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Ulrich Filler

Leckerbissen

20 rabenschwarze Häppchen

© 2014 fe-medienverlags GmbH

Hauptstraße 22, D-88353 Kißlegg

Covergestaltung und E-Book-Herstellung:

Manuel Kimmerle, Kißlegg

Cover-Foto: dpa

ISBN (gedruckte Ausgabe): 978-3-86357-037-8

ISBN (ePub): 978-3-86357-096-5

Inhaltsverzeichnis

Statt eines Vorworts

Spritzgebäck

Ostermorgen

Einmal am Rhein

Erik Blutaxt

Ewige Schönheit

Ein katholisches Mädchen

Gipsy King

Schöne neue Welt

Schwarze Pädagogik

Der Soldat

Bügeleisen

Das Mädchen von nebenan

Die Schlacht am Midway

Die Vitalstrom-GmbH

Mensch und Tier

Schneller als das Licht

Unter Schwestern

Von Frau zu Frau

Der Wunsch

Café Surprise

Statt eines Vorworts

Ulrich Filler, Jahrgang 1971, hat als Baumwollpflücker, Versicherungsagent, Skilehrer, Walfänger und Bergführer noch nie gearbeitet. Er lebt auch nicht zusammen mit seiner Frau, vier Kindern, zwei Katzen und dem Hund Max in einem liebevoll renovierten alten Bauernhof im Bergischen. Er mag keine Kleintiere und kümmert sich nicht um seine Zimmerpflanzen. Filler arbeitet im Rheinischen Braunkohlerevier, hat Beerdigungen lieber als Hochzeiten und versucht seit Jahren vergeblich, als Bauchredner zu reüssieren. Dies ist seine erste Sammlung sehr kurzer Kurzgeschichten. Guten Appetit!

Spritzgebäck

Oma Bettys rundes Gesicht glänzte zufrieden. Sie klopfte ihre mehlbestäubten Hände flüchtig an der Schürze ab und schob das Backblech sachte in den Ofen. Es war das erste in dieser Saison und viele, viele weitere würden folgen. Für Oma Betty hatte die schönste Zeit des Jahres begonnen. Denn Elisabeth Reifenstein, die von allen nur „Oma Betty“ genannt wurde, war eine leidenschaftliche Anhängerin der Weihnachtsbäckerei. Diese war ihr einziges Hobby, wenn man einen so farblosen, schwächlichen Ausdruck überhaupt verwenden darf für ihren ernsthaften, ja unerbittlichen Enthusiasmus, der mehr einer lebenserfüllenden Berufung und Sendung als einer reinen Liebhaberei glich.

Oma Betty liebte Weihnachtsgebäck in allen Formen. Und Jahr für Jahr buk sie kleine Zimtsterne und Russisches Brot, duftende Printen und fremdländisch anmutende Anisplätzchen, leichte Baisers, wunderbare Biscotti di mandorle und knusprige Cantuccini, ganz schlichte, aber köstliche Butterkekse und Dominosteine, die sie mit einer zarten Schicht von schwarzer und weißer Schokolade umhüllte. Sie formte Nußecken und Florentiner und ihre berühmten flammenden Herzen. Zarte Mürbchen, krosses Ingwergebäck, Kipferl in verschiedenen Variationen und luftige Kokosmakronen gelangen ihr genauso gut wie Lebkuchen, Linzer Plätzchen und Nußtaler. Zu Weihnachten pflegte sie ihr köstliches Gebäck in kleinen, liebevoll dekorierten Schachteln zu verschenken. Sie schichtete Pfeffernüsse und Honigkuchen, Spitzbuben und Schweineöhrchen, Kulleraugen und ein wunderbar zartes Spritzgebäck neben Zimtplätzchen, Amarettokugeln und Biberle. Auf zahlreichen großen Serviertellern arrangierte sie ihr Weihnachtsgebäck zum Anbieten: Kleine Stücke Früchtekuchen fand man dort, zartbittere Karamellsplitter, Marzipanmonde und Orangenschnitten, Spekulatius und Magenbrot, Bärentatzen und köstliche Schwiegermutterzungen.

Nach dreißig bis vierzig ganz unterschiedlichen Rezepten wurden unter ihren geschickten, unermüdlichen Händen aus Mehl und Eiern, Zucker und Zimt kleine Kunstwerke. Das Geheimnis lag in den Gewürzen. Sie verwendete sorgfältig abgemessene Portionen von Kardamom und Sternanis, Koriander und Muskat, Vanille und Piment, Ingwer und dem teuren Safran und sogar Fenchel.

Fertigprodukte kamen Oma Betty nicht ins Haus. Sie vertrat die Philosophie, daß wirklicher Geschmack nur durch reine, eigene Handarbeit und qualitativ hochwertige Zutaten zu erreichen sei, und man muß sagen, daß das Ergebnis solcher Mühen ihren Puritanismus rechtfertigte. Wer einmal die Gelegenheit hatte, Oma Bettys Gebäckkreationen zu verkosten, mußte fortan industriell gefertigten Spekulatiuskeksen und abgepackten Dominosteinen aus dem Supermarkt entsagen: Im Vergleich mit den luftigen, krossen, zartschmelzenden Gebäckstücken aus Oma Bettys Ofen schmeckten sie mehlig, krümelig, farblos und verwandelten sich im Mund zu Asche.

Jedes gelungene Kunstwerk ist an sich schon eine Bestätigung für den Künstler. Doch erst der Beifall Dritter verschafft ihm jene wahre Befriedigung, derentwegen sich alle Mühe und Entsagung lohnt. Auch Oma Betty war nicht ganz frei von dieser kleinen Eitelkeit und so ging es ihr nicht nur um die Freude am Entdecken neuer, seltener und ungewöhnlicher Rezepte und um die Erfüllung, die sie ohne Zweifel in ihrer Arbeit selbst fand; sie wartete eben auch gespannt auf die Reaktionen, die ihre Weihnachtsplätzchen hervorriefen. Und wenn der alte Dr. Schulte aus dem dritten Stock mit leuchtenden Augen verkündete, niemals habe er raffinierteres Gebäck gekostet oder wenn ihre Enkelkinder mit vollem Mund versicherten: „Echt irre, Oma, schmeckt wirklich voll krass!“, dann ging ein Leuchten über ihr gutes, rundes Gesicht und ein warmes, weihnachtliches Gefühl breitete sich in ihr aus.

Es war seit vielen Jahren Tradition, daß ihre beiden Kinder mit den Enkeln den ersten Weihnachtsfeiertag bei Oma Betty verbrachten. Ihre Tochter Gisela, eine resolute Frau in den Vierzigern, wohnte mit den drei Kindern im Nachbardorf. Ein-, zweimal in der Woche schaute sie vorbei, fuhr zum Einkaufen und erledigte das Gröbste im Haushalt. Oma Betty war ihr dankbar, auch wenn sie mit dem völlig unsentimentalen, zupackenden Realismus ihrer Tochter nicht viel anfangen konnte. Nicht nur, daß sie geschieden war – meine Güte, das war doch heute gang und gäbe und gehörte beinahe schon zum guten Ton. Nein, auch die Angewohnheit, alles danach zu bewerten, ob es denn „praktisch“ sei, fand Oma Betty sehr befremdlich. „Mutter, du brauchst endlich einen vernünftigen Herd, am besten mit Ceranfeld. Dieser alte Ofen ist doch völlig unpraktisch“, pflegte Gisela bei jedem zweiten Besuch zu sagen, und Oma Betty hatte es aufgegeben, ihr zu erklären, daß wirklich gutes Weihnachtsgebäck nur in dem alten Ofen gelingen konnte. Auch ihr großes Hobby war ein Quell ständiger Kritik. „Und überhaupt, du machst dir viel zu viel Arbeit, du mußt mit deinen Kräften besser haushalten, du übertreibst es mal wieder mit deinen Keksen“, konnte Gisela ungerührt sagen, und Oma Betty hatte sie im Verdacht, für die eigenen Kinder zur Weihnachtszeit ungesunde und vor allem geschmacklich völlig wertlose Fertigprodukte aus dem Supermarkt zu kaufen.

Wenn Oma Bettys Verhältnis zu ihrer Tochter aus diesen Gründen immer etwas distanziert war, so galt ihre ganze Liebe und Verehrung ihrem Sohn Dieter, den sie nur selten sah. Dieter war ein agiler, sportlicher, sehr viriler Unternehmensberater, der viel unterwegs war und sehr gut verdiente. Oma Betty war stolz auf ihren Sprößling, dem offensichtlich alle die Qualitäten zugefallen waren, die sie an ihrer Tochter vermißte. Dieter liebte gutes Essen und gute Weine, er legte Wert auf schwere, blütenweiße Leinendecken und poliertes Silberbesteck – „Das Auge ißt mit“, pflegte er zu sagen – und er war selbst auch ein passabler Koch, wovon Oma Betty sich bei ihren leider allzu seltenen Besuchen überzeugen konnte. Insgeheim fand sie es ungerecht, daß sie viel öfter bei ihrer alleinerziehenden Tochter am Tisch mit der praktischen Wachstuchdecke und den schnellen Gerichten aus der Mikrowelle saß, als bei ihrem Sohn in der gepflegten und teuren, aber geschmackvoll eingerichteten Junggesellenwohnung.

Und so erfüllte sich ihr größter Weihnachtswunsch, wenn Dieter am ersten Feiertag hereinrauschte, einen Hauch von Glanz und Stil und Internationalität in ihren Vorortalltag brachte, sich gemütlich auf der Couch ausstreckte und zum Teller mit dem Weihnachtsgebäck griff. Dabei nahm er nicht einfach nur ein Stück heraus. Oma Betty hatte es schon oft genau beobachtet: Seine wohlgeformte Hand mit den schlanken Fingern schwebte über dem beladenen Teller, zögerte, glitt hin und her und schloß sich dann zugleich behutsam und zielsicher um ein Gebäck, das auch nach Oma Bettys eigener Meinung zu ihren gelungensten Stücken zählte. Wenn er langsam kaute, konzentriert den Geschmack aufnahm, den Gewürzen nachspürte und schließlich sagte: „Mutter, du bist eine wahre Meisterin. Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen!“, wog das Lob aus seinem Munde doppelt und erst dann war für Oma Betty wirklich Weihnachten.

Oma Betty schloß die Ofentür und stellte die Temperatur ein. Dabei überlegte sie bereits die nächsten Schritte. Sie hatte sich eine genaue Reihenfolge zurechtgelegt, nach der sie vorgehen wollte, um rechtzeitig zum Fest all die unterschiedlichen Plätzchen, Kekse und Gebäckstücke fertig zu haben. Das Unglück geschah, als sie nach ihrem Rezeptbuch greifen wollte, das ganz oben auf dem Regal lag. Hatte Gisela es weggeräumt? Sie stieg auf den Stuhl, murmelte unwillig, streckte sich nach dem Regalfach aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer auf den Boden.

„Ein Glück, daß ich gestern noch vorbeigekommen bin!“ Als Oma Betty erwachte, sah sie in das besorgte Gesicht ihrer Tochter. „Was hast du dir nur gedacht? Ich habe immer gewußt, daß etwas passieren würde!“ Langsam kam Oma Betty wieder zu sich. Sie war sehr verwirrt. „Gisela“, flüsterte sie, „was machst du denn hier?“ – „Du bist gefallen, Mutter, gut daß ich da war. Wir mußten dich ins Krankenhaus bringen, aber du hattest Glück im Unglück. Außer dem Arm und einer leichten Gehirnerschütterung ist dir nichts passiert.“ Schlagartig fiel es Oma Betty wieder ein. Mein Gott, das Russische Brot! – „Der Ofen“, sagte sie verzweifelt, nach anderthalb Stunden mußte doch das Blech heraus und auskühlen! – „Mach dir keine Sorgen, Mutter. Ich habe den Ofen ausgestellt, es kann nichts geschehen. Hauptsache ist doch, du wirst wieder gesund.“ Gesund? Oma Betty runzelte die Stirn. Und erst da kam ihr zu Bewußtsein, daß mit ihrem rechten Arm etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Sie sah an sich herunter, sie sah den Gipsverband, der vom Handgelenk bis zur Schulter reichte, und die ganze Tragweite des Unglücks brach mit einem Mal über sie herein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ach, mach dir keine Sorgen. Der Arzt sagt, es kommt alles wieder in Ordnung. Zweimal gebrochen, na ja, aber nach acht Wochen kann der Gips runter, und wenn du dich schonst, ist der Arm bald wieder wie neu!“ – „Aber, aber ich muß doch … Das geht doch nicht … Die Weihnachtsplätzchen …“ – „Na, mit dem Backen wird es wohl nichts dieses Jahr. Aber sei nicht traurig, wir kriegen dich schon wieder hin.“ Oma Betty fehlten die Worte. Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit, eine innere Leere in sich aufsteigen und die optimistischen, gutgemeinten Aufmunterungen ihrer Tochter rauschten ungehört an ihr vorbei. Der Unfall hatte ihr den Höhepunkt des Jahres geraubt, jene Wochen, in denen sie, unaufhörlich werkend und wirkend und vor sich hin summend in ihrer alten Küche wirklich glücklich war. Und was war mit den vielen Nachbarn und Freunden, denen sie jedes Jahr mit ihrer Kunst eine solche Freude bereitet hatte? Welche Enttäuschung für den alten Dr. Schulte, welche Enttäuschung für ihre Enkelkinder, wenn sie in diesem Jahr auf die berühmten Weihnachtsplätzchen verzichten mußten. Und Dieter! Was würde Dieter sagen? „Dieter …“, murmelte sie. – „Mach dir keine Sorgen Mutter, ich habe mit Dieter telefoniert, er weiß Bescheid. Leider kann er nicht kommen, er ist in München und muß nächste Woche dringend nach Hamburg. Du weißt ja, wie das ist. Aber er läßt dir alles Liebe ausrichten und gute Besserung. Und Weihnachten kommt er dann ja ganz bestimmt nach Hause!“ Gisela lächelte ihre Mutter an. „Ich werde dich jeden Tag besuchen, und bald kannst du nach Hause. Wir sorgen schon für dich, ganz bestimmt. Alles wird gut!“

Nichts wurde gut und die schönste Zeit des Jahres kam Oma Betty grau, trist, eintönig und sehr, sehr langweilig vor. Freilich konnte sie nach wenigen Tagen bereits wieder nach Hause und der freundliche Oberarzt hatte ihr noch einmal versichert, daß sie ein ausgesprochener Glückspilz sei. Allein – was nützte es? Ihr Gipsarm – daß es auch ausgerechnet der rechte sein mußte! – machte auch die einfachsten alltäglichen Verrichtungen unglaublich schwierig, ans Kochen oder Backen war gar nicht zu denken. Gut, daß sie Gisela hatte, die nun jeden Tag kam, ihr half, kochte, einkaufen ging und den Hausputz machte, so gut sie es eben verstand.

So ging der Spätherbst allmählich in den Winter über, an jedem Wochenende wurde am Adventskranz eine Kerze mehr entzündet, schließlich wurde auch der sperrige Gipsverband entfernt, aber Oma Betty wurde immer stiller, verschlossener und trauriger. Auch jetzt noch war ihr strengste Schonung auferlegt und ihre resolute Tochter wachte eifrig über die Einhaltung dieses Gebots. Nicht einmal ein paar einfache Butterkekse oder etwas Spritzgebäck wurden ihr erlaubt und so saß sie die meiste Zeit teilnahmslos in der Küche, wo sie der kalte Backofen vorwurfsvoll anzustarren schien.

Der einzige Trost in diesen trüben Stunden war der Gedanke an Dieter. Natürlich konnte er jetzt nicht kommen, eingespannt, wie er war. Er arbeitete so viel, der gute Junge! Und er würde sie auch verstehen, ihre Enttäuschung, ihre innere Leere, er würde verstehen, wie sehr sie das Backen vermißte und wie leid es ihr tat, in diesem Jahr niemanden mit ihrem wunderbaren Gebäck erfreuen zu können. Er würde enttäuscht sein, wenn die erwarteten Genüsse in diesem Jahr ausbleiben mußten, aber er würde verstehen.

Dann kam das Weihnachtsfest heran, der Heilige Abend, den sie allein verbrachte. Gisela hatte sie zum Kommen gedrängt, aber ihr war nicht nach Feiern zumute. „Kind, wir sehen uns doch übermorgen, und du hast genug mit den Kindern zu tun“, hatte sie gesagt und „Ich werde mich etwas ausruhen und früh zu Bett gehen, damit ich wieder auf dem Damm bin, wenn Dieter kommt.“

So saß sie Stunde um Stunde in ihrem Wohnzimmer, das Gisela weihnachtlich dekoriert hatte. Ihre Blicke schweiften über den kleinen Baum, der mit den alten Strohsternen geschmückt war, die noch aus ihrer Jugend stammten und an denen sie so hing; über Engelsfiguren und Wachskerzen; über das farbige Fensterbild, das die heilige Familie darstellte, und über den großen, silbernen Teller mitten auf dem Tisch, der mit Weihnachtsplätzchen gefüllt war. „Du mußt doch etwas zum Anbieten haben“, hatte Gisela energisch gesagt und industriell gefertigte Spekulatiuskekse, vakuumverpackte Dominosteine und mindestens bis Ende Mai haltbares Spritzgebäck auf dem Teller arrangiert, der sonst für ihre herausragendsten Kreationen reserviert war. Doch Oma Betty war zu deprimiert, um sich zu empören und wie alles, was ihr in diesen Tagen und Wochen widerfahren war, nahm sie auch diese gutgemeinte Geste ihrer Tochter hin, ohne sich zu wehren.

Die Uhr schlug elf und Oma Betty hob ruckartig den Kopf. Jetzt würde sie zu Bett gehen und versuchen, etwas zu schlafen. Und morgen … Morgen käme Dieter! Und Oma Betty lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit.

Und am ersten Weihnachtstag kam Dieter! Schon im Hausflur war sein ansteckendes Lachen deutlich zu hören und mit ihm kam ein frischer Wind und ein Glanz in die Wohnung, es gab ein großes Hallo, ein neckisches „Na, Schwesterherz!“ und ein Indianergeheul von den Kindern, die ihren Onkel liebten und um ihn herumtanzten. Und dann stand er vor ihr, strahlend und lachend und groß und gutaussehend und bei diesem Anblick fiel Oma Bettys Depression in sich zusammen und sie spürte, wie ihrem Herzen ein Quell echter, starker Freude entströmte, eine Freude, die sich ausbreitete und verzweigte und bis in die Fingerspitzen hineinreichte und dort kribbelte und tanzte. Ihr gutes, rundes Gesicht leuchtete auf. „Mein lieber, lieber Junge!“ Dieter umarmte sie behutsam, schob sie wieder von sich und sah sie prüfend an. „Was machst du nur für Sachen? Geht es dir auch gut?“ Sie nickte eifrig: „Ja, ja, alles ist gut, alles ist gut, mach dir keine Gedanken. Frohe Weihnachten, mein Junge!“

Tatsächlich schien es, als sei wirklich alles wieder gut, als sie später gemeinsam im Wohnzimmer saßen, ein Glas Sekt in der Hand, die Kinder spielten auf dem Teppichboden und Gisela sprach mit ihrem Bruder über irgendwelchen Finanzkram wegen der Scheidungsgeschichte. Oma Betty bekam es nicht so richtig mit, aber das war nicht schlimm, sie war glücklich, ihre Lieben um sich zu haben. Später, wenn die Kinder quengeln würden und Gisela mit ihnen nach Hause gefahren war, später würde sie ihrem Sohn alles ausführlich erzählen: wie der Unfall passiert war, daß ihre Weihnachtsbäckerei hatte ausfallen müssen, ihre Traurigkeit und Enttäuschung. Dieter würde alles verstehen, und sie hatte das Gefühl, als ob sie schon selbst darüber lachen konnte.

Da trat eine Gesprächspause ein, Gisela nahm einen Schluck Sekt und aus den Augenwinkeln sah Oma Betty, wie Dieters wohlgeformte Hand mit den schlanken Fingern über dem Teller auf dem Wohnzimmertisch schwebte, zögerte, sich hin und her bewegte und sich dann zugleich behutsam und zielsicher um einen der industriell gefertigten Spekulatiuskekse schloß, der doch mehlig, krümelig und farblos schmeckte! Oma Betty öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken, als sie sah, wie ihr Sohn langsam kaute, konzentriert den Geschmack aufnahm, den Gewürzen nachspürte und schließlich sagte: „Mutter, du bist eine wahre Meisterin. Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen!“

Ostermorgen

Die Frau stand am Fenster und wartete. Vor ihr breitete sich die graue Heidelandschaft aus, der Regen hatte nachgelassen. Es war wieder wärmer geworden und die vereinzelten, schmutzigen Schneereste gaben der Landschaft ein zerknittertes Aussehen.

Es war noch früh, erst halb sechs, aber die Frau war schon lange auf den Beinen. Sie hatte die Stube ausgefegt und für frisches Wasser und Brennholz gesorgt. Der große Eichentisch war gedeckt und liebevoll dekoriert, eine Vase mit Leberblümchen und Krokussen hob sich wirkungsvoll vom weißen Tischtuch ab. Der Ofen bullerte fröhlich vor sich hin und eine angenehme Wärme durchzog das ganze Häuschen. „Unser Hexenhäuschen!“, hatte sie entzückt ausgerufen, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte, und ihr Mann hatte gelacht und sie geküßt. Damals war es Sommer gewesen und die Heide blühte in allen Farben des Regenbogens: gelbe Arnika und violetter Thymian leuchteten neben weißem, wilden Kerbel, duftenden Heckenrosen und rotem Mohn. Damals hatte sie sich in die karge und doch so farbenprächtige Landschaft verliebt und war glücklich, ihrem Mann hierher gefolgt zu sein.