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Irène Némirovsky

Die Familie Hardelot

Roman

Aus dem Französischen

von Eva Moldenhauer

Knaus

1

Sie waren beisammen, sie waren glücklich. Die wachsame Familie schob sich zwischen sie und trennte sie mit unerbittlicher Sanftmut, aber der junge Mann und das junge Mädchen wußten, daß sie einander nahe waren; alles übrige verblaßte. Es war ein Herbstabend am Ufer des Ärmelkanals, zu Beginn dieses Jahrhunderts. Pierre und Agnès, die Eltern der beiden sowie Pierres Verlobte warteten auf das letzte Feuerwerk der Saison. Auf dem feinen Sand der Dünen bildeten die Bewohner von Wimereux-Plage dunkle, kaum von den Sternen erhellte Gruppen. Rings um sie wehte die feuchte Seeluft. Tiefer Friede lag über ihnen, über dem Meer und über der Welt.

Die Familien verkehrten nicht miteinander; sie gehörten dem kleinen und mittleren Bürgertum an. Eine jede wahrte bescheiden, standhaft und würdevoll ihren Platz und ihre Distanz. Eine jede umgab sich mit einem Wall aus Schaufeln und Klappstühlen. Eine jede respektierte gewissenhaft die Parzelle des nächsten und verteidigte höflich, aber unnachsichtig die ihre: gleich dem gut gehärteten Schwert, das sich biegt, aber nicht bricht. Die Mütter murmelten: »Faß das nicht an, es gehört dir nicht. Verzeihen Sie, Madame, dieser Platz gehört meinem Sohn, und der hier ist meiner. Paß auf deine Spielsachen auf, sonst wird man sie dir wegnehmen.«

Der Tag war schwer von Gewittern gewesen, die sich unablässig zusammenzubrauen schienen, aber nicht losbrachen. Agnès dachte, wie herrlich es wäre, die nackten Füße ins Wasser zu tauchen. Aber man ging nur in der Mittagssonne und inmitten einer großen Menschenmenge ins Meer, was in gewisser Weise die Sittsamkeit eines Mädchens schützte. Sie hörte Pierres Seufzer: Er klagte über die Hitze. Er trug eine dunkle Jacke und einen steifen Kragen; sie erkannte ihn an diesem Weiß, das schwach im Dunkel schimmerte. Er lag in der Mulde der Düne und wedelte ungeduldig mit den Armen. Seine Mutter sagte: »Aber Pierrot, halt dich doch ruhig«, wie damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war. Und obwohl er jetzt vierundzwanzig war, besaß diese zärtliche und autoritäre Stimme soviel Macht über ihn, daß er ihr noch immer gehorchte. Simone, Pierres Verlobte, saß zwischen Agnès und ihm; er wandte sich ab, um den hellen Streifen ihres Gürtels und ihre schweren, milchweißen Arme nicht zu sehen. Diese Simone schien aus Milch, Butter und Sahne zu bestehen, dachte er. Es war seltsam: Oft hatte er mit Vergnügen ihr frisches, fettes Fleisch betrachtet, ihre weiche, füllige Taille, ihr rotes Haar. Doch seit einiger Zeit lag sie ihm im Magen wie ein zu mehliges, zu süßes Gericht. Dabei waren sie verlobt. In der nächsten Woche sollte das große offizielle Verlobungsessen die beiden Familien vereinen. Agnès und er hatten keine Hoffnung. So wenig Hoffnung, daß sie einander nicht einmal ihre Liebe gestanden hatten. Es war sinnlos. Pierre Hardelot war der Sohn der Papierfabrik Hardelot von Saint-Elme. Die Eltern von Agnès waren Bierbrauer. Nur ein Fremder, jemand von außen, konnte eine Verbindung zwischen ihnen für möglich halten. Die Leute von Saint-Elme aber täuschten sich nicht; sie erkannten mit unfehlbarem Scharfsinn und Feingefühl den Gegensatz dieser gesellschaftlichen Stellungen. Diese Bierbrauer waren vulgärer Herkunft, und da sie zudem aus Flandern kamen, gehörten sie nicht in diese Gegend. Die Hardelots stammten aus Saint-Elme, und es gab noch weitere Hindernisse. Pierre hätte verzweifelt sein müssen, doch trotz allem fühlte er sich glücklich. Agnès war da. Sie waren beisammen.

Das Feuerwerk verzögerte sich. Die Männer gestatteten sich einige Zwanglosigkeiten; sie streckten die Beine aus, stützten sich auf einen Ellbogen. »Aber niemand lümmelt sich so wie du. Das tut man nicht«, sagte Pierres Mutter ihm ins Ohr. Die Frauen blieben mit steifem Oberkörper auf der Erde sitzen wie auf den Stühlen eines Salons, wobei der Rock züchtig die Knöchel bedeckte. Wenn das vom Wind gezauste bleiche Gras ihre Waden streifte, preßten sie mit schamvollen Bewegungen ihre Beine zusammen. Ihr Kleider waren schwarz und lang; gestärkte, auf Fischbeinstäbe gezogene Wäschekragen umschlossen ihren Hals und zwangen sie, den Kopf ruckartig nach links und rechts zu drehen, so wie ein Huhn einen Wurm pickt. Wenn das Licht des Leuchtturms aufschien, sah man auf ihren Hüten ein ganzes Beet Blumen aus Gaze und Samt, die auf ihren Messingstengeln zitterten. Hier und dort hockte eine ausgestopfte Möwe mit spitzem Schnabel auf einem Canotier-Hut. Das war die große Mode der Saison, aber manche fanden sie ein wenig gewagt. Dieser Vogel hatte etwas Aufreizendes mit seinen ausgebreiteten Flügeln und dem kleinen runden Glasauge, dachte Pierres Mutter, als sie die Mutter von Agnès betrachtete und den mit grauen Federn geschmückten Hut ihrer Nachbarin mit dem ihren verglich, den Margeriten zierten. Aber die Mutter von Agnès war Pariserin. Es gab Nuancen, die sie nicht spürte, nicht begriff.

Dennoch schien sie sehr darauf bedacht zu sein zu gefallen. Sie sagte: »Ja. Ganz meiner Meinung. Genau das glaube ich auch«, doch ihre Unterwürfigkeit wirkte aufgesetzt. Jeder wußte, daß Gabrielle Florent vor ihrer Heirat hatte arbeiten müssen, um ihr Brot zu verdienen. Sie selbst sagte, daß sie Gesangsunterricht erteilt habe. Alles war möglich. Ein Gesangslehrer kann Beziehungen zu Schauspielerinnen haben. Trotz allem empfing man sie in Saint-Elme, denn was die Gegenwart betraf, so war ihr nichts nachzusagen. Man empfing sie, blieb jedoch auf Distanz.

Für Agnès und ihre Zukunft wäre eine präzise Anklage im Hinblick auf die Vergangenheit ihrer Mutter besser gewesen als diese vagen Verdächtigungen, dieses Getuschel, wenn sie vorbeikam, dieses Kopfschütteln, diese Seufzer: »Haben sie Familie in Paris? Ich finde, in ihrer Jugend hatte diese Madame Florent schlechte Manieren. Ihre junge Tochter wird es nicht leicht haben zu heiraten. Ich sehe sie nicht verheiratet. Und Sie?« Agnès’ Vater war drei Jahre zuvor gestorben. Man wunderte sich, daß die Witwe in Saint-Elme geblieben war. »Sie hat wohl keine Familie mehr«, sagte man mit gehässiger Miene: In den Augen der Leute von Saint-Elme war das Fehlen einer weitläufigen Verwandtschaft verdächtig. »Sie sagt, sie habe alle ihre Angehörigen verloren.« Das war keine Entschuldigung. Eine gutbürgerliche Familie muß groß und widerstandsfähig genug sein, um dem Tod trotzen zu können.

»Das Feuerwerk, das Feuerwerk fängt an!« riefen Kinderstimmen.

Ein goldener Stern war aus einer Mulde der Düne hervorgeschossen und schaukelte in den Fluten. Neugierig und vergnügt richteten die Leute sich auf. Die Bewohner von Wimereux-Plage waren von Zerstreuungen nicht verwöhnt: Man spielte »Petits Chevaux« im Casino, und manchmal gastierte eine Theatertruppe aus Paris. Feuerwerke kosteten nichts. Gesunde Sparsamkeitsgrundsätze regierten die Welt.

»Kommen Sie hierher, Agnès«, sagte Pierre, »und stellen Sie sich vor mich, dann sehen Sie besser …«

Doch als Agnès zu ihm kam, fand sie ihn zwischen seiner Mutter und seiner Verlobten eingekeilt. Er reichte ihr die Hand, um ihr auf die Düne heraufzuhelfen, und sofort wandte sich Madame Hardelot an ihren Mann:

»Charles, stell dich hinter Agnès. Du bist doch so groß! Sie sieht ja nichts, nicht wahr, Kleine?«

Auf diese Weise von drei Seiten geschützt, wurde Pierre verteidigt wie eine Festung. Mit einer gewissen Heftigkeit stieß er die Frauen zurück:

»Es ist zu heiß. Mein Sandbett ist mir lieber.«

Agnès wagte nicht mehr, sich zu rühren. Sie senkte den Kopf und schluckte ihre Tränen hinunter.

Während des Winters sahen sich die Hardelots und die Florents selten, obwohl sie Nachbarn waren. Die Leute von Saint-Elme besaßen ein wahres Talent, alles zu ignorieren, wovon sie nichts wissen wollten. Wie gut sie es verstanden, sich nach Belieben taub und blind zu stellen! Mit welchem Zartgefühl sie sich alles aus dem Weg räumten, was ihnen mißfiel! Familien konnten zwanzig Jahre lang Tür an Tür wohnen und nie einen einzigen Blick wechseln. Doch hier in Wimereux war es anders. Agnès’ Vater und Charles Hardelot hatten in ihrer Jugend ein Grundstück am Meer gekauft; ihre Chalets grenzten aneinander. Es war ein Zufall, und da er sein Geld gut anlegen wollte, überwog das alle Bedenken. Schicklicherweise konnte man einander nicht mißtrauisch beäugen. Im übrigen blieb das im Sommer ohne Folgen, dachten die Hardelots; es schien, als wäre alles, ihre Gewohnheiten, ihre Vorurteile und ihre Vorlieben, Teil ihres Lebens in den eigenen vier Wänden. Sobald sie diese verließen, wurden sie toleranter. So wie bestimmte Insekten außerhalb ihres Nestes keinen Stachel mehr haben. Aber die Saison ging ihrem Ende zu. ›Und wir werden für immer getrennt sein‹, dachte Agnès. ›Er wird heiraten, und ich … Liebt er mich überhaupt? Er hat es mir nie gesagt … Da er weiß, daß er mich nicht heiraten kann, wäre es unredlich‹, dachte sie noch. ›Wenn er mich liebte, würde ich ihm folgen bis ans Ende der Welt.‹

»Sieh nur, wie hübsch das ist«, sagte Madame Florent und beugte sich zu ihrer Tochter.

Und Agnès antwortete mit zitternder Stimme, ohne etwas zu sehen:

»O ja, sehr hübsch.«

Eine Garbe von Sternen stieg zum Firmament empor, sank herab und beleuchtete die Menge; in ihrem Sturz wurde sie von einem langen Pfeifen, ähnlich dem eines Dampfstrahls, begleitet. Alle Gesichter hoben sich: das von Pierre, hager und gebräunt, mit hoher Stirn und kleinem Mund unter einem leichten braunen Schnurrbart; das von Madame Hardelot, fett, sanft und blaß; das von Simone mit dem schweren Kinn; das von Agnès, die mechanisch den Bewegungen der anderen folgte – das frische und schmale Gesicht von Agnès, ihr heller Teint und ihr schwarzes Haar.

Flammen, Füllhörner, funkensprühende Räder füllten den Raum. Dann erlosch alles. Die Nacht wurde noch dunkler; die Luft roch nach Rauch. Ein einziger kleiner grüner Stern, verloren wie ein Waisenkind, verharrte eine Sekunde am Himmel, stürzte dann sehr schnell auf die Dünen zu. Die Menge hauchte ein enttäuschtes »Oh! …«, doch da sich im Osten andere Figuren entzündeten (ein Hahn, eine Fontäne, zuerst weiß, dann mit Silberpailletten gesprenkelt, dann dreifarbig), stieß die Menge ein befriedigtes »Ah-ah-ah« aus, während aus dem Dunkel das Weinen eines Kindes zu hören war.

Die Fontäne zerfloß und versiegte. Die letzten Raketen verschwanden im Meer. Das Feuerwerk war zu Ende. Die Florents und die Hardelots traten den Heimweg an. Charles Hardelot eröffnete die Wanderung. Der Kneifer auf seiner Nase glänzte im Schein des Leuchtturms. Er hielt seine Schuhe und seine Socken in der Hand und hatte seine Hose bis über die Knie hochgekrempelt. Es war schwierig, anders als barfuß über die Dünen zu gehen: Diese Hügel, diese Täler aus Sand lösten sich ständig auf, bildeten sich neu, ließen leichte weiße Bäche aus feinem Sand in die Stiefeletten und Strümpfe rieseln. Die Damen wußten ein Lied davon zu singen: Sie kamen nur mühsam voran, zogen Grimassen und stützten sich gegenseitig, aber auf die Idee, die Schuhe auszuziehen, wären sie natürlich ebensowenig gekommen, wie ihre Korsetts abzulegen. Die jungen Mädchen schritten stumm neben ihren Müttern einher. Pierre war nicht da.

»Er sagte, er wolle im Casino vorbeischauen, bevor er nach Hause geht«, sagte Madame Hardelot mißbilligend. Und leise flüstere sie ihrem Mann ins Ohr:

»Schlaf nicht, bevor er heimkommt, und merk dir die Uhrzeit …«

»Soll ich dir was sagen?« flüsterte Charles im gleichen Ton. »Ich wäre ruhiger, wenn wir wieder in Saint-Elme wären und Pierre hätte eine Frau. Ich fürchte die Ausschweifungen in den Badeorten«, fügte er hinzu, während er seine dürren Beine rieb. Er befreite seine muskulösen, kräftigen Waden und seine schlanken, zierlichen Knöchel vom Sand. Während er seine Schuhe wieder anzog, schüttelte er sorgenvoll den Kopf.

Auf der Straße brannten einige Laternen und erleuchteten die zwischen den Dünen und den Pinien errichteten Villen. Sie hießen »Mon Repos«, »Mon Plaisir«, »Le Chalet Suisse« oder »Les Flots«. Sie ähnelten sich alle mit ihren hohen spitzen Dächern und ihren Balkons aus durchbrochenem Holz, ihren schmalen, mit Kieselsteinen und Muschelschalen verzierten Fenstern. Die Villen der Hardelots und der Florents waren die letzten auf dem Deich. Danach wurde der Weg ein sandiger Pfad. Der Sand häufte sich auf den Stufen der Freitreppe und den Wegen des bescheidenen Gartens. Schon bereitete sich Wimereux auf die Abendruhe vor. Hier und dort sah man zwischen den Fensterläden ein Licht durchscheinen und erlöschen. Jeder verbarrikadierte sich gegen den nächtlichen Wind, gegen das Rauschen des Meeres. Man hörte weder Lieder noch Schreie: Wimereux wurde von »feinen Leuten« bewohnt. Weiter unten, an der Küste, war ein Luxushotel gebaut worden, hieß es; dort wohnten Männer, die sich täglich zum Abendessen ankleideten, und Frauen, die jeden Tag ausritten. Dort tanzte und spielte man bis zum nächsten Morgen. Doch diese Fremden wurden nicht beneidet. Das alles geschah in weiter Ferne, wie es schien, auf einem anderen Planeten, und verdiente keinerlei Beachtung oder Interesse. An den Türschwellen sagten sich die Familien lange und umständlich gute Nacht. Man zog die schläfrigen Kinder an der Hand hinter sich her. Einer hinter dem andern erklommen sie die leichten Treppen aus hellem Holz, das nach Harz und Honig roch. Simone ging in ihr Zimmer, das zwischen dem von Pierres Großvater und dem von Monsieur und Madame Hardelot lag. Pierre selbst schlief in einem anderen Stockwerk, so weit wie möglich von seiner Verlobten entfernt, damit den Leuten auch nicht der Hauch eines Verdachts aufgrund der Tatsache kam, daß ein junger Mann und ein junges Mädchen unter demselben Dach wohnten. Man verriegelte die Türen und verschloß die Fenster; man schaute unter die Betten. In ihrem friedlichen Universum sahen die Leute nichts als Gefahren und Fallen aller Art.

In ihrem Haus hob Agnès den Vorhang ein wenig an und hielt Ausschau nach Pierre. Aber sie achtete darauf, nicht bemerkt zu werden. Welch ein Skandal, wenn man geahnt hätte, daß sie nicht schlief, daß sie auf jemanden wartete … und auf wen? Auf den Verlobten einer anderen. Er kam nicht. Sanfter, dichter Nebel stieg vom Meer auf. Es waren die ersten Septembertage; es roch jetzt nach Herbst. Die Luft verlor ihre Wärme, wurde rauh und feucht. Sie wartete. Es war fast Mitternacht. Nach und nach gingen die Laternen aus. Um Mitternacht schlief Wimereux. Endlich, endlich hörte sie das lange Stöhnen der von Pierre aufgestoßenen kleinen Holztür. Er kam nach Hause. Er ging nicht zu ihr, sondern zu Simone; trotz allem kam er nach Hause. Sie blieb noch einen Moment am Fenster stehen und zog sachte die Nadeln heraus, die ihr langes Haar festhielten. Der Strand, das Meer waren unsichtbar, von Dunst verschleiert. Man vernahm nur ein ganz schwaches Geräusch, von den Wellen ausgehaucht, einem menschlichen Seufzer gleich.

2

Madame Florent und Madame Hardelot nahmen ihr Bad. Sie hatten zusammen eine Kabine gemietet. Ein Pferd zog einen verblaßten Badewagen, in dem die Damen sich entkleideten, zum Meer. Aus Schamgefühl schützten sie sich auf jeder Seite mit einem Vorhang aus Frottiertüchern. Das Pferd ging langsam; die Kabine war voll Sonne. Sie hatten die Dünen, die Disteln und die kleinen rosa Wildnelken hinter sich gelassen und näherten sich dem Saum der Wellen. Durch die Luke winkte Madame Hardelot ihrem Mann zu, der Krabben fing; am Gürtel trug er einen kleinen Korb aus Flechtwerk, auf den in roten Buchstaben die Worte »Wimereux-Plage« gestickt waren. Sein alter, schwarzer Filzhut triefte. In der einen Hand hielt er sein Netz und mit der anderen seinen Kneifer, der ständig herabrutschte. Für Charles, der so naiv diese einfachen Freuden genoß, bedauerte sie, daß das Ende der Ferien nahte. Ansonsten war sie froh, nach Saint-Elme und zu ihren Gewohnheiten zurückkehren zu können. Als sie dann dick, weich und sanft im rosa Korsett dastand, dachte sie vage, daß das Bad kalt sein würde und daß Madame Florent, wenn sie ins Wasser tauchte, lächerliche kleine Schreie ausstoßen würde; sie dachte an Pierre, an das Verlobungsessen, an diese kleine Agnès, die so offensichtlich in Pierre verliebt war, an den Verlobungsring (wie teuer alles war!), an Simones Mitgift, an die Liebe, die Ehe, das Leben. Von Zeit zu Zeit seufzte sie leise, während sie ihre schwarzen Baumwollstrümpfe herunterrollte und auszog.

Madame Florent entkleidete sich und warf kurze Blicke zu dem an der Wand hängenden Spiegel; listig hatte sie dafür gesorgt, daß der einzige Spiegel auf ihrer Seite geblieben war. Sie verspürte ein Gefühl von Melancholie. Die geplante Heirat von Pierre und Simone beschäftigte beide Mütter: Die eine empfand eine stille Befriedigung bei dem Gedanken, daß diese reiche Mitgift, daß dieses Waisenmädchen in ihre Familie kam; der anderen schien es, als wäre sie zu kurz gekommen. Nicht daß sie noch die geringste Hoffnung für Agnès gehabt hätte: Allzu deutlich hatten die Hardelots zu verstehen gegeben, daß sie diese Verbindung für unerwünscht hielten. Aber es war kränkend mit anzusehen, daß andere heirateten, Agnès aber nicht, kränkend und ungerecht. Natürlich, so dachte die Mutter, was das Vermögen angeht, so läßt es sich nicht mit dem Simones vergleichen, aber da ist das Gesicht, die Taille, das Haar – mein Gesicht, meine Taille, mein Haar, als ich jung war, das sagt alles. So etwas zählt, trotz allem. Diese Simone sieht aus wie eine Kuh, und als natürliche Überleitung sagte sie laut:

»Ihre künftige Schwiegertochter hat wirklich einen vortrefflichen Charakter, so ruhig … sogar sanftmütig. Welch kostbare Eigenschaft bei einer Frau! Ich bewundere sie, mir fehlt es völlig daran. Ich habe kranke Nerven. Und dieser frische Teint, diese schönen Haare!«

»Ja, es ist eine nette Kleine«, sagte Madame Hardelot und schlug instinktiv den bescheidenen, zufriedenen Ton der Besitzerin an. Dabei konnte sie Simone nicht vorbehaltlos loben: Es war ungebührlich, sich allzu einfältig über diese Heirat zu freuen. Gewiß, Simone war in Ordnung, was aber sollte sie über ihren Sohn sagen?

»Ich halte sie für ziemlich verschlossen«, fuhr sie nach einer Pause fort, »und vielleicht ist ihr Charakter nicht ganz so, wie Sie meinen …«

Sie senkte die Stimme, obwohl nur das Firmament, der Raum und das Meer sie hören konnten.

»Sie könnte sich leicht als eigensinnig erweisen. Es ist nicht alle Tage einfach mit ihr.«

»Es hat ihr«, sagte Madame Florent gefühlvoll, »der beruhigende Einfluß einer Mutter gefehlt. Ich glaube, sie hat die ihre sehr früh verloren, nicht?«

»Ja, sehr, sehr früh«, sagte Madame Hardelot lebhaft, und sie wollte sogleich fortfahren, da sie eine unfreundliche Bemerkung witterte. Doch Madame Florent ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen.

»Ja, seltsam, daß sie so jung gestorben ist … Dabei scheint sich Simone einer ausgezeichneten Gesundheit zu erfreuen.«

»Ihre Mutter ist vor Kummer gestorben, nachdem sie Witwe geworden war«, sagte Madame Hardelot schroff, und triumphierend fügte sie hinzu: »Und was den Vater angeht, so hat er bei einem Autounfall den Tod gefunden.«

Madame Florent schwieg. Im übrigen sah Simone so blühend aus, daß es an ihrem körperlichen Zustand wirklich nichts auszusetzen gab. Deshalb sagte sie nur:

»Simone ähnelt auf verblüffende Weise einer meiner Freundinnen, die sehr jung geheiratet hat. Die Ärmste … sie hat nie Kinder kriegen können. Wissen Sie, bei dicken und rosigen Personen kann so etwas vorkommen.«

»Wollen wir das Pferd anhalten?« fragte Madame Hardelot und beobachtete besorgt das Ansteigen der Wellen: Sie bedeckten bereits die erste Stufe der Trittleiter. »Sind Sie fertig?«

»Ja, ich komme.«

Beide gingen hinaus. Sie trugen Badeanzüge aus schwarzer Wolle, die aus einer an der Taille abgenähten Tunika und einer weiten Pluderhose bestanden. Der Meereswind ließ die Tuniken im Wind flattern, drang unter die Hauben aus Wachstuch und blähte sie auf wie Luftballons. Die Haube von Madame Hardelot war giftgrün, die von Madame Florent orangerot.

Als sie ins Wasser steigen wollten, zögerten die Damen; Madame Florent berührte es mit der Zehenspitze und rief: »Oh, ist das kalt!«

Sie setzten sich auf die Schwelle der Kabine; von Zeit zu Zeit beugten sie sich vor und tauchten ihre Hand, die jeweils ein goldener Ehering zierte, ins Wasser.

»Wieviel Plackerei, wie viele Sorgen stehen Ihnen in diesem Winter bevor, liebe Madame … Eine Hochzeit. Aber auch welche Freude!«

Madame Hardelot, die mit der Hand ihr Gesicht vor der Sonne abschirmte, lächelte. Madame Florents sichtliches Mißvergnügen führte ihr endlich ihr eigenes Glück vor Augen. Und lässig, ohne Korsett, mit befreiten und ruhigen Gliedern an der frischen Luft in der Sonne sitzend, genoß sie einen tiefen Frieden; sie fühlte sich überglücklich, selig. Sie hatte einen Mann, den sie liebte, den besten aller Söhne. Die Papierfabrik blühte. Ihre Schwiegermutter war tot. Pierre machte eine glänzende Partie. In ihrem Herzen dankte sie der göttlichen Vorsehung, daß sie ihren Weg derart mit Rosen bestreut und ihr die Kraft verliehen hatte, christlich die Dornen zu ertragen: den Charakter ihres Schwiegervaters, die Liederlichkeit von Joséphine, dem neuen Dienstmädchen. Sie fühlte sich zur Nächstenliebe aufgelegt. Milde betrachtete sie Madame Florent. Die arme Frau, Witwe, allein auf der Welt … Sie sagte: »Und Sie selbst, was erwarten Sie?«

»Was meinen Sie damit?«

»Nun … daß jetzt Agnès an der Reihe sein müßte.«

Die beiden Frauen sahen sich an. Madame Florents Augen fragten: ›Ist das nur so dahergesagt? … Oder hast du wirklich jemanden im Auge?‹, und Madame Hardelots Augen antworteten: ›Warum nicht für das Glück der anderen sorgen, da es meines nicht stört.‹

Gütig nickte sie mehrmals.

»Ich hatte gedacht …«

In diesem Augenblick brach sich eine stärkere Welle geräuschvoll am Fuß des Badewagens und bespritzte die Trittleiter. Unter kleinen Schreien, Gelächter, Hüpfen stiegen die beiden Frauen schwerfällig ins Wasser.

»Oje, oje, ist das kalt! Ich bin naß bis zum Rücken!«

»Tauchen Sie ein! Tauchen Sie ganz ein!«

»Nach Ihnen!«

»Nein, gehen Sie mit gutem Beispiel voran.«

Aber trotz all dieser Schäkereien verloren sie nicht den Faden ihrer Gedanken.

›Um wen handelt es sich denn?‹ dachte Madame Florent, während sie mit der Hand Wasser über ihren Rücken rinnen ließ und bei der frischen, kühlen Berührung gleichzeitig vor Angst und Vergnügen erschauerte: ›Um wen handelt es sich?‹ Sie kannte alle heiratsfähigen jungen Männer von Saint-Elme.

Unterdessen kauerte sich Madame Hardelot in die Wellen und richtete sich behutsam wieder auf; sie bewegte die Arme und stellte sich vor, sie schwimme. Die Strömung brachte die beiden Frauen einander näher, trennte sie dann abrupt.

»Jemand, den ich kenne?« rief Madame Florent endlich, mit ihrer Geduld am Ende.

Madame Hardelot nickte lächelnd.

»Jemand Ordentlichen?«

»Aber, liebe Madame, was würde ich Ihnen denn anderes vorschlagen?« sagte Madame Hardelot und hielt inne, um Salzwasser auszuspucken.

»Vom Alter her passend, gesellschaftliche Stellung, Vermögen?«

»Es besteht ein leichter Altersunterschied.«

»Wirklich?«

»Um die Vierzig …«

»Ich weiß nicht, ob Agnès …«

»Es ist an Ihnen, sie zur Vernunft zu bringen. Es ist der Sohn der Lumbres.«

»Die Lumbres?« sagte Madame Florent enttäuscht. »Aber das sind doch Kaufleute!«

Die Lumbres waren Uhrmacher in Saint-Omer.

»Kaufleute, die sich krummgelegt haben, um ihren Sohn großzuziehen. Er ist jetzt Arzt und gutsituiert.«

Sie hielt kurz inne und rief über einen Wellenkamm hinweg:

»In Paris …«

›Ach, daher weht der Wind‹, dachte Madame Florent und lächelte verstohlen: ›Eine Agnès, die in Paris verheiratet wäre, weitab von dem jungen Paar, würde den Hardelots sehr zupaß kommen. »Doch warum nicht, mein Gott, warum nicht?« murmelte sie, wobei sie an eine Wohnung in Paris dachte. Ihre Tochter könnte sie aufnehmen …

»Sie sagten um die Vierzig?«

»Oh, die man ihm nicht ansieht.«

»Eine gute Gesundheit?«

»Kennen Sie den alten Lumbres? Er ist im Alter meines Schwiegervaters. Aufrecht wie eine Eiche.«

»Mal sehen, mal sehen«, murmelte Madame Florent, in tiefes Nachdenken versunken.

Eine zarte Wolke verschleierte die Sonne. Die Damen fröstelten.

»Gehen wir wieder hinauf? Dieses Bad war köstlich.«

»Ungemein erfrischend«, sagte Madame Hardelot zähneklappernd.

Sie stiegen aus dem Wasser. Der schwarze Wollanzug war dafür gemacht, von den natürlichen Formen der Frau soviel wie möglich zu verbergen. Beide schienen in Säcke gekleidet zu sein, doch der Wind, der den nassen Stoff blähte, schuf ständig neue sonderbare und monströse Höcker auf ihrer Brust und ihrem Hinterteil. Sie begannen sich auszuziehen. Sie sprachen nicht mehr. Das Pferd, das die Kabine zog, setzte sich langsam wieder in Bewegung. Ohne sich abzusprechen, wußten die beiden Frauen, daß die Vorstellung während des Verlobungsessens von Pierre und Simone stattfinden würde. Der natürliche Rahmen aller derartigen Vorstellungen war die Heirat oder Verlobung der anderen. In dieser ruhigen Provinz, wo Bälle unbekannt waren, stellten diese Feierlichkeiten so etwas wie Jahrmärkte dar, zu denen jeder mitbrachte, was er zu verkaufen hatte.

›Ich bin nicht auf diese Art verheiratet worden‹, dachte Madame Florent.

Freilich hatte sie für ihren Lebensunterhalt Stunden geben müssen; sie war nach dem Tod und dem Ruin ihrer Angehörigen sehr jung Waise geworden. Als Gesangslehrerin träumte sie von der Bühne, und so war sie bei Schülern Florent begegnet … Zufrieden sagte sie sich, daß sie keine Zeit verloren hatte, daß sie es schlau angestellt hatte, daß sie Florent im Handumdrehen erobert und geheiratet hatte. Damals war ihr diese Verbindung sehr glücklich und sehr glanzvoll vorgekommen. Heute dachte sie: »Pah. Bei meiner Taille und meinem Haar!« Aber es ging nicht mehr um sie. Sie unterdrückte einen leichten Seufzer.

Der Badewagen verließ die Wellen, schlug wieder den gewohnten Weg entlang des mit Wildnelken bewachsenen sandigen Pfads ein. Auf der Düne stehend, schwenkte Charles Hardelot stolz seinen Korb voller Krabben. Er ging den beiden Frauen entgegen, half ihnen beim Aussteigen. Sie trugen lange Röcke aus weißem Pikee, Canotier-Hüte und dichte Schleier, die sie vor der Sonne schützten. Sie spannten ihre Sonnenschirme auf. Simone und Agnès saßen am Strand, eine Handarbeit in Händen. Pierre, der etwas entfernt lag, hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Heiter, wohlwollend, voller Ruhe und Weisheit, selbstsicher wie Göttinnen, die das Schicksal der Sterblichen in Händen halten, schritten die beiden Mütter auf die jungen Leuten zu, ein wenig im Sand stolpernd auf ihren hohen, spitzen Absätzen.

3

Das Verlobungsessen begann frühzeitig an einem hellen Septemberabend. Von ihrem Platz aus blickte Agnès auf den geschmackvoll angelegten Garten mit den bescheidenen, erlesenen Proportionen, der in der Dämmerung noch zu erkennen war. Man roch den Duft der letzten Rosen: Die Fenster waren geöffnet. Den Tisch bedeckte ein besticktes Tischtuch, auf dem sich ein Korb mit weißen Rosen, schwere, schimmernde Baccaratgläser, das Festtagsporzellan, zart wie Eierschalen, befanden. Alles, was in Saint-Elme Rang und Namen hatte, war eingeladen worden. Die ganze erste Etage – der Salon, das Eßzimmer und ein Teil des schwarz-weiß gefliesten Vestibüls – wurde von dem hufeisenförmig aufgestellten langen Tisch eingenommen. In der Mitte thronten die Brautleute, Pierre im schwarzen Anzug und Simone im bonbonrosa Kleid. Ihre beiden Familien (die Charles Hardelots, die Hardelot-Arques, die Hardelot-Demestres sowie die Renaudins, die Verwandten von Simone) rahmten sie ein und bildeten gleichsam eine Ehrengarde oder eine solide Barriere aus dickem Blut, festem, gesundem Fleisch, in Staatspapieren angelegten Ersparnissen, dazu bestimmt, die Jugend in alle Ewigkeit vor den Fallstricken des Schicksals und ihren eigenen Leidenschaften zu schützen. Groß, massig, stämmig und rotgesichtig ähnelten sie einander: Seit Generationen hielten Heiraten sie zusammen. Sogar Doktor Lumbres mit der hohen Stirn, dem breiten Mund und den roten Haaren schien Teil ihrer Rasse zu sein: Ob Bürger oder Bauern, alle gehörten sie demselben Stamm an; sie waren aus Saint-Elme hervorgegangen, aus dieser alten, seit Jahrhunderten mit Schweiß und Blut getränkten Erde. Sie hatten die Hände von Landarbeitern und jene riesigen Füße, die geschaffen zu sein schienen, den Boden festzustampfen und einzuebnen. Unter ihnen wirkte Pierre fast schmächtig. Nicht sein Körper hatte ihre Kraft geerbt, diese äußerte sich vielmehr in seinen lebhaften, temperamentvollen Bewegungen, in seinem durchdringenden Blick, seiner energischen Widerstandskraft. Agnès erinnerte sich an ihre Kinderspiele: Pierre, behende und fröhlich, schlug all seine Rivalen im Wettlauf, im Schwimmen. Er war nie schön gewesen, besaß jedoch einen leichtfüßigen Gang, funkelnde Augen, dieses gesunde, gutgelaunte und anmutige Aussehen … Niemand auf der Welt kam ihm gleich, dachte Agnès, und als sie sich plötzlich daran erinnerte, daß er verlobt war, als sie ihn an Simones Seite betrachtete und denjenigen sah, für den sie bestimmt war, beschuldigte sie sich sündiger Wünsche, verbrecherischer Gedanken. Sie dachte:

›Ich werde den Arzt heiraten und weit weggehen. Ich werde ihn nicht wiedersehen. Das ist besser so. Es ist vernünftig. Ich werde ihn vergessen.‹

Das Essen war lang, üppig; man hatte es in der benachbarten Stadt bestellt, obwohl die Küche bei den Hardelots ausgezeichnet war. Aber es gehörte sich so. Für ein Essen aus feierlichem Anlaß mußte unbedingt kalter Lachs serviert werden, und es genügte nicht, daß er gut war: Er mußte auf eine Weise dekoriert sein, die im Haus unmöglich bewerkstelligt werden konnte; die Estragonblätter, die Hummerschwänze, die Trüffelcroissants, die mit rosa Schaum und Champignons gefüllten Törtchen bildeten ein so kompliziertes Muster wie ein Geflecht aus Spitzen. Dasselbe galt für den Braten und das Geflügel, für die Beilagen und das Eis. Die für diesen Tag gemieteten schnurrbärtigen Kellner in weißem Jackett schenkten die edlen Weine ein, präsentierten die Gerichte und die Saucen. Pierre und Simone konnten die majestätischen Ausmaße des gedeckten Tischs betrachten, den Salon, in dem die Schonbezüge abgenommen worden waren, und schließlich die einzige Straße von Saint-Elme, auf der sie jeden Stein kannten. In dieser Straße waren die Hardelots die Herren, die Könige. Am einen Ende stand die Fabrik, am andern das Haus des alten Hardelot, und zwischen den beiden reihten sich die Häuser der Familien Charles Hardelot, Hardelot-Arques und Hardelot-Demestres aneinander, die alle gleich aussahen: Fensterläden, die außer an Empfangstagen zur Straße hin geschlossen blieben, hinten ein kleiner Garten, ein Schutzdach aus Glas mit einer Glühbirne, ein Laubengang, ein Gemüsegarten. Nur der alte Hardelot hatte sich einen Gartenteich mit zwei Schwänen gestattet. Anderswo, in der unmittelbaren Umgebung dieser Straße, hätte man Familien finden können, die den Hardelots fremd waren, aber man bemerkte sie nicht; ihre kaum wahrnehmbare Existenz wurde ignoriert. Pferde und Kühe verbringen auf diese Weise auf demselben Feld ihr Leben, Seite an Seite, ohne daß sie sich jemals zu sehen scheinen.

Unterdessen brach die Nacht herein; man konnte weder die Gartenwege noch die kleine graue Straße mehr sehen. Die über dem Tisch angezündeten Lampen beleuchteten all diese friedlichen Gesichter, denen die im Zimmer herrschende Hitze und das üppige Essen das Blut in die Wangen getrieben hatte. Den Brautleuten gegenüber, sie ihm Blick behaltend, saß der alte Julien Hardelot mit seinem weißen Schnurrbart und der Bürstenfrisur, und seine kräftigen braunen Hände lagen gesittet zu beiden Seiten des Tellers. Dieser Bauernsohn begehrte nichts mehr. Er war reich, er wurde geachtet, und in seiner Vorstellung gehörte beides zusammen: Die Wertschätzung der anderen und das Vermögen taugten nichts ohne einander, und die eine war nicht mehr wert als das andere. Als ehrbarer, aber armer, oder als reicher, aber unredlicher Mann hätte er sein Leben verfehlt. Doch er kannte die Höhe seines Vermögens, und er kannte die Rechtschaffenheit seines Wesens. Deshalb erfüllte ein außergewöhnliches Gefühl der Beständigkeit und Sicherheit seine Seele. Er war sich seiner selbst sowie all dessen gewiß, was ihn umgab: Sein Haus war solide gebaut, stand fest auf seinen Fundamenten; seine Fabrik florierte; seine Familie war gefügig; sein Geld war in Staatsrenten angelegt. Seine Welt war klein; nie hatte er Frankreich verlassen und war nur selten über die Grenzen seiner Provinz hinausgekommen, doch dieses Fleckchen Erde hier kannte er wie sein eigenes Herz. Er wußte, was die Bauern, die Arbeiter, seine Kinder dachten und taten. Er wußte, was sie morgen tun und denken würden. Alles war ruhig in ihm und um ihn herum. Er konnte berechnen, wieviel Geld er im nächsten Monat, im nächsten Jahr hätte und welchen Umsatz die Fabrik in zehn, in zwanzig Jahren – 1920, 1930 – machen würde. Er selbst läge dann unter der Erde. Hier bliebe alles beim alten. Bis zum Ende aller Zeiten würden die Hardelots die Handelshäuser der Départements Pas-de-Calais und Nord mit ihrem gediegenen, ihrem unerreichten feinen weißen Papier für Register – alle Arten von Linierungen – und für den Druck beliefern, Simili-Japanpapier, weißes und farbiges Bristolpapier; sie würden Grundstücke kaufen, ihre Kinder verheiraten, Geld zurücklegen und in ihrem Bett sterben. Deshalb konnten sich bei ihnen weder Unruhe noch Zweifel einschleichen.

sie

Sie murmelte: »Nein«, und brach in Schluchzen aus.

Er sagte mit ersterbender Stimme:

»Wir werden uns morgen Lebewohl sagen, nicht wahr, Agnès? Morgen …«

Im Dunkeln zog er sie an sich, wagte aber nicht, sie zu küssen. Sie verharrten einen Augenblick mit pochendem Herzen eng aneinandergepreßt, dann trennten sie sich stumm.