Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-47240-3)
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www.beltz.de
www.psychologie-heute.de
© 2014 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Redaktion: Heiko Ernst
Umschlaggestaltung: www.stefanielevers.de, Stephan Engelke (Beratung)
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-47241-0

Inhalt

Vorwort
Hugo Schmale
Angewandte Psychologie
Gerd Gigerenzer
Risikoforschung
Dieter Frey
Sozialpsychologie
Ursula Staudinger
Plastizitätsforschung
Jürgen Wegge
Arbeits- und Organisationspsychologie
Anke Ehlers
Traumatherapie
Jürgen Margraf
Klinische Psychologie
Uta Frevert
Geschichte der Gefühle
Leo Montada
Mediation
Ulman Lindenberger
Entwicklungspsychologie
Tanja Singer
Neurospychologie
Harald Welzer
Politische Psychologie
Andreas Kruse
Altersforschung
Vorwort
Geschichten aus dem wirklichen Leben
Wiederbegegnung mit einer Wissenschaft, die sich ständig neu erfindet. Ein Erfahrungsbericht
Vor dreißig Jahren hatte ich mich von der Psychologie verabschiedet. Es war ein kurioser, vielleicht unbedachter Schritt, denn eigentlich war das Gegenteil meine Absicht gewesen. Kurz zuvor, 1982, hatte ich auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Mainz erlebt, wie der damalige Präsident der DGPs, Heinz Heckhausen, erstmals einen Preis für Wissenschaftsjournalismus in seinem Fach verlieh.
Der Preisträger war ein Journalist aus Hamburg. In den Jahren zuvor, während des Studiums in Trier, hatten Kollegen, Kommilitonen und ich jede Woche ungeduldig seine Berichte aus den Maschinenräumen und Denktanks der Wissenschaft erwartet; sie waren unser Stoff für hitzige Debatten in der Cafeteria. Besonders die Frage um die erblichen Anteile von Intelligenz und ihre Implikationen etwa für die Schule interessierte ihn sehr – und bei der Lektüre der Artikel war auch mir der Gedanke aufgegangen, dass psychologische Forschung journalistische Unterstützung braucht, um ihre Erkenntnisse da zu hinterlegen, wo sie wirksam werden können: im Bildungssystem, in der Politik, im Wettstreit mit den Vertretungen anderer Berufsfelder um das Mandat, die Probleme der Zeit zu lösen. Wer, wenn nicht Psychologen, sollte Kompetenz zeigen in Personalpolitik oder Städteplanung, in der Entwicklung von Konzepten zur Gesundheitsvorsorge, der Koordination interdisziplinärer Zusammenarbeit oder der Auswahl ökonomischer Ziele und Strategien?
Also beschloss ich, selber Journalist zu werden. In irgendeinem Ordner auf dem Dachboden wird auch noch der Briefwechsel zu finden sein, in dem ich den preisgekrönten Autor als eifriger, vielleicht übereifriger Leser auf kleine Ungenauigkeiten bei der Interpretation statistischer Kennzahlen hingewiesen hatte – große Momente für einen Psychologiestudenten. Der Mann hatte großzügig reagiert und mir gestattet, ihn zu belehren. Als Literaturwissenschaftler sei ihm die methodische Seite psychologischer Forschung doch ein wenig fremd. Dabei war es gerade die Debatte über Methoden, die den Alltag an der Universität damals beherrschte; manchmal schien sie wichtiger als die Inhalte. Eine gute Idee also, so dachte ich: ein Psychologe, der die Themen und Befunde seines Fachs aus dem Gewirr der Korrelationskoeffizienten und experimentellen Designs herauslöst und sie als Journalist für andere – auch für andere Zwecke – aufarbeitet. Außerdem, das will ich gern zugeben, reizte mich in diesem Moment vor gut 30 Jahren die Idee, einmal selbst auf dem Podium zu stehen und den Medienpreis der DGPs entgegen zu nehmen. So werden Weichen für Berufswege gestellt: mit der Mohrrübe …
Ich bekam einen Platz an der Hamburger Journalistenschule, die heute Henri-Nannen-Schule heißt und immer noch als sehr gute Plattform zum Einstieg in das neue Berufsfeld gilt. Und eigentlich hätte ich nun meinen Plan umsetzen können. Aber ich begegnete anderen Themen und Formen, deren Reiz ich unterschätzt hatte. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk war ein tolles Medium, schnell, spontan und selbstbewusst genug, dem, der etwas zu erzählen hatte, auch eine halbe oder volle Stunde Zeit dafür einzuräumen – ein hinreißend und mitreißend sinnliches Arbeitsfeld für Journalisten. Ich moderierte und interviewte, mischte Features und sprach Kommentare; die Psychologie wurde zur Freizeitbeschäftigung – als Doktorarbeit in einem Projekt zur Hochbegabtenforschung. Später wurde ich Redakteur und irgendwann auch Chefredakteur von Kunstzeitschriften, traf Christo, Leo Castelli, William Kentridge oder die Chefs der documenta zum Interview und besuchte die Maler der DDR just in jenen Wochen nach der Wende, als sie kreidebleich in ihren Ateliers saßen, die der gerade verblichene Staat ihnen eingerichtet hatte, und sich fragten, wie das alles hatte passieren können …
Ich lernte in Massenblättern den Respekt vor der Herausforderung, für zweieinhalb Millionen Leser zu schreiben und dabei einen Ton zu finden, der Putzfrauen und Professoren gleichermaßen erreicht – ob es um den Tod im Sterbehospiz geht, die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die Generationen verbindende Funktion der großen Fernsehshow am Samstagabend oder die damals verblüffende Entdeckung einer Generation von Menschen, die den Fünfzigsten hinter sich und immer noch etwas mit ihrem Leben vorhatten. Viel später erst wurde mir klar, wie viel Psychologie gerade in solchen Geschichten aus dem wirklichen Leben steckt. Und noch später registrierte ich, dass auch die psychologische Forschung längst auf diese Themen gestoßen war – auf den Tod, die Politik, die Medien, das Alter.
Als ich wieder auf die Wissenschaft Psychologie aufmerksam wurde, hatte sie sich mächtig verändert. Hatte ihr Feld entschlossen erweitert und etwa in der Neuroforschung oder der immer weiter ausdifferenzierten Konzeption von Entwicklung als lebenslangem Prozess neue Relevanz bestätigt. Sie hatte eine neue Bestimmung in der Koordination von interdisziplinärer Zusammenarbeit entdeckt und präsentierte sich offen, selbstbewusst und bisweilen sogar mit Witz nach außen. Der Auftritt eines wissenschaftlich denkenden und handelnden Psychologen bei Maybritt Illner? Keine Berührungsängste! Ein Statement von sechzig Sekunden für die Morgensendung? Bitte sehr! Ein Nachmittag im lockeren Gespräch mit Spiegel Online oder der Brigitte? Nur sehr, sehr orthodoxe Bewohner des Elfenbeinturmes rümpften da noch die Nasen. Und Männer wie Paul Baltes oder Gerd Gigerenzer hatten mit großen Artikeln in der Zeitung oder mit anschaulich und streckenweise geradezu schmissig geschriebenen Büchern vorgemacht, dass ein großes, interessiertes und einflussreiches Publikum auch jenseits der Psychologischen Rundschau auf das Wissen und die Lösungsvorschläge ihres Faches wartete. Das gilt auch in Zukunft: Wer weit reichende Entscheidungen vorbereitet oder auch nur die Gästelisten für eine politische Talk Show zusammenstellt, der wird manchmal staunen, was Psychologen dazu beisteuern können.
So kamen die Interviews für diese Sammlung zustande. Heiko Ernst, der Chefredakteur von Psychologie Heute, ließ sich zu einem ersten Versuch überreden: dem Gespräch mit Hugo Schmale, der schon in den siebziger Jahren in Magazinen wie twen oder Praline ein riesiges Publikum für seine psychologischen Tests gefunden hatte – und als willkommenes Nebenprodukt damit Daten generierte, die mindestens ebenso tauglich zur wissenschaftlichen Auswertung waren wie das, was seine oft skeptischen Kollegen unter kontrollierten Laborbedingungen an Psychologiestudenten ermittelten. »Fast alles, was wir Psychologen über das Erleben und Verhalten von Erwachsenen wissen«, räumte dann auch ein anderer, jüngerer der in diesem Buch vorgestellten Forscher mit einem Augenzwinkern ein, »wissen wir aus der Untersuchung kleiner Gruppen unserer eigenen Studenten im ersten Semester.«
Seinen Namen wollte er in diesem Zusammenhang aber lieber nicht genannt wissen, obwohl es sich doch erkennbar um eine ironische Übertreibung handelte. Sie wissen schon, sagte er. Die Kollegen nehmen so leicht übel …
Hugo Schmale also. Viele Jahre später, nach twen und Praline und inzwischen emeritiert, hatte er den Algorithmus der Online-Partnerbörse Parship entwickelt – und damit vorgemacht, dass sich mit Erkenntnissen und Verfahren der empirischen Psychologie nicht nur Paare zusammenführen, sondern auch sehr zeitgemäße, zudem äußerst lukrative Geschäftsmodelle entwickeln lassen. Nebenbei hatte der Forscher durch seine Arbeit den Beweis geliefert, dass auch Menschen mit 65 und darüber noch ganz taugliche Ideen in die Welt setzen können.
Heiko Ernst also sagte: weitermachen. Und so entwickelte sich ohne Plan, Proporz und vorgefasstes System ein sehr subjektiver, von manchem Zufall bestimmter Einblick in eine wissenschaftliche Disziplin, die in 30 Jahren deutlich an Schwung und Vielfalt gewonnen hatte, auch an dem Ehrgeiz, sich bemerkbar zu machen und einzumischen. Es sind führende Vertreter des Faches, die sich bereit fanden (und in vielen Fällen sogar Spaß daran hatten), sehr freimütig und selbstkritisch über den Stand und eine mögliche Zukunft der Psychologie nachzudenken. Eine, Ute Frevert, ist keine Psychologin, sondern Historikerin. Da sie aber jeden Tag in ihrem Institut mit Psychologen zusammenarbeitet, und da sie selten ein Blatt vor den Mund nimmt, sind ihre Befunde und Kommentare vielleicht besonders aufschlussreich. Und alle, die hier Auskunft geben, forschen und publizieren, referieren, kooperieren und streiten sich im Spitzenfeld der internationalen Wissenschaft. Mag sein, dass manche Teilgebiete noch umfassender repräsentiert sein könnten. Und sollten nicht mehr Frauen zu Wort kommen? Die Reihe geht weiter, genauso spontan und intuitiv wie bisher.
Meinungsverschiedenheit ist auch jetzt schon zu entdecken, deftige sogar: etwa über die Bedeutung der neurowissenschaftlichen Forschung für die Psychologie oder über die Frage, wie viel psychologische Kompetenz ein Bachelor auf dem Arbeitsmarkt zu bieten hat – aber wer erwartet allen Ernstes Konsens in einer Disziplin, die sich ständig neu erfindet, wie ja auch ihre Umgebung und deren Anforderungen sich ständig wandeln? Es gibt keinen Zielpunkt. Aber auf dem Weg ist immer wieder darüber zu staunen, was die Psychologie alles drauf hat.
PS: Im Herbst 2012, exakt 30 Jahre nach dem Startschuss in Mainz, verlieh mir die Deutsche Gesellschaft für Psychologie unter der Präsidentschaft von Peter Frensch ihren Preis für Wissenschaftspublizistik. Ich gestehe: Keine Ehrung hätte mich stärker anrühren können. Ob die Interviews in Psychologie Heute, deren erste bereits erschienen waren, dabei eine Rolle gespielt haben, weiß ich nicht. Möglich. Aber vielleicht waren es auch die vielen Berichte und Features, die ich für den Rundfunk produziert hatte, oder die Biografie des lange Zeit fast vergessenen Psychologen William Stern, die als Buch erschienen war. Vielleicht waren es Artikel über demografischen Wandel und das Gesellschaftsphänomen Alzheimer, über die Rituale der Mobilität, die Zwänge des Konsumismus, das Leben in einer Welt der vernetzten Daten oder allgemein: Vielleicht war es die Vielzahl von Versuchen, psychologische Perspektiven auf politische, soziale, ökonomische oder ökologische Phänomene zu beziehen. In jedem Text sollte irgendwo das Wort »Psychologie« vorkommen. Das war mehr als nur ein Spiel für mich; es war eine ständige Erinnerung daran, worum es eigentlich ging. Aber nur selten war das Resultat das, was als klassische Wissenschaftsberichterstattung manche interessiert und manche eben nicht. Die »Wissen«-Seiten der FAZ oder der Süddeutschen, so großartig gemacht und spannend zu lesen sie sein mögen, können nicht das letzte Ziel eines Forschers sein, der sich äußern kann und etwas bewirken möchte.
Ich bin jedenfalls froh und danke Heiko Ernst dafür, mich zur Wiederbegegnung eingeladen und mir die Neuentdeckung des Faches Psychologie möglich gemacht zu haben.

© Detlef Baltrock
  
  
Angewandte Psychologie
»Damals konnten wir spielen«
Ein Psychoanalytiker auf einem Lehrstuhl für Angewandte Psychologie? Ein Forscher, der mit seinem Erfindergeist Millionen von Paaren zusammen gebracht und ganz nebenbei einen Berg von wissenschaftlichen Daten gesammelt hat? Manchmal muss man schlau sein, um sich im Betrieb von Forschung und Lehre zu behaupten. Hugo Schmale, Jahrgang 1930, hat für seine Überzeugungen gekämpft und sich bisweilen auch Kritik dafür eingehandelt. Aber er hat den Kollegen immer wieder vorgemacht, dass eine Psychologie, die sich im wirklichen Leben bewähren will, keine Berührungsängste zeigen darf. Und manchmal sogar Witz beweisen muss
  
  
Herr Professor Schmale, dürfen wir Sie einen glücklichen Menschen nennen?
Es steckt eine gewisse Hybris in einer solchen Aussage, aber in aller gebotenen Demut: Ich denke, sie trifft zu.
Wer mit 80 eine solche Bilanz ziehen kann, der muss ein bisschen Neugier ertragen: Worin liegt Ihr Glück?
Nach wie vor in meiner Arbeit. Ich habe mich mein ganzes Leben lang einer wunderbaren Wissenschaft gewidmet, der Psychologie, und ich hatte immer wieder Gelegenheit, die Erkenntnisse dieser Disziplin für den Alltag nutzbar zu machen, Anregungen aus dem Alltag zu beziehen, sie zugleich auch am Alltag zu überprüfen. Ich habe beispielsweise schon in den 1960er Jahren damit begonnen, zunächst über die Zeitschrift »twen«, dann auch über andere Magazine Zugang zu Menschen in großer Zahl zu finden, zu ihren Bedürfnissen, Wünschen, auch Zweifeln. Wir haben Tests entwickelt, und man könnte fast sagen, dass ganze Generationen von Lesern auf sie reagiert haben.
Hübsche Unterhaltung für die Kaffeepause …
… wogegen nichts einzuwenden wäre. Aber das allein wäre für mich nicht interessant gewesen. Für die Forschung ergaben sich daraus große Mengen von verlässlichen Daten, die sich auch praktisch anwenden ließen, etwa zur Beratung bei der Partnersuche. Vor zehn Jahren dann konnte ich diese Erkenntnisse und Erfahrungen für die Partnerbörse »Parship« nutzbar machen – statt offline und im direkten Kontakt nun also online. Seither haben rund zehn Millionen Menschen in ganz Europa über dieses Internet-Portal einen Partner fürs Leben gesucht, viele von ihnen sehr erfolgreich: Ich schätze, wir haben ein paar hunderttausend Ehen und feste Beziehungen gestiftet. Das ist doch auch ein Glück! Ganz nebenbei auch für die Wissenschaft: Als Entwickler des »Parship«-Algorithmus habe ich Zugang zu allen auf Partnerschaft bezogenen Daten dieser Menschen, kann sie nach Belieben bündeln und analysieren und daraus Entwicklungsverläufe destillieren oder beobachten, wie sich der Zeitgeist und unsere Vorstellungen vom Leben verändern. Im Labor hätte man solche Mengen von erstklassigen, authentischen Daten ganz bestimmt nicht gewinnen können. Ja, ich denke, Sie können mich ohne allzu große Einschränkungen einen glücklichen Menschen nennen.
Auch in Ihrem Privatleben?
Auch da! Ich war zweimal verheiratet, bin verwitwet und geschieden, doch ich darf sagen: Ich habe die Liebe erlebt und genossen, habe überhaupt das Leben genossen, Freundschaft, intensive Gespräche, gutes Essen, beruflichen Erfolg. Ich liebe die Literatur und die Philiosophie, habe in meiner Studentenzeit in München ein literarisches Café betrieben, das »Palma Kunkel«, in dem sogar Erich Kästner einmal auf der Bühne saß und seine Gedichte rezitierte. Ich lebe umgeben von Bildern und Büchern. Und da meine beiden Ehefrauen Musikerinnen waren, Sängerin die eine, Pianistin die andere, ist mir auch das große Geschenk der Musik zuteil geworden.
Zwei Ehen, verwitwet, geschieden – auch Zufall und Schicksal haben ihre Rollen gespielt. Und den späten Erfolg mit dem Medium Internet haben Sie sicher so nicht vorhersehen können. Worin besteht der Plan?
In einer gewissen Hartnäckigkeit. In der heiteren Zuversicht, dass die richtigen Fragen schon gestellt und die Antworten dann auch vernommen werden, irgendwann. Vor allem aber in der Bereitschaft, die Erkenntnisse meiner Forschung auf ihre Tauglichkeit im Alltag zu überprüfen. Mein Plan war und ist es, wenn Sie so wollen, die Psychologie dienstbar zu machen – für ganz normale Probleme im ganz normalen Leben. Ich habe die Stress-Belastung für Orchestermusiker in Deutschland untersucht: 4000 Probanden. Danach wissen Sie Bescheid über die Wirklichkeit im Berufsleben. Berührungsängste kann man sich bei solcher Arbeit nicht leisten. Und manchmal braucht es Taktik und ein waches Auge.
Wozu Taktik?
Ganz generell: um auf die Forderungen und Erwartungen der jeweiligen Zeit mit dem richtigen Angebot aus dem eigenen Repertoire zu reagieren.
Und speziell?
Zum Beispiel habe ich mich 1970 um den Lehrstuhl für Angewandte Psychologie an der Universität Hamburg beworben. Ich brachte sehr gute Voraussetzungen mit: Das Thema meiner Dissertation war »Die Bedeutung der Oberflächenfarben für die Wahrnehmung«, Titel der Habilitation: »Die metrische Erfassung des Anstrengungserlebnisses«. Das waren zum Teil schwere mathematische Konstruktionen. Und komplex aufgebaute Designs. Trotzdem musste ich auf dem Quivive sein. Ich hatte nach meiner Promotion 1958 sechs Jahre am Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund gearbeitet, kam dann als Assistent an die Technische Universität in München: In beiden Instituten untersuchten wir sehr konkrete Verknüpfungen von Reiz-Intensität und ihrer Wahrnehmung. In Versuchsanordnungen, die denen aus der Physik ähnelten. Das war handfeste Empirie. In Hamburg also trat ich als der experimentelle Psychologe an, als Spezialist für physiologisch-neurologisch-naturwissenschaftlich unterbaute Belastungsanalysen, als Testkonstrukteur. Das hatte mich auf die Liste gebracht. Was ich aber bei der Bewerbung lieber nicht an die große Glocke hängen wollte, war mein inniges Verhältnis zur Psychoanalyse. Ich hatte ja eine psychoanalytische Ausbildung absolviert und war in meinem Denken davon geprägt. Das hätte mir sicherlich Probleme bereitet.
Das Hamburger Institut galt als sehr streng empirisch orientiert. Die Aufmerksamkeit in der Forschung richtete sich auf konkretes, beobachtbares und möglichst weitgehend objektivierbares Verhalten. Für die so genannte »weiche« Psychologie war da wenig Platz. Heißt das, Sie mussten fortan Ihre wissenschaftlichen Wurzeln verleugnen?
Das schafft kein Mensch, und das wollte ich auch nicht. Ich habe meinen familiären Hintergrund gewissermaßen am Tag der Hochzeit in die Ehe eingebracht – habe also in meiner Antrittsvorlesung angekündigt, dass meine Pläne für die neu aufzubauende Abteilung für Arbeitspsychologie in Hamburg auch andere als nur behaviorale Ansätze einbezögen: strukturalistische etwa, psychoanalytische…
Und Ihre Zuhörer waren begeistert über die unerwartete Bereicherung in den theoretischen Grundlagen?
Begeistert? Oh nein, einige waren entsetzt! Aber inzwischen ist viel Zeit darüber hinweg gegangen. Das Verhältnis zu denen, die von damals noch übrig sind, ist freundlich und kollegial. Die Studenten allerdings waren von Anfang an sehr offen für die Perspektiven, die meine Arbeit ihnen eröffnete. Sie müssen bedenken: Das alles passierte 1970/71. Da wurde der Diskurs noch sehr engagiert geführt. Da ging es um die Deutungshoheit in einer sich rasant entwickelnden Wissenschaft.
Aber einerseits die sehr pragmatischen, an den Naturwissenschaften ausgerichteten Fragestellungen der Arbeitspsychologie und andererseits das individualistische, eher spekulative Theoriengebäude der Psychoanalyse: Geht das überhaupt zusammen?
Es geht sehr gut. Und wie Sie sehen werden, erklärt es die Phänomene des Alltags viel besser als eine Psychologie, die sich allein an physikalischen oder quasi-physikalischen Größen orientiert. Dort bleibt immer ein Rest, der sich nicht aufklären lässt. Weil man das Wesentliche dabei aus den Augen verliert: das Individuum. Ich habe andere Vorstellungen davon, was »objektiv« ist. Oder habe, ganz generell, Zweifel daran, ob etwas überhaupt objektiv erfasst werden kann – zumal in der Psychologie, in der immer das beobachtende Subjekt eine ganz eigene, im Sinne des Wortes entscheidende Rolle spielt. In der Physik kennt man die Unschärferelation von Werner Heisenberg. Sie besagt, dass ich einen Gegenstand allein durch Messung schon verändere. Das gilt natürlich in viel stärkerem Maße für Fragestellungen aus der Psychologie. Die Sprache spielt eine zentrale Rolle. Sie ist nicht nur das Medium der Psychologie – sie ist ihr Material, ihr Thema, ihr Stoff. Das, worüber wir als Psychologen nachdenken, entsteht und existiert ja überhaupt erst in der Sprache. Ich denke da an den Strukturalismus eines Jacques Lacan oder an Charles Sanders Peirce, den Begründer der Zeichentheorie. Und im Grunde hat ja auch Immanuel Kant nichts anderes gesagt: Dass die Dinge, die wir sehen und beschreiben, notwendigerweise Formen unserer Wahrnehmung enthalten.
Und wie kommt jetzt Sigmund Freud ins Spiel?
Das Gesagte spielt bei Freud eine große Rolle, aber es wird nicht mit der Wahrheit gleichgesetzt. Es muss immer in eine Beziehung gebracht werden zu dem, was gemeint war. Wobei das Gemeinte eigentlich nie erfasst werden kann. Es ist immer nur das Gesagte da. Und es liegt in der Natur der Sprache, dass diese Diskrepanz nie zu überbrücken ist. Hinzu kommt, dass in der Wahrnehmung vieles unbewusst abläuft. Ob es sich also um Dinge wie die Liebe handelt oder um Gerechtigkeit – und wenn ich noch so präzise beschreibe, was ich meine, komme ich doch nie auf den Punkt, dass ich sagen könnte: Genau das meine ich!
Ist das nicht ein bisschen zu verwinkelt und zu spröde, um einen jungen Menschen für eine Wissenschaft zu begeistern?
Nun ja, man macht auch als junger Mensch seine Erfahrungen mit der Diskrepanz von Gesagtem und Gemeintem. Vielleicht sogar gerade in dem Alter… Doch im Ernst: Am Anfang meines Weges stand die Kunst. Literatur- und Theaterwissenschaften, das war es, womit ich mein Studium begonnen hatte. Es gab da im Umfeld meiner Familie einen Verlag, und ich konnte mir damals gut vorstellen, ihn eines Tages zu übernehmen. Aber das Leben hatte offenbar etwas anderes mit mir vor: Ich verliebte mich in eine Psychologiestudentin. Sie nahm mich mit in eine Veranstaltung; es war ein Beobachtungsseminar – und dort fiel ich dem Dozenten auf. Weil ich mich selbst als Beobachter in die Beschreibung der Situation einbezog. Das war ungewöhnlich. Ich sagte also nicht, ein zu beobachtender Sachverhalt sei so und so, sondern: In meiner Wahrnehmung stellt sich die Sache so und so dar. »Hmm«, sagte da der Seminarleiter. »Was machen Sie sonst? Ich habe Sie noch nie hier bei uns gesehen.« Und dann lud er mich ein, häufiger zu kommen.
Haben Ihre Erfahrungen mit Literatur Ihnen dabei geholfen, eine solche Perspektive zu entwickeln?
Unbedingt! Die Beschreibung menschlichen Verhaltens beispielsweise bei Franz Kafka ist zutiefst Psychologie. Das Fiktive ist nicht Gegensatz des Realen. Bei Kafka ist es seine Vertiefung. Wir sind in unserer Wahrnehmung immer in einem bestimmten Teil fiktiv. Das sollte ich dann bei Freud bestätigt finden: Es geht um die Seele, aber die bestand für ihn aus Worten. Nicht: Sie war damit umschrieben, nein: Sie bestand daraus. Und damit war ich auf dem Weg. Seither könnte ich Freud als meinen Säulenheiligen bezeichnen. Er war übrigens – und da versöhnen sich die vermeintlichen Gegensätze – er war ein knallharter Empiriker, und auch für einen Experimentalpsychologen ist es eine Riesenfreude, in seinen Schriften zu erkennen, mit welcher wissenschaftlichen Skepsis er sich seinem Gegenstand genähert hat.
Inzwischen sind die Hirnforscher auf den Plan getreten, die Neurowissenschaftler und Evolutionsbiologen, und machen der Psychologie viel von ihrem Terrain streitig. Bringt das die vermeintlichen Gegensätze innerhalb Ihrer Disziplin wieder näher aneinander?
Das wäre ein nahe liegender Schluss, ein hübsches Sandkastenspiel. Aber ich denke, die tatsächlichen Koalitionen entstehen auf anderer Basis. Zu meiner Freude höre ich etwa von vielen Neurowissenschaftlern, dass sie auf sehr ähnliche Ergebnisse kommen, wie die Psychoanalyse sie vorgeschlagen hat. Dass beispielsweise auch genetische Strukturen lernen können. Dass sie nichts Vorgegebenes sind, sondern sich in interaktiven Prozessen entwickeln. Der 2009 mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Neurowissenschaftler Eric Kandel hat sich da mit seinem Buch »Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes« zum Vordenker einer regelrechten Bewegung gemacht. Ebenso Francois Ansermet und Pier Magistretti, ein Neurologe und ein Psychoanalytiker, mit »Die Individualität des Gehirns«. Das sind sehr interessante Positionen, die klar machen, dass die Kluft zwischen der Neurologie und der Psychoanalyse wegschmilzt. Ganz Ähnliches stand übrigens auch schon in der frühesten Arbeit von Freud, dem »Entwurf einer Psychologie« von 1895.
Fühlen Sie sich bestätigt durch solche neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften?
Natürlich, weil ich denselben Vorwurf gegen eine Psychologie habe, die sich definiert wie eine reine Naturwissenschaft. Als wäre sie eine Nachbardisziplin der Physik. Aber ich fühle mich gar nicht gemeint, wenn da etwa von Seiten der Neurowissenschaften ein Angriff kommt, weil ich mich nie identifiziert habe mit einer solchen restriktiven, rein behavioral ausgerichteten Psychologie.
Und dann machten Sie sich auf den Weg in den Alltag. Waren Sie vielleicht gerade wegen Ihrer Denkweise, Ihrer Biografie, Ihrer Position innerhalb einer Kollegenschaft und innerhalb der Wissenschaft prädestiniert dafür, psychologisches Denken in anderen Feldern auszuprobieren?
So kann man das sagen. Das trifft es.
Der Tempel der Universität war damals ja noch recht hermetisch abgeschlossen gegen das profane Leben. Wie sind Sie darauf gekommen, aus diesem Tempel heraus in die Redaktion einer Zeitschrift zu gehen und zu sagen, hört mal, Freunde, ich hätte da eine Idee? War das nicht degoutant?
Oh ja, das war es! Viele stolze Wissenschaftler haben darüber die Nase gerümpft. Aber es kam nicht von einem Tag auf den anderen. Auch solche Dinge entwickeln sich. Mein erster Auftrag am Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund war es, die Geschmacksqualitäten der einheimischen Biere empirisch zu ermitteln. Dortmund ist ja eine Bierstadt. Ich habe also Versuchspersonen zur Bierprobe eingeladen, habe ihre subjektiven Empfindungen erfasst und dazu physiologische Maße erhoben. Es kam heraus, dass der Zuckergehalt sehr wichtig war. Das hat den Brauereien gar nicht geschmeckt: Zucker – das passte nicht zum Image. Sie haben ihre Anfrage dann schnell zurückgezogen; die Studie blieb unveröffentlicht. Aber mir war klar geworden, dass subjektive Erwartungen eine wichtige Rolle spielten, ebenso die verbreiteten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, also im weitesten Sinne so etwas wie Ideologie. Männer mögen es herb, Frauen eher lieblich. Das ist den meisten gar nicht bewusst. Sie trinken halt ihr Bier. Aber Ähnliches gilt für Kleidung, für jegliche Art von Konsum, für unser gesamtes Verhalten: wie wir uns bewegen, wie wir uns präsentieren, wie wir Geschichten erzählen. Sogar für die Wahl unserer Partner. Die Eltern stecken dahinter, ebenso die Medien, also etwa die Zeitschrift, in der sich einer an Moden, Meinungen und Lebensbildern orientiert. Und so kam ich, weil ich inzwischen von Dortmund nach München gezogen war – so kam ich zu »twen«. Als freier Mitarbeiter neben meiner Arbeit an der TU, als Berater und gern gesehener Gast in der Redaktion.
Zeitschriften, die Medien ganz allgemein, waren so eine Art gesellschaftlicher Sozialisationsinstanz. Was war das Spezielle an »twen«?
Die Redakteure hatten diese Funktion ihres Mediums erkannt. Sie spielten damit. Ließen sich ein auf Experimente. So etwas gibt’s heute kaum noch. Heute gibt es Marktforschung – damals konnten wir spielen. Das war eine hoch kreative Zeit. Unter ihrem ersten Chefredakteur Adolf Theobald und dem damals schon legendären Art Director Willy Fleckhaus hatten sie sich auf den Weg gemacht, eine Zeitschrift wirklich für ihre Leser zu gestalten, und ihre Methode dabei war beinahe strukturalistisch: Sie hörten zu. Was sagen die Leser? Sie stellten keine Fragen, sondern ließen ihre Leser erzählen. Ungefähr so, wie Sie es jetzt mit mir tun.
Und siehe da – es funktioniert: Sie plaudern ganz unbefangen. Wie ließen Sie die Leser von »twen« zu Wort kommen?
Ganz genauso. Wir haben mit ihnen geredet. Haben sie eingeladen und von sich erzählen lassen: was sie bewegt, worüber sie sich Gedanken machen, worauf sie hoffen. Wir haben einfach nur zugehört. Bis eines Tages einer sagte: »Sie sind doch Psychologe. Sie konstruieren doch Tests. Entwerfen Sie doch mal ein paar Tests, in denen nicht nur ein paar, sondern alle unsere Leser zu Wort kommen.«
Da mussten nun Sie die Themen vorgeben. Worum ging es?
Um alles, was Twens, also Leser in ihren Zwanzigern interessiert. Damals in den 1960er Jahren – und wohl auch heute noch: ein bisschen Politik, die Definition einer eigenen Persönlichkeit, natürlich auch Partnerschaft. »Lieben Sie richtig?«, »Können Sie sich auf Ihren ersten Eindruck verlassen?«, »Sind Sie ein guter Demokrat?«. Solche Sachen.
Die Auflage von »twen« steigerte sich damals von rund 100.000 auf 250.000 Exemplare, und es ist gut möglich, dass auch die Tests daran ihren Anteil hatten. Die waren kurzweilig und interessant, einfach zu beantworten, und sie entsprachen auch dem leicht narzisstischen Selbstbild dieser Generation. Nur leider konnten Sie und die Redaktion in diesem Verfahren den Lesern nicht mehr persönlich zuhören.
Doch, das konnten wir! Natürlich nicht direkt, aber wir haben für recht akzeptablen Ersatz gesorgt. Zum einen wurden die Leser ermutigt, ihre Fragebögen einzuschicken; dafür boten wir ihnen ein richtig professionelles Gutachten über ihre Testergebnisse. Zum anderen waren auch die Testfragen so formuliert, dass es nicht ein allzu banales Ankreuz-Spielchen wurde: Wir haben projektive Fragen eingebaut, haben die Leser auf Vorlagen reagieren lassen, die kein klares Ziel erkennen ließen. Nach dem Prinzip eines Rohrschach-Tests. Und auch die Traumbilder des Surrealismus erwiesen sich als gut geeignet, die Leser zu Antworten anzuregen, die nicht einfach nur eine Wiederholung sozial erwünschter Stereotype waren. Seit damals liebe ich Künstler wie Max Ernst.
Guter Stoff, um daran die Linie eines Zeitgeist-Magazins auszurichten. Aber waren solche Daten auch geeignet für die Wissenschaft?
Die Redaktion hat in den Jahren 1967, 68 und 69 insgesamt viermal zum so genannten »twen-Rendezvous« eingeladen. Das waren Riesen-Aktionen. Dem Heft lagen umfangreiche Fragebögen bei, jeweils über hundert Aussagen zum Thema Liebe, Partnerschaft, Vorstellungen von Zweisamkeit, Werte. Wer seine Antworten einsandte, musste einen Fünfmarkschein beilegen als Gebühr für die Bearbeitung – denn das waren mühsame Jobs für Studenten: Umschlag auf, Geldschein raus, die Antworten auf Lochkarten übertragen und die Karten kistenweise ins Rechenzentrum von IBM transportieren. Dort wurden dann die einzelnen Profile miteinander abgeglichen, auf der Grundlage der Testergebnisse wurden ideale Paare zusammengestellt, die sich auch wirklich kennen lernen konnten. Das war eine Attraktion! Hunderttausende von Lesern haben mitgemacht. Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie mit einer Untersuchung an 30 Erstsemestern im abgeschlossenen Testlabor eines Psychologischen Instituts bessere, verlässlichere und authentischere Daten bekommen können…
30 Jahre später ging daraus das Verfahren der Online-Partnerbörse »Parship« hervor.
Zunächst lieferten diese Aktionen das Material für umfangreiche wissenschaftliche, bald auch praktische Arbeit zum Thema Partnerschaft, Familie, Zukunftsorientierung. Aber Sie haben Recht: Auch das Prinzip von »Parship« beruht auf diesen Erfahrungen. Nur, dass all die Analysen und Befunde der Zwischenzeit in den Algorithmus eingeflossen sind, dass die Auswertung heute viel schneller vonstatten geht und viel differenzierter sein kann, und dass wir uns mittlerweile auf ein Datenvolumen von zehn Millionen Menschen stützen können, die einen Partner suchen oder gesucht haben.
Warum eigentlich sind Sie trotz all dieser Erfolge bei der Wissenschaft geblieben?
Genau das habe ich Ihnen eben gerade erzählt.
Hugo Schmale, geboren am 21. August 1931 in Bochum, studierte Psychologie, Psychiatrie und Philosophie in Innsbruck; Promotion 1958. 1958-64 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für Arbeitsphysiologie in Dortmund, 1964–71 am Institut für Ergonomie der Technischen Universität München; Habilitation 1967. Seit 1971 Ordinarius für Psychologie an der Universität Hamburg; Emeritierung 1996. Arbeit als psychologischer Berater (Personal Coaching).
Schmale publizierte u. a. den BET Berufseignungstest (Bern, 1967), der 2001 in die 4. Auflage ging. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit entwarf er zahllose Tests für Zeitschriften und Magazine. Später entwickelte er auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen und seiner publizistischen Arbeit das Testverfahren für die Online-Partnerbörse »Parship«, deren Mitbegründer er ist. Parship gehört zum Holtzbrinck Verlag, Stuttgart (DIE ZEIT, Handelsblatt, Tagesspiegel, Rowohlt, S. Fischer etc.) und ist mit großem Abstand Marktführer bei den Vermittlungsagenturen im Internet: Seit dem Start im Februar 2001 haben rund zehn Millionen Frauen und Männer auf der Suche nach einem Lebenspartner das Verfahren bearbeitet.
Jüngste Veröffentlichung: Ortlose Moral. Identität und Normen in einer sich wandelnden Welt (Wilhelm Fink Verlag, München, 2011)

© Detlef Baltrock
  
  
Risikoforschung
»Werfen Sie einfach eine Münze …«
Schlechte Nachrichten für alle Prognose-Profis und Weltuntergangs-Mahner: Der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, erforscht Strategien, die in einer zunehmend komplexen Welt Orientierung ermöglichen. Dabei stößt er auf verblüffend einfache, doch erstaunlich sichere Methoden. Wer die Botschaft verstanden hat, wer in vermeintlicher Sicherheit das Risiko erkennt und im Risiko die Chance, der lebt viel entspannter – und schaut vermutlich bei der Münze nicht mal mehr hin, ob Kopf oder Zahl oben liegt ...
  
  
PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Professor Gigerenzer, ist es wahr: Sie fragen Passanten auf der Straße, wie Sie Ihr Geld anlegen sollen?
GERD GIGERENZER Es war ein Experiment. Ich erzähle Ihnen die Geschichte: Meine Kollegen und ich haben Menschen auf der Straße angesprochen und sie gefragt, welche Unternehmen sie kennen, deren Aktien an der Börse gehandelt werden. Später habe ich 50.000 Dollar auf die Unternehmen gesetzt, die dabei am häufigsten genannt worden waren – und siehe da: Das Portfolio mit den bekannten Namen machte mehr Geld als der DAX, Bluechip-Fonds und andere Benchmarks. Es war ein sehr einträgliches Experiment. Das Aktienpaket, das mir die Passanten in München auf diese Weise zusammengestellt hatten, erzielte in sechs Monaten 47 Prozent Plus. Der Aktienmarkt insgesamt stieg in dieser Zeit um 34 Prozent. Sie sehen an den Zahlen aber auch, dass wir eine äußerst günstige Phase an der Börse erwischt hatten. Es war ein Bullenmarkt. Man konnte damals nicht allzu viel falsch machen.
Heute beherrschen die Bären das Geschehen auf den Finanzmärkten. Die fundamentale Krise des Euro und der Banken ist nicht überwunden; wir sprechen von drohendem Staatsbankrott und von Bürgschaften, die dem Sozialprodukt ganzer Staaten entsprechen. Sollte die Kanzlerin vielleicht mal die guten Leute in der Münchner Fußgängerzone befragen?
Das habe ich nicht gesagt, nein. Natürlich soll die Politik die Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung respektieren und auch Anregungen aufnehmen. Dazu ist sie ja da. Aber unser kleines Experiment sollte etwas ganz anderes belegen: dass nämlich erstaunlich gute Entscheidungen möglich sind, ohne gleich Expertenstäbe einzuberufen, ohne lange Listen mit Argumenten abzugleichen und Präzedenzfälle zu analysieren …
Also einfach aus dem Bauch heraus?
Richtig! Oft entscheiden wir schneller, sicherer und der Sache eher angemessen, wenn wir weniger Information nutzen; in meinem Buch habe ich das »Bauchentscheidungen« genannt. Tatsächlich haben wir im Lauf unserer Evolution und durch die Erfahrungen unseres eigenen Lebens Strategien gelernt, die uns sehr schnell zu den wesentlichen Aspekten einer Entscheidung vordringen lassen. Wir sprechen von Heuristiken, also einfachen Regeln, die in einer komplizierten Welt Orientierung geben und effizientes Handeln auch unter Bedingungen begrenzter Rationalität ermöglichen. Oft sind uns diese Strategien gar nicht bewusst. Die Heuristik der Wiedererkennung ist da geradezu ein Klassiker.
Wie funktioniert die?
Das Börsen-Experiment war ein Beispiel. Die Passanten haben uns Unternehmen genannt, die sie kannten, weil sie groß und erfolgreich waren. Das genügte schon. Oder nehmen Sie Fußball: Türkische Studenten sagen die Resultate der Spiele um den Pokal der englischen Football Association fast genauso zutreffend voraus wie ihre englischen Kollegen. Wir haben das untersucht. Und während sich die englischen Fußballfreunde die Köpfe darüber zerbrachen, ob hier vielleicht ein Stürmer verletzt ist oder dort ein Trainer den Club wechselt, kannten die türkischen Teilnehmer der Studie oft nicht mehr als den Namen. Manchester United hatten sie wohl schon mal gehört, Shrewsbury Town vermutlich eher nicht – aber das war Grundlage genug für eine erstaunlich anständige Prognose. Oder fragen Sie mal eine Gruppe von Amerikanern und eine von, sagen wir, Deutschen, welche Stadt in den USA mehr Einwohner hat, Milwaukee oder Detroit. Wir haben es getan. Die Amerikaner dachten an die Krise der Automobilindustrie, an die großen Brauereien, witterten vielleicht eine Falle und kamen ins Grübeln. Von den Deutschen aber hatten viele noch nie von Milwaukee gehört, nur von Detroit. Also verließen sie sich auf die einfache Heuristik: Wähle das, was du kennst. Und siehe da: 90 Prozent von ihnen fanden die richtige Antwort, Detroit. Bei den Amerikanern waren es nur 60 Prozent. Die nämlich kannten beide Städte, wussten zu viel und konnten diese intuitive Heuristik nicht anwenden.