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Joachim Zelter

Die Würde des Lügens

Roman

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Aaron, Barabas, Edmund, Iago & Richard gewidmet

Joachim Zelter 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Autor von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, die an zahlreichen deutschen und österreichischen Bühnen gespielt werden. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, der Fördergabe der Internationalen Bodenseekonferenz, dem Großen Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg sowie dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg. Bei Klöpfer & Meyer sind, teilweise in mehreren Auflagen, erschienen: »Briefe aus Amerika«, »Die Würde des Lügens«, »Die Lieb-Haberin«, »Das Gesicht«, »Betrachtungen eines Krankenhausgängers«, »Schule der Arbeitslosen«, »How are you, Mr. Angst?«, »Der Ministerpräsident«, »Die Welt in Weiß« und zuletzt 2012 »untertan«.

Originalausgabe Klöpfer & Meyer, Tübingen 2007.

© 2013 Klöpfer und Meyer, Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-86351-110-9
eISBN: 978-3-86351-235-4

Umschlaggestaltung:
Christiane Hemmerich Konzeption und Gestaltung, Tübingen.
Titelbild: privat.
Herstellung: Horst Schmid, Mössingen.
Satz: niemeyers satz, Tübingen.

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Ein Bildungslügenbericht

Ein Lügenbildungsbericht

»I have read, for example, of the old sucking the blood
of the young in order to retain their youth.«

Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Sussex Vampire

»It was she – she beyond all question – who had drunk
the poor baby’s blood.«

Arthur Conan Doyle, The Adventure of the Sussex Vampire

»Whoso eateth my flesh, and drinketh my blood, hath
eternal life; and I will raise him up at the last day.
For my flesh is meat indeed, and my blood is drink indeed.
He that eateth my flesh, and drinketh my blood,
dwelleth in me, and I in him.«

St. John, 6:54-56

Inhalt

[C-60 Kassette]

Erstes Band

Zweites Band

Nachtrag

Weitere E-Books des Autors

[C-60 Kassette]

»Die Wahrheit ist schön«, sprach unser Lehrer und schaute von seinem Kreuzworträtsel auf, an dessen Lösung er stundenlang gearbeitet hatte, während wir Schüler im Schulzimmer des Schullandheims versammelt saßen, ihm zuschauten, oder uns anschauten, oder in die Nacht starrten … Denn die ganze Nacht hielt man uns an diesem Ort fest, nachdem sich tags zuvor herausgestellt hatte, dass in der Speisekammer des Landschulheims eingebrochen worden war, wo eine riesige Wurstdose stand, eine regentonnengroße Wurstdose mit viererlei Arten Würsten, und dass einige dieser Würste nun fehlten. Die Köchin, die dies dem Lehrer gemeldet hatte, konnte es beschwören. Während des Abendessens wurden wir dazu befragt. Der Lehrer betonte immer wieder: Es gehe nicht um die Wurst, sondern ums Prinzip. Um welches Prinzip? Um das Prinzip der Aufrichtigkeit, mehr noch, um das Prinzip der Wahrheit. Wahrhaftigkeit war ein weiteres Wort des Lehrers: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Nur darum gehe es, und um das Prinzip. Der Schuldige solle endlich aufstehen und die Wahrheit sagen. Auch wenn es sich um eine unangenehme Wahrheit handle – der Betroffene solle den Mut aufbringen, uns die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Er fixierte uns und hielt Ausschau nach verschämten oder verdächtigen Blicken. Wir alle blickten verschämt und verdächtig. »Ich verlange Aufklärung«, rief der Lehrer. Der Betroffene könne straflos sprechen … Es werde keine Strafe geben. Die Wahrheit sei die Strafe, so wie umgekehrt jede Strafe ein Weg der Wahrheit sei.

Wir konnten seinen rasenden Ausführungen kaum folgen. Wahrheit sei die Übereinstimmung von Wort und Sache, von Sprache und Mensch, von Mensch zu Mensch … Wir schauten ihn mit vollen Mündern an … Plötzlich erklärte er das Essen für beendet und ließ abtragen. Jeder von uns sollte sein eigenes Essen mitten im Essen abtragen und in die Küche bringen, wo die Köchin wartete und immer wieder bei ihrem guten Ruf als gute Köchin schwor, dass einige Würste fehlten.

Wir hatten uns im Schulzimmer zu sammeln. »Setzen!« Dort wurden wir die Nacht festgehalten: »Ich warte auf eine Meldung.« Und er wartete. Und wir warteten. Wir warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. »Ihr kommt nicht eher ins Bett, als bis ich die Wahrheit höre.« Er wollte die Wahrheit hören, vor Zeugen, vor der ganzen Klasse. Eine schriftliche Mitteilung war ihm nicht genug. Heute wollte er die Wahrheit hören, in aller Öffentlichkeit. Und er zitierte einen englischen Dichter, der gesagt haben soll: Die Wahrheit ist schön. Er schritt auf und ab und verlangte nach Aufklärung. Niemand meldete sich. Und er wartete. Und wir warteten. »Ihr kommt nicht eher ins Bett, als bis die Wahrheit raus ist.« Er beobachtete uns. Wir beobachteten uns. Hin und wieder blätterte er in einem Buch. Dann wieder seine Stimme: Die Wahrheit sei im Zentrum von allem, in der Wissenschaft, in der Bildung, in jeder menschlichen Gemeinschaft, selbst in der Kunst. Sie sei unentbehrlich, unvermeidlich, unabwendbar … Es war nach Mitternacht; wir konnten uns kaum mehr auf den Stühlen halten; schlaftrunken starrten wir im grellen Neonlicht in die Gesichter starrsinniger Lügner … Es öde ihn an, mit einer Lüge, mit einem Lügner unter einem Dach zu leben. Der Betroffene solle endlich den Mut aufbringen und die Hand heben und die Wahrheit sagen, für sich selbst, für die anderen, für die Wahrheit … Dann pflügte sein Rotstift wieder durch die Reihen seines Kreuzworträtsels …

Die Wahrheit ist gut. Die Wahrheit ist schön. Die Wahrheit ist wahrlich wahr. Warum sagt sie dann niemand? Wozu diese Zurückhaltung und Bescheidenheit? Warum überbieten wir uns dann nicht mit vorlauten Wortmeldungen: Ich, nein ich, ich kenne und sage die Wahrheit. Schamlos und straflos bekenne ich mich zur Wahrheit. Mehr noch: Ich bin die Wahrheit, denn ich bin’s, der die Wurst aß, heimlich, nicht nur eine, sondern zwei Dutzend, Leberwurst, Bockwurst, Blutwurst, Schwartenmagen, nicht nur aus dieser Dose, sondern aus anderen Dosen, aus Riesendosen, größer als Regentonnen – die Köchin kann’s beschwören. Ich bin die Wahrheit, und ihr alle seid Lügner, denn ich aß die Wurst, nicht ihr, ich habe es getan, und ich tat es für euch, und für die Wahrheit, damit ihr endlich ins Bett kommt … Ich aß all diese Würste für euch, obgleich ich Wurst verabscheue, denn eigentlich bin ich Vegetarier. Ich aß sie gegen meinen Willen, gegen meinen Geschmack, nur für die Wahrheit. Ja, die Wahrheit ist schön, und ich wollte diese Schönheit nun endlich sehen, am eigenen Leib erleben.

Behutsam suchte ich den Blick des Lehrers.

Als er mich bemerkte, hob ich meine Hand.

Er lächelte: »Ja?!«

Ich hörte mich sagen: »Ich war es.«

Er lächelte. Es dämmerte. Zum Morgengrauen schließlich der Sieg der Wahrheit. Die anderen blickten zu mir. Sie schauten verächtlich. Doch sie gähnten auch erleichtert. Als mich der Lehrer fragte, warum ich die Wurst heimlich gegessen hätte, wenn es doch so reichlich von ihr zu den Mahlzeiten gebe, wusste ich zunächst keine Antwort. Er ließ nicht von mir ab und fragte immer wieder nach dem Warum.

»Warum?«

Ich wusste es nicht.

»Warum?«

Schließlich hörte ich mich sagen: »Ich tat es für die Wahrheit.«

[Pause]

Die Wahrheit ist schön. Schön und gut. Doch hier beginnt ein Problem. Die Wahrheit zerstört sich selbst. Denn mit der Behauptung, dass alles wahr sei, behaupten wir auch die Wahrheit der entgegengesetzten Behauptung, dass alles falsch sei, und behaupten damit die Falschheit unserer eigenen Behauptung. Wer das behauptet? Aristoteles. Doch ich selbst habe mir dieses Problem vor Aristoteles ausgedacht, während die anderen schliefen …

Die Wahrheit ist schön, schön und gut. Zum Beispiel die Frau des Lehrers: Sie war eine Wahrheit, eine unumstößliche, lärmende und wuchtige Wahrheit, unüberhörbar und unübersehbar. Doch war sie deshalb schön? Meine Zensuren, sie waren eine unbestreitbare Wahrheit, doch waren sie deshalb gut? Und wenn ich dennoch daheim von guten Zensuren berichten konnte, waren sie deshalb wahr? Meine Kopfschmerzen, eine gesicherte Wahrheit, warum sollte mich mein Kopf belügen!? Aber wo war der Nutzen dieser bohrenden Wahrheit!? Wo? Oder: Mein geliebter Hund, der eines Morgens tot neben meinem Bett lag. Auch dies ist eine Wahrheit, eine unvergessbare Wahrheit. Warum sollte mich mein Hund belügen!? Gott, meinetwegen eine Wahrheit … Ist er deshalb gut? Der Dreißigjährige Krieg, wieder eine Wahrheit, im Namen der Wahrheit geführt … So lernte ich’s in der Schule. War dieser Krieg deshalb schön oder gut? Im Namen der Lüge wurde noch kein Krieg erklärt. Im Namen der Lüge wurde noch kein Mensch verfolgt, gefoltert, gequält, getötet …

Warum also immer Wahrheit? Warum? Warum nicht lieber Unwahrheit!? Warum nicht lieber die Lüge? Lügen ist bewusstes, absichtliches Erregen von Schein. Was daran so schlecht sein soll? Ich weiß es nicht. Andere glauben es zu wissen. Die Falschheit einer Vorstellung war mir noch nie ein Einwand gegen eine Vorstellung. Die Frage ist, ob sie dem Leben hilft, das Leben fördert, unser Leben steigert. Lebenssteigernd ist das Wort. Ich kenne Menschen, die wurden erst durch Lügen alt, sehr alt, wenn nicht unsterblich. Ja, es gibt einen Menschen, der von meinen Lügen lebt und lebt, und immer weiterlebt … Und ich hörte von Menschen, die an einer einzigen Wahrheit, etwa einer tödlichen Diagnose eines Arztes, starben. Die Wahrheit umgibt meist etwas Tödliches, Hartes, Verletzendes und Unerbittliches. Sie kommt daher mit großen Absichten, aber ohne Rücksichten. Ich sage dir jetzt die Wahrheit, jetzt, für immer und ewig, ganz und gar, schonungslos und rücksichtslos … Derlei Vorreden verheißen meist nichts Gutes. Anders der Lügner, der viel behutsamer spricht und auch Rücksicht nimmt, auf das Wohlbefinden der anderen sowie auf das eigene Leben. Keine Lüge auf der Welt käme auf die Idee, zu behaupten, deine Eltern sind soeben gestorben, wenn sie in Wahrheit noch leben. Die Wahrheit überbringt derartige Nachrichten, täglich. Mit welcher Inbrunst sie vom Tod spricht, selbst dort, wo noch Leben ist. Ich weiß wovon ich spreche. Man sagt, der Glaube versetzt Berge, so auch die Lüge. Die Wahrheit schafft Berge oder zerstört sie. »Nicht, dass er uns belog«, sagten Nachbarn über mich, »sondern dass wir ihm nicht mehr glauben können, hat uns erschüttert.« Ich weiß wovon ich spreche. Ohne die beständige Fälschung und Zurechtdichtung der Welt wären die Menschen, die mir etwas wert sind, denen selbst das Leben etwas wert ist, längst tot. Erst das Umschleiertsein durch den Schein und die Illusion gewann ihnen ein Lächeln ab. Ohne das Netz schöner Illusionen, ohne dieses Illusionsnetz, das ich mit ihnen und auch für sie spann, wären diese lieben Menschen längst unerkannt verendet. Je weiter ich sie von der Wahrheit wegführte, umso beglückender, schöner und besser wurde ihr Dasein. Verzichtleisten auf Lügen wäre Verzichtleisten auf Leben – wäre das Ende des Lebens. Das einzige Problem der Lüge ist, dass sie zu viel Sinn macht. Die Wirklichkeit macht selten Sinn, auch nicht die Wahrheit. Wahrheit!? Pah!? Was ist schon Wahrheit? Die zweckmäßigste und die am meisten geglaubte Lüge. Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Ich habe sie erfunden. Nichts lügt besser als die Wahrheit. Und niemand lässt sich leichter belügen als der Realist.

Wer das alles behauptet? Ich behaupte es. Ich weiß es. Ich wusste es von Anfang an, und nach mir einige wenige große Denker des 19. Jahrhunderts, die ich gerne höre und zitiere – die ich hier bereits zitiert habe, für die Lüge zitiert, ohne Namen zu nennen. Lügend zitiert oder gestohlen. So wie ich einige Seiten von Heidegger gestohlen habe. Doch ich wusste all dies schon vor ihnen, noch bevor ich von Nietzsche, Vaihinger und anderen Verbündeten meines Wissens hörte, bevor sie mir nachts zusprachen, noch bevor ich Martin Heidegger traf. Sie waren nur Bestätigungen, verspätete Sprachrohre meines stummen Wissens, das schon da war, bevor ich richtig sprechen konnte. Von Anbeginn meines Daseins und Denkens waren diese Ideen in mir. Sie mussten nicht in Fleisch und Blut übergehen. Sie waren von Anfang an Fleisch und Blut – Herz und Verstand folgten später. Man könnte sagen: Mit der Muttermilch eingesogen, wenn es nicht umgekehrt gewesen wäre, wenn ich diese fleischgewordenen Ideen nicht vom ersten Tag meines Lebens ausgestoßen und andere sie gierig aufgesogen hätten, besonders meine Mutter, meine große Mutter …

[Stop]

Erstes Band

[Start]

Meine erste Erinnerung ist eine Hand, die zurückgezogen wurde. Sie lag in der Dunkelheit neben mir und dann auf mir. Plötzlich Licht und laute Stimmen, und die Hand wurde zurückgezogen. Sie kam nie mehr wieder. Später weckte mich Licht.

Es geschah immer das Gegenteil. Wenn ich Hunger hatte und meinen Mund zu laut öffnete, dann blieb ich alleine. Wenn ich dagegen lächelnd bedeutete, dass ich gar nicht hungrig war, obwohl ich großen Hunger hatte, dann wurde ich satt. Ich tat immer das Gegenteil. Wenn ich müde war, dann blieb ich wach. Wenn ich unruhig war, dann lag ich lieber ruhig. Wenn ich nicht schlafen konnte, dann schlief ich trotzdem. Im Gegenteil wurde vieles immer besser.

Ich sah ein gewaltiges Gestirn, ein stirnrunzelndes Runzelgestirn, plötzlich über mir. Dies war der erste und größte Planet, die Farbe gelblich-vergilbt. Er starrte mich an. Dann wieder Nacht. Der Planet kehrte wieder. Er ging über mir auf, schaute auf mich herab, und ging wieder unter. Und wieder Nacht. Ich hörte brummende Laute, mürrische Brummlaute. Sie kamen von weit her, aus dem Licht, das hinter der Dunkelheit lag. Mein Planet hasste laute Laute, wurde selbst laut, wenn ich zu laut wurde. Wenn ich ihn ruhig anschaute, dann blieb er über mir. Wenn ich wegschaute, dann ging er lautlos unter. Ich konnte einiges bewirken. Je ruhiger ich wurde, umso weicher wurde die ledrige Haut des Planeten, wenn er mich berührte und später sogar streichelte. Manchmal kreisten um den Planeten kleinere Gestirne, ihre Farben grünlich oder bläulich. Sie waren mondartige Trabanten und hielten sich im Hintergrund. Der größte Planet schüttelte sie grollend ab. Sie wurden verscheucht, wie Fliegen. Dann wieder mein alter Planet, eine Ewigkeit über mir …

Einmal ging der Planet auf, und ich mit ihm. In seinen Armen flog ich durch das Zimmer, als wäre ich selbst ein kleiner Planet. Als ich aufhörte zu fliegen, bewegte ich mich aus eigener Kraft, zuerst auf allen vieren, später aufrecht stehend. Ich stand. Ich machte einen Schritt. Viele Gestirne sammelten sich am Himmel und riefen und fuchtelten mir zu. Plötzlich stürzte sich mein Planet auf mich. Er umarmte mich. Er hob mich. Er stellte mich auf einen Tisch und sprach. Er sprach über mich. Die anderen nickten. Ich sollte auf der Tischplatte laufen. Also fing ich an zu laufen. Ich sah in einen furchtbaren Abgrund. Der Tisch war aus Glas. Ich lief weiter. Ich lief im Kreis. In der Mitte des Tisches stand eine Vase mit Blumen. An dieser Vase konnte ich mich zur Not festhalten. An dieser Vase wollte ich mich auch festhalten … Ich hörte einen lauten Schrei und tat es lieber nicht. Also lief ich freihändig auf Glas hoch über dem Boden, wie ein Artist. Als ich wieder stand, gab es Applaus. Mein erster Applaus! Viele Nachmittage war ich auf dem gläsernen Tisch und machte dort meine Rundgänge. Um den Tisch herum saß mein Publikum. Ich machte Verbeugungen. Auch dafür gab es Applaus. Einmal rutschte ich auf einer Serviette aus und flog auf den Boden. Instinktiv schrie ich lieber nicht.

Mein erstes Wort: gro, groo…, ja, grooo…, weiter, groooss, ja, groooss… Ich erstickte fast an diesem Wort, so sehr wurde ich umarmt. Ich sagte es noch mal: GROOOSS. Groß war mein erstes Wort. Groß war ein großes Wort, und groß war die Zustimmung der anderen Stimmen. Groß waren die Wörter über mir. Groß waren die Hände auf meinem Kopf. Groß waren die lachenden Münder vor meinem Großwort. GROOOSS. Noch mal. GROOOSS. Noch mal. Das Wort war noch nicht zu Ende. Es ging weiter: GROOOSSMA… Weiter! GROOOSSMAMA. Plötzlich rollte eine Schokoladenkugel in meinem Mund. Ich weiß nicht, wie diese Kugel in meinen Mund kam. Vielleicht durch einen Kuss? Ich wurde oft geküsst. Für jedes neue Wort, das ich sprechen konnte, bekam ich einen Kuss, und jedem Kuss folgte eine Schokoladenkugel. Die großen Wörter in den Großmündern über mir wurden buchstäblich in meinen Mund gedrückt, mit großen Mundbewegungen, zungeschnalzend und zungeleckend …, bis die Wörter in meinem Mund rollten. Ich verstand kein Wort, doch dafür fanden und verstanden die Wörter mich. Und sie schmeckten gut, klangen laut und deutlich aus meinem Mund, der immer größer wurde. Für jedes neue Wort, das ich sprach, rollte eine Kugel. Manchmal wurden mir die Kugeln wieder aus dem Mund genommen, wenn ich zu sehr nuschelte. Ich sollte nicht nuscheln. Dann sagte ich es noch mal und noch mal und noch mal, und die Kugeln waren wieder im Mund. Ich dachte zunächst alle Wörter würden Schokolade bedeuten, besonders das Wort Großmama: die erste und größte Schokoladenkugel. Wenn ich Hunger hatte, dann rief ich Großmama. Als es für dieses Wort keine Schokolade mehr gab, hörte ich mich nach neuen Wörtern um.

Ich wurde auf ein Podest gestellt (ein riesiger Radioapparat, wie ich später merkte) und sollte dort vor vielen Menschen sprechen. Nach jedem Wort machte ich eine Verbeugung und bekam Applaus. Einmal gab es keinen Applaus, obwohl ich laut und deutlich sprach und ich mich mehrere Male verbeugte. Schweigen. Derartige Vorfälle häuften sich. Für ein Wort gab es noch Applaus; beim nächsten Wort plötzlich Stille. Es gab sogar Auftritte, die hastig abgebrochen wurden. Ich sagte ein Wort. Ich sagte es noch mal und noch mal. Sie stürzten auf das Podest und drehten an einem Knopf, als wollten sie mich leiser stellen. Plötzlich hörte ich tiefe Stimmen. Sie kamen aus dem Podest, auf dem ich stand. Das ganze Podest dröhnte und zitterte. Jemand hatte den Radioapparat eingeschaltet, um mich zu übertönen. Ich versuchte lauter zu sprechen. Aus meinem Mund kamen aber nur Schreie. Man nahm mich herunter und brachte mich ins Bett. Was sollte ich im Bett!? Ich hatte noch nicht fertiggesprochen. Die Stimmen im Radioapparat, sie hatten gut reden. Sie sprachen aus einem sicheren Versteck. Ich dagegen musste mich meinem Publikum zeigen und frei sprechen und dabei mein Gleichgewicht halten. Doch es gab auch Erfolge. Je mehr ich die Bedeutung der Wörter entdeckte, umso erfolgreicher wurde ich. Wenn es etwas gibt, das ich gelernt habe, dann ist es das Sprechen …

[Pause]

Als ich fast fließend sprechen konnte, schickte mich meine Großmama zum Einkaufen. Den Weg zum Geschäft war sie mit mir mehrere Male abgelaufen. Nun reichte sie mir eine Tasche und einen Zettel und einen schweren Geldbeutel. Sie gab mir auch genaue Anweisungen auf den Weg: nicht trödeln; mich von niemandem ansprechen oder abbringen lassen; wenn nötig freundlich grüßen, jedoch nicht jeden. Keinesfalls dürfe ich den Geldbeutel offen herumtragen oder mit irgendjemandem über unser Geld sprechen. Ich durfte auch nicht zu schnell laufen oder gar hüpfen – die Münzen im Geldbeutel könnten sonst zu laut klimpern. Sollte mir jemand nachlaufen, dann müsse ich mich umdrehen und rufen: Ich habe kein Geld! Im Geschäft angekommen, sollte ich resolut auftreten, mich erst einmal vorstellen. Nein, nicht mit meinem Vornamen, sondern mit dem Nachnamen.

Ich hatte damals keine wirkliche Ahnung von diesem Nachnamen. Er bestand aus sehr vielen Wörtern und glich eher einem Satz als einem Namen. Es begann mit dem Wort von. Ich wusste nicht, wovon meine Großmama überhaupt sprach.

Sie sprach von einem von.

»Wie bitte?«

»Von einem von

Ich war ratlos.

»Von!«

»Ach so.«

Damit nicht genug. Dem von folgte plötzlich ein und.

»Von und …«

Von und?

»Von und zu …«

Von und zu? Ich bin von und zu? Das machte keinen Sinn. Oder meinte sie ab und zu. Es regnet ab und zu.

Dann sprach sie plötzlich von einem Witz: »von Witz …«

Was für ein Witz?

»Witz…leben!«

Ein Witzleben? Welches Witzleben?

»Von und zu Witzleben!«

Ich verstand nicht. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, da hatte ich ihn wieder vergessen. Der Name war, für mich, viel zu lang. Von und zu, nicht ab und zu, sondern von und zu … Witzleben, kein Witz, sondern Witzleben. Ich bin Herr von und zu Witzleben.

Mein erster Einkauf war trotz allem ein Erfolg: Ich trödelte nicht. Ich grüßte nicht jeden, aber ich grüßte freundlich. Ich trug den Geldbeutel nicht offen herum, sprach mit niemandem über das Geld, hüpfte nicht. Im Geschäft versuchte ich resolut aufzutreten. Ich wollte mich vorstellen, aber ich brachte meine Wörter durcheinander: »Ich bin zu und von … Witz, kein Witz, sondern Leben …«

Sie schauten verwundert auf mich herab.

Also sagte ich: »Ich bin von … zu Hause.«

Wer wollte das bestreiten.

Daraufhin sagte ich meinen Vornamen.

Ich legte den Einkaufszettel auf die Theke. Man nahm mir die Einkaufstasche aus der Hand und legte hinein, was auf dem Zettel geschrieben stand. Währenddessen versteckte ich mich hinter einem Regal und zog den Geldbeutel aus meiner Unterhose. Ich übergab ihnen den Geldbeutel. Sie öffneten den Geldbeutel und holten Geld heraus und legten neues Geld hinein. Alles verlief nach Plan. Dann nahm ich den Geldbeutel und ging wieder hinter das Regal. Auf meinem Weg nach Hause wurde ich verfolgt. Ich war nicht gehüpft. Das Geld in meiner Unterhose war völlig ruhig. Die Schritte hinter mir kamen immer näher. Mit einem Ruck drehte ich mich um und rief: »Ich habe kein Geld!« Die Frau, die nun neben mir stand, lächelte mitleidig und rief: »Du Armer.« Sie gab mir ein Geldstück und ging.

Als ich zu Hause ankam, war meine Großmama zunächst sehr zufrieden: Alles bestens. An nichts fehlte es. Selbst der Geldbeutel war noch da. Sehr gut; sehr tüchtig; äußerst selbständig … Dann fragte sie mich, ob man im Geschäft nach ihr gefragt habe. Ich sagte nein. Daraufhin sagte sie lange nichts. Während des Essens fragte sie mich plötzlich: Warum man denn im Geschäft nicht nach ihr gefragt habe? Hier gehe es doch nicht mit rechten Dingen zu! Ob ich mich denn nicht vorgestellt hätte? Doch, doch, antwortete ich, aber eben eher mit dem Vor- als mit dem Nachnamen. Von da an war mein Einkauf ein Misserfolg. Das Fleisch, das ich gebracht hatte, war zäh, die Brötchen hart, die Milch sauer, der Senf viel zu süß, der ganze Einkauf ein Fehlschlag, eine einzige Geldverschwendung. Man hätte das Geld ebenso auf den Kompost werfen können, so wie die Lebensmittel, welche meine Großmama eigenhändig genau dorthin trug. Man hätte mich über den Tisch gezogen. Man hätte mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Einen Haufen Müll hätte ich nach Hause gebracht. Die kostbare Einkaufstasche aus Krokodilleder war jetzt nur noch ein Müllbeutel. Sie wusch ihn sogar mit einem nassen Lappen aus. Und all das nur, weil ich den Nachnamen nicht gesagt hatte. Was machte dieser Name für einen Unterschied? »Den ganzen Unterschied der Welt«, sagte meine Großmutter. Ich wollte sie beschwichtigen und zeigte ihr stolz die Münze, die mir die Frau auf der Straße gegeben hatte. Dies kränkte sie noch mehr. »Auch noch Bettelei«, murmelte sie. Ich musste das Geld augenblicklich in den Mülleimer werfen und mir dann die Hände waschen. Als ich wieder zurück war, hatte sie Kopfschmerzen.

Noch am selben Tag durfte ich einen neuen Versuch des Einkaufens unternehmen. Sie sprach von einem Fallschirmspringer, dessen Fallschirm sich nicht öffnet und der überlebt. Er müsse noch am selben Tag einen neuen Sprung wagen, sonst bleibe immer etwas zurück. Bevor ich losging, übte sie mit mir den Namen:

»Von und zu … Witzleben

»Noch mal!«

»Von und zu Witzleben

»Noch mal!«

Ich übte stundenlang. Ich fragte meine Großmutter, warum sie den Namen nicht auf den Einkaufszettel schreibe, damit die Leute im Geschäft ihn lesen könnten.

Sie antwortete: »Don’t be absurd!«

Als ich den Namen endlich konnte, schickte sie mich los. Im Geschäft standen viele Leute. Ich öffnete die Tür und rief: »Guten Tag, ich bin Herr von und zu Witzleben.« Es gab keinen Applaus. Doch dafür hörte ich eine Frau kichern. Für eine Weile wurde ich beäugt. Dann drehten sich die Erwachsenen wieder um. Als ich an die Reihe kam, stellte ich mich zur Sicherheit noch einmal vor: »Ich bin Herr von und zu Witzleben.« Die Frau, die den Einkaufszettel nahm, kicherte wieder. Später schnäuzte sie sich. Ich hörte auch eine Bemerkung über meine Krawatte. Dann ging ich. Als ich wieder zu Hause war, bestürmte mich meine Großmutter mit Fragen:

Ob ich mich diesmal richtig vorgestellt hätte?

»Ja. Sogar zweimal.«

Ich machte es ihr vor.

»Sehr gut«, rief meine Großmutter und lächelte.

Ich schwieg.

Ob man diesmal nach ihr gefragt habe?

Ich überlegte und nickte.

Was genau sie denn gefragt hätten?

Ich antwortete: »Wie es dir geht?«

»Mir?«

Ich nickte: »Ja, dir.«

Diesmal war mein Einkauf ein großer Erfolg. Das Fleisch, das wir an diesem Abend aßen, war zart und saftig. Auch die Kartoffeln schmeckten ausgezeichnet, eine ganz andere Klasse und Rasse als die modrigen Bollen, die man mir beim ersten Mal aufgeladen hatte. Der Käse war himmlisch, dazu noch aus Frankreich. Alles war nun gut. Auch die knusprigen Brötchen, die noch Tage später so frisch schmeckten wie am ersten Tag, als ob sie direkt aus der Backstube kämen, delicious, appetizing, tasty. Und all das nur wegen eines Namens.

Als ich die nächsten Male einkaufen ging, stellte ich mich noch mit dem Namen meiner Großmutter vor. Ich wurde kaum mehr beachtet. Man behandelte mich völlig gleichgültig. Die Frau, die am ersten Tag noch gekichert hatte, blickte, wenn sie mich sah, fast mürrisch. Wenn andere Kinder mit Einkaufstaschen kamen, dann wurden sie freundlich begrüßt. Ich wurde nicht begrüßt, so sehr ich auch grüßte, resolut auftrat und mich vorstellte. Als ob die anderen Kinder besser einkaufen könnten als ich. Den anderen gab man eine Wurst mit auf den Weg. Mir nicht. Mit den anderen sprach man ausgiebig. Mit mir nicht. Als ob ich nicht sprechen könnte. Dabei konnte ich sogar Englisch sprechen: One, two, three. A tree. Good day. Bad day. Bye-bye. Wenn ich den schweren Geldbeutel auf die Theke legte, dann hatte ich den Eindruck, man füllte unsere Einkaufstasche nur wegen des Geldes. Ohne diesen Geldbeutel hätten sie mir nichts gegeben. Sie hätten uns verhungern lassen.

Meine Großmutter wartete immer ungeduldig auf meine Rückkehr. Ich sollte ihr ausführlich berichten: Ob ich mich richtig vorgestellt hätte?

»Ja.«

Ob ich beim Fleisch noch einmal unseren Namen betont hätte?

»Ja.«

Was man dazu gesagt habe?

»Nichts.«

»Nichts?«

»Sie haben freundlich genickt.«

»Und dann?«

»Dann haben sie mir das beste Stück Fleisch gegeben. Fleisch für Herrn von und zu Witzleben

Das Fleisch schmeckte dann immer ganz ausgezeichnet. Je besser meine Erzählungen, umso besser schmeckte das Essen, zumindest meiner Großmutter. Später erzählte ich ihr:

»Ich habe mich vorgestellt. Sie haben mir die Tür aufgehalten. Dann boten sie mir einen Stuhl an …«

»Wie rührend«, rief meine Großmutter.

»Sie gaben mir eine Wurst. An der Fleischtheke suchten sie nach gutem Fleisch. Sie versprachen mir das beste Fleisch in der Stadt. Sie suchten das ganze Geschäft ab. Die Frau zeigte mir das Fleisch. Ihr Mann aber sagte: ›Nicht doch, nicht doch.‹ Er hatte Angst, das Fleisch könnte nicht gut genug sein. Er fragte eine Dame: ›Können Sie nicht Ihr Fleisch dem jungen Herrn da geben. Es ist für von und zu Witzleben.‹ Da hat die Dame ihr Fleisch sofort mir gegeben …«

»Ach wie rührend«, rief meine Großmutter. Wann immer andere Leute etwas ihrem großen Namen zu Füßen legten, sagte sie: Ach wie rührend. Das ist ja rührend.

Ein anderes Mal erzählte ich ihr: »Ich habe mich wie immer vorgestellt. Sie hielten die Tür so lange auf, bis das ganze Geschäft voller Laub war …«

»Ach wie rührend …«

»Sie brachten mir einen Sessel und eine Schüssel Wurstsalat. Ein junges Mädchen putzte mir die Schuhe. Die anderen rannten hin und her und suchten nach dem besten Fleisch. Das gute Fleisch war aber schon verkauft. Da ging die Frau in ihre eigene Küche und holte aus ihrer Pfanne ihr eigenes Fleisch. Dann haben sie mich mit ihrem eigenen Auto nach Hause gefahren.«

»Wo ist das Auto?«, fragte meine Großmutter gespannt.

Ich zeigte aus dem Fenster: »Da unten.«

»Wo?«

Doch das Auto war leider schon weg.

Einige Wochen später erzählte ich ihr: »Aus dem Wohnzimmer holten sie ihr bestes Sofa. Darauf sollte ich mich setzen. Das junge Mädchen hat mir die Schuhe ausgezogen und mich zugedeckt …«

»Die ist wohl in dich verliebt«, bemerkte meine Großmutter.

»Sie hatten keine Milch mehr. Da sind sie in den Garten gegangen und haben ihre Kuh gemolken und die Milch in diese Tüte geschüttet. Sie hatten auch kein Fleisch mehr. Da sind sie nach hinten gegangen und haben ein Lamm geschlachtet und mir dieses Stück Fleisch mitgegeben …«

»Nun ist es aber genug«, rief meine Großmutter ein wenig wütend. Doch als wir das Steak aßen, war es das beste Steak der Welt …

[Pause]

Oft litt meine Großmutter unter dem Wetter. Die Sommer waren ihr nicht heiß genug, und die Winter waren ihr nicht kalt genug. Am meisten missfiel ihr das Frühjahr. Weder warm noch kalt, nichts Halbes und nichts Ganzes, war ihr der Frühling ein erbärmlicher Verschnitt der anderen Jahreszeiten: eine schmierige Verwässerung des Winters und eine ewige Vertagung des Sommers, der einfach nicht beginnen wollte, bis schließlich der Herbst kam. Sie hasste den Frühling. Sie verfluchte ihn als lauwarmes Gemansche und Gepansche; ein seichtes Gebräu; nichts als leere Versprechungen und windige Ausflüchte. Und dann der Sommer. Wenn er überhaupt kam, dann kam er viel zu spät. Drei, vier heiße Tage, und er kippte um, wie ein Stuhl oder Invalide. »Das soll es gewesen sein«, rief meine Großmutter, und der Wetterbericht im Radioapparat antwortete: Ja! Den Herbst durchlitt sie schweigend. Der Anfang des Winters fiel auf ihren Geburtstag, der kürzeste Tag im Jahr. Wir saßen lautlos am Kaffeetisch und aßen Kuchen. Niemand sagte etwas, um sie nicht noch mehr zu verärgern. Sie schluckte Pillen und sprach von diesem oder jenem Verstorbenen, all den Glücklichen, die es endlich hinter sich hatten. Wenigstens waren diese Geburtstage so düster und kurz, dass man kaum etwas vom Wetter sah und wir bald ins Bett konnten. Einmal sagte sie seufzend: »Das Wetter hat mir noch nie etwas geschenkt, noch nie!«

Was meiner Großmutter so sehr an unserem Wetter missfiel? Es war ihr zu gemäßigt. Verächtlich sprach sie von unseren »gemäßigten Breiten.« Sie hasste das Gemäßigte, Mäßige oder gar Mittelmäßige. »Das Mittelmaß ist das Maß der Dinge«, legte meine Großmutter den Menschen, die sie nicht mochte, in den Mund, wenn sie ihr Haus endlich verlassen hatten. Gemäßigte Breiten. Sie liebte übermäßige Höhen oder wenigstens Tiefen. Sie wollte immer das Reine, das Extreme, das Hohe, das Hochkarätige, das Höchste. Fünfzig Grad im Schatten und ein Ritt durch die Wüste, statt den lauen Farcen eines Sommers in unseren Breiten; kalifornische Mammutbäume statt mitteleuropäische Mischwälder; tropische Regenwälder statt kurzlebige Regenbögen; polare Temperaturstürze, dramatische Hitzewellen, unglaubliche Dürrezeiten, statt dem ewigen Wort des Wetteramtes: Die weiteren Aussichten sind wechselhaft.

Wenn es im Sommer doch einmal heiß wurde, dann stöhnte sie vor Freude: »Diese Hitze! Was für eine Hitze!« Sie ließ die Jalousien herab. Aus einer alten Reisetruhe des kolonialen Dienstes holte sie einen bunten Fächer. Mit diesem Requisit aus besseren Zeiten legte sie sich auf den Diwan und kühlte wedelnd ihr Gesicht. Der Fächer war das Geschenk einer englischen Dame aus allerbestem Hause, einer gewissen Lady Windermere, die meine Großmutter vor langer Zeit kennen gelernt hatte, bei einer Kutschfahrt durch Bad Homburg. »Diese furchtbare Hitze!«, rief meine Großmutter immer wieder. Sie schaute auf die Uhr. Erst neun Uhr in der Früh und eine solche Hitze. Sie schickte mich in den Garten. Dort sollte ich die Hitze genau erforschen und ihr dann berichten. Ich sollte auch durchaus auf die Straße gehen und mich umhören, was die Menschen draußen über die Hitze erzählten. Als ich zurückkam, wälzte sie sich fiebrig auf dem Diwan und fragte mich aus: »Wie war die Hitze?«

Es war sehr heiß.

Ob ich Wolken gesehen hätte?

Nicht eine Wolke am Himmel.

Sie seufzte erleichtert.

Was ich sonst gesehen hätte?

»Zwei verdorrte Blumen.«

»Kinder, Kinder, die reinste Dürre.«

Was denn die Leute auf der Straße erzählt hätten?

Ich erzählte ihr, in den Schulen sei hitzefrei.