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Die Hauptpersonen des Romans
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PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2773
Der Kristalline Richter
Terraner erreichen den Hafen der Zelte – sie werden Zeugen ungeheuerlicher Vorgänge
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde. Auf diese Weise zementiert das Tribunal in der Milchstraße seinen Machtanspruch, während der Widerstand dagegen massiv aufrüstet.
Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI haben in der fernen Galaxis Larhatoon in Erfahrung gebracht, dass das eigentliche Reich der Richter die Jenzeitigen Lande seien. Um dorthin zu gelangen, braucht es aber Atlan als Piloten und ein Richterschiff als Transportmittel.
Ein solches zu besorgen, ist die aktuelle Mission des Terraners. Doch Eigentümer dieses Schiffes ist DER KRISTALLINE RICHTER ...
Perry Rhodan – Der Terraner beobachtet das Wirken eines Atopen.
Gucky – Der Ilt muss seine neuen Fähigkeiten einsetzen.
Velleshy Pattoshar – Die Kommandantin der Domänenwacht blickt dem Tod ins Auge.
Bruce Cattai, Benner und Tacitus Drake – Das Venus-Team sorgt sich um Baucis Fender.
Icho Tolot und Avan Tacrol – Zwei Haluter erhalten einen Auftrag.
Loitmahd – Der Spochane erfüllt seine Aufgaben mustergültig.
Sie hielt das Zeremoniell kurz und verzichtete auf das übliche Wasserbrechen, das im Beisein von mindestens fünfzig Personen erfolgen musste. Dafür war später Zeit. Sobald ihre Arbeit auf Vlaera erledigt war.
Pattoshar nahm das traditionelle Albin-Korn und legte es in die vorgesehene Schale. Humus, Licht und eine kleine Portion Senffirnis würden dafür sorgen, dass dieser Kern neuen Lebens binnen weniger Bordtage erste Blätter trieb. Sie spuckte auf den Humus, Clocc Otym tat es ihr gleich.
»Was du bist, möchte auch ich sein«, sagte der Jüngere. »Hilf mir dabei, das Größte zu erreichen.«
»Was du bist, hoffe ich gewesen zu sein«, sprach Pattoshar die kurze Erwiderung. »Hilf mir dabei, die Fehler der Jugend niemals zu vergessen.«
Sie verbeugten sich, drückten die Emots sachte aneinander und genossen dieses intimste aller Gefühle für eine Weile.
»Du bist nun Gerhst'hok«, sagte Pattoshar. »Du bist der Sohn anstatt des Sohnes. Du bist nun Teil des Rudels und verdienst allen Schutz, den ich dir geben kann.«
Damit war der Traditionen Genüge getan. Liebe und Zuneigung, die sie so lange vermisst hatte, ließen Pattoshars Herz kräftig schlagen. Es war ein schöner Tag.
Der erste Tag ihres neuen Lebens.
Perry Rhodan
Die Kälte überraschte ihn. Sie kam so plötzlich, dass er sich nicht bewegen, keinen Finger rühren konnte, dass selbst das Schlucken zur Qual wurde.
Perry Rhodan saß in seiner geräumigen Loge, umgeben von Freunden und Begleitern. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass sie allesamt mit denselben Problemen wie er zu kämpfen hatten. Die Kälte durchdrang auf eine seltsame, nicht erklärbare Weise ihre SERUNS. Guckys exponierter Nagezahn war von einer Reifschicht überzogen, an Bruce Cattais Haar klebten silbern glänzende Eiszapfen.
Alle Besucher des Assaree Dymae litten unter den Umständen. Rhodan hörte Stöhnen, Seufzen, Gurren, Schnabelklappern, Maunzen und viele andere Geräusche, die die Vielfalt – und die Pein – der vielen Tausend Wesen rings um sie dokumentierten.
Allesamt waren sie in diesem abrupt gekommenen Schmerz gefangen. Und wenn der lähmende Kälteeinbruch nicht bald endete, der von diesem Wesen da vorn verursacht wurde, würden sie allesamt sterben.
Zwei Stunden zuvor
Rhodans künstliches Emot leuchtete grün und gelb. Die Farben sollten Zuversicht demonstrieren, Zuversicht und Vorfreude, wie ihm sein Spezial-SERUN meldete.
Er verfügte über eine Mimikry-Funktion, die das Nonplusultra terranischer Ingenieurskunst darstellte. Er gab ihnen allesamt die Sicherheit, sich in der Tarnung einer kleinen Gruppe von Onryonen ungefährdet unter den Feinden bewegen zu können.
»Bleibt in meiner Nähe!«, mahnte Rhodan Gucky und die anderen über Funk. »Ihr seid zu sehr in der Mitte des Stromes.«
Cattai schob sich wieder näher an Rhodan heran, Drake und Gucky folgten. Sie drückten sich an den Rand jener breit angelegten Prachtstraße, die von riesigen Pollern gesäumt wurde und zu ihrem Ziel führte, zu Assaree Dymae, dem Hafen der Zelte.
Zwischen den einzelnen meterdicken Stehern lauerten Straßenhändler. Die Besucher des Assaree Dymae zeigten kaum Interesse an den Waren, die die Krämer anboten. Noch nicht. So kurz vor dem angekündigten Erscheinen des Kristallinen Richters waren Erwartungshaltung und Vorfreude viel zu groß. Erst nach dem Ende des Schauspiels, so ahnte Rhodan, würden diese Geschäftsleute ihre Andenken, Preziosen und Leckereien in Massen loswerden.
»Viktualien!«, brüllte einer der Händler, ein halbmannsgroßes und eiförmiges Wesen mit weit geöffnetem Bauchmund, aus dem mehrere Zungenfäden wie glitzernde Kettchen hervorragten. »Handgeschnitzte Früchte und Gemüsearten, verziert mit den Symbolen des selig machenden Atopischen Tribunals! Kauft, Freunde, kauft euch Glück zum Essen!«
Das Eigeschöpf stampfte rhythmisch mit den dünnen Beinchen auf und reckte immer wieder seine vergleichsweise kräftigen Hände in die Höhe, in denen es radieschenähnliches Gemüse hielt.
»Urkunden, gefälschte Urkunden!«, schrie ein Humanoider mit kräftigem Steißschwanz, auf dessen breiter Brust Lügnerischer Merkantilist geschrieben stand. »Rühmt euch vor euren Freunden und Verwandten, dass ihr euch mit dem Kristallinen Richter unterhalten habt! Zeigt Beweise her, die ich mit großem Geschick gefälscht habe. Kauft Reisetickets, Visa, Besuchersticks bei mir.
Nur meine in Hausmanufaktur gefälschten Unterlagen sind gut genug, um Erbnichten, Schwipptöchter oder Zwillingscousins von eurer einzigartigen Begegnung mit diesem höheren Wesen des Atopischen Tribunals zu überzeugen. Kauft euch mit meinen Beweisen Ruhm und Ehre, kauft euch Anerkennung. Kauft Urkunden, die ich von scheinbar unbestechlichen Beamten erhalten habe, kauft Lügengeschichten, kauft gefälschte Medienbilder, die hundertprozentig beweisen, dass ihr euch mit dem Kristallinen Richter ausgetauscht habt ...«
»Der Kerl wirkt nicht sonderlich vertrauenerweckend«, sagte Cattai leise. »Aber immerhin: Er ist ehrlich. Er gibt zu, dass er lügt. Ich wünschte, er käme mal die typischen Werbefuzzis und Politdrohnen der LFT besuchen ...« Er verstummte, als er sich dessen bewusst wurde, dass er mit Perry Rhodan sprach. Mit jenem Terraner, der seit mehreren Tausend Jahren die politische Landschaft der Milchstraße mitbestimmte. »Verzeihung«, sagte er schuldbewusst.
»Ist schon gut.« Rhodan lächelte müde. Der SERUN wandelte die Mimik eines Menschen in ein Kräuseln des Emots um und in eine veränderte Farbe, in ein Türkisblau.
Er wurde gleich wieder ernst. Ihre Situation war prekär. Sie mussten überleben und gleichzeitig so viel wie möglich über den Kristallinen Richter herausfinden.
Sie hatten die Effektivität der hiesigen Sicherheitskräfte zu spüren bekommen und zwei Opfer zu beklagen: Ein Mitglied des Venus-Teams, Patrick St. John, war im Einsatz gestorben. Ein anderes, Baucis Fender, hatte Verletzungen unbekannten Grades erlitten und war von Truppen des Atopischen Tribunals verschleppt worden, ohne dass sie es hatten verhindern können. Von metallisch aussehenden Krakenungeheuern. Handelte es sich um Lebewesen oder Roboter? Diese Frage hatten sie bisher nicht beantworten können, aber auch deren Antwort interessierte Rhodan sehr.
Was war mit Farye Sepheroa geschehen, mit seiner Enkelin? Waren sie und der Techniker ihres Tarnraumschiffs nach dessen Eroberung durch die Einheiten des Tribunals sicher auf der RAS TSCHUBAI angelangt?
Rhodan schüttelte den Kopf und ließ die trüben Gedanken hinter sich. Eine Gruppe von Händlern, in etwa so groß wie aufrecht stehende Erdmännchen, kreiste sie ein und bot ihnen »ein sexuell-entspannendes Gruppenritual ohne den Einsatz der Nagezähne, und wenn doch, dann gegen geringen Aufpreis« an. Er verscheuchte die Wesen und ließ sie mit einem feurigen Emot-Bild wissen, dass er keine weiteren Belästigungen wünschte.
Er ging weiter und hielt sich weiterhin am Rand des gewaltigen Stroms an Wesen, gefolgt von den Gefährten, die auf Tuchfühlung blieben und sich dabei so unverbindlich wie möglich gaben. Rhodan wich anderen Onryonen so gut es ging aus. Ein Gespräch oder ein zu intensiver Kontakt mochten zu ihrer Entlarvung führen.
Die von Bäumen und Pollern gesäumte Straße verengte sich nun, die Wesen ringsum waren aufgeregt und verhielten sich aggressiver. Allesamt starrten sie nach vorn auf ihr weithin sichtbares Ziel. Auf jenes Gebilde, das »Hafen der Zelte« genannt wurde.
»Flatterafter!«, schimpfte ein Ornithoide einen anderen Angehörigen seines Volkes.
»Räudiger Federlutscher!«, antwortete sein Gegenüber und klapperte laut mit dem zweigeteilten Schnabel. Blaue Schriftzeichen zogen sich über das kräftige Horn, Teile der übergroßen Augenringe waren tätowiert.
Eine veritable Auseinandersetzung entwickelte sich, die Rhodan und alle anderen Wesen ringsum in einen Strudel von Gewalt zu ziehen drohte.
»Weg von hier!«, sagte Cattai. »Rasch! Die Sicherheitskräfte sind völlig überfordert. Das hier mag schlimm enden ...«
Rhodan schob sich an den beiden Ornithoiden vorbei. Er sah ein unterarmlanges Messer glitzern, ein schildkrötenähnliches Geschöpf trat mit breiten Patschfüßen gegen einen Nachbarn, der wiederum schlug Handkrallen in das Fleisch eines Sauropoden ...
Rhodan nutzte die kraftverstärkenden Elemente des SERUNS, um so rasch wie möglich weg von diesem Ort zu kommen. Drake, der umweltangepasste Oxtorner, der mit Schwerkraftverhältnissen von fast fünf Gravos aufgewachsen war, unterstützte ihn dabei. Gemeinsam schufen sie eine Gasse, durch die sie dem sich stetig steigernden Chaos entkamen. Gucky hielt sich zurück. Es war nicht notwendig, dass er seine telekinetischen Kräfte erschöpfte.
Wurden sie bemerkt? Achtete man auf die kleine Gruppe scheinbarer Onryonen, die sich überraschend schnell aus dem Epizentrum der Gewalt entfernte, viel schneller als alle anderen Wesen?
Nein. Gerade schwebten bewaffnete Onryonen herbei, schrien Befehle und stachen mit langen Lanzen von oben zu. Sie versetzten die Getroffenen in eine Art Schockstarre, sorgten aber vorerst nicht für den gewünschten Effekt. Die Aufregung wuchs und wuchs, breitete sich in konzentrischen Kreisen aus und packte immer mehr Besucher.
Es waren noch etwa zweihundert Meter bis zum Hafen der Zelte, zu Assaree Dymae. Dort gab es kaum noch Freiraum und erst recht keine Ecke, an der sie sich sammeln konnten. Nur rechts von ihnen, nahe ausgedehnter Sanitäranlagen, war das Gedränge nicht ganz so dicht. Rhodan winkte seinen Begleitern, ihm dorthin zu folgen. Endlich fanden sie ein wenig Platz und Ruhe. Das Gezänk blieb hinter ihnen zurück.
»Das war knapp«, sagte Cattai, der Intuitionist. Er hatte die drohende Gefahr erahnt.
Rhodans SERUN vermittelte ihm die Gesundheitswerte des Teams. Allesamt hatten sie einen deutlich erhöhten Puls. Der Tod ihres Kameraden wirkte sich auf Psyche und Physis gleichermaßen aus.
»Es stinkt bestialisch!«, sagte Drake, während sie sich neben einer der kleinen Hütten neu gruppierten. Das Emot des Oxtorners des Venus-Teams zeigte gehörigen Ekel.
»Niemand sagte, dass der Ausflug nach Vlaera ein Zuckerschlecken werden würde«, entgegnete Rhodan. »Warten wir, bis sich die Lage beruhigt hat. Es ist noch Zeit bis zur Audienz des Atopen von Assaree Dymae. Der Kristalline Richter hat sich noch nicht blicken lassen.«
Er betrachtete einen der Besuchersticks, die er auf dem Schwarzmarkt für sie alle erstanden hatte. Er wirkte harzig. Im Inneren war eine Art Schneeflocke eingegossen, deren Form, so hatte ihm der Händler versichert, einzigartig war und ihm Zutritt zum Hafen der Zelte verschaffen würde.
Wie auf Kommando drehten sie sich alle dem überdimensionierten Bauwerk zu, das ein wenig einem Zirkuszelt ähnelte. Es war in der Grundform zylindrisch – und weit mehr als hundert Meter hoch. Die von der Mittelstange nach allen Richtungen weggespannten Stoffbahnen wirkten luftig und so, als hätten sie kaum ein Gewicht. Manche von ihnen knatterten fröhlich im Wind, andere blieben völlig ruhig.
Seitenstangen hielten das Zelt in Form; allerdings waren nirgendwo Stützseile zu sehen, die an weiter außen stehenden Pflöcken befestigt waren. Es wirkte so, als benötigte es keinerlei Abspannvorrichtungen. Das Assaree Dymae trug sich selbst, auf eine Weise, die Rhodan rätselhaft blieb.
Er betrachtete einen der Zeltaufbauten. Er ragte wie ein Kamin steil nach oben und hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Minarett, auf dessen Spitze wiederum ein überdimensionierter Quader angebracht war. Das Minarett-Gebilde war aus demselben dünnen Stoff gefertigt wie das Hauptzelt. Sanfte Farbtöne herrschten vor, mitunter zeigten sich stockgelbe Flecken.
Neben dem Kamin wuchs eine Kuppel wie eine Warze aus dem Hafen der Zelte, eine Blase mit etwa zehn Metern Durchmesser, die der Schräge des Dachfirsts angepasst war. Von der Blase führte ein Schlauch zu einem weiteren Gebilde, einer auf die Spitze gestellte Pyramide, auf der wiederum ein Kegelstumpf saß. Der Hafen der Zelte wirkte, wenn man die Details betrachtete, völlig uneinheitlich und verwirrte den Betrachter. Doch wenn Rhodan den Gesamteindruck des luftigen Bauwerks längere Zeit auf sich wirken ließ, bemerkte er seine wahre Schönheit und die Genialität seines Baumeisters.
»Wir sollten weitergehen«, drängte Gucky. »Die Situation hat sich beruhigt, die beiden Ornithoiden wurden getrennt.«
Rhodan betrachtete die vorbeiströmenden Wesen. Die Stimmung wirkte gedrückt. Einige Onryonen wirkten irritiert. Den Streit, den sie miterlebt hatten, zerstörte die eigentliche Freude auf das Erscheinen des Kristallinen Richters.
»Es gab Verletzte«, sagte Gucky kurz angebunden. »Die Sicherheitskräfte haben rigoros durchgegriffen. Und sie haben damit eine Panik verhindert, die womöglich Opfer gekostet hätte.«
»Ist es nicht immer so?« Rhodan schüttelte den Kopf. »Um das große Ziel zu erreichen, muss man schmerzhafte Opfer bringen.«
Gucky schob sich näher an ihn ran. »Ich will jetzt keine Plattitüden hören, Perry. Es ist nicht einfacher geworden mit meiner neuen telepathischen Gabe.« Das vermeintliche Onryonen-Kind schüttelte den Kopf. »Früher las ich die Gedanken von Verletzten oder gar Sterbenden und bekam ihre letzten Ideen ... vermittelt. Ich habe Tausende auf ihrem Weg in den Tod begleitet. So lange, bis sie erloschen. Das war schrecklich. Heute ist es umso schlimmer. Ich begleite sie in ihren Gedankenbildern. So lange, bis der Film reißt. Dann ist nur noch ... nur noch ...«
»Ist schon gut, Kleiner. Du musst ...«
»... dann kommen die Dämonen. Bilder, die aus der Todesangst heraus entstehen, aus Furcht vor dem Unbekannten. Ich sehe diese Angstgestalten nur ganz kurz aufblitzen, so, dass ich sie kaum erfassen kann. Und dennoch bleiben sie mir im Gedächtnis haften.«
»Du musst dich besser abgrenzen, Gucky.«
»Das ist leichter gesagt als getan. Es ist, als würdest du jemandem befehlen, er solle nicht an einen Hammer denken. Ich sehe Sterbensbilder, und sie üben einen Sog auf mich aus, dem ich mich kaum widersetzen kann.«
»Ich verstehe.« Rhodan nickte. So stabil der Mausbiber wirkte – er hatte den Verlust und die Neujustierung seiner Mutantenfähigkeiten längst nicht verarbeitet. Schließlich entsprachen sie nicht seinen seit den Kindheitstagen gewohnten Möglichkeiten. Sie waren ihm fremd und fühlten sich wie Prothesen an.
»Kommt jetzt!«, drängte Cattai mit allen Anzeichen von Ungeduld. »Der Zuzug lässt nach. Die meisten Besucher haben Assaree Dymae bereits erreicht. Wenn wir uns nicht beeilen, bekommen wir womöglich wirklich keinen Platz mehr.«
»Ist dies eine Vorahnung?«, fragte Rhodan.
»Nein. Menschenverstand.«
Sie kehrten auf die Alleestraße zurück und schwammen mit der Menge mit. Vorne beim Zelteingang bildete sich ein veritabler Stau. Doch dort, wo sie waren, etwa 150 Meter davor, hatten sie ausreichend Bewegungsfreiheit.
Rhodan kaufte von einem der Straßenhändler einen Eimer pastöser Masse, eine von vielen Besuchern des Freigeländes geschätzte Speise. Rhodans SERUN unterzog den Brei einer raschen Kontrolle und gab dann eine Unbedenklichkeitsmeldung an alle heraus. Das Zeug war genießbar, auch wenn die Analysefunktion vor einem »bitteren Nachgeschmack« warnte.
Rhodan nahm einen Löffel. Der erbsengrüne Brei schmeckte süßsauer, hatte aber in der Tat einen metallenen Nachgeschmack, der einen sanften Brechreiz mit sich brachte. Die anderen kosteten ebenfalls davon, ließen aber gleich wieder angewidert vom Brei ab. Einzig Gucky aß mit sichtlicher Begeisterung und hatte den Eimer rasch bis zur Hälfte geleert.
»Schmeckt nach gezuckerten Runkelrüben und glasierten Pastinaken«, sagte der Ilt. »Köstlich, sage ich euch! Bevor wir von hier verschwinden, benötige ich unbedingt das Rezept und die Zutaten ... Damit würde ich auf Terra ein Vermögen verdienen. Oder auch nicht, wenn ich an eure Essgewohnheiten denke, ihr Banausen.«
»Ist schon gut, Kleiner.« Rhodan drückte fest die Hand des Mausbibers, als Hinweis darauf, dass dies weder der Ort noch die Zeit für Späße war. »Fühlst oder siehst du etwas, das für uns wichtig sein könnte?«
»Nein.« Gucky schloss die Augen. »Es gibt unzählige Onryonen und Vertreter anderer Völker, die die Ankunft des Kristallinen Richters herbeisehnen. Einige von ihnen hegen auch Gedanken, die ich als misstrauisch bezeichnen würde. Es gibt viele Gerüchte über dieses Wesen. Nicht alle sind positiv belegt.« Er aß mit selten erlebter Gier vom Brei und rülpste dann ausgiebig, was einen Onryonen dazu brachte, sie missbilligend zu mustern.
»Eine seltene Krankheit, die ich mir hier aufgeschnappt habe«, sagte Gucky entschuldigend und deutete auf sein Emot. »Sie schlägt aufs Gemüt.«
Der Onryone drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, beiseite und gliederte sich in die Reihe der Wartenden ein.
»Hör auf mit dem Unsinn, verdammt!«, schimpfte Rhodan. »Du bringst uns noch in Teufels Küche.«
»Dieser Brei stammt ganz gewiss nicht aus Teufels Küche, guter Freund«, erwiderte der Mausbiber, um gleich wieder ernst zu werden. »Ist ja gut. Zu deiner Beruhigung: Ich habe die Gedanken des Onryonen überprüft, bevor ich ein Wort sagte. Er war der Meinung, dass mein Emot kränklich aussähe. Also habe ich ihn in seinem Glauben bestärkt.«
Aus dem Zelt dröhnte eine laute Stimme, dann Geschrei aus einem vieltausendköpfigen Chor.
War der Kristalline Richter bereits erschienen? Hatte das Spektakel begonnen?
»Keine Sorge.« Gucky schüttelte den Kopf. »Ein Conférencier stimmt die Anwesenden auf das Erscheinen des Richters ein. Wir haben ausreichend Zeit.«
Geduldig stellten sie sich an. Die Stimmung war nun besser, die Aufregung stieg. Nur zu gerne hätte Rhodan gewusst, was sich im Hafen der Zelte abspielte. Doch er wagte es nicht, Spionsonden auszusenden. Es gab gewiss Sicherheitskontrollen, die nicht auf den ersten Blick wahrzunehmen waren.
»Was meinst du, Bruce?«
»Ich habe ein gutes Gefühl«, antwortete der Major. Er griff sich ans Gesicht, an die vom SERUN vorgespiegelte Mimikry-Maske, und zog die Hand gleich wieder zurück. Er hatte sich über den Kinnbart fahren wollen, so, wie er es gewöhnt war.
Rhodan tat gut daran, der Intuition Cattais nur bedingt zu vertrauen. Er hatte den Tod Patrick St. Johns und die schwere Verletzung Baucis Fenders nicht vorhergesehen. Er war kein Mutant. Er war schlichtweg ein Mensch, der gute Instinkte und Augenmaß besaß.
Sie näherten sich der Kontrollstelle vor dem Hafen der Zelte, während die Stimmung im Inneren immer besser wurde. Jubel erklang. Stets war dieselbe prägnante Stimme zu hören, die die Anwesenden aufpeitschte. In jenem Rhythmus, in dem die Leute schrien und tobten und dann wieder dem Zeremonienmeister lauschten, bewegten sich auch Teile der Zeltwände. Das Minarett blähte sich auf und ragte noch weiter in den roten Himmel hinein, die Pyramidenaufbauten wurden zu Kugelobjekten, aus einem plump wirkenden Quader bildete sich eine humanoide Figur. Eines der Objekte löste sich gar und schwebte davon wie ein Vogel, um eine Weile, von wechselnden Windböen hin- und hergetrieben zu werden und dann wieder sachte an der ursprünglichen Position aufzusetzen. Es verband sich mit Assaree Dymae, wurde wieder ein Teil des Zeltes.
Rhodan konnte seine Blicke nur mühsam von den bunten Tüchern abwenden. Ihr Spiel wirkte auf- und anregend gleichermaßen, und er war gewiss nicht der Einzige, der so stark auf die Zeltelemente reagierte.