Schule der
Arbeitslosen
Roman
Eine stillgelegte Fabrik in einem niedergegangenen Industriegebiet. Zweistöckig. Das Gebäude wurde provisorisch renoviert – aufgeteilt in einzelne Räume und Zwischenräume: coaching zones, training points, recreation sectors … Im ersten Stock Schlafräume, Waschgelegenheiten und Duschen. Trennwände sind in aller Eile errichtet worden. Die Wände sind aus Spanplatten – weißgetüncht. Im Erdgeschoss liegen die Büros: Sekretariat, Trainerzimmer, Schulleitung und weitere Räumlichkeiten. Daneben die Kantine, eine Kantine ohne Küche, aber mit Automaten für Getränke, Suppen und Fertiggerichte. Im Keller liegt der Meditationsraum und das Gym. Darin befinden sich Fahrradergometer, Rudermaschinen, ein Solarium und eine einzige Palme.
Früher war das Gebäude Teil einer Fabrik für Autoradios. Innerhalb weniger Monate war ihr Konkurs abgewickelt. Für den symbolischen Preis von einem Euro ging das Gebäude über in die Zuständigkeit von SPHERICON.
SPHERICON stellt keine Autoradios her. Auch keine anderen Dinge. Wenn überhaupt, dann produziert SPHERICON Möglichkeiten – letzte Möglichkeiten – für Menschen, die von sich glauben oder glauben wollen, all ihre Möglichkeiten verspielt oder aufgebraucht zu haben. SPHERICON ist ein Maßnahmen-Center. Es setzt Maßnahmen um, die von den jeweiligen Job Centers der Bundesagentur für Arbeit angeordnet werden – Maßnahmen zur Schulung arbeitsloser Personen. Es bündelt alle zu ergreifenden Maßnahmen zu einer umfassenden Schulung. Weit mehr als nur eine fachliche Schulung. Vielmehr eine Lebensschulung. So steht es auf dem Briefkopf. Auf Deutsch und auf Englisch. School of Life. Schule des Lebens.
SPHERICON ist eine Wohnschule für arbeitslose Erwachsene. Die erwachsenen Schüler gehen nach dem Unterricht nicht nach Hause, sondern werden ganztägig begleitet und betreut. Schüler wie Lehrer übernachten auf dem Schulgelände. Sie stehen in ständigem Kontakt und Austausch. Die Unterrichtsfächer werden den Schülern (Trainees) nicht vorgegeben, sondern je nach Bedarf entwickelt. Dem unterliegt ein ganzheitliches Menschenbild. Nichts ist undenkbar. Und selbst wenn alle denk- und undenkbaren Maßnahmen keinen unmittelbaren Erfolg haben, so die Überlegung, dann gehen die Schüler/Trainees aus der Schulung dennoch gestärkt hervor: stabilisiert, euphorisiert, flexibilisiert.
SPHERICON ist absolut freiwillig.
Das Schuljahr in SPHERICON ist in Trimester unterteilt. Jeder Kursus dauert ein Trimester, etwa drei Monate, dann kommen die nächsten Trainees. Das Trimester beginnt mit der Übergabe der Trainees durch Vertreter der Bundesagentur. Sie begleiten die Trainees bei ihrer Anfahrt nach SPHERICON. Sie sind bei der Einschulung präsent. Sie handeln im wahrsten Sinne des Wortes in loco parentis – wie Eltern: Sie reden bei der Übergabe der Trainees mit den Lehrern, besichtigen Klassenzimmer, inspizieren die Schlafgelegenheiten, sind bei der Ansprache des Schulleiters präsent. Sie handeln kaum anders als wirkliche Eltern handeln würden, die nach reiflicher Überlegung entscheiden, ihr Kind in ein Internat zu geben, zum Wohle des Kindes, weil es anders nicht mehr geht. Sie, die Arbeitsvermittler, führen mit den Arbeitslosen in den Job Centers ausführliche Gespräche: Gespräche über die Unabwendbarkeit von SPHERICON. Über SPHERICON als große Chance. Eine Lebenschance. Sie sprechen in der Tat elterngleich: geduldig, fürsorglich, vorsorglich … Zum wiederholten Male. Sie appellieren an die Einsicht ihrer Schützlinge – im Jargon der Bundesagentur heißen sie auch: Clients oder Patients. Sie rechnen ihnen ihre Lage vor, in Worten wie in Zahlen. Sie rechnen offen und ehrlich: in Monaten und in Jahren, in Millionen und in Milliarden, in Menschen- und in Geldsummen. Sie sprechen – wie zu Sterbenskranken – von SPHERICON als neuartiger Methode. So wie Ärzte von neuartigen Operationsmethoden sprechen. Sie verweisen auf den ausgezeichneten Ruf von SPHERICON und reichen den neuen Schulprospekt: ›School of Life‹. Manche der Fotos in dem Prospekt nähren ein vages Gefühl von Schul- oder Studentenzeit. Die Schüler tragen eine Art dunkler Schuluniform. Sie, die Arbeitsvermittler, schweigen schmunzelnd. Später zitieren sie einzelne Sätze aus dem Prospekt: Arbeitslosigkeit ist kein Schicksal. Und SPHERICON keine gewöhnliche Schule. Sie überlassen den Arbeitslosen die Entscheidung – raten aber dringend zu. Und deuten an, dass sie nicht jedem ein solches Angebot unterbreiten. Nicht jedem. Man stellt denjenigen, die das Angebot annehmen, einen besonders vorteilhaften Status in den Dossiers der Bundesagentur in Aussicht. Einen Sonderstatus. Bei vollen Bezügen. Krankenversicherung bleibt bestehen. Sie reichen den Schulvertrag: zur Ansicht, dann zur Unterschrift. Mit der Unterschrift sind die Unterzeichnenden (der Bezeichnung nach) nicht mehr arbeitslos. Jedenfalls nicht mehr wirklich.
Die Arbeitslosen heißen nun Trainees. Bereits die Sprache SPHERICONs ist ein Neuanfang. Sobald die Trainees unterschrieben haben, werden sie von ihren Arbeitsvermittlern in SPHERICON angemeldet. Per E-Mail oder Fax. Die Arbeitsvermittler schicken Dossiers und Unterlagen an die Schulleitung. Überdies Bewerbervideos der Trainees. Dies als Formalität. Sie reichen den Trainees eine Auflistung der Habseligkeiten, die sie mitnehmen sollen – oder mitbringen dürfen. Sie geben den Trainees Tipps zur Vorbereitung auf den Schulalltag – nicht immer ein leichter Alltag – eine Umstellung auf ein Leben ständiger Übung und Herausforderung. Sie nennen Ort und Zeit, wann und wo sie sich zur Abfahrt einzufinden haben. Die Anreise nach SPHERICON erfolgt in Bussen der Bundesagentur.
Die ganze Zeit setzt man auf Freiwilligkeit – und auf Einsicht. Aus eigener Einsicht haben die Trainees die Notwendigkeit eingesehen. Sie selbst haben den Schulvertrag nach Hause genommen, ihn studiert und schließlich unterschrieben. Sie haben ihren Freunden und Familien davon erzählt, ihnen ihre Einschulung angekündigt, durchaus mit einem Ausdruck der Zuversicht. An manchem Familientisch erlebten Eltern und ihre Kinder zum ersten Mal seit Jahren Anzeichen von Hoffnung, wenn nicht Euphorie: dank SPHERICON. Eine Schule … Eine Chance … Jedenfalls ein Anfang … Der Schulprospekt kreiste in hellen Farben mit den Beratschlagungen der Familien um den Esstisch. Vornehmlich die Kinder waren von dem Prospekt angetan, besonders von den Schuluniformen. Wie auch von der Schulfahne, dem pädagogischen Konzept und seinen vielen englischen Bezeichnungen: Campus kommt von Camp … So steht es im Prospekt. Neben vielen anderen Dingen. Begleitet von Fotos: Fotos zweier Trainees (Mann und Frau) in einträchtiger Arbeit an einem Computermonitor. Fotos einiger Trainees beim Baseballspiel. Manche Familie öffnete zur Vertragsunterzeichnung eine Flasche Wein. Oder saß bis spät in den Abend – fast ausgelassen.
Wenige Tage später finden sie sich mit Gepäck auf dem Parkplatz des Arbeitsamtes ein. Dort wartet ein frisch gewaschener Bus der Bundesagentur. Mitarbeiter der Agentur eilen dienstbeflissen über den Parkplatz: Sie winken, sie grüßen, sie nicken, sie erklären. Ihr Winken ist ein Herbeiwinken: Kommen Sie nur näher. Sie stehen mit Namenslisten in ihrer Hand. Jeder Teilnehmer wird aufgerufen und registriert. Personalausweise werden eingesehen. Mit seiner Unterschrift bestätigt jeder Teilnehmer seine Anwesenheit. Jeder darf nur einen Koffer oder eine Tasche mitnehmen. Anweisung der Bundesagentur. Allen Teilnehmern der Maßnahme ist dies brieflich mitgeteilt worden. Neben anderen Punkten: Sozialversicherungsausweis, Schreibsachen, Englischgrammatik, Kulturbeutel, angemessene (d.h. dunkle) Kleidung, Socken, Unterwäsche, Pyjamas … Die meisten Teilnehmer sind in Begleitung von Freunden oder Angehörigen gekommen. Sie stehen unscheinbar am Rand des Hofes, jede Familie, jedes Paar für sich – in kaum hörbaren Gesprächen. Sie werden aus den oberen Fenstern des anliegenden Bürohauses beobachtet. Andere Teilnehmer sind alleine gekommen. Ohne sich von jemandem zu verabschieden, besteigen sie den Bus. Von einer freundlich nickenden Mitarbeiterin der Bundesagentur werden sie darin bestärkt. »Sie können gerne einsteigen.« Also steigen sie ein, suchen sich einen Platz und setzen sich. Starren gegen die Rückenlehnen der Vordersitze. So als würde der Bus bereits fahren. Die anderen Teilnehmer stehen noch draußen und sprechen und rauchen. Sie werden von ihren Angehörigen aufgemuntert. Mit kleinen Gesten. Per Händedruck. Oder mit leisen Worten, die vom Wiedersehen an Weihnachten sprechen, das in nicht einmal vier Monaten sein wird – gleich nach dem Ende des Trimesters. Wie schnell die Zeit vergehen wird. Selbst diese Zeit. Einige Angehörige machen Fotos. Fotos von Vätern und Müttern kurz vor ihrer Einschulung. Mit Mantel und mit Koffer und gar nicht so schlechten Aussichten. Im Hintergrund leuchtet der Bus der Bundesagentur, der sie nach SPHERICON bringen wird. Manche Teilnehmer stehen in der Tat wie Schüler – vor ihrer Einschulung. Oder kurz vor ihrer Versendung in ein Internat. Sie stehen in übertriebener Haltung, in steifarmiger Beherrschtheit neben ihren Familien und erleben wortlos ihren Abschied. Sie schauen auf die Uhr. Blicken in den Himmel. Oder auf den Boden … Der Busfahrer mahnt zur Eile. Die Koffer sollen endlich in den Laderaum des Busses. Die Luken stehen bereits offen. Die Trainees sammeln sich. Sie sammeln sich an der falschen Luke. Der Fahrer treibt sie zu einer anderen Luke. Sie stehen ihm entweder zu dicht gedrängt oder zu weit von ihm entfernt, bewegen sich entweder zu phlegmatisch oder unbeholfen-eifrig. Sind stets zur falschen Zeit an der falschen Stelle. Oder an gar keiner Stelle. Halten ihre Koffer in der falschen Hand. Oder wenn in der richtigen Hand, dann stehen sie an der falschen Luke oder an gar keiner Luke. Jede ihrer Bewegungen ist für den Fahrer eine verfehlte Bewegung, eine Bewegung ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Zug, ohne Linie … Er reißt ihnen die Koffer aus der Hand. Jeder Koffer ist ihm ein gesondertes Ärgernis, eine Sinnlosigkeit, reine Platzverschwendung, vergebliche Mühe. Die Begleiterin der Bundesagentur kann ihn kaum beruhigen. Sobald die Trainees ohne Koffer sind, bewegen sie sich auf die andere Seite des Busses. Dort stehen sie. Wie zum Schutz. Verabschieden sich von ihren Freunden oder Familien. Steigen ein. Je näher ihnen der Busfahrer kommt, desto schneller steigen sie ein. In schiefen Bewegungen gehen sie durch die Reihen des Busses, möglichst weit nach hinten. Der Bus ist in den hellen Farben der Bundesagentur gestrichen. Das neue Logo (ein langgezogenes A) ist weithin sichtbar. Darunter in kleineren Buchstaben: ›Bundesagentur für Arbeits‹. Und daneben der Slogan: Deutschland bewegt sich. Als Letzte besteigt die Begleiterin der Bundesagentur den Bus. Sie nickt dem Fahrer zu. Die Türen schließen sich. Der Fahrer startet den Motor und fährt den Bus aus dem Hof. Die Angehörigen der Teilnehmer winken hinterher. Im Bus gehen die Blicke nach vorne, auf die Rücklehnen der Vordersitze oder schräg aus den Fenstern. Aus eigener Einsicht …
»Aus eigener Einsicht …« So sagte es ein berühmter Talk-master im Fernsehen, so sagte es der Bundespräsident in einer Ansprache, so steht es in den Handbüchern der Bundesagentur: Einsicht in die eigene Lage, in die Unhaltbarkeit fehlgeleiteter Hoffnungen und Wünsche, in die Ungangbarkeit eines beschrittenen Lebensweges. Wenn man will: Einsicht in ein falsch begangenes Leben. Beziehungsweise in ein fehlgeplantes, ja fehlgeschlagenes Leben. Gleich der Einsicht von Strafgefangenen oder Drogenabhängigen: Wir haben falsch gelebt. Falsch!
Die Begleiterin der Bundesagentur ergreift das Mikrofon. Sie trägt einen blauen Rock und eine weiße Bluse mit kleinen farblichen Nuancen. Ein wenig wirkt sie wie eine Flugbegleiterin. Ihre Kleidung entspricht dem neuesten Dress Code der Bundesagentur. Es gibt drei Kleidungsstufen: business, business casual, smart casual (Abstufungen nach IBM-Standard). Sie trägt, da dies eine offizielle Dienstreise ist, business casual. »Ich grüße Sie. Mein Name ist Neumann. Es ist Donnerstag, der 01.09., 11 Uhr 30.« Mittels einer Liste überprüft sie die Anwesenheit der Teilnehmer. Sie nickt, sie vergleicht, sie notiert. Sie erklärt den Teilnehmern: »Wir fahren nun etwa 150 Kilometer. Machen Sie es sich bequem. Genießen Sie die Landschaft.« Sie schaltet das Mikrofon aus und geht von Sitzreihe zu Sitzreihe, von Teilnehmer zu Teilnehmer. Sie spricht, sie informiert, sie muntert auf – je nachdem. Das Alter der Trainees geht von Mitte zwanzig bis Mitte vierzig. Einige sitzen mit ernsthaften Hoffnungen. Hoffnungen auf ein irgendwie geartetes Weiterkommen dank SPHERICON. Sie sitzen aufrecht und studieren den Schulprospekt. Oder lernen Englischvokabeln. Nicht ohne Stolz empfangen sie die wohlwollenden Blicke der Begleiterin. In diesen Momenten wirkt sie wie eine fürsorgliche Stewardess. Andere sitzen ohne allzu große Hoffnungen. Sie starren auf die Autobahn. Und werden ihrerseits angestarrt, aus dem Inneren vorbeifahrender Autos. Manche Autofahrer überholen den Bus langsam, um einen Blick zu erhaschen, andere in übertriebener Geschwindigkeit, so als wäre der Bus ein gefährliches Omen. Oder eine ansteckende Krankheit. Der Busfahrer spielt Musik. Einige Trainees haben Schultaschen dabei, entweder neu gekaufte Schultaschen oder Schultaschen aus ihrer Schulzeit, mit Unterlagen, Bescheinigungen und Zeugnissen. Die unterschiedlichsten Schulabschlüsse befinden sich in diesen Taschen: Hauptschulzeugnisse, Realschulzeugnisse, Abiturzeugnisse … Einige tragen Universitätsgrade mit sich … Weitere Bildungs- und Weiterbildungs- und Berufsbescheinigungen liegen wie Trumpfkarten in gesonderten Dokumentenmappen bereit.
Die Begleiterin verteilt Lunchpakete. Jeder bekommt ein Käse- und ein Schinkensandwich, ein hartgekochtes Ei und einen Schokoladenriegel. Später holt sie aus einer Kiste rechteckige Kunstledermappen, die sie den Teilnehmern überreicht: »Eine kleine Aufmerksamkeit der Bundesagentur zum Schulanfang …« Mit diesen Worten geht sie von Sitz zu Sitz. Jede Mappe enthält einen Collegeblock, zwei Kugelschreiber, einige Blankostundenpläne, CD-Rohlinge, ein Päckchen Kaugummis und ein Buch – die Romanversion der berühmten Fernsehserie ›Job Quest‹. Noch auf der Fahrt fangen die ersten Trainees an darin zu lesen.
Auf einem Parkplatz an der Autobahn machen sie Rast. Der Busfahrer gewährt den Teilnehmern eine Pinkelpause. Genau fünf Minuten. Keine Minute mehr. Manche steigen aus, um sich zu strecken. Sie gehen einige Schritte – letzte eigenständige Schritte. Die Aufschrift des Busses ist überall zu sehen: ›Bundesagentur für Arbeit‹. Die Reisenden in den anderen Bussen schauen hinüber: Wer aus diesem Bus aussteigt. Wie sie aussteigen. Wie sie angezogen sind. Ihre Blicke gehen verlegen zur Seite, zurück in ihren eigenen Bus, Richtung Urlaubsreise, weit weg, vielleicht nach Frankreich oder Spanien; während die Trainees – wie Fremdkörper – zwischen all den Reisebussen umherwandeln – eher stolpern als wandeln. Oder herumstehen, als würden sie zum letzten Mal in ihrem Leben irgendwo stehen. Die Begleiterin der Bundesagentur treibt zur Eile. Sie ruft die Arbeitslosen mit lauter Stimme zusammen. Wenn sie wollte, könnte sie ein Megaphon herbeiholen. Es liegt unter ihrem Sitz. Der Fahrer startet den Motor. Er hupt. Schon zum wiederholten Male, in kurzen, energischen Stößen. Die letzten der draußen Verbliebenen steigen ein. Die Türen schließen. Langsam fährt der Bus an den anderen Bussen vorbei, wie eine rollende Plakat- oder Kinoleinwand: ›Bundesagentur für Arbeit. Deutschland bewegt sich‹. Sie fahren zurück auf die Autobahn, Richtung SPHERICON.
Die Begleiterin überprüft die Vollständigkeit der Teilnehmenden. Eine Formalität nach jedem Zwischenstopp. Sie zählt vor und wieder zurück. Sie zählt ein erstes Mal und ein zweites Mal … Zwei Teilnehmer fehlen. Sie stellt dies fest, ruhig, ohne jede Erregung, ruft die einzelnen Teilnehmer erneut namentlich auf und vermerkt ihre Anwesenheit in einer Liste. Nun kennt sie die Namen der beiden Vermissten. Zwei Vierzigjährige. Ein Mann und eine Frau. Die Frau trug einen Lodenmantel. Keiner hat die beiden wirklich gesehen. Niemand weiß, ob sie zusammen gegangen sind oder jeder für sich alleine im angrenzenden Wald verschwunden ist – oder sich noch irgendwo auf der Raststätte befindet, in der Ecke eines Waschraums oder auf irgendeiner Toilette. Die rechteckigen Kunstledermappen liegen noch auf ihren Sitzen. Ihre Koffer sind unten im Laderaum. Die Begleiterin meldet es dem Busfahrer. Er kommentiert dies mit einer wegwerfenden Handbewegung. So als hätte er nie etwas anderes erwartet: nicht nur von dieser Pinkelpause, sondern von der ganzen Fahrt, von jedem einzelnen Gesicht seiner arbeitslosen Fracht – verschwendete Müh! Dann greift sie zu ihrem Handy und meldet den Vorfall der Bundesagentur. Minuten später sind die beiden Vermissten erfasst, nicht leibhaftig, sie können gehen, wohin sie wollen, ohne gesucht oder verfolgt zu werden – vielmehr in den Computern der Bundesagentur. Der Vorfall ist unumkehrbar vermerkt. Jeder weitere Anspruch gegenüber der Bundesagentur ist verwirkt. Ab jetzt stehen sie außerhalb jedweder Obhut. Ihre Namen und Daten werden zum Löschen freigegeben. Ihre Koffer werden entsorgt. Als wären zwei Menschen mitten auf dem Meer von einem Schiff gesprungen, ins Nichts.
Nach einer internen Richtlinie der Bundesagentur dienen die Busse vielfachen Demonstrationszwecken: Demonstration der Leistungsfähigkeit, der Bemühung, der Bewegung … Durchaus auch fahrende Schreckbilder, wenn nicht: Abschreckbilder.
Der Bus verlässt die Autobahn und durchfährt eine unscheinbare Stadt. An ihren Rändern erstreckt sich ein Industriegebiet aus den achtziger Jahren. Es befindet sich im Verfall. Niemand hätte noch vor wenigen Jahren glauben mögen, dass neu gebaute Häuser so schnell verfallen können. Sie können. Die meisten Gebäude stehen leer. Sie sind von großflächigen Pfützen umgeben. Ihre Dächer liegen eingebrochen auf Schutthaufen. Aus den Wänden wachsen kleine Büsche. Manche Straßen sind gesperrt. Irreparabel. Ihr Asphalt ist an unzähligen Stellen aufgesprungen. Die meisten Straßen haben ohnehin weder Zweck noch Ziel. Sie führen nirgendwo mehr hin. Ihre Gebäude sind verwaist. Also wurden diese Straßen geschlossen. Und so passiert man Straßen- auf Straßennamen, die mit Sperrgittern und Sperrschildern verstellt sind: Straße geschlossen.
SPHERICON liegt in der Düsseldorfer Straße. Sie ist noch nicht geschlossen. Ihre Gebäude wurden notdürftig umfunktioniert, in Bowling Centers, Ersatzteillager und sektiererische Gotteshäuser. Eher Gotteszelte als Häuser. Neben einem Versandhaus für Staubsauger beginnt SPHERICON. School of Life steht auf einem Spruchband über dem Hauptgebäude. Der Bus hält an der Pforte. Busfahrer und Pförtner heben die Hand zum Gruß. Die Schranke öffnet sich. Der Bus fährt vor das Hauptgebäude. Dort stehen andere Busse der Bundesagentur. Sie kommen aus ganz Deutschland. Ihre Insassen stehen bereits auf dem Schulhof, vereinzelt, zwischen Bussen verborgen, oder in kleinen Grüppchen. Sie rauchen, blicken sich um und warten ab. Zwei Arten von Gepäck gibt es: Koffer oder Sporttaschen. Die Sporttaschen zeugen von Zuversicht und Bereitschaft. Vielleicht sogar von so etwas wie Jugend. Hinter einer blauen Linie, die quer über den Hof geht, sieht man die ersten Mitarbeiter SPHERICONs. Sie tragen Schuluniform. Vom Inneren des Busses aus gesehen wirken sie wie Zöllner an einer Grenzstation. Stehen betont gelangweilt, den Trainees leicht abgewandt, in beiläufigen Gesprächen. Hände hinterm Rücken verschränkt. Einige andeutungsweise wippend – in der Tat wie Zöllner. Hin und wieder geht ein Blick von ihnen über die blaue Linie hinweg zu den Trainees. Ansonsten werden – wie an jeder eminenten Grenze – die Ankömmlinge erst einmal sich selbst überlassen: Man lässt sie warten. Beobachtet sie aus dem Augenwinkel. Sondiert mit einzelnen Blicken verdächtige Bewegungen oder irgendwelche Besonderheiten. Sonst nichts. Wenigstens für die erste Zeit.
Die Art ihrer Schuluniform: weiße Hose und ein dunkelblauer Blazer mit Schulwappen (eine Pyramide). Die Kleidung wirkt teils akademisch, wie englische Schuluniformen, teils sportlich. In der Façon angelsächsischer Sportarten: Cricket mit einer Andeutung von Baseball. Einerseits nüchtern englisch, andererseits schulterklopfend amerikanisch. Teils Harrow, teils Yale, und ein wenig Deutschland. Je nach Blickwinkel.
Nach und nach beginnen sich die Trainees zu sammeln und zu ordnen. Sie stellen sich hintereinander auf. Es bilden sich erste Schlangen, ohne dass es irgendjemand angeordnet hätte. Sie beginnen vor der blauen Linie in der Hofmitte und enden an den Gepäckluken der jeweiligen Busse. Jede Schlange ist mehr oder weniger ein Buskontingent. Die Türen des letzten Busses öffnen sich. Die Begleiterin steigt aus. Sie geht über den Hof zur blauen Linie, begrüßt einen Mitarbeiter von SPHERICON und reicht ihm Papiere. Er nimmt sie entgegen. Sie kommt wieder zurück und gibt den Businsassen das Zeichen zum Aussteigen. Die Gepäckklappen öffnen sich. Jeder holt sein Gepäck. Dann stehen auch sie mit ihren Koffern oder Sporttaschen auf dem Hof – zunächst unschlüssig, um dann, schneller noch als die anderen Buskontingente, sich hintereinander aufzustellen. Wie von selbst. Ohne ein lautes Wort.
Ein Mitarbeiter SPHERICONs tritt an die blaue Linie. Er hält ein Megaphon, durch das er die Angekommenen jenseits der Linie begrüßt. »Willkommen in SPHERICON.« Er ruft dies mehrere Male. »Willkommen in SPHERICON.« Auf Deutsch und auf Englisch: »Welcome to SPHERICON.« Er dreht sich dabei im Uhrzeigersinn von Buskontingent zu Buskontingent. Spricht in kurzen Sätzen: Ob alle gut angekommen? Gut geschlafen? Ausgeruht? Guter Dinge? Für das neue Trimester bereit? »Ready, able and willing.« Er stellt sich vor: »Armstrong … Stellvertretender Schulleiter … Deputy Headmaster … Armstrong …« Deutet auf das Schulgebäude. School of Life. Betont das schöne Wetter. »Welch ein Tag.« Weist auf den Schulhof. Auf den Asphalt des Schulhofes sind großflächig Buchstaben gemalt. In Leuchtfarbe. A, C, H, P1, P2, R, T. »Können Sie das sehen?« Die Trainees blicken auf den Boden. »Sehen Sie es?!« Sie sehen es. A, C, H, P1, P2, R, T. Jeder Buchstabe ist ein … Buchstabe, ein Kürzel, eine eigene Bedeutung, eine feste Größe, ein eigener, künftiger Klassenverband. In der Sprache SPHERICONs: ein Bewerbungsteam. Eine Gemeinschaft, eine eigene Wohngruppe, ein Schlafraum, ein Esstisch in der Cafeteria. Und noch weit mehr. A, C, H, P1, P2, R, T. An jedem Buchstaben hängt eine Identität, ein eigener Geist, eine Zukunft … An jedem Buchstaben wartet der zuständige Trainer – auch Ansprechpartner, Vertrauenslehrer, Mentor, Teamleader, Captain … Er hält das Megaphon dichter an seinen Mund: »Alle Trainees werden namentlich aufgerufen.« Ein Kollege reicht ihm eine Liste. »Ist das verstanden? Is that clear? Alle Trainees werden aufgerufen und begeben sich zu dem angegebenen Buchstaben.« Mit der Bitte um Beeilung. Er beginnt die Namen der Liste zu verlesen: »Amann, Björn … Nach T …« Ein Mann mit einer Sporttasche meldet sich. »T … Gehen Sie über die blaue Linie nach T!« Er geht mit seiner Sporttasche über die Linie nach T. »Bause …« Meldet sich mit erhobener Hand. »P2 …« Eilt zu P2 … »Bergmann …« Ist mit wenigen Schritten an der blauen Linie. »Zu A …« Manche Trainees eilen über die Linie wie über eine viel befahrene Straße. Einige rennen geradezu. »Döring zu P1 …« Nach und nach bildet sich um jeden Buchstaben eine Gruppe. Während die andere Hofhälfte sich leert. Die Busfahrer stehen für sich, in kleinen Gesprächen mit abwinkenden Gesten. Manche der Trainees sind seit Jahren nicht mehr gerannt. Nun rennen sie. Bis der letzte Name aufgerufen ist und bei seinem Buchstaben vor seinem Trainer steht.
Die Trainer sprechen nun zu ihren Gruppen, in kurzen abgehackten Sätzen, so als wären sie selbst gerannt. Sie erklären: (1) Wer sie sind – »Ich heiße Fest, Ansgar Fest.« (2) Vor welchem Buchstaben die Gruppe steht – A. (3) Was A bedeutet? Es bedeutet APOLLO. (4) Was unter einer Gruppe zu verstehen ist? Ein Team, eine Klasse, eine Gemeinschaft. (5) Wo die Gruppe schläft? In einem Schlafraum. (6) Wer die Gruppe unterrichtet? Ansgar Fest. (7) Was ein Lehrer in SPHERICON ist? Ein Ansprechpartner, Mentor, Teamchef und Begleiter. Auch eine Vertrauensperson. Und vieles mehr … All dies erklärt Ansgar Fest in klaren, knappen Sätzen. Die anderen Gruppen machen sich bereits auf den Weg in das Schulgebäude. Der größte Teil des Schulhofes ist bald menschenleer. Die Begleiter der Bundesagentur stehen abseits.
Nichts soll so bleiben, wie es ist, heißt ein Credo SPHERICONs. Jede Gruppe, die im Hof aufgestellt wurde, ist eine eigene, neu zusammengestellte Gruppe. Aus bestehenden Gruppen herausgerissen und neu zusammengesetzt. Nach dem Motto der Schulleitung: Diversität, Novität, Kontingenz. Nichts soll so bleiben, wie es ist. Bestehende Verbindungen gilt es aufzumischen. Entstandene Strukturen sind neu zu durchdenken. Immer wieder aufs Neue. Beweglichkeit, Elastizität, Unvorhersehbarkeit. SPHERICON bedeutet fortlaufende Veränderung: ein Nicht mehr und ein Noch nicht.
Ansgar Fest führt seine Gruppe in das Hauptgebäude. Über der Eingangstür weht die Schulfahne, auf der eine Pyramide zu sehen ist. Es beginnen nun die Formalitäten der Aufnahme, in der Sprache SPHERICONs: Check-ins. Registrierung an der Pforte; Abgabe der Personal- und Sozialversicherungsausweise sowie Krankenversicherungskarten; Ausschalten der Handys; Einweisung in die Schlafplätze; Gepäck auspacken; Sanitäre Einrichtungen; Sicherheitsbestimmungen; Hausordnung; Dress Code etc. Ansgar Fest geht voraus. Die Trainees folgen. Im Eingangsbereich hängen Stundenpläne. An einer Tafel kleben Ankündigungen. Scherenausgabe 8 Uhr. Scherenrückgabe 14 UhrPHERICONZusammen lernen bedeutet zusammen leben. Und umgekehrt. In der Regel leben und lernen männliche wie weibliche Trainees in einer GruppeDies der Stand modernster Koedukation. Siehe auch: Koedukative Spannungen, koedukative Maßnahmen, koedukative Vibrationen