Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
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Kommentar
Glossar
Risszeichnung Beiboot der Kosmokratendiener
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2779
Schattenspiel der Ewigkeit
Ein Unsterblicher erzählt von der Atopie – und der Kampf um Wanderer fordert Opfer
Michael Marcus Thurner
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde. Auf diese Weise zementiert das Tribunal in der Milchstraße seinen Machtanspruch, während der Widerstand dagegen massiv aufrüstet.
Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI haben in der fernen Galaxis Larhatoon in Erfahrung gebracht, dass das eigentliche Reich der Richter die Jenzeitigen Lande seien. Um dorthin zu gelangen, braucht es aber Atlan als Piloten und ein Richterschiff als Transportmittel.
Atlan befindet sich allerdings seit vielen Jahren auf Wanderer, der Kunstwelt von ES, wo er eine wesentliche Rolle bei der Heilung und Rettung der Superintelligenz spielt. Was dort geschieht, ist ein SCHATTENSPIEL DER EWIGKEIT ...
Reginald Bull – Der Terraner begegnet Atlan.
Toio Zindher – Die Tefroderin wägt ihre Chancen ab.
Quick Silver – Der Androide folgt seinen eigenen Moralvorstellungen.
Toidha Zyonaro – Der Jäger sieht sich von Feinden umringt.
Atlan – Der Arkonide muss eine Entscheidung treffen.
Suzan Rhodan – Perry Rhodans älteste Tochter hilft dessen ältestem Freund.
Die Behandlung schmerzt, mehr als jede Transition. Der Körper wird inmitten einer wuchtigen Metallsäule in ein hauchzartes Nebelgebilde verwandelt. Der Vorgang dauert eine Stunde. In den Kraftfeldern wird mit der entmaterialisierten Stofflichkeit des Körpers gespielt, auf eine Weise, die unklar bleibt.
Wer die Behandlung hinter sich gebracht hat, fühlt sich genau wie zuvor. Doch er erhält ein Geschenk, das seinesgleichen sucht: Zeit. Genauer gesagt: 62 Jahre.
(Aus: Hoschpians unautorisierte Chroniken, Sonderband 19, Kapitel: »Das Physiotron«)
1.
Reginald Bull
»Dort ist jemand!«, rief Toio Zindher und zog Reginald Bull mit sich, einen schmalen Weg entlang, über eine Materialrinne in die Tiefe, vorbei an gewaltigen Abraumhaufen, durch ein Verbindungstor, durch den dritten von fünf völlig gleich aussehenden Tunnels, dann über ein morsches Klettergerüst durch einen Brunnenschacht nach oben.
Wanderer ... die heimatliche Domäne der Superintelligenz ES offenbarte ein Gesicht, das Terraner niemals zuvor kennengelernt hatten. Die Welt war geschwächt, sie war verletzbar. Eindringlinge setzten sich in ihrem Inneren fest, ein Schiff der Chaotarchen richtete auf der Oberfläche Unheil an – und ES schwieg.
Bull folgte der tefrodischen Mutantin blindlings. Dank ihrer Begabung, vitalenergetische Ströme zu sehen und zu fühlen, entwickelte sie ein phantastisches Gespür für die subklusiven Regionen. Sie erahnte jene Spuren, die ihnen ein möglichst gutes Vorwärtskommen bei der Flucht ermöglichten. Bei einer Flucht, die durch die Hartnäckigkeit der yothoyschen Verfolger geprägt wurde.
»Wen hast du gesehen?«, keuchte Bull und stieg hinter Zindher in eine kaum mannsgroße Seitenlücke des Brunnenschachts.
»Ein partielles Bewusstseinsphänomen von ES«, sagte die Tefroderin und half ihm, auf die Beine zu kommen. »Es fühlte sich so ähnlich an wie das von Suzan Rhodan.«
»So ähnlich oder genauso?«
»Dieses da erscheint älter und verbrauchter.«
Metallener Klang ließ sie zusammenzucken. Es hörte sich an, als purzelte ein Stoß meterlanger Röhren durcheinander. Dann war das typische Fauchen einer Thermowaffe hören, vereinzelte Schreie, die wie Befehle klangen, das Trampeln von schweren Schuhen über Gestein. Ihre Verfolger waren nahe.
Bull begriff es einfach nicht. Warum mussten sie fliehen? Warum leistete ES in seiner ureigensten Domäne keinen Widerstand? Stand es so schlecht um die Superintelligenz? Wollte man sie einfach nur auf die Probe stellen, und wenn ja, warum?
Sie kullerten in eine Grube und rappelten sich wieder hoch. Über eine Sanddüne, die sie bis zu den Knien versinken ließ, ging es weiter in die Tiefe. Die Funktionen des SERUNS waren wieder eingeschränkt, seitdem sie in die subklusiven Regionen vorgedrungen waren. Die lebenserhaltenden Mechanismen griffen, der Schutzschirm ebenso. Funk, Ortung und Antigrav waren desaktiviert. Die Positroniken reagierten nicht auf Anfragen, die ihre eigenen Probleme betrafen.
»Das Bewusstseinsphänomen ist dort.« Toio Zindher deutete in Richtung einer marmornen Wand, über die unzählige Graffiti gekritzelt worden waren. Fast alle von ihnen in Sprachen, die Bull niemals zuvor gesehen hatte. Nur eine Zeile war in Englisch gehalten. Sie erinnerte ihn an den mitunter schrägen Humor von ES, denn der Text lautete: »Kilroy was here.«
Lichtkegel tasteten den Weg entlang, den sie gekommen waren. Bull zog Zindher mit sich, zuerst in eine schmale Nische, und nachdem sich die Suchlichter auf andere Teile des Tunnels konzentrierten, hin zur Wand.
»Wo genau fühlst du ES' Boten?«, fragte er und tastete über den grauen Marmor.
»Er wandert.« Zindher wandte sich nach erst nach links, dann nach rechts. Sie wirkte verunsichert. »Mag sein, dass er eben stirbt. Dass er verloren geht im Gestein und seine Erinnerungen verliert. Er wird dunkler und dunkler.«
»Zeig mir, wo er gerade ist. Schnell, Toio!«
Sie deutete auf einen Fleck links von ihm, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Täuschte er sich, oder war da tatsächlich ein irrlichternder Funkenschlag zu erkennen?
Er zog kurzerhand die Waffe, aktivierte die Desintegrator-Schaltung auf der schwächsten Stufe und bearbeitete den Marmor damit. Er riskierte viel. Vielleicht tötete er diesen Teil von ES.
Bull fühlte eine Berührung. Zindher griff nach seiner Waffe und führte sie. Sachte und vorsichtig desintegrierten sie Teile der Wand und drangen Millimeter für Millimeter ins Innere vor. Mehrere Graffiti lösten sich auf; vielleicht vergingen mit ihnen Erinnerungen an Geschehnisse, die vor Jahrmillionen stattgefunden hatten.
Hinter ihnen wurde es immer lauter, die Feinde kamen näher. Drachenähnliche Wesen, fast doppelt so groß wie sie, die bestens ausgerüstet waren und deren Systeme besser funktionierten als ihre. Bull fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Doch er blickte sich nicht um, sondern konzentrierte sich auf die gemeinsame Arbeit.
Zindher lächelte. Galt dieser freundliche Gesichtsausdruck ihm, oder fühlte sie Befriedigung angesichts dessen, dass sie ihrem Ziel näher kamen?
Ein Lichtblitz drang aus der Wand hervor. Er berührte sie beide und schoss dann davon, als träfe er immer wieder auf reflektierende Flächen, bis er sich irgendwo in der Dunkelheit rechts von ihnen verlor.
»Genug jetzt«, sagte Zindher sanft und löste ihre Hand von der seinen.
Dort, wo das Licht entwichen war, quoll nun Substanz hervor, dick und zähflüssig. Sie tropfte zu Boden und bildete einen Klumpen, der allmählich eine halbmannsgroße Gestalt annahm. Die eines Schohaaken, dessen Halmhaare neongrün leuchteten.
Das kleine Wesen starrte sie verständnislos an. Und deutete dann auf die Decke des Raums. »Suzan wartet«, flüsterte er, bevor der Körper des Kleinen wieder in sich zusammenfiel und im Boden versickerte.
»... haben sie!«, rief jemand. »...ort vorne!«
Lichterschein traf sie, glitt über Bull und Zindher hinweg. Schwere Schritte näherten sich im ungewohnten, stakkatoartigen Rhythmus mehrerer Vierbeiner.
Bull trat zur Seite und feuerte im Thermo-Modus in Richtung jenes Tunnels, durch den sie gekommen waren. Stein brach herab, meterdicke Kolosse blieben übereinander liegen. Staub wirbelte umher und erschwerte die Sicht.
Dieses Hindernis würde ihre Jäger bloß für einige Sekunden aufhalten, doch diese Zeit musste reichen.
Bull blickte nach oben. »Das schaffen wir!«
Gemeinsam feuerten sie schräg nach oben und frästen einen meterbreiten Schacht in den Granit, nun wieder mit Hilfe des Desintegrators. Sie arbeiteten schweigend und effizient, als hätten sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Bald schon fühlte Bull einen Luftzug von oben; sie hatten sich den Weg in einen weiteren Hohlraum gebahnt.
Zindher steckte ihre Waffe weg, kletterte – ohne ein Wort zu sagen – auf seine Schulter und wuchtete sich durch das Loch. Irgendwie schaffte sie es, sich umzudrehen. Sie reichte ihm einen Arm. Bull stieß sich vom Boden ab, nutzte alle Federkraft aus, die der SERUN derzeit zu geben bereit war. Mit der Rechten fand er Halt an der Unterkante des neu gefrästen Lochs, die Linke umfasste Zindhers Finger.
Er hörte sie stöhnen. Ihre Hand zitterte, doch sie ließ nicht los, zog und zerrte, unterstützte ihn, während Bull mit den Beinen in der Luft zappelte.
Hinter ihm war das Fauchen von Desintegratoren zu hören. Das Rumpeln von Steinen. Erzürntes Geschrei mehrerer Yothoy.
Mit einem weiteren, gewaltigen Kraftakt zog ihn Zindher in die Deckenlücke. Endlich konnte Bull die Beine verhaken und nun selbst nachschieben, sich weiter ins Innere des Schachtes vorarbeiten. Sobald er festen Halt fand, drehte er sich um und feuerte mehrmals ins Innere des unteren Raums. Staubwolken wirbelten hoch wie Wüstensand.
Sie kletterten in die obere Höhle, keuchend und fluchend, lösten mit dem Thermostrahler weitere Felstrümmer und sorgten dafür, dass sie in die Lücke plumpsten und den Zugang verschlossen. Dies würde die Verfolger zwar nicht dauerhaft aufhalten, doch zusammen mit den schlechten Sichtverhältnissen für weitere Verwirrung sorgen.
»Danke«, sagte Bull.
»Schon gut.« Toio Zindher krächzte und hustete, ihr sonst samtbraunes Gesicht war rot und stellenweise von einer dicken Staubschicht bedeckt.
Sie war an ihre körperlichen Grenzen gegangen, keine Frage. Es hätte andere Möglichkeiten gegeben, nach oben zu gelangen, doch dies war zweifellos die schnellste gewesen. Und Zeit war angesichts ihrer Verfolger ein wertvolles Gut.
»Kannst du Suzan fühlen?«, fragte er.
»Ja.« Schweigend ging sie vorneweg, bis sie zu einem schmiedeeisernen Tor gelangten. Eine knorrige Eiche breitete dahinter tote Äste nach allen Seiten aus, die wiederum mit dem Stein der Höhle verwuchsen. Unter der Decke befand sich etwas, das eine vage Erinnerung in Bull weckte.
»Das Baumhaus der Kinder«, murmelte er. »Das liebste Versteck von Suzan und Michael. Sie wartet dort oben auf mich.« Er öffnete das Tor. Es quietschte in den Angeln. »Warte hier!«, sagte er zu Zindher, ohne sich nochmals umzudrehen.
»Aber die Yothoy ...«
»Wir haben mindestens fünf Minuten. Bis dahin habe ich mit Suzan gesprochen.« Er setzte den Fuß auf die erste Sprosse, zögerte und wählte dann die nächste. Die unterste Sprosse war morsch, war es immer gewesen, wie Bull sich erinnerte. Er stieg hoch, kehrte zurück in ein Stück glücklicher Vergangenheit.
*
»Hallo, Onkel Bully«, begrüßte ihn Suzan. Sie hielt einen rosafarbenen Teddybären im Arm, dessen Ohren immer wieder angenäht worden waren und dessen Knopfaugen nur noch an dünnen Fäden hingen.
»Hallo, Suzan.« Bull setzte sich auf den nackten Boden. »Du siehst müde aus.«
Eine diffuse Lichtquelle ließ ihn Rhodans Tochter erkennen. Sie zeigte das Gesicht einer alten Frau mit unzähligen Falten und Lidern, die weit über die Augen fielen. Ihr Körper war welk, die Schultern vornübergebeugt.
»Ich liebe diesen Ort«, sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. »Er ist mein Erinnerungsnest. ES lässt uns reifen, und wir reifen mit ihm – doch ES sorgt auch dafür, dass wir niemals vergessen, was wir einmal waren.«
»Das ist schön.«
»Ich habe mich nicht gut verhalten, oben in der Stadt«, sagte sie. »Entschuldige bitte.«
»Ist nicht so schlimm. Aber du musst uns jetzt helfen. Andernfalls bekommen wir Schwierigkeiten mit den Yothoy.«
»Ich weiß. Möchtest du Tee?«
Suzan nahm Puppengeschirr zur Hand und tat so, als würde sie ihm einschenken, und tatsächlich meinte Bull, hochkräuselnden Dampf wahrzunehmen.
»Wir haben es leider eilig, Suzan.«
»Die guten Sitten leiden stets zuallererst. Wie schade ...« Sie stellte die Kanne beiseite, nippte an ihrem eigenen Glas, tat so, als würde sie sich die Lippen verbrühen, und stellte es beiseite.
»Ich kann euch im Kampf nicht unterstützen, Onkel Bully. Ich bin hilflos. Aber ich werde dafür sorgen, dass ihr näher an Atlan herankommt. Und die Yothoy werde ich für eine Weile beschäftigen.«
»Gibt es denn keine Roboter, keine Waffen, keine Spionsonden, keine Taktiksysteme, die ES uns zur Verfügung stellen könnte? Mit ein wenig Unterstützung würden wir uns die Jäger rasch vom Halse schaffen und uns dann um Geist kümmern.«
»Das erledigt Quick Silver, dessen bin ich mir sicher. Und nein: Ich kann dir nicht helfen. Ich bin derzeit machtlos.« Sie hob unsicher die Schultern. »ES redet kaum mit mir. Ich bin dankbar dafür, dass ich als partielles Bewusstseinsphänomen existieren darf. Doch das ist das einzige Zugeständnis der Superintelligenz an dich. Und an mich.«
»Wie willst du in deinem Zustand mit den Yothoy fertigwerden?«
»Sehe ich denn so schlecht aus?« Ihr Lächeln misslang kläglich. »Nun, ich werde sie für eine Weile im Kreis schicken. Es gibt Schatten, ehemalige Bewusstseinssplitter, die kaum noch eine Funktion in ES erfüllen. Sie werden eure Rolle einnehmen und vor den Yothoy weglaufen. Das verschafft euch ein wenig Zeit.«
»Es muss doch möglich sein, sie zu schlagen, sie zu vernichten!«
»Denk nicht mal daran!« Suzan machte eine energische Handbewegung, die so gar nicht zu ihrem derzeitigen körperlichen Zustand passte. »Dies ist kein Ort für Mord und Totschlag!«
»Ich verstehe.« Bull nickte. »Dann bitte ich dich, uns zu Atlan zu bringen.«
»In seine Nähe zu bringen«, verbesserte die Frau. »Einen Teil des Wegs werdet ihr allein gehen müssen.«
»Gibt es etwas, das wir beachten müssen?«
»Wo ich dich hinschaffen lasse, bist du noch näher an ES' großer Problemzone. Manche Dinge mögen dir dort verwirrend vorkommen.«
»Verwirrender als das hier?« Bull schwenkte seine Rechte, als wollte er das ganze Baumhaus umfassen.
»Ja.« Suzan kam mühsam auf die Beine. »Die Yothoy sind nahe, es wird Zeit. Lass uns gehen.« Sie legte ihren Teddybären sachte neben dem Küchengeschirr ab, streichelte sanft über den Kopf und summte dazu die Melodie eines uralten Kinderlieds. »Ich komme bald wieder, Mister Zitrone.«
»Mister Zitrone ... Natürlich! Dass mir der Name nicht eingefallen ist! Wie bist du bloß auf ihn gekommen?«
»Ich hab es vergessen.« Suzan lächelte, ihre Augen blieben leer. »Auch ES ist nicht allmächtig.«
Sie stiegen aus dem Baumhaus.
Quick Silver
Er schoss hoch in den Himmel. Ossoyr klammerte sich fest an ihn. Seine Muskulatur war verkrampft, er empfand Angst. Quick Silver kannte das Konzept der Furcht. Man hatte ihn darüber aufgeklärt, und er hatte die Merkmale oft genug an den körperlichen Reaktionen aller möglichen Lebewesen festgestellt.
»Du wolltest mit mir gehen, also trägst du die Konsequenzen«, sagte er, während er weiter beschleunigte und seine Sinne nach dem Gegner ausstreckte.
»Aber ... aber ...«
»Wir werden uns um dieses lebendige Raumschiff kümmern. Vielleicht kannst du mir helfen. Du wärst gut dafür geeignet.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Quick Silver entdeckte Geist. Das Schiff mit chaotarchischer Prägung schwebte in einer Höhe von etwa zehn Kilometern in einem stationären Orbit über der Maschinenstadt. Geist war in einen Tarn- und Schutzschirm gehüllt, der sich kaum anmessen ließ. Man musste die Technik der Chaotarchen zumindest in Grundzügen kennen, um die geringen Fehler im System zu finden.
»Ich werde helfen. Verlass dich auf mich.« Der Apukamuy entspannte sich ein wenig. Er war leicht zu manipulieren. Viele Lebendige waren leicht zu manipulieren.
Geist achtete noch nicht auf ihn. Quick Silver hinterließ während des Aufstiegs Tarnmurmeln mit höherdimensional strahlenden Spuren, die das Schiff verwirrten. Die dazu notwendigen Emissionsgeber stammten aus der Funduskammer seines Körpers, die nur noch halb gefüllt war. Er hatte in letzter Zeit viel zu häufig auf seine Ressourcen zurückgegriffen und ging dabei ein gewisses Wagnis ein. Der Fund, der am Ende all seiner Anstrengungen stand, das Physiotron von ES, würde diesen Aufwand unbedingt rechtfertigen müssen.
Geist schickte über Funk weitere Drohungen aus. Er schimpfte und redete von völliger Zerstörung der Maschinenwelt, er spuckte gewissermaßen Gift und Galle. Das Schiff war voll Zorn und gab damit zu erkennen, dass es nicht ausreichend funktionstüchtig war. Chaotarchen – und ihre Instrumente – zeichneten sich eher dadurch aus, dass sie ihre Ziele mit kühler Ruhe verfolgten.
Ambur-Karbush reagierte nicht. Die Maschinenstadt war zweifelsohne in manchen ihrer Funktionen gestört. Doch Quick Silver hatte längst herausgefunden, dass sie sich zurückhielt. Sie inszenierte ein Schauspiel und ging dabei ein hohes Risiko ein.
Warum tat sie das? Warum ließ ES zu, dass ein Teil von Ambur-Karbush zerstört werden mochte?
Es gab komplexe Algorithmen, die halfen, das Verhalten von Superintelligenzen besser einzuschätzen. Sie basierten auf einer Abwandlung der uralten Tabu-Theorie und wären selbst für Völker wie die Terraner zu begreifen gewesen, sofern sie die richtigen Ansätze gefunden hatten.
»Ich kann dich riechen und schmecken und sehen, Androide!«, meldete sich Geist erstmals über Funk. »Meinst du etwa, mir gefährlich werden zu können?«
Quick Silver antwortete nicht. Er behielt seinen langsamen Steigkurs bei. Geist wollte ihn provozieren und zu einer Reaktion bewegen. So, dass er sich von den zig Tausenden vorgespiegelten Signalen unterschied, die derzeit in den Ortungssystemen Geists für Verwirrung sorgten.
»Du bist einer derjenigen, die Toidha Zyonaro verfolgt, nicht wahr? – Dies ist nicht dein Kampf! Ich werde die Maschinenstadt vernichten und dann ganz Wanderer, ob du dich nun gegen mich stellst oder nicht.«
Geist war größenwahnsinnig. Er überschätzte seine Kompetenzen, seine Möglichkeiten.
Das Energiepotenzial des Feindes erhöhte sich marginal. Geist hatte ihn ausfindig gemacht und würde in den nächsten drei Zehntelsekunden auf ihn feuern. Quick Silver sorgte dafür, dass Ossoyr durch einen Schmiegeschirm geschützt war und auch anderweitig die folgenden Belastungen überleben würde. Dann änderte er abrupt seine Flugkurve und schlug Haken, während er weitere Tarnmurmeln ausstreute.
Der Energiestrahl ging meterweit an ihm vorbei. Er riss ein Loch in die Wirklichkeit, feinste gezackte Risse entlang des Schussvektors entstanden. Sie gaben Einblick in eine andere Realität, in der phantastische hyperphysikalische Gesetzmäßigkeiten Anwendung fanden. Sie zeichneten rechnerisch beeindruckende Bilder, deren Faszination sich Quick Silver kaum entziehen konnte.
Er flog ein weiteres Ausweichmanöver, dann noch eines. Geist war nicht so mächtig, wie er von sich selbst glaubte. Die Schüsse waren unkontrolliert und verfehlten den Androiden jeweils um Meter. Sie trafen Wanderer an der Peripherie der Maschinenstadt, und richteten vernachlässigbare Schäden an. Quick Silver erkannte Arbeitsmaschinen, die sich augenblicklich an die Arbeit machten und beschädigte Bauten instand zu setzen begannen.
Erst nach mehr als zwei Sekunden verlegte sich Geist auf breitflächiges Sperrfeuer. Er zeigte alle Anzeichen von Wut. Dieses chaotarchische Produkt war in der Tat gestört. Offenkundig hatten die Archäologen in Pha Gashapar bei der Erkundung des Relikts Schäden verursacht.
Ossoyr quiekte jämmerlich. Mit der üblichen Reaktionszeit eines Lebenden bekam er eben erst mit, dass er in akuter Lebensgefahr schwebte. Er rief Götter des Apukamuy-Olymps an und versprach, seinem Vater niemals wieder zu widersprechen, wenn er dieses Abenteuer überlebte. Die Götter würden, nach allem, was Quick Silver über diese absurden Geisteskonstrukte herausgefunden hatte, weder antworten noch helfen.
Er analysierte die Schusstechniken von Geist, die aufgewendeten Energien, seine taktische Bandbreite. Sie war raffiniert, aber zu durchschauen. Vergleichsberechnungen mit früheren Untersuchungen chaotarchischer Relikte halfen ihm dabei, einen Plan für die Eroberung von Geist zu entwickeln.
Quick Silver lauerte. Es dauerte etwa sechs Sekunden, bis er seine Chance bekam. In das Emissionsbild der Aktivwaffen von Geist waren anti-psionische Wirkungsquanten eingebunden. In geringer Menge zwar, aber sie mochten selbst ihn beschädigen. Quick Silver musste sie isolieren, so gut es ging, bevor er zum Angriff überging.
Da, da war die Gelegenheit! Geist minimierte den Anteil höherdimensionaler Energien und der anti-psionischen Wirkungsquanten und strahlte noch breitflächiger aus als zuvor. Geist unterschätzte ihn. Seine Fähigkeiten, sein Wissen, seine Bauweise.
Quick Silver fädelte in den Strahl ein, um in ihm hochzurasen, hin zum chaotarchischen Raumschiff. Die Körperbelastung stieg abrupt auf etwa sechzig Prozent hoch, ein durchaus akzeptabler Wert. Er reichte aus, um Ossoyr zu schützen.