung ein Dorn im Auge. Hinzu kommen Anwohner, die ihn meiden, weil er keine amerikanische Flagge auf seiner Veranda hisst — nach den Ereignissen des 11. September 2001 nahezu ein Affront. Sein direkter Nachbar Toby Pride, ein arbeitsloser, ständig angetrunkener und bekiffter Tunichtgut, verdächtigt Banerjhee frei heraus wegen seiner dunklen Hautfarbe. In Banerjhees Welt ist längst eingetreten, was der Schriftsteller Don DeLillo kurz nach dem Terroranschlag in einem Essay prophezeite: »Die Terroristen des 11. September wollen die Vergangenheit zurückbringen.« All die kleinen, stimmigen Einzelheiten des Buches führen einen fast in Versuchung, es als Gesellschaftskommentar zu lesen. Und tatsächlich: Als Banerjhee zurückblickt — eine Rückschau, komponiert aus Jugenderinnerungen und einer Fülle von Details, die, alle zusammengenommen, sein geliebtes Kalifornien repräsentieren —, bedient sich Nisbet des Wortes »Synekdoche«, einer Redefigur, die einen semantisch engeren durch einen semantisch weiteren Begriff ersetzt oder umgekehrt. Lässt sich womöglich der gesamte Roman als Synekdoche deuten? Oder bleibt am Ende nur Banerjhees Passion für sinn- und wertfreie Himmelskörper und kosmologische Phänomene, die, von der Erde aus betrachtet, am Nachthimmel zwar wunderschön sind, aber deren Gravitation man nicht entrinnen könnte, käme man ihnen zu nahe.
Jedenfalls hatte ich beim Lesen den Eindruck, ich würde zusammen mit Banerjhee in das Gravitationsfeld eines schwarzen Loches geraten. Allein die Vorstellung, dass mir widerfahren könne, was hier dem Protagonisten widerfährt, hinterließ ein flaues Gefühl in meiner Magen-gegend. Eine Mischung aus Entsetzen, Kamikazestimmung und Sinnlosigkeit. Das Gefühl kam mir wohlbekannt vor. Obwohl es schon ein paar Jahre her ist, dass ich es empfunden habe. Es erinnerte mich an meinen alten Sparringspartner Hans B., einen ruhigen, unscheinbaren, netten Gesellen Ende vierzig, mit Schnauzer und schütterem Haar; Bademeister von Beruf, aus Tempelhof. Beide ignorierten wir gern die taktischen Anweisungen des Trainers und bevorzugten den mexikanischen Infight à la Julio César Chávez. Nach Feierabend ließen wir beim Boxen über mehrere Runden immer mächtig Dampf ab. Eines Abends sagte er nach dem Training: »Das war wieder mal geil, Mann. Wenn du mal den richtigen Kick suchst, dann komm mal mit nach Neukölln.« Damit niemand es hörte, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu: »Du suchst dir ’ne schäbige Eckkneipe mit so zwei, drei fiesen Kunden am Tresen, setzt dich daneben und starrst in dein Schultheiss. Irgendwann haben die dich vergessen. Dann sagst du: ›Wie hast du mich eben genannt, Arschloch?‹, und haust deinem Nebenmann gleich vor die Fresse. Das ist der wahre Kick. Ab und an muss man so ’nen Ausflug nach Neukölln machen.« Ich war selbst jahrelang Neuköllner und ahnte, dass das kein Witz sein sollte. Da war es, dieses flaue Gefühl im Magen, wenn man meint, eine Situation nicht mehr im Griff zu haben und nur noch debil und ungläubig vor sich hin grinst. Hans erschien irgendwann nicht mehr zum Training — von den anderen Fahrgästen unbemerkt, erlag er in der S-Bahn einem Herzinfarkt und fuhr weiter bis zur Endstation.
***
Vor Kurzem nun hat der Independent-Riese Overlook-Press die Rechte an Nisbets Backlist akquiriert, um alle Romane sukzessive wieder aufzulegen. Eine längst überfällige Würdigung für Jim Nisbet, die ihm hoffentlich zukünftig ein größeres Publikum beschert. Als es nach unserem ersten Abenteuer den Bach runterging, habe ich Jim versprochen zu versuchen, irgendwie am Ball zu bleiben. Jetzt hat es mit Dunkler Gefährte bei Pulp Master also geklappt. Welcome back on board, Jim! Doch die Frage, die sich hierzulande für Noir-Bücher wie dieses stellt, lautet: Gibt es genügend Leser, die sich fühlen wollen wie Neuköllner?
Danksagung
Man kann tatsächlich nie genug sagen, nie genug erfahren über die Physik kompakter Objekte, auch nicht über die Köpfe, die von diesem Fachgebiet fasziniert sind oder es waren. Doch der Autor ist einigen Texten zu besonderem Dank verpflichtet, vor allen anderen Simon Mittons vorzüglichem und überaus lesenswertem The Crab Nebula sowie Laurence A. Marschalls The Supernova Story. Eingefleischte Leser, die mit der vorliegenden Geschichte vielleicht ein paar Stunden verbringen, könnten ein paar Jahre damit verbringen, sich zwischen die Buchdeckel von Stuart L. Shapiros und Saul A. Teukolskys Black Holes, White Dwarfs, and Neutron Stars zu versenken. Zwischendurch vertieft in eine Anzahl klassischer, anspruchsvoller und lesenswerter Texte, darunter Stephen W. Hawkings A Brief History of Time, Albert Einsteins The Meaning of Relativity, Janna Levins How The Universe Got Its Spots, Kip S. Thornes Black Holes and Time Warfs, New Frontiers in Astronomy aus der Reihe Readings From Scientific American — insbesondere die Monografien The Natures of Pulsars von Jeremiah P. Ostriker und The Search for Black Holes von Kip S. Thorne, Otis S. Browns One Day Celestial Navigation, und, wenn schon, denn schon, Captain Joshua S. Slocums Sailing Alone Around the World.
Nicht zuletzt einen doppelläufigen Dank an Peelhead und Captain Josh Prior für die Geschichte über eine schlüpfrige Pistole.
Nachtragend sein bedeutet, jemanden mietfrei in seinem Kopf wohnen zu lassen
- Straßenschild, Ogden N.C.
In diesem Land gibt es zu viel Freiheit
- Mohammed Atta
9
Keine Bewegung setzt den falschen Akzent, schoss es Banerjhee durch den Kopf, und falsch gesetzte Akzente führen zu Verharmlosungen. Er lag auf dem Fußboden, im Schutze der Sitzfläche der umgekippten Couch, und er bemerkte, dass die Glastür, die neben ihm in die Höhe ragte, die Szenerie im Wohnzimmer widerspiegelte. Zwei Männer waren in den Raum eingedrungen. Ein dritter stand im Türrahmen. Alle waren bewaffnet, alle trugen schwarze Sturmhauben.
»Aufstehen, Lady«, sagte der Mann mit dem spanischen Akzent.
»Wow«, sagte der zweite, der hinter ihm stand und völlig vergaß, die Waffe auf Esme zu richten. »Nett.«
»Halt’s Maul«, bellte der erste Mann. »Du mit dem kleinen Schwanz.« Er richtete die äußerst ungemütlich wirkende Maschinenpistole mit Bananenclip an die Decke; den Zeigefinger längs der Sicherung, deutete er mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf die Geldscheine. »Ein guter Anfang. Wo ist der Rest gebunkert?«
Toby zwinkerte ihm zu, sah dann den zweiten Mann an und spreizte langsam die Finger. »Filz mich, Alter. Ich hab gerade selber danach gesucht. Wie du siehst, unter der Couch ist es nicht, aber hey ... «
Toby hob die Hände und drehte sich langsam um, bis er dem Mann mit der Waffe vollständig den Rücken zugewandt hatte. »Warum durchsuchst du nicht meine lohnendste Körperöffnung?«, schlug er versöhnlich vor. Er beugte sich nach vorn und furzte laut.
Die Augen des Mannes schienen vor Wut buchstäblich aus den Löchern der Sturmhaube springen zu wollen und nährten den Eindruck, sie seien imstande, dem gefügigen Finger am Abzug zu befehlen, Tobys lohnendste Körperöffnung mit Blei zu füllen.
»Hier«, fügte Toby hinzu, »gestatte mir, dir behilflich zu sein.« Mit der linken Hand spreizte er die linke Arschbacke ab, verlagerte dabei das Gewicht auf das linke Bein und schob gleichzeitig die rechte Hand in den Schaft seines rechten Cowboystiefels. Die Hand im Stiefel, riss er das Bein hoch in die Luft, drehte sich und schrie: »Arschloch!«, als er nahezu simultan den Derringer abfeuerte.
Begleitet von einem Sprühregen aus Rauch, Knochen, Fleisch und zerfetztem Leder, schickte die Explosion nicht nur den Absatz und den Großteil des roten Stiefelschaftes auf die Reise, sondern auch etliches von Tobys Spann. Tobys Kehle entrang sich ein Schrei des Schmerzes und ungläubigen Erstaunens — »Selbst JETZT fliegt mir das Scheißding aus der Hand!« —, dann kippte er vornüber aufs Gesicht. Dennoch hatte das acht Gramm schwere .357er Magnum-Geschoss den ersten Mann direkt in den Kehlkopf getroffen, mit einer Wucht, die ihn nach hinten warf, direkt in die Arme seines Kumpanen.
Der fing ihn auf, nutzte ihn ungerührt als eine Art Schutzschild und versah Tobys Rücken gelassen mit einer blutigen Steppnaht, einer Diagonalen, ausgehend von der rechten Hüfte bis hinauf zum linken Schulterblatt, als Esme ihn zweimal im linken Ohr traf — zwei Schüsse aus einer Browning-Automatik, Kaliber .25, die sie, als sie gehört hatte, wie die Küchentür zersplitterte, sofort unter dem Kissen des Rattansessels hervorgezogen hatte.
Der dritte Mann sorgte mit einem kurzen Feuerstoß aus seiner Waffe für einen kompakten Kreis oberhalb von Esmes linker Brust. Fünf oder sechs kupferumhüllte .225-Geschosse fraßen sich durch Esme und hinterließen Löcher in der Rigipswand hinter ihr. Sie brach zu Füßen des Schützen zusammen, dennoch schickte er eine zweite Salve hinterher. Und womöglich hätte er ihr den Gnadenschuss ins Ohr verabreicht, wäre er nicht von dem zweiten Schuss aus dem Derringer wie ein nasser Sack zu Boden gezwungen worden, abgegeben aus knapp zwei Metern Entfernung über dem waagerecht in die Höhe ragenden Boden der Couch, und zwar von Banerjhee.
Rauchschwaden durchzogen die nur von den Fernsehgeräten beleuchtete Atmosphäre im Wohnzimmer des kalifornischen Fünfzigerjahre-Bungalows, während draußen die unbarmherzige Stille der Vorstadt ihr Lätzchen zurechtzupfte, um ihr Mahl der Ruhe und Beschaulichkeit fortzusetzen.
Nur sehr zögerlich linste Banerjhee über den Rand der Couch, hinter der er nach Betätigung des Abzugs in Deckung gegangen war. Der Derringer hatte sich verabschiedet und in seiner Hand pochte es, als hätte er sich die Hand in einer Autotür geklemmt, doch irgendwie nahm er das kaum wahr.
Ssssssskkkkkkkrrrrrr ... ertönte es aus dem linken Fernsehgerät. »E-Mails an die Regierung.«
Alle waren tot.
Sssswwwwoooii
Fast alle.
Banerjhee kroch zum linken Ende des Sofas. Bei dem Versuch, im Dämmerlicht einen Puls zu ertasten, verirrte sich sein Finger in ein Einschussloch in Esmes Kehle. Das Mädchen musste sofort tot gewesen sein, ganz sicher.
Ssquuoii, sagte das Fernsehgerät. Flibberty-gibbit.
Im Rückwärtsgang kroch er an das andere Ende des Sofas, dann nach vorn, auf den linken Fernseher zu. Auf dem Weg dorthin glitt er mit der Handwurzel seiner blutverschmierten linken Hand über einen Haufen leerer Patronenhülsen; der Arm rutschte unter ihm weg und Banerjhee schlug mit dem Kinn gegen eine Kante des Beistelltisches. Er setzte sich auf und rieb sich das Kinn. Auf dem Beistelltisch war alles nahezu unangetastet geblieben. Das Tablett mit dem Geld, der Kokainstaub auf dem Schminkspiegel, zwei leere Martini-Gläser, ein Glas und zwei Bierflaschen, alles wirkte so neutral wie eine Requisite aus einem anderen Melodram.
Zum Schutz vor der Grelle der pornographischen Szenen schirmte er seine Augen mit der Hand ab, fand die Lautstärkeregler beider Apparate und schaltete den Ton aus. Die Bilder ließ er laufen, da er Licht brauchte.
Ein Flüstern, selbst in der Stille kaum vernehmlich, so fragil, dass es fast anormal klang, schien wie ein weit entfernter Laut auf der leichtesten aller Brisen herübergetragen zu werden.
»BJ ... «
Hätte Kali, die schwarze Göttin der Zerstörung, ihn gerufen, Banerjhee hätte nicht erschrockener sein können. Doch er war überzeugt, die Stimme war real und sie hatte sich erhoben, um gehört zu werden, und er hatte sie gehört. Eingedenk der absoluten Ruhe, die nun eingekehrt war, ging es Banerjhee durch den Kopf, dass Keine Bewegung vielleicht doch keinen so falschen Akzent gesetzt hatte.
Kali jedenfalls hätte ihn mit seinem richtigen Namen gerufen? Oder?
»Toby?«
In dem schummrigen Licht konnte er Tobys linke Hand ausmachen, der einzige Teil des Körpers, der, wenn man so wollte, nicht blutverschmiert war. Sie lag mit dem Handrücken auf dem Boden. Als Banerjhee darauf starrte, schlossen sich die Finger.
»Toby!« Beim zweiten Fernsehapparat verharrte er nur so lange, bis er ihn weiter nach hinten geschoben hatte, dann kroch er zu Toby. Er zögerte, als er bei ihm war. Durfte man einen soeben Niedergeschossenen überhaupt behelligen? Er machte kehrt und griff nach Tobys patriotischem Mobiltelefon auf dem rechten Fernseher, atmete tief durch und zwang sich zum Nachdenken. »Ich muss anrufen. Neun. Eins. Eins. Genau. Neun … eins und die Eins«, stammelte er vor sich hin. Er musste die Zahlenfolge laut aussprechen, um ganz sicher zu sein. Nie zuvor in seinem Leben hatte er diese Rufnummer gewählt. Als er das Telefon aufklappte, leuchtete das Display. Ihm fiel ein, dass jemand mal gesagt hatte, man werde mit jedem x-beliebigen Polizeirevier an der Westküste verbunden, sofern man den 911-Notruf von einem Mobiltelefon aus anwähle. Habe mit der Lage der Sendemasten oder Satellitentriangulation zu tun oder mit fortschreitender Technologie. Nun, zunächst einmal musste es reichen …
»BJ«, flüsterte Toby in den Teppich hinein.
Banerjhee ließ das Telefon fallen und kroch schnell zurück zu Toby. Er hielt es für unklug, doch nach einem Moment der Unentschlossenheit drehte er Toby so behutsam wie möglich auf den Rücken. Überall war derart viel Blut — es gab ein Geräusch, als hebe er eine Sperrholzplatte aus einem Wattenmeer.
Aus Tobys Gesicht war alle Farbe gewichen; die Palette der flackernden Bildschirme lieh ihm die verschiedensten Schattierungen, allesamt gespenstisch. Doch Toby lächelte schwach. »Du hast es geschafft, Alter.«
Banerjhee legte zwei Finger auf Tobys Halsschlagader, direkt unterhalb des Kiefers. Es war kaum etwas zu ertasten. Ein Rätsel war ihm das nicht: Ein Großteil von Tobys Blut befand sich auf dem Boden.
»Ist zwecklos«, flüsterte Toby. »Esme?«
Banerjhee blickt in ihre Richtung, sagte aber nichts.
»Scheiße«, hauchte Toby. »Ich muss … « Er schloss die Augen.
Nach einer ganzen Weile sagte Banerjhee: »Ich sollte ... «
Pride zupfte schwach an Banerjhees Fingern. Diese Geste konnte man als ein Nein lesen. Warte, sagte sie, gerade erst wurde meine Freundin in meinem Wohnzimmer erschossen. Gib mir etwas Zeit.
Nach einer für ihn nicht überschaubaren Zeitspanne unternahm Banerjhee einen erneuten Versuch. »Es muss sein«, erklärte er und blickte sich im Zimmer um. »Wir müssen die Polizei verständigen.« Er sah Toby wieder an. »Warum streite ich mich überhaupt mit dir?«
»Keine Ahnung, Alter.« Tobys Augen waren geschlossen, doch die Andeutung eines Lächelns spielte um seinen Mund. »Du kannst dich nicht mit einem Toten streiten.«
Banerjhee meinte, ohnmächtig zu werden.
»Diese Arschlöcher«, Toby öffnete die Augen, »waren nicht die Arschlöcher, die wir erwartet haben.« Er spuckte Blut, das jetzt in seinen Mundwinkeln hing. »Falsche Arschlöcher.«
Banerjhee schüttelte hilflos den Kopf. »Gibt es auch richtige?«
»Scheißkolumbianer«, lautete die Antwort. »Nebenbei ... keine Bange, unsere Kolumbianer werden garantiert gleich auftauchen. Die haben sicher wegen Munition und Aufputschmitteln irgendwo angehalten.«
»Aber ... wer ... ?«
»Wahrscheinlich jemand, der dachte, er hat leichtes Spiel mit uns, könnte uns um unsern Vorrat oder unsere Kohle oder beides erleichtern.« Er rang nach Luft. »Spielt sowieso keine Rolle mehr, wenn ich erst mal in der Hölle bin. Hoffe ich jedenfalls.«
Oh nein, Banerjhee verkniff sich seinen Widerspruch, du kommst geradewegs in den Himmel, Toby. Vereint mit Esme, für alle Ewigkeit. Sanft drückte er Tobys Hand.
Toby gab einen merkwürdigen Laut von sich, eine Mischung aus Stöhnen und einem verhaltenen Schrei der Verbitterung, und unter äußerster Anstrengung flüsterte er: »Hey.«
»Ja?«
»Weißt du, wozu sie einen im Fegefeuer als Erstes zwingen?«
»Nein, Toby, weiß ich nicht.«
»Sie zwingen einen, Windows 98 zu lernen.« Er atmete scharf ein. »Von A bis Z.«
»Was?«, Banerjhee verstand nicht. »Warum?«
»Weil es das Ticket in die Hölle ist.« Toby machte keuchende Geräusche, die — wie Banerjhee mutmaßte — Tobys neue Art des Lachens waren.
Banerjhee unterdrückte einen Seufzer. »Das passiert, wenn du nicht wiedergeboren wirst. Wenn du nicht in den Himmel kommst, wenn … «
»Wenn’s überhaupt irgendwas gibt«, sagte Toby. »Scheiß drauf. Ich hatte meinen Spaß.« Aus irgendeinem Grund geriet Tobys Fazit gleichermaßen heiter und traurig. Nachdem sein neues Lachen verklungen war, fragte er die Zimmerdecke: »Wer hat die zweite .357er abgefeuert?«
»Das hast du gehört?«
»Machst du Witze?«
»Ich war’s.«
»Hä?« Zum ersten Mal wandte Toby den Blick von der Decke hin zu Banerjhee. »Du?«
»Er hat auf Esme geschossen.«
»Du —?« Toby atmete laut aus und kniff die Augen zu.
»Er hat auf Esme geschossen«, insistierte Banerjhee.
»Du ... « Toby zwang sich zu regelmäßigen, kurzen Atemzügen. Schließlich sagte er: »Er ist zurückgekommen.«
»Der — wo?«
Toby blinzelte nach links und Banerjhee folgte dem Blinzeln mit seinen Augen. Links auf dem Boden, ungefähr dreißig Zentimeter neben dem Rahmen der Glasschiebetür, schimmerten der kleine Edelstahlrahmen und das Perlmutt des zierlichen Griffes. Der Derringer stand auf dem Doppellauf gegen die Fußleiste gelehnt, direkt neben einer Wandsteckdose. Vermutlich war das der einzige Platz im gesamten Zimmer, den Toby hatte einsehen können, nachdem er zu Boden gegangen war.
»Schieß ihn ausschließlich drinnen ab, BJ«, sagte Toby. »So findest du ihn garantiert wieder.«
Toby quälte sich mit seinem Lachen. Banerjhee, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe abgefeuert hatte und nicht beabsichtigte, jemals wieder eine abzufeuern, sah keinen Anlass zur Heiterkeit.
Tobys Lachen verebbte. »Was hat sich abgespielt?«
Banerjhee erzählte es ihm.
Nach einer Pause am Ende der Geschichte sagte Toby: »Ich habe keinen dritten Mann gesehen.«
Banerjhee erwiderte nichts darauf.
»Zwei hätten wir geschafft.« Mit schwächerer Stimme fügte er hinzu: »Esme war ein toller Partner.«
»Wie lange seid ihr ... Partner gewesen?«
Toby kniff wieder die Augen zusammen. »Drei, nein, vier Jahre. Sie war der gute Cop.« Toby lächelte schwach. »Aber das war dir vermutlich längst klar.«
»Wie bitte? ... Polizeibeamte!?«
Es schien, als wäre Banerjhees tiefe Bestürzung eine Aufforderung an Toby, sich totzulachen.
»Meine Marke trage ich im Arsch«, feixte er. »Gleich neben meinem Hirn … «
»Polizeibeamte ...? Aber ... aber das ist nicht komisch, Toby. Was habt ihr hier gemacht? Tür an Tür mit mir? Mit uns? Am Arsch der Welt? Am Arsch ...«, wiederholte Banerjhee dumpf, »der Welt.«
»Uns mit An- und Verkauf die Nahrungskette hochgearbeitet, natürlich. Wir waren hinter ein paar Kolumbianern her. Das haben wir drauf. Wir hatten ... es drauf.« Tobys Miene wurde ernst. »Hey, BJ.«
»Ja, Toby?«, antwortete Banerjhee matt, als drifte er von einem Traum in den nächsten.
»Sie sind hierher unterwegs, verstehst du? Die Kolumbianer. Hör zu. Ab einem bestimmten Punkt kann ich nicht mehr sprechen. Dann ist die Stimme weg. Hör genau zu. Ich werde blinzeln. Äh, einmal bedeutet ja. Okay? Zweimal heißt nein. Wie im Fernsehen. Du siehst nicht fern, also vertrau mir. Die machen das ständig so. Es funktioniert immer, Bj. Du musst hier verschwinden. Unpünktlichkeit ist nicht ihr Stil. Und Nachsicht mit Leuten genauso wenig, nicht mal wenn sie pünktlich sind. Warte ... «
Tobys Flüstern war kaum noch zu verstehen. »Der Krankenwagen wäre inzwischen längst hier«, machte Banerjhee seinem Unmut Luft.
»Jeder normale Sanitäter würde nur an mir rummurksen und dafür sorgen, dass ich richtig leide, bevor ich auschecke. Hast du mal gesehen, wie sie Leute auf die Trage schmeißen, wenn sie Schiss haben? Das ist unschön. Wenn nicht wenigstens ein Veteran dabei ist, wissen die überhaupt nicht, wie sie mit so einer Sauerei umgehen sollen. Hier gibt es sowieso nichts mehr zu tun. Ich bin erledigt ... Ich quassel zu viel«, fügte er sichtlich verärgert und mit Nachdruck hinzu. »Wir müssen uns auf dich konzentrieren.« Tobys Brust hob sich und seine Finger krampften sich mit erstaunlicher Kraft um Banerjhees. »BJ!«
»Ich bin hier.«
»Sei nicht hier!«
Mit einem besorgten Blick erfasste Banerjhee den Rest des Zimmers. »Aber wenn das nicht deine Kolumbianer sind, wer ... «
»Ich habe keine Ahnung. Ich wüsste es gern. Vielleicht könnte ich mein Wissen beim Teufel gegen ein Glas Eiswasser eintauschen. Jetzt schaff deinen Arsch hier raus.«
Banerjhee musterte das Zimmer.
»Na gut«, krächzte Toby. »Sieh nach, was du bei ihnen finden kannst.«
»Nachsehen, was ich finden ...?«
»Hängst du hier rum, nur um zu erleben, wie ich krepiere? Hau ab oder durchsuch ihre Taschen!«, forderte Toby Banerjhee unerwartet energisch auf. »Wie sieht’s aus?«
Mehrere Sekunden lang saß Banerjhee auf dem Boden neben Toby, hielt seine Hand und blinzelte hektisch. Dann kroch er zu der ersten Leiche hinter den Fernsehgeräten, drehte sie um und zog ihr die Sturmhaube vom Kopf.
Er war viel älter, als Banerjhee vermutet hatte, fünfzig, vielleicht fünfundfünfzig. Das Haar war ziemlich kurz geschnitten und vollkommen weiß. Die Kugel des Derringers hatte die Kehle am Kehlkopf durchschlagen und fast die untere Halswirbelsäule durchtrennt. Der Kopf hing wie an einem Seil und löste sich beinahe zusammen mit der Sturmhaube, so ziemlich das Schockierendste, dem Banerjhee bislang beigewohnt hatte.
Der Tote trug eine offene Splitterschutzweste. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, auf derartige Hürden zu stoßen. In der blutdurchtränkten Brusttasche des Jeanshemds darunter fand Banerjhee eine schmale Brieftasche.
In der Brieftasche fand er eine Marke.
Er hockte sich hin und betrachtete den zweiten Mann, den, den Esme erschossen hatte. Hinter ihm sah er die Füße des dritten Mannes, den er, Banerjhee, durch einen Schuss niedergestreckt hatte. Die Taschenlampe der drei strahlte geradewegs zur Decke. Rauch und Staubpartikel schwebten durch den Lichtkegel.
Die Marke war an einer Lederklappe der Brieftasche befestigt. Unter der Klappe befand sich ein Ausweis.
Er kroch schnell hinüber zu Toby. »Ich glaube fast, ich wünschte, diese Männer wären deine Kolumbianer gewesen.« Er hielt Toby die Marke vor das Gesicht, richtete sie dabei nach dem Schein der Fernseher aus. »Was hat das zu bedeuten?«
Toby blinzelte. Licht, das von der Marke reflektiert wurde, tanzte als heller Punkt über sein Gesicht.