Über den Autor
Dr. Josef Giger-Bütler ist Psychotherapeut mit eigener Praxis in Luzern. Seit vielen Jahren ist er auf die Therapie und Heilung von Depressionen spezialisiert und hat zu diesem Thema bereits vier Bücher geschrieben, die heute zu den meist gelesenen Büchern über Depression zählen.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85992-1)
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen vom Autor erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch vom Verfasser übernommen werden. Die Haftung des Autors bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
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© 2014 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
Umschlagillustration: © Getty Images/Chat Baker
Herstellung: Lelia Rehm
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22317-3
Inhalt
Einleitung
TEIL I Was der Partner für sich tut, tut er auch für den Depressiven
1 Auch für den Partner ist das Leben schwierig
Der Partner kann die Depression nicht erkennen
Es wird dem Partner alles zu viel
Die Auswirkung der elterlichen Überforderung auf die Kinder
1. Checkliste: Was sich der Partner immer wieder sagen darf
2. Checkliste: Was für den Partner wichtig in Bezug auf die Kinder ist
2 Das Leiden des depressiven Menschen
Die Depression ist für die depressiven Menschen kaum fassbar
Die Depression betrifft den ganzen Menschen
Depressive Menschen wirken nach außen oft stark und unnachgiebig
3 Was ist eine Depression?
Depression und Krankheit
Die Depression und depressionsähnliche Zustände
Zwei Formen, wie die Depression sichtbar werden kann
Die Depression als Entwicklungsprozess
Entstehung der Depression
Depressionsphasen
Variationen der Latenzphase
Was für alle Entwicklungsverläufe gilt
Brief: Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte
Wenn der Partner einfach wartet
Mögliche Reaktionsweisen des Depressiven auf das passive Warten und Hoffen des Partners
3. Checkliste: Was man als Partner nie vergessen darf
4 Verstehen des depressiven Menschen hilft dem Partner
Die Bedeutung des Verstehens
Als Partner kann man Hilfe anbieten
Verstehen ist für den Partner in dreierlei Hinsicht wichtig
Verstehen des »Mehr« und des »Weniger«
Verstehen der Erschöpfung
Verstehen, was Kraft kostet
Das Verstehen und Wissen um den Weg des Ausstiegs
Man kann es den Kindern besser erklären
4. Checkliste: Den Depressiven verstehen hilft dem Partner
TEIL II Das Leben des Partners mit einem depressiven Menschen
5 Das Leben der Partnerin, des Partners
Was ist wichtig für den Partner?
Die Frage nach der Schuld
Den Suizid des Depressiven verhindern wollen
Reaktionen des Partners auf den depressiven Menschen
Hilfe für den Partner ist Hilfe für den depressiven Menschen
Was ist, wenn?
Die Geschichte von Luzia
5. Checkliste: Was dem Partner das Leben erleichtert
6 Wie der Partner sich und damit dem Depressiven hilft
Worum es im Zusammenleben mit dem Depressiven geht
Die Gefühle zulassen
Der Partner darf auch etwas einfordern
Brief an den depressiven Mann
6. Checkliste: Was für den Partner wichtig ist
7 Der Partner und die Kinder
Angst um die Kinder
Worauf bei den Kindern besonders zu achten ist
7. Checkliste: Was bei den Kindern nie vergessen werden darf
TEIL III Überforderung als Thema beim depressiven Menschen und seinem Partner, seiner Partnerin
8 Überforderung ist das Thema
Wer keine depressiven Überforderungsmuster aufgebaut hat, kann nicht depressiv werden
Der überforderte Partner
Gleiche Überforderung und gleiche Aufgabe
Verantwortung für sich übernehmen als Schutz vor Überforderung
Wenn der Partner gut auf sich aufpasst
Wie im Alltag Überforderung vermeiden?
Ratschläge kommen von überall her
Sich aussprechen und fachliche Hilfe annehmen
Verändern von Haltungen und Glaubenssätzen
8. Checkliste: Verhaltensweisen des Partners gegen die Überforderung
9. Checkliste: Verhaltensweisen, die dem Partner helfen können
TEIL IV Was der Partner für den Depressiven tut, tut er für sich selbst
9 Wie kann sich der Partner richtig verhalten, wenn selbst der Depressive nicht weiß, was er will?
Die Geschichte von Helen und ihrem Partner
10 Was falsch ist im Umgang mit dem depressiven Menschen?
Die Geschichte von Gertrud
11 Wie der Partner dem Depressiven helfen kann
Bücher zum Thema Depression
Einleitung
Depressive Menschen leiden, und mit ihnen ihre nächsten Angehörigen. Mit ansehen zu müssen, wie schlecht es dem depressiven Partner geht, wie er oder sie sich immer mehr zurückzieht und eine Mauer um sich baut, wird im Laufe der Zeit immer schwieriger und belastender für die direkt Mitbetroffenen. Das Leiden des Depressiven nimmt auch die Angehörigen hinein in einen Zustand der Ohnmacht und Ratlosigkeit.
Wenn von Depression gesprochen wird, denkt man jedoch äußerst selten an die Angehörigen. Die gehen verloren, sie bezieht man nicht ein, oder wenn, dann im Sinne von: »Es ist doch selbstverständlich, was die Angehörigen leisten. Schließlich sind sie ja die Nächsten und vor allem haben sie es bedeutend besser. Sie sind nicht depressiv und für sie geht das Leben unverändert weiter. Und auch wenn sie es nicht so leicht haben sollten, ist eines sicher: Sie leiden nicht, und wenn doch, sicher nicht so wie die Depressiven. Und wer nicht depressiv ist, hat sich nicht zu beklagen, der kann und muss mit sich und seinem Leben zufrieden sein.«
Der Partner oder die Partnerin möchte dem Depressiven helfen und erfährt doch immer wieder, dass seine oder ihre Hilfe nicht ankommt oder sie den depressiven Menschen nicht weiterbringt, im Gegenteil ihn noch mehr isoliert und noch schweigsamer macht. Das ist eine der vielen Erfahrungen, die die Partner immer wieder irritieren und verunsichern. Den nächsten Menschen leiden zu sehen, nicht zu verstehen, was sich in ihm abspielt, nicht helfen können, das alles ist traurig und belastend. Zu erfahren, dass nichts hilft und sich nichts verändert, was immer man versucht, erschwert das eigene Leben zunehmend. Die Verzweiflung des Depressiven wird zur Verzweiflung seiner Nächsten, seine Ohnmacht zur Ohnmacht der anderen.
Es ist ein Kreis, der sich immer mehr schließt, es ist wie eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Das Leben wird zur Mühsal und zur Qual für alle. Es erstaunt nicht, dass aus solchen Erfahrungen heraus für den Partner oder die Partnerin des depressiven Menschen immer mehr und immer drängender Fragen erwachsen wie:
»Was muss ich denn noch machen, ich weiß einfach nicht mehr weiter. Er hört nicht auf mich, er nimmt mich gar nicht mehr richtig wahr, wirkt energielos und deprimiert. Das geht so nicht. Da muss man doch etwas machen?
Wenn ich wenigstens wüsste, was los ist! Ich kenne ihn gar nicht mehr, er reagiert so anders. Es ist furchtbar, das sagen zu müssen, häufig macht er mir auch Angst. Im Beruf ist er so beliebt und gibt sich so aufgestellt und daheim schweigt er, ist er dünnhäutig und empfindet alles sofort als Kritik und Vorwurf. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Ich traue mich auch nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Ich will ihn und uns doch nicht bloßstellen. Was geschieht mit den Kindern? Das tut doch denen auch nicht gut. Werden sie jetzt auch so? Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
Ebenso verständlich und nachvollziehbar sind auch folgende Äußerungen:
»Mein Mann ist so schwierig. Ich komme nicht an ihn ran, er hört nicht auf mich und jede Hilfe weist er zurück. Er will nichts von Depression hören. Er spinne nicht und er sei so, wie er ist, und wenn es mir nicht passe, könne ich ja gehen. Ich sehe doch, dass er depressiv ist, und damit gehört er zum Arzt. Aber er bockt und will nicht.«
»Meine Frau weint immer, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Sie sagt, so will sie nicht mehr leben. Manchmal denke ich, dass auch ich nicht mehr leben möchte. Ich habe Angst, dass ich und meine Kinder auch noch depressiv werden.«
»Mir fehlt der Mann, der mich unterstützt und mir wie früher Sicherheit und Stabilität gibt. Ich kann mir ein weiteres Leben mit ihm nicht mehr vorstellen. Ich will Kinder, aber mit ihm?«
Man weiß als Partner nicht, wie so ein Leben weitergeht, und vor allem, man ist hilflos und man realisiert, dass man allein ist – und auch das macht Angst. Die Depression ist ein heimliches Leiden, nicht nur für die Depressiven selbst, sondern auch für die Angehörigen.
Das depressive Geschehen ist etwas Schleichendes, etwas, das schon sehr lange aktiv ist, ohne dass es als Depression erkannt worden wäre. Im Laufe der letzten Monate oder Jahre aber hat sich dennoch alles verändert, der Depressive, das Leben, alles. Still und heimlich ist alles schwieriger geworden, auch immer fremder und nicht zuletzt hat sich so etwas Bedrohliches in den Alltag und in die Beziehung eingeschlichen. Die depressiven Menschen leiden, ja, aber ebenso die Angehörigen. Auch für sie wird das Leben bedrohlich, auch sie kommen an ihre Grenzen.
Dem Partner wird der depressive Mensch, der ihm bis jetzt am vertrautesten war, fremd und unverständlich. Er weiß nicht mehr, mit wem er es zu tun hat. Das erschreckt und bedroht, verunsichert und macht einsam. Wenn er aber den depressiven Menschen zu verstehen versucht, dann kann sich das Dunkel aufhellen. Das Unheimliche und Bedrohliche kann sich verziehen und wieder Raum schaffen für Nähe und Vertrautheit. Ohne Verstehen gibt es keine Sicherheit, ist kein konstruktives Zusammenleben und auch keine Verbesserung der Situation möglich.
Wenn ich vom Partner spreche, dann meine ich Menschen in einer Beziehung oder Partnerschaft, mit oder ohne Trauschein, mit oder ohne Kinder. Eingeschlossen in den Begriff Partnerschaft sind auch Beziehungen zwischen Frauen oder zwischen Männern, zwischen Eltern und erwachsenen Kindern. Auch an Beziehungen unter Menschen in Wohngemeinschaften denke ich. Mit Partner, wenn ich es nicht anders bezeichne, meine ich den Beziehungspartner eines depressiven Menschen; ich spreche meist von einem Partner, das aber nur der Einfachheit und der Lesbarkeit halber und meine damit sowohl die Partnerin wie auch den Partner. Wenn ich vom Depressiven spreche, dann ist das in keiner Weise Ausdruck von mangelndem Respekt. Mit dieser Bezeichnung umschreibe ich den depressiven Menschen und meine sowohl die depressive Frau wie den depressiven Mann.
Der Partner muss sich auf etwas total Neues einstellen, einen neuen Menschen und eine neue Situation. Er fühlt sich vermehrt allein und wird auch alleingelassen. Der Depressive ist mit sich, mit seinem Leben und der Bewältigung des Alltags beschäftigt und muss für sich schauen, um über die Runden zu kommen. Das heißt nichts anderes, als dass er immer mehr Arbeiten und Aufgaben dem Partner überlässt.
Nichts ist mehr so wie früher. Nicht nur gefühlsmäßig ist der Partner allein auf sich gestellt mit all dem, was in ihm selbst an Gefühlen hochkommt, auch solchen, die er bei sich nicht gekannt hat, wie Wut und Aggressionen.
Er bekommt vom Depressiven auch kaum mehr Zuwendung und kaum mehr Zärtlichkeiten. Intimitäten werden immer seltener, bis sie ganz wegfallen. Emotional vertrocknet er, kommt er zu kurz. Er kommt nicht mehr an den depressiven Menschen heran, und so gibt es für ihn keine Möglichkeit mehr, über gemeinsame Nähe Kraft und Zuversicht zu schöpfen. Immer mehr bleibt an ihm hängen. Wie sehr bräuchte er jetzt die Kraft seines depressiven Partners, seine Nähe – auch die intim körperliche – und seine Unterstützung! Aber auch für den Partner ist das Bedürfnis nach körperlicher Nähe häufig nicht mehr spürbar. Zu sehr bestimmen Probleme und Schwierigkeiten sein Denken und Fühlen. Sexualität zu leben mit einem Partner, für den man Mitleid und Fürsorge empfindet und den man leiden und sich quälen sieht, ist für viele Partner nicht denkbar.
Dem Partner aufzuzeigen, wie er diesen Zustand leben und schließlich überwinden kann, ohne sich zu verausgaben und sich zu erschöpfen, ohne sich vom Depressiven abzuwenden und ohne verbittert und grollend sein Leben weiterzuleben, ist zentraler Inhalt dieses Buches. Es soll dem Partner helfen, die Zeit der Depression unbeschadet und mit Würde und Fairness mitzugestalten. Das geht, wenn beide, der Depressive und der Partner, ihren Teil leisten und diesen Weg zusammen gehen. Bei beiden geht es ums Gleiche und beide haben die gleiche Aufgabe. Das aufzuzeigen ist eines der Ziele dieses Buchs. Nicht nur der Depressive, auch der Partner ist aufgerufen, etwas zu tun und sich zu verändern. Beide sind aufgefordert und beide sind gefordert.
Diese Gedanken sind für die meisten Menschen fremd und unverständlich. »Es liegt doch am depressiven Menschen, sich zu verändern. Er ist doch depressiv und nicht sein Partner.« Dass auch dieser aufgerufen sein könnte, etwas zur Veränderung beizutragen, und sei es nur, dass er sich bemüht, den Depressiven in seinem Denken und Handeln zu verstehen, mag neu sein. Über dieses Verstehen wird er realisieren, was es auch für ihn selbst zu tun gibt und dass sein Beitrag ein ganz wichtiger und entscheidender ist. Nur so ist nachzuvollziehen, dass die Depression nicht nur für den Depressiven selbst, sondern für beide und ihre Partnerschaft eine Chance bedeuten kann – oder ein Scheitern.
In diesem Buch kann es nicht darum gehen, Verhaltensweisen für den Partner aufzuzeigen, die es ihm erlauben, dem Depressiven so zu helfen, dass die Depression verschwindet. Solche Verhaltensweisen gibt es nicht. Der Partner wird es auf keine Weise schaffen, den Depressiven von seiner Depression zu befreien. Depression ist falsch gelerntes Verhalten, das der Depressive bei sich nur selbst verändern kann. Wie der Partner ihn auf seinem Weg aus der Depression wirksam unterstützen kann, das soll im Buch ausführlich behandelt werden. Er kann ihm beistehen, seine Lebensumstände vereinfachen, aber den Weg der Veränderung muss der Depressive selber gehen, die Schritte aus der Depression liegen ausschließlich in seiner Verantwortung.
Die Partner depressiver Menschen leisten eine Arbeit, die man nicht hoch genug einschätzen kann, gesprochen aber wird nur von den Depressiven. Die Zuwendung und das Mitgefühl gehören den Depressiven und nicht den Partnern. Damit muss der Partner zuerst einmal klarkommen und sich nicht mehr verletzt und enttäuscht zeigen. Er kann ja nicht sagen: »Hey, mir geht es genauso schlecht, wenn nicht noch mehr. Ich kann es mir nicht leisten, alles stehen und liegen zu lassen. Jemand muss ja noch schauen, dass das Leben weitergeht. Wer macht denn das alles? Es ist ja schön, wenn ihr wenigstens sagen könnt, die armen Kinder. Aber ich bleibe vergessen.«
Depression ist Überforderung, Erschöpfung, Stress und für die Betroffenen Einsamkeit, Leiden und Not. Das Gleiche gilt auch für den Partner. Auch er erschöpft sich immer mehr, auch er ist zunehmend gestresst und läuft Gefahr, sich immer mehr zu überfordern. Deshalb ist Überforderung ein weiteres wichtiges Thema dieses Buches. Für die ganze Familie wird das Leben zu einer Überforderung. Ich spreche deshalb auch vom depressiven Kreis: Der Partner wie auch die ganze Familie werden in die depressive Überforderung hineingezogen. Alle sind betroffen, betroffen im Leid und angesprochen im gegenseitigen Helfen. Entlastend ist es für alle, wenn sie sich sagen können, dass sie im gleichen Boot sitzen und dass es nicht ohne den anderen geht. Am eigenen Leib zu erfahren, dass geteiltes Leid halbes Leid ist, tut gut und gibt Kraft.
Dem Depressiven ist nicht geholfen, wenn sein Partner zusammenbricht und alles zusammenstürzt. Der Partner anderseits kann nicht auf den Depressiven zählen, nicht auf seine Hilfe und Unterstützung, was nicht heißt, dass der Depressive nicht alles in seiner Hand Liegende versucht. Er macht, was er kann. Es liegt in der Verantwortung des Partners selbst, für sich zu sorgen und keinen Raubbau mit sich zu betreiben. Der Partner hat die Pflicht und das Recht, für sich zu schauen und dafür zu sorgen, dass er es trotz der schwierigen Umstände gut hat. Es liegt in seiner Verantwortung, alles zu tun, um sich nicht zu schwächen und zu erschöpfen. Auf sich selbst zu achten ist nicht Ausdruck von Egoismus und fehlender Anteilnahme, sondern schlicht und einfach notwendig und Voraussetzung, dass nicht alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Verantwortung für sich übernehmen, Achtsamkeit sich selbst gegenüber und mit den Kräften haushälterisch umgehen ist der Weg, wirklich für den Depressiven da zu sein, ihn aushalten und ertragen zu können. Es ist die Voraussetzung, um auch der Familie Halt und Sicherheit zu geben.
Verantwortung für sich zu übernehmen, zum einen, um sich nicht selbst zu schaden, und zum anderen, um dem Depressiven zu helfen, und nicht zuletzt, um zu verhindern, dass die Kinder eine depressive Entwicklung einschlagen, darum geht es bei der Selbstverantwortung und darum geht es ganz wesentlich in diesem Buch. Als Partner für sich Verantwortung zu übernehmen bedeutet, auf sich zu schauen im Bewusstsein und mit der Absicht, damit nicht nur sich, sondern auch dem Depressiven zu helfen und mit ihm zusammen den Weg gemeinsam zu gehen. Nur wer auch den anderen im Auge hat, übernimmt wirklich und nachhaltig für sich Verantwortung. Wenn jeder seine Eigenverantwortung wahrnimmt, dann gestalten und bestimmen sie gemeinsam die Situation und gehen sie auch gemeinsam den Weg der Veränderung. Deshalb gilt: »Wir schaffen es.«
Eine Frage ist bei den Partnern immer allgegenwärtig: »Was muss ich tun, damit es dem Depressiven besser geht und wir als Familie weniger belastet sind?« Auf den ersten Blick erscheint diese Frage plausibel und sinnvoll. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sie für den Partner die Weichen in Richtung Überforderung und Erschöpfung stellt. Wer sich so fragt, geht nicht von sich aus, nicht von dem, was möglich ist für ihn, und nicht von dem, was sie oder er zu leisten imstande ist. Und genau diese Haltung macht, dass der Partner sich überfordert und sich schwächt. Damit läuft er Gefahr, genau jene Verhaltensweisen zu übernehmen, die den depressiven Menschen in die Depression geführt haben: sich zurücknehmen und ja alles richtig machen wollen. Das kann den Partner zwar nicht in die Depression, aber in der Erschöpfung und in die Überforderung führen. Sie leben beide die gleichen Verhaltensmuster, und deshalb ist es auch der gleiche Weg, den sie gehen können oder sollten, um sich zu schützen und für sich Gutes zu tun. Das aufzuzeigen, ist ein wichtiges Anliegen dieses Buches.
Es geht darum, sich ernst zu nehmen und damit alles zu tun, um Überforderungen zu vermeiden und bestehende Überlastungen abzubauen; darum, als Partner des Depressiven besonders gut zu sich zu sein und sorgfältig mit sich umzugehen: »Alles, was ich für mich tue, was mich stärkt und aufbaut, kommt dem depressiven Menschen zugute. Es entlastet ihn und macht ihn frei für seinen Weg der Veränderung.« Das zu glauben, ist nicht einfach für den Partner. Zu vertrauen, dass auf diese Art zu leben dem Depressiven hilft, ja dass es die wirksamste und nachhaltigste Form der Hilfe ist, gelingt nicht von heute auf morgen. Deshalb ist eine der häufigsten Fragen: »Darf ich denn das?« Ohne die Antwort im Moment näher zu begründen, lautet sie ganz klar und eindeutig: »Ja, du darfst.« Es gilt aber auch: »Alles, was der Depressive unternimmt und bei sich verändert, kommt mir, dem Partner, zugute.«
Die Partner machen häufig die Erfahrung, dass sie immer mehr mit Ratschlägen von außen zugedeckt werden. Die anderen wissen scheinbar sehr genau, was man auf jeden Fall machen muss, was sie machen würden, was sie sich sicher nicht gefallen ließen und was auch schon anderen geholfen hat. Das kommt meist mit dem Unterton daher, »wenn ihr das nicht macht, seid ihr selber schuld, dass es noch nicht besser wird«. Ärztliche Behandlung ja oder nein, Psychotherapie ja oder nein sind ebenso Fragen wie die nach Medikamenten oder einem möglichen Klinikaufenthalt des Depressiven, die zum Gefühl der Überforderung beitragen. Wie sollen andere wissen, was recht und richtig ist und was er leisten sollte, wenn im Moment gar nichts klar, gar nichts vertraut und einsichtig ist?
Was für den depressiven Menschen wichtig und richtig ist, entscheidet nur er selbst. An ihm liegt es, den weiteren Weg, seinen Weg zu bestimmen. Das so zu sehen und zu akzeptieren, ist häufig für die Angehörigen nicht einfach, vor allem dann, wenn der Depressive nichts entscheidet, nichts unternimmt und ihm scheinbar alles egal ist. Mit anzusehen, wie sich der Zustand des depressiven Menschen verschlechtert, ist vielfach kaum auszuhalten. Und doch bleibt es dabei, es ist sein Leben und dafür trägt er auch die Verantwortung. Das heißt nicht, dass die Angehörigen schweigen müssen. Sie sollen sehr wohl ihre Überlegungen ins Spiel bringen, das letzte Wort aber hat der Depressive.
Weshalb der Titel »Wir schaffen es«? Es gibt verschiedene Antworten, die die depressiven Menschen und ihre Partner darauf geben würden: »Wir merken, dass es nicht ohne den anderen geht. Wir sind stärker als die Depression, wenn wir zusammenhalten und uns gegenseitig stützen und unterstützen. Zu wissen, dass gerade dann, wenn wir uns allein fühlen, wir nicht allein sind, gibt Kraft und Zuversicht. Wir wollen beide das Gleiche und wollen für den anderen nur das Beste. Das auch deshalb, weil uns der andere wichtig ist und ›weil wir es uns wert sind‹«, so abgedroschen das auch klingen mag. Das wären mögliche Antworten, aber es gibt noch andere: »Wir schaffen es«, weil es keinem von uns gleichgültig ist, wie es dem anderen geht. Wir fühlen uns aufgerufen, das zu leisten, was wir können, und das beizutragen, was dem andern hilft. Weil wir dem anderen beistehen wollen, schaut jeder auf sich. Wir sitzen im gleichen Boot und kommen nur weiter, wenn wir zusammen auf das gleiche Ziel hin rudern. Wir schaffen es, weil jeder an seinem Platz und entsprechend seinen Möglichkeiten etwas für sich und damit für den anderen tut.
Im Bewusstsein zu leben: »Zusammen schaffen wir es, weil wir es gut hatten und wir unsere Beziehung nicht gefährden wollen«, ist keine weltfremde oder idealistische Vorstellung. Dass darin aber auch die Gefahr besteht, zu viel zu machen und sich zu überfordern, ist nicht von der Hand zu weisen.
Für sich zu sorgen, auf sich zu schauen, verbunden mit dem Wunsch, damit dem Depressiven beizustehen, ist die Grundlage des »Wir schaffen es«. Dabei mag die Hoffnung mitspielen, dass es irgendwann einmal doch eine Verbesserung geben muss, die dem Partner immer wieder Kraft und Mut gibt, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und es zusammen zu schaffen.
Wenn es dem Depressiven schlecht geht, ist es sowohl für ihn selbst wie für seinen Partner oft nicht möglich, an eine Verbesserung zu glauben und zuversichtlich zu bleiben. Immer hoffnungsvoll zu sein und positiv zu denken, geht für niemanden, braucht es auch nicht und ist auch nicht verlangt. »Es gibt viele Momente, in denen wir zweifeln und alles hinwerfen wollen. Häufig fehlt der Glaube, dass wir es schaffen. Vielfach fehlt die Überzeugung, dass wir den richtigen Weg gehen. Und doch spüren wir immer wieder, dass es richtig ist, was wir machen und dass wir es schaffen. Wir schaffen es auch deshalb, weil wir so nicht mehr leben wollen. Wir tun beide etwas dafür, weil keiner etwas dafür kann, dass es so ist, wie es jetzt ist, und wir überzeugt sind, dass keiner von uns beiden Schuld trägt an der Situation.«
Schuld ist überhaupt kein Thema und sich schuldig fühlen ist etwas, was sich weder der Depressive noch der Partner leisten kann. Sich schuldig fühlen kostet Kraft und nimmt gefangen – und davon profitiert niemand. Sich schuldig fühlen heißt auch, zu verharren und stehen zu bleiben. Während der Depressionsphase kommt niemand ohne Abstürze und Rückfälle durch, niemandem gelingt es, immer korrekt, verständnisvoll und wohlwollend mit sich und dem anderen umzugehen. Das ist gar nicht möglich. Verzeihen und weitergehen ist angesagt. Wer mit allen Mitteln versucht, Ungerechtigkeiten, Missverständnisse und Fehler zu verhindern, wird steif, starr und unfrei und distanziert sich von sich und dem depressiven Partner – auch wenn es noch so gut gemeint ist. Beide dürfen Fehler machen und den anderen nicht immer verstehen und auch nicht immer verstehen wollen. Es kann deshalb nie darum gehen, alles perfekt zu machen. Wer Fehler machen darf, kann auch Fehler zugeben. Wer sich Fehler erlaubt, ist auch dem anderen gegenüber großzügiger und wohlwollender und damit auch versöhnlicher und weniger streng. Nachsichtige Menschen suchen nicht hinter jeder Äußerung oder hinter ihrem Ausbleiben einen versteckten Angriff, eine Kritik oder sonst etwas Bösartiges. Das zu lernen und zu praktizieren ist eine Aufgabe, die beide, der Partner und der depressive Mensch, zu lernen und zu leisten haben. Das ist ein nicht unwesentlicher Teil des gemeinsamen Weges.
Wenn ich vom Leiden der Depressiven spreche, dann liegt das nicht in der Verantwortung des Partners, und Gleiches gilt, wenn ich von der schwierigen Situation der Partner spreche. Dann sehe ich auch keine Schuld beim Depressiven. Ich hoffe, dass es auch dem Depressiven gelingt, das so zu sehen. Die Partner wie auch die depressiven Menschen sollen sich in diesem Buch verstanden fühlen, wie auch niemand sich an den Pranger gestellt oder bewertet und verurteilt sehen muss. Es geht auch nie darum, wer besser oder schlechter ist, wer mehr leidet und wer mehr für den anderen macht. Die Depression ist, wie schon ganz zu Anfang betont, ein gemeinsames Leiden.1
TEIL I
Was der Partner für sich tut, tut er auch für den Depressiven
1
Auch für den Partner ist das Leben schwierig
In der Einleitung habe ich geschrieben, dass die Depression überfordert und erschöpft. Um das verstehen zu können, nicht zuletzt im Hinblick auf den Partner, ist es wichtig zu verstehen, wie der depressive Mensch denkt, empfindet und handelt. Wenn der Partner diese Zusammenhänge erfasst, kann es ihm um einiges besser gehen, weil er nicht nur den depressiven Menschen besser versteht, sondern ebenso, wie sich dessen Denken und Verhalten auf ihn selbst und sein eigenes Verhalten auswirken. Er realisiert, wie bezogen aufeinander sie ihr Leben gestalten. Was und wie der Depressive etwas macht oder nicht macht, hat seine Auswirkung auf den Partner und dieser wiederum beeinflusst das Geschehen beim Depressiven. Es ist ein gegenseitiges Bezogensein und sich gegenseitiges Beeinflussen der beiden.
Neben dem Wissen, dass in jeder Beziehung die Beteiligten nicht losgelöst voneinander agieren und dass Verstehen des Depressiven immer auch ein Verstehen dieses Wechselspiels bedeutet, gibt es zwei Aspekte, deren Kenntnis für den Partner besonders wichtig ist:
1.Depressive Menschen haben eine depressive Entwicklung durchgemacht.
2.Sie haben in ihrer Kindheit bestimmte Verhaltensmuster entwickelt, die sie später in die Depression geführt haben.
Depressive Entwicklung und deren Ursprung in der Kindheit sind die Grundpfeiler jeder Depression. Ohne sie gibt es kein depressives Erleben, Denken und Handeln. Depressive Menschen leben jahrzehntelang ihre typischen Verhaltensmuster, die sie in der Kindheit gelernt und später weiterentwickelt und perfektioniert haben. Und diese Muster sind, um nur ein paar wenige zu nennen, für depressives Handeln und Denken entscheidend und prägend:
-
Depressive Menschen übergehen und überfordern sich.
-
Sie geben sich keine Bedeutung.
-
Sie sind mehr auf andere als auf sich ausgerichtet.
-
Sie stehen immer zurück und stellen sich hinten an.
-
Sie gehen verständnislos und unachtsam mit sich um.
-
Sie behandeln sich selbst streng, lieblos und abwertend.
Es sind vor allem diese Verhaltensmuster, die verantwortlich dafür sind, dass sich die depressiven Menschen fortwährend schwächen. Diese gelernten Verhaltensmuster sind schuld, dass sie kräftemäßig über ihre Verhältnisse leben, ihre Grenzen wohl spüren, aber nicht respektieren und sich ein Verhalten abverlangen, das ihren Möglichkeiten nicht angepasst ist. Es sind diese Erschöpfungsmuster, die sie überfordern und zu depressiven Menschen machen. Das als Partner zu erkennen und zu verstehen, verhilft zu einem besseren Zugang zum depressiven Menschen, führt zu einem tieferen Verständnis für den Zustand, in dem er sich befindet. Dem Partner verschafft dieses Wissen mehr Ruhe und Sicherheit, auch mehr Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit im Zusammenleben mit dem Depressiven. Nicht zu verstehen und doch ständig und unmittelbar betroffen zu sein, tut nicht gut, lässt die Verzweiflung und Ohnmacht grenzenlos werden und vergeudet darüber hinaus sinnlos Kräfte.
Der Partner, wenn er längere Zeit mit dem Depressiven zusammen ist, sich um ihn bemüht und ihm zu helfen versucht, läuft Gefahr, sich zu viel zuzumuten, indem er sich immer mehr zurücknimmt, mehr auf den anderen als auf sich ausgerichtet ist, gedanklich fortwährend um den andern kreist und sich, ohne es zu merken, verausgabt und schwächt.
Dem Depressiven geht es schlecht. Er leidet, zieht sich zurück, baut eine Mauer um sich und interessiert sich für nichts mehr wirklich. Das Bedürfnis, ihm zu helfen, ihn aufzuheitern, für ihn da zu sein, ihm alles abzunehmen und seine Launen stillschweigend zu ertragen, ist immer wieder groß. Viele Partner spüren den Drang und den Wunsch, für den anderen alles zu tun, und merken dabei nicht, wie sie sich dabei zurücknehmen, sich ständig übergehen und ihre Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit übersteigen. Ihre eigenen Bedürfnisse nehmen sie immer weniger wahr. Die sind angesichts des Leidens der Depressiven scheinbar unbedeutend. Sie merken nicht, wie sie sich zunehmend erschöpfen und überfordern. Sie realisieren erst spät, meist zu spät, dass sie über ihre Verhältnisse gelebt und sich ausgebeutet haben. Wenn sie sich aber darüber bewusst werden, wie sie sich verhalten und wie sie auf den Depressiven reagieren, hilft es ihnen, ihr eigenes Verhalten als Überforderungsverhalten zu verstehen. Das wiederum sensibilisiert sie und lenkt ihre Aufmerksamkeit vermehrt darauf, wie sie mit sich selbst umgehen.
Die Partner merken häufig nicht, dass sie zu viel machen. Sie glauben dem Depressiven nicht, dass er für sich sorgen kann, und sie trauen ihm auch nicht zu, dass er selbst spürt oder weiß, was für ihn richtig und wichtig ist. Sie übernehmen zu viel an Verantwortung, weil sie Angst haben, dass der Depressive sich zu viel zumutet. Sie meinen häufig, den Depressiven vor sich schützen zu müssen. Sie realisieren nicht, dass, wie ich später ausführen werde, auch sie es sind, die ihn überfordern, bremsen und verunsichern. Dem Depressiven zu vertrauen und ihm zuzumuten, dass er Verantwortung für sich übernehmen kann und auch um Hilfe nachsucht, wenn er sie will, würde alle entlasten.
Das Leben mit und neben einem depressiven Menschen zu leben geht an die Substanz, kostet Kraft und bindet Energien. Helfen und unterstützen wollen, ja nichts falsch machen wollen, ja nicht die Situation noch erschweren lassen es nicht zu, sich in seinem Handeln selbst zu berücksichtigen. So zu leben verhindert auch, sich zurückzunehmen und zur Ruhe zu kommen. Wer, wie die Partner, versucht, auf den Depressiven einzugehen, und dabei erfährt, dass er nicht wirklich an ihn herankommt und dass die Hilfe, die er ihm geben will, nicht greift, hat es sehr schwer.
Dazu kommt, dass der Depressive geschwächt ist, selber wenig mithelfen kann und damit seinen Partner und seine Partnerin allein lässt, und das sowohl auf der Ebene der Gefühle als auch im Alltag mit all den zu erledigenden Arbeiten. Partner von depressiven Menschen sind an allen Ecken und Enden gefordert, ohne damit die Erfahrung zu machen, dass es ihren depressiven Partnern besser geht. Im Gegenteil. Sie sehen, wie der depressive Mensch immer mehr ermüdet und sich immer mehr zurückzieht, wie er immer weniger entscheidet und immer hilfloser und unselbstständiger wird.
Zu erfahren, dass man dem depressiven Menschen nicht helfen kann, dass alles, was man versucht, ihm keine Linderung oder Verbesserung seines Zustandes bringt, verletzt. Zu merken, dass das, was man gibt, scheinbar wirkungs- und bedeutungslos verpufft, ist schwer zu verkraften. Es tut aber auch weh, den Depressiven so leiden zu sehen, zu sehen, wie schlecht es ihm geht, wie er sich über die Runden quält und es einfach nicht schafft, sich aus dem Gefängnis von Druck und Hoffnungslosigkeit zu befreien. Den Schmerz des anderen und die eigene Ohnmacht auszuhalten, ist etwas vom Schwierigsten. Auch damit muss der Partner fertig werden, dass all das, was er am Depressiven so bewunderte, seine Stärke und seine Liebenswürdigkeit, langsam verblasst und in den Hintergrund tritt. Er muss begreifen, dass er mit allem, was ihn beschäftigt, allein zurechtkommen muss. Wie es ihm geht, was ihn beschäftigt und belastet, mit welchen beruflichen Problemen er zu kämpfen hat – all das geht am Depressiven vorbei. Ihm fehlt die Kraft, sich dem Partner zuzuwenden, sich für ihn zu interessieren und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Partner ist allein und das ist alles andere als einfach.
So ermüden die Partner immer mehr. Sich zunehmend als hilflos und ohnmächtig zu erfahren, lässt einen nicht mehr los, und das Gefühl zu versagen, nicht zu genügen und nichts zu erreichen, wird immer stärker. Wenn sie wenigstens sehen könnten, dass sich etwas zum Guten wendet, der Depressive wieder über mehr Kräfte verfügt und sich wieder mehr am gemeinsamen Leben beteiligen würde. All das aber ist nicht der Fall. Es scheint immer mehr ein aussichtsloser Kampf zu werden, bei dem der Einsatz und das Engagement verpuffen und Zweifel und Resignation zunehmen. Weiter dranzubleiben, sich einzusetzen und auf Besserung zu hoffen, wird immer schwieriger, nicht zuletzt auch deswegen, weil der Depressive immer mehr klagt und immer deutlicher zum Ausdruck bringt, dass er so nicht mehr leben will und die Kraft nicht mehr hat, sich immer wieder von Neuem aufzuraffen: »So will ich nicht mehr leben, so hat das Leben keinen Sinn mehr, das ist kein Leben. Die Hoffnung, dass sich alles noch zum Guten wendet, habe ich längst verloren. Es hat doch alles keinen Sinn mehr.« Ständig mit dieser Drohung zu leben zermürbt den Partner. Sich trotzdem immer wieder um den Depressiven zu bemühen macht ihn müde und auch ratlos. Manchmal auch wütend: »Weshalb denn mache ich das alles? Doch nicht meinetwegen.«
Vieles beginnt sich beim Partner zu bewegen und zu bröckeln: Das Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein werden angekratzt, Hoffnung und Zuversicht schwinden und der unerschütterliche Glaube an eine Veränderung und Verbesserung der Situation bekommt Risse. Mit der Müdigkeit und der Überforderung wachsen die Zweifel und die Unsicherheit. Ängste nisten sich ein, vor allem aber breiten sich Müdigkeit und Resignation immer mehr aus. Damit wird alles noch mühsamer und trostloser, wirklich alles. Dass nicht wenige Partner in dieser Situation sich vom Depressiven distanzieren und innerlich emigrieren, überrascht nicht.
Die Partner verlieren auch zunehmend all das, was ihnen in ihrem Leben bisher oft geholfen hat, ihren Humor, ihren Optimismus und ihr Engagement. Wenn alles lange und länger andauert, gleichen sich ihre Verhaltensmuster denen des Depressiven sogar an: Auch sie können – obwohl sie es gerne tun würden! – nicht ihren eigenen Bedürfnissen nachgeben und fühlen sich verpflichtet, weiter für den Depressiven da zu sein und sich für ihn einzusetzen. Sie sehen zu, dass sie dranbleiben, und versuchen sich mit aller Kraft dafür einzusetzen, dass das Leben weiterhin so »normal« verläuft wie gewohnt. Sie halten das bisherige Leben bei, indem sie dafür sorgen, dass alles seinen gewohnten Lauf nimmt, dass nichts untergeht und sie als Familie weiterbestehen. Natürlich spüren sie den Druck und die Verantwortung, die sie damit auf sich laden, häufig aber auch eine Kraft, die aus dem »wir bleiben uns nahe, weil wir wieder eine gemeinsame Zukunft wollen« genährt und getragen wird. Ohne diese Grundüberzeugung und ohne die Verantwortung, die sie dem Depressiven und ihren Kindern gegenüber empfinden, würden sie irgendeinmal aufgeben. Motivation und Engagement würden ganz zurückgehen und der Wunsch nach einem normalen und gemeinsamen Leben würde immer schwächer werden. Jeder Mensch hat seine Grenzen und für alle ist einmal Schluss, ist keine Kraft mehr da. Wer sich vorwiegend für den anderen und die anderen einsetzt, wer sich ständig übergeht, verliert sich – und irgendwann dann auch die Freude am Leben. Deshalb ist es so wichtig, dass der Partner für sich Verantwortung übernimmt, indem er dafür sorgt, dass er haushälterisch mit seinen Kräften umgeht, seine Grenzen ernst nimmt und auf die Sprache seines Körpers hört. Das wäre eine erste Umschreibung dessen, was mit Eigenverantwortung gemeint ist. Wir werden diesem Ausdruck immer wieder begegnen, ist die Selbstverantwortung doch eine der Kernaufgaben des Partners, um heil durch die Depressionszeit zu kommen und dabei gleichzeitig dem Depressiven eine möglichst große Hilfe und Stütze zu sein.
Für sich Verantwortung übernehmen bedeutet für den Partner, sich so zu verhalten, dass er sich nicht schadet. Es heißt auch, sich für sich zu entscheiden und für sich Position zu beziehen. Der Partner lebt und handelt nie unabhängig und losgelöst vom Depressiven. Er ist immer bezogen auf ihn und deshalb bedeutet die Selbstverantwortung des Partners immer auch die Verantwortung für sich im Bezogensein auf den Depressiven wahrzunehmen. Selbstverantwortung des Partners versteht sich immer auch als Verantwortung für den Depressiven und die Beziehung. Wer in seiner Selbstverantwortung den Depressiven nicht einbezieht, handelt egoistisch und rücksichtslos.
Für sich Verantwortung übernehmen bedeutet Hilfe für sich selbst und ist eines der wirksamsten Mittel gegen die eigene Überforderung und Erschöpfung. Zudem gehören auf sich achten und für sich sorgen zu den ureigenen Aufgaben des Menschen. Deshalb sollte sich die Frage, die sich so viele Partner stellen: »Darf ich denn das?«, eigentlich gar nicht stellen. Es geht nicht ums Dürfen, sondern sie haben geradezu die Pflicht, achtsam mit sich selbst umzugehen.
Für sich verantwortlich sein verhindert auch, sich als Opfer zu sehen und den Depressiven dafür verantwortlich zu machen. Selbstverantwortung heißt nicht, einfach nur zu reagieren, sondern meint, ganz bewusst zu entscheiden und über sein Handeln selbst zu bestimmen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen. In die Selbstverantwortung des Partners ist immer auch der Depressive eingebunden. Deshalb ist das Tragen der Verantwortung für sich selbst auch eine wirksame Hilfe für den Depressiven. Sorgfältig mit sich und seinen Kräften umzugehen, macht den Partner belastbarer und weniger schnell gestresst. Er hat mehr Energie zur Verfügung, was ihn frei und offen macht für den Depressiven, was diesen wiederum entlastet und erleichtert, wenn er sieht, dass der Partner auch auf sich selbst schaut. Er braucht weniger ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn er mehr auf sich als auf die anderen ausgerichtet ist. Es beruhigt ihn, nimmt ihm Druck und macht ihn frei für seinen Weg aus der Depression.
Selbstverantwortung beinhaltet immer auch Selbstbestimmung. Selber entscheiden und über sich bestimmen macht unabhängig. Selbst bestimmen und selber entscheiden sind die Leitplanken auf dem Weg vom »Was muss ich?« zum »Was will ich?«.
Wer nicht auf sich schaut, verliert sich. Wer sich verliert, verliert alles und zieht damit auch die anderen in dieses Elend mit hinein. Partner, die sich verlieren, verlieren sich nicht, weil ihnen der depressive Mensch den Boden entzieht und ihnen die Kräfte raubt, sondern weil sie sich in ihrem Denken nicht einbeziehen und in ihrem Handeln nicht berücksichtigen. Sie verlieren sich, weil sie ihre Selbstverantwortung zu wenig wahrnehmen.