Dr. Christine Strobl
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Dr. Michael Neumann
ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Geschichte der Erzählliteratur, Formen der Lyrik sowie der Literatur der Klassik und Romantik.
Zum Buch
»Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand.«
MIRCEA ELIADE
Die Renaissance war eine Epoche des die mittelalterliche Schwärze überwindenden Umschwungs; die klassischen Gedanken der Antike wiedergebärend, sollte das dunkle Mittelalter überwunden werden. Heute ist das Bild der Renaissance stark von Ansichten der ihr folgenden Epochen geprägt und gibt dennoch Hilfestellung für ein Verständnis der Mythenbildung um in Zeiten der Renaissance einflussreiche und bedeutende Menschen und deren Leistungen, die bis in heutige Zeiten nachhallen. Texte über Doktor Faustus, Romeo und Julia, zu Martin Luther, Leonardo da Vinci und anderen geben einen Einblick in das Selbstverständnis und die Idealisierungsversuche der Menschen der Renaissance.
Menschen, die
Geschichte schrieben
Die Renaissance
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Genehmigte Lizenzausgabe
für marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
© by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2004
Bildnachweis: Bildnis eines italienischen Condottiere
(früher als Bildnis Cesare Borgias gedeutet).
Gemälde von Altobello Meloni, um 1520;
akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0427-1
www.marixverlag.de
Einleitung
von Christine Strobl
Doktor Faustus
von Tobias Döring
Luther – Heiliger Mann oder falscher Prophet?
Legende und Antilegende zwischen 1517 und 1630
von Wolfgang Brückner
Die Macht der Mythen – Elisabeth I.
von Vera Nünning
Der Mythos der absoluten Liebe
Shakespeares Romeo und Julia
von Wolfgang Weiß
Leonardo, Ehrenbürger der Gegenwart
von Thomas Frangenberg
Gift in marmornen Särgen?
Die Borgia und ihr Mythos
von Volker Reinhardt
Orlando
von Javier Gómez-Montero
Melusine
Dämonin, Schlange, Spitzenahn
von Beate Kellner
Demetrius, der falsche Zar
von Jan Kusber
Der Narr – Schlüsselfigur einer Epochenwende
von Werner Mezger
Abbildungsverzeichnis
Autorinnen und Autoren
Editorische Vorbemerkung
Die mittlerweile rund 80 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte schrieben – Die Renaissance vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe „Mythen“, „Europa“ und „Schlüsselfiguren“ sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.
„O Jahrhundert, o Wissenschaften!
Es ist eine Lust zu leben, …
Die Studien blühen, die Geister regen sich.
Barbarei nimm dir einen Strick
und mache dich auf Verbannung gefasst.“
Ulrich von Hutten (In einem
Brief vom 25. Oktober 1518 an
Willibald Pirckheimer)
Auf der wunderlichen Reise durch die Weltmeere, die François Rabelais im vierten Buch von Gargantua und Pantagruel (1532 ff.) schildert,
stund Pantagruel auf und spähet’ so aufrechtstehend in die Fern. Dann sprach er zu uns: ‚Lieben Brüder, hört ihr nichts? Mir ist, als hör ich Leut in der Luft parliren; aber ich seh doch niemand. Horcht!‘ Wir also paßten fleißig auf, wie er befahl, und schlurften die Luft mit offnen Ohren, wie gute Austern in der Schal, ob eine Stimm oder Laut darin schwämm: und daß uns ja nichts entgehen sollt, hielten wir unser etliche, nach Kaiser Antonini Beispiel, die flachen Händ uns hinter die Ohren […] Je länger wir horchten, je mehr Stimmen wir unterschieden […]1
Die Kunde des Steuermanns, die Besatzung höre den Lärm einer Schlacht, der im Winter gefroren sei und nun aufzutauen begänne, zeugt von Rabelais’ Rezeption antiker, aber auch zeitgenössischer Quellen, die auf die Vielstimmigkeit einer Zeit verweisen, die heute im Echo der französischen und deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als „Renaissance“ bezeichnet wird.
Der vierte Band der Mythen Europas reiht die Schlüsselfiguren der Imagination der Renaissance damit sowohl in die Nachfolge des Mittelalters als auch insbesondere der Antike ein. Die Mythen der Renaissance finden ihren Anfang im Mythos der Renaissance selbst, der sich seit Mitte des vierzehnten Jahrhunderts aus der Vorstellung der Wiedergeburt der Antike konstituiert. Jacob Burckhardt hat den Metaphern des Erwachens und der Wiederbelebung die Konzepte des Individualismus und der Moderne hinzugefügt, doch fußt seine Darstellung der Renaissance noch auf klaren Abgrenzungen: von Mittelalter und Renaissance, von Italien und dem restlichen Europa, von guten und bösen Helden, – Grenzen, die entsprechend der heutigen Forschungslage in den Beiträgen des vorliegenden Bandes überschritten werden. Mit Peter Burke wird somit unter dem Begriff der „Renaissance“ ein Ensemble an Veränderungen in der abendländischen Kultur verstanden, das die Vielstimmigkeit der Zeit betont. Der vorliegende interdisziplinäre Band stellt Schlüsselfiguren der Imagination vor, die gleichsam als Klangkörper fungieren und die Vielstimmigkeit der Renaissancen in Europa repräsentieren.
Mit dem Mythos des Doktor Faustus als einer der schillerndsten Figuren der Epoche führt TOBIAS DÖRING den Leser in das Machtzentrum der Renaissance, dem Kaiserhof Karls V. im 16. Jahrhundert. Die Tatsache, dass die Visitenkarte des historischen Faustus dem Wahrsager und Astrologen auch Kenntnisse der Nekromantie, der Kunst, Tote ins Leben zurückzurufen, bescheinigt, lässt an der Schilderung der leibhaftigen Begegnung Karls V. mit Alexander dem Großen aus heutiger Sicht Fragen zu, die der Autor durch die Einordnung der Schlüsselfigur in den Gesamtkontext der europäischen Kulturgeschichte zu beantworten vermag. Die große kulturelle Hoffnung der Renaissance, so Döring, bestand darin, der antiken Überlieferung erneut habhaft zu werden, die bis dahin geltenden Grenzen und Beschränkungen des Menschendaseins hinter sich zu lassen und sich aus eigener Kraft in einen höheren Stand zu erheben. Zwar gelingt es Faustus, den Renaissancekaiser als Wiedergänger seines antiken Vorbildes zu inszenieren. Als Lohn für das Heranziehen solch dunkler Beschwörungsmächte findet Faustus selbst jedoch ein schreckliches Ende in der Hölle, das auf den Theaterbühnen der Zeit, insbesondere von Christopher Marlowe, dramatisiert wurde und erklärt, warum Faustus aufgrund seiner curiositas in der Zeit der Renaissance seinen großen Auftritt hatte.
Ebenfalls Kaiser Karl V. stand auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 Martin Luther gegenüber, der sich für seine Anhänger auf die Mächte des Himmels, für seine Gegner hingegen auf die Mächte der Hölle zu berufen schien. WOLFGANG BRÜCKNER geht der Frage, Luther als heiligem oder falschem Propheten, in der Spiegelung der Legende und Antilegende im Detail nach und zeigt an einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen, so auch der Flugschriften, auf, welche Stationen die Mythisierung der Vita Luthers aufgreift. Während aus katholischer Sicht der Tod Luthers, ähnlich wie bei Faustus, die Bestätigung eines unheiligen Lebens bedeutete, stellte aus protestantischer Sicht der Mythos Luther die wirksame Imagination für das Selbstverständnis der deutschen Reformation dar. Luther wird als neuer Paulus und letzte Instanz für die Auslegung der Bibel gesehen: Fundament einer neuen Kirchlichkeit im Zuge der einsetzenden Konfessionalisierung der Religionsgemeinschaften.
Als Hoffnungsträgerin der Protestanten in England waren die Aussichten von Elisabeth, Tochter König Heinrichs VIII., auf die Regentschaft über ein Land, das von inneren und äußeren Unruhen getrieben war, ebenfalls von religiösen Interessenskonflikten geprägt. Wie VERA NÜNNING überzeugend darlegt, verstand es Elisabeth I. seit Beginn ihrer Herrschaft 1558 als Königin von England, die Imagination ihrer Zeitgenossen so zu lenken, dass sie die Mythisierung ihrer Person maßgeblich zu beeinflussen vermochte. Mit dem Verweis auf ihre göttliche Auserwähltheit und der Berufung auf ihren politischen Körper – gemäß der aus dem Mittelalter stammenden Theorie der zwei Körper eines Herrschers – schuf Elisabeth I. ein neues Herrscherideal mit männlichen und weiblichen Attributen. In der Verehrung der Königin war die Nation geeint.
Die Regierungszeit Elisabeth I. sah ein Aufblühen der Künste. Insbesondere auf den Bühnen Englands wurden unter neuen Vorzeichen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und die damit verbundenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung thematisiert. Der Erfolg des dramatischen Experiments, das Shakespeare mit der Liebestragödie Romeo und Julia wagt, beruht, wie WOLFGANG WEISS an markanten Textstellen verdeutlicht, auf einer Fülle von Neuerungen in der Bearbeitung einer oft überlieferten Geschichte, die den Mythos der absoluten Liebe begründet. Durch den Bruch mit literarischen Traditionen schafft Shakespeare Freiraum und Spielraum für den vielstimmigen Dialog der Liebenden, die erst eine Sprache füreinander finden müssen. Gesellschaftliche Anerkennung wird dem Paar jedoch auf der Bühne erst nach ihrem Tod gewährt.
Seiner Zeit voraus war in vielerlei Hinsicht auch Leonardo da Vinci, wie THOMAS FRANGENBERG aus kunsthistorischer Sicht erläutert. Rätselhaft wie das Lächeln der Mona Lisa bleiben die Beweggründe eines Genies, dessen Mythisierung im Verlauf des 16. Jahrhunderts noch im Schatten von Michelangelo und Raphael verblieb und erst von späteren Generationen vorangetrieben wurde. Seine Zeitgenossen warfen ihm die Unfähigkeit vor, irgendetwas zu Ende zu führen. Aber Leonardos Größe bestand gerade in dem für die Renaissance so charakteristischen Versuch, geltende Grenzen überschreiten zu wollen, wie seine naturwissenschaftlichen Studien und technischen Konstruktionen zeigen. Da sich der Künstler wiederholt in die Abhängigkeiten seiner Gönner und Dienstherren begeben musste, so auch 1502 zu Cesare Borgia, sind die Facetten seines Mythos immer auch im Spiegel der Zeit zu sehen.
Wie VOLKER REINHARDT an den Figuren des Rodrigo Borgia, dem späteren Papst Alexander VI., seinem Sohn Cesare und seiner Tochter Lucrezia veranschaulicht, stellen die Borgias als unheilige Trinität den Wert der Familie über den Wert des Individuums im Sinne Jacob Burckhardts. Wie Gott selbst wollen sie an der Spitze der Kirche gebieten und schrecken dabei vor keinem Mittel zurück, wie der Untertitel des Beitrages „Gift in marmornen Särgen“ verheißt. Rom, oft als Wiege der Renaissance bezeichnet, wird zum Schauplatz des Verbrechens, wobei die Borgias die Umkehrung der gottgewollten Ordnung geradezu zelebrierten. Der Mythos macht, so Reinhardt, ihre Machtausübung zum „nachtschwarzen Karneval“.
Die heiteren Seiten der italienischen Renaissance schildert Javier Gómez-Montero in der Interpretation des Mythos um den Ritter Orlando, dessen Abenteuer als Roland, Orlando oder Roldán vom 11. bis ins 16. Jahrhundert tradiert wurden und zum Bestandteil eines europäischen Imaginariums wurden. Im späten 15. Jahrhundert schufen Luigi Pulci und Matteo Maria Boiardo in Florenz und Ferrara als Auftragswerke literarische Bearbeitungen des karolingischen Stoffes um Roland, von denen insbesondere Boiardos Fassung geradezu revolutionäre Züge zeigt. Im Orlando furioso schreibt Ludovico Ariosto am Mythos Orlando weiter und lässt den fortschreitenden Wahnsinn des Helden als Steigerung des Liebeswahns und damit als Verstärkung der Identitätsproblematik erscheinen. Die Popularität der Figur liegt in ihrer Wandelbarkeit, die in ganz Europa die Zuhörer in ihren Bann zieht.
Als Projektionsflächen unterschiedlicher Imaginationen sind auch die Geschichten von Melusinen, Undinen und anderen Feen, die sich mit sterblichen Männern verbinden, zu erklären, wie BEATE KELLNER am Beispiel des Melusinen-Romans Thüring von Ringoltingens aufzeigt. Die Entstehungsgeschichte des Werks verweist wiederum auf eine europäische Tradierung von Erzählstoffen, die im kulturellen Gedächtnis der Epoche bewahrt werden sollten. Die Frage nach dem Ursprung eines adeligen Geschlechts wird bei Ringoltingen um die Frage nach dem Ursprung sozialer Gemeinschaften erweitert; das Mythische der Melusinenfigur zwischen Mensch und Dämon, zwischen Mensch und Tier, wird jedoch, so Kellner, zur „Chiffre der Unergründlichkeit des Ursprungs“ an sich.
An der Abstammung von Demetrius als totgeglaubtem Sohn des Zaren Iwan IV. hatten, so der Historiker JAN KUSBER, dessen Zeitgenossen nicht unbegründete Zweifel. Nach heutigem Stand der Forschung handelte es sich tatsächlich um einen „falschen“ Zaren. Die Konfliktlage zwischen katholisch geprägter, polnischlitauischer Adelsrepublik und orthodoxem Moskauer Zarentum sowie wirtschaftliche Nöte spitzten sich in der sogenannten Zeit der Wirren jedoch so zu, dass es dem vermeintlichen Nachfolger möglich war, sein Recht auf den Zarenthron einzufordern. Insbesondere die Orientierung nach Westen, von der Demetrius seine Zeitgenossen zu überzeugen versuchte, trug zur europaweiten Mythisierung des Herrschers über das Moskauer Reich bei, das bereits unter Iwan IV. mehr und mehr in die mittel- und osteuropäische Wahrnehmung gerückt war.
Mit dem Narren als Symbolfigur einer Welt des Umbruchs stellt Werner Mezger an ausgewählten Beispielen der Bildtradition eine Schlüsselfigur der Imagination vor, die sich von der noch mittelalterlich geprägten apokalyptischen Figur zu einem beliebig verfügbaren und höchst vielseitigen Konzept weiterentwickelt hatte. Ob im Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam oder im Narrenschiff von Sebastian Brant: In der Renaissance klingen nun selbstironisierende Töne an, die mehr und mehr die Gesellschaft der Zeit an sich in Frage stellen und an ihr so Kritik üben. Die Entwicklung einer reich ornamentierten Narrensprache in den Schriften zeigt sich auch in der bildenden Kunst, und trägt auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen bereits manieristische Züge. Mit dem beginnenden 17. Jahrhundert beginnt der Narr seinen Spiegel umzudrehen und der Welt vorzuhalten, damit sie ihre Verkehrtheit darin erkenne.
Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge wurden im Wintersemester 2005/06 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt als Vorträge gehalten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung der Vortragsreihe lag in den Händen von Verena Dolle, Andreas Hartmann, Michael Neumann, Alexei Rybakov, Almut Schneider, Christine Strobl und Angela Treiber. Für die äußerst kompetente redaktionelle Bearbeitung des Bandes sei Andreas Fuchs, für die sehr sorgfältige Durchsicht des Manuskripts sowie die Überprüfung der bibliographischen Angaben sei Benjamin Kraus sehr herzlich gedankt.
1 François Rabelais, Der heroischen Taten und Raten des guten Pantagruel, Viertes Buch. Dt. Übersetzung Gottlob Regis. Darmstadt, Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 1964 [1548/ 1552], S. 158.
Wir sind am Kaiserhofe Karls V., des mächtigsten Herrschers im 16. Jahrhundert, Regent über ein Weltreich, dessen Ausdehnung die Kontinente wie die Ozeane umspannt. Bei aller Fülle seiner Macht und Herrlichkeit hat dieser Kaiser aber dennoch unerfüllte Wünsche, geheime Leidenschaften und Sehnsüchte, denen er im Herzen nachhängt. Da trifft es sich, dass eines Sommerabends ein Wahrsager erscheint. Ein fahrender Gelehrter, der, wie es heißt, in den Schwarzen Künsten weit gekommen sei, macht am Kaiserhof Station und kommt dort gerade recht. Nach Tisch lässt ihn der Kaiser zu sich holen, um seinen größten Wunsch erfüllt zu sehen. „Sehen“ ist hier durchaus im Wortsinn zu verstehen, denn eben das ist es, was Karl begehrt. Es drängt ihn, mit eigenen Augen zu sehen, wovon die Chroniken und Bücher so lange schon erzählen, er will es endlich einmal selbst erfahren: die Herrlichkeit des größten Herrschers der Antike, jenes mächtigen Eroberers und genialen Feldherrn, dessen Reich sich über alle Grenzen der seinerzeit bekannten Welt erstreckte und dessen legendärer Glanz sogar dem Kaiser unvorstellbar scheint. Er will Alexander den Großen und seine Gemahlin sehen „in Form vnd Gestalt / wie sie in ihren Lebzeiten gewesen“ sind.
Doktor Faustus; Radierung von Rembrandt van Rijn
Diesen Herzenswunsch kann Doktor Faustus – denn um Faustus handelt es sich bei dem fahrenden Gelehrten – untertänigst und sehr gern erfüllen. Er verlässt das kaiserliche Gemach, um sich, wie es heißt, „mit seinem Geist zu besprechen“, kehrt zurück und bittet um Ruhe. Kurz darauf öffnet sich wie von Geisterhand die Tür, und vor des Kaisers Augen zeigt sich wahrhaft die Gestalt des Großen Alexander, ganz im Harnisch, aber unverkennbar, und erweist demütig seine Reverenz. Kaiser Karl ist tief bewegt. Er will aufstehen und die Erscheinung anfassen, doch Faustus hält ihn strikt zurück: Jede Berührung, sagt er, sei verboten. Lediglich einen intimen Blick darf der Kaiser auf den Körper Alexanders werfen. In den Geschichtsbüchern heißt es nämlich, Alexander trage hinten am Nacken ein Körpermal, eine Warze, die der Kaiser nun zur Probe selbst in Augenschein nehmen will. Und tatsächlich findet sich dort das Erkennungsmal. Der Blick auf die verborgene Stelle bezeugt: Hier steht Karl von Angesicht zu Angesicht mit seinem großen Vorgänger, dem antiken Welteroberer, und „hiermit ward dem Keyser sein Begeren erfüllt“.1 Damit endet diese Szene.
Was trug sich hier zu? Was genau mag sich, wenn wir dem zitierten Bericht folgen, damals am Habsburger Hof, dem Machtzentrum der Renaissance, wohl ereignet haben? Wie können und wie sollen wir das zauberische Rollenspiel, von dem die Rede ist, verstehen?
Solchen Fragen will dieser Beitrag über Doktor Faustus nachgehen und im Weiteren versuchen, die Figur, die uns in der genannten Form entgegentritt und seither viele große Auftritte in der europäischen Kulturgeschichte gehabt hat, in ihren zeitgenössischen Kontext einzuordnen. Als vorläufige Antwort darauf, wie die geschilderte Begegnung aufzufassen ist, soll uns im Weiteren folgende These leiten: Was wir in dieser Szene beobachten können, ist ein Mythos der Renaissance – mehr noch, es ist der Mythos der Renaissance, der sich hier in Szene setzt. In Doktor Faustus und den seltsamen Erscheinungen, die seine Kunst heraufzubeschwören vermag, sehen wir womöglich, wie die Renaissance sich selber sah: als Erfüllung lang gehegter Wünsche, als Begegnung mit den selbst gewählten Vorfahren und Vorbildern, d. h. als wirkungsmächtige Vergegenwärtigung der Antike. Dass aber der damals Mächtigste, der Kaiser, dabei auf so fragwürdige Vermittlerdienste wie die eines fahrenden Gauklers und Gelehrten angewiesen bleibt, zeigt sowohl das Faszinierende wie auch das Prekäre des gesamten Unternehmens.
Der Faustus-Mythos ist deutschen Lesern ja zumeist in seiner dramatischen Fassung bekannt, d. h. als Spielvorlage fürs Theater, zumal in der umfassenden und tiefgreifenden Ausgestaltung durch Goethes Lebenswerk. Lange vorher jedoch schon, im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, wurde Doktor Faustus bereits als Spielfigur auf die Theaterbretter gestellt und dabei derart populär, dass sie allenthalben nachgespielt und vielfach neu entworfen wurde. Ihren Ausgang nahm diese Bühnenkarriere seinerzeit in England, wo die Theater-Kultur in den späten Regierungsjahren von Elisabeth I. sehr viel höher als auf dem Kontinent entwickelt war. Umso aufschlussreicher ist es daher, dass in London um 1590 ein junger brillanter Kopf und sprachmächtiger Dramatiker namens Christopher Marlowe nach diesem brisanten Renaissance-Mythos griff und daraus eine spektakuläre Tragödie formte, die das Publikum förmlich in Bann schlug und ohne deren dramatische Errungenschaften – darunter so zentrale Bühnenmittel wie der tragische Monolog – beispielsweise Shakespeares Hamlet zehn Jahre später völlig undenkbar wäre. Auf Marlowes Stück werde ich zum Ende dieses Beitrags noch zurückkommen, um meine These weiter zuzuspitzen, und zwar dahingehend, dass der Faustus-Mythos im Grunde ein Mythos von der Macht der Bühne ist. Denn mir scheint, dass die fragwürdigen Vermittlerdienste der Magie und Zauberei, die er vorführt, zugleich und zuerst Mittel des Theaters sind, wie sie bei allen Bühnen-Akten in Aktion treten und wie sie gerade die zitierte Alexander-Szene zeigt. Aber der Reihe nach. Bevor wir uns dem englischen Theater der Frühen Neuzeit zuwenden, soll hier vor allem die deutsche Tradition der Faustus-Überlieferung im 16. Jahrhundert – oder, wie man wohl auch sagen könnte, der Erfindung des Faustus-Mythos im 16. Jahrhundert – geschildert und danach befragt werden, was sie uns über das Programm wie das Problem der Renaissance erzählt.
Zunächst einige Erläuterungen zur Alexander-Beschwörung am Kaiserhof und zu der Quelle, in der wir ihr begegnen. Bei dem geschilderten Zusammentreffen handelt es sich um einen kurzen, aber sehr wichtigen Ausschnitt aus der Historia von D. Johann Fausten, einer anonym veröffentlichten Lebensbeschreibung dieses Gelehrten, die 1587 in Frankfurt am Main im Druck erschien und auf dem Buchmarkt schnell zu einem internationalen Bestseller wurde.2 Innerhalb von nur sechs Jahren erfuhr die Historia nicht weniger als 14 Auflagen und wurde mit jeder neuen Drucklegung stets erweitert und ergänzt. Sehr schnell wurde sie überdies in Übersetzungen herausgebracht, erschien bald auf Englisch, Dänisch, Niederländisch und Französisch und erfreute sich ganz offenbar so großer – oder auch so unheimlicher – Popularität, dass die Obrigkeit in Städten wie Straßburg, Basel oder Tübingen sich bald veranlasst sah, dagegen vorzugehen und das Buch zu verbieten.
Die Begegnung zwischen Karl V. und Alexander dem Großen wird im 33. Kapitel der Historia erzählt, das zugleich ihren dritten und letzten Teil eröffnet. Diesen Teil kündigt der Autor mit folgenden Worten an: „Folgt der dritt vnd letzte Theil von D. Fausti Abenthewer / was er mit seiner Nigromantia an Potentaten Höfen gethan vnd gewircket. Letztlich auch von seinem jämmerlichen erschrecklichen End vnd Abschiedt“.3 Diese Überschrift gibt also nicht nur preis, von welchen Abenteuern im Weiteren die Rede ist, sie gibt zugleich eine Vorausdeutung auf das bevorstehende Ende der Geschichte, und sie gibt die Wertungsperspektive vor, unter der wir all das sehen sollen: Ein jämmerliches und schreckliches Ende wird es sein, wenn Faustus schließlich für seine Schandtaten zur Rechenschaft gezogen wird. Von diesem furchterregenden Schluss jedoch sind wir vorerst noch weit entfernt. Zu Beginn des dritten Teils erleben wir Faustus vielmehr auf der Höhe seiner Macht. Kein Geringerer als der Kaiser selbst verlangt nach seinen Diensten und zeigt sich, wie wir lesen, mit ihnen hochzufrieden. Mit Hilfe jener Schwarzen Künste, die Faustus zu Gebote stehen, lässt Karl sich seinen lang gehegten Wunsch erfüllen und beugt sich sogar der Befehlsgewalt des fahrenden Gelehrten. Sobald er die Erscheinung Alexanders berühren will, weist Doktor Faustus ihn zurück – und Karl gehorcht. Wie ungeheuerlich eine solche Umkehrung der Machtverhältnisse am Kaiserhof für zeitgenössische Leser gewirkt haben muss, können wir vielleicht ermessen, wenn wir bedenken, dass Karl V. immerhin derselbe Kaiser war, dem Doktor Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms gegenüberstand, als er sich weigerte zu widerrufen. Was für eine Bannkraft ist es also, die jener Wanderdoktor namens Faustus ausübt? Über welche Autorität, welche Macht verfügt er, dass sich ihr sogar der Kaiser fügt?
Gegen Ende des zitierten Kapitels der Historia gibt Karl dazu einen interessanten Hinweis, wenn er sagt (und der Erzähler gibt hier die kaiserlichen Gedanken wieder): „nun hab ich zwo Personen gesehen / die ich lang begert habe […] gleich wie das Weib den Propheten Samueln erweckt hatt“.4 Das „Weib“, an das Karl denkt, ist das sogenannte Weib zu Endor, eine Wahrsagerin, von der im Alten Testament erzählt wird. Im Buch Samuel (1 Samuel 28) lesen wir, wie sie für König Saul den Geist seines verstorbenen Vaters aus der Erde hervorgezaubert hat. Auf diesem Hintergrund rückt die Begegnung zwischen Kaiser Karl und Alexander dem Großen also in die Nachfolge einer biblischen Begebenheit. Das gibt uns einen klaren Hinweis auf die Parallele, die wir ziehen sollen, und damit auf die Genealogie, die auf diese Weise konstruiert wird. Genauso wie dem König Saul durch Zauberkraft des alten Weibs einstmals sein eigener Vater dargeboten wurde, so wird dem Habsburger Weltherrscher hier der größte Weltherrscher der Antike vorgeführt, Alexander, der damit – und das ist entscheidend – ebenfalls eine Vaterrolle übernimmt. Alexander verhält sich jetzt zu Kaiser Karl wie Samuel zu König Saul. Aus diesem Grund kann man sagen, dass uns hier der Mythos der Renaissance vorgeführt wird, denn hier nimmt Karl als aktueller Weltregent in Anspruch, der Sohn, d. h. der Abkömmling jenes antiken Weltregenten zu sein. Die Autorität der Frühen Neuzeit versichert sich an der Autorität des längst Vergangenen. Das Alte wird geradezu heraufbeschworen, um das Neue zu legitimieren, oder auch: Das Neue kann nur dadurch Anerkennung und Bedeutung finden, dass es sich als Wiederkehr und Wiederholung des Antiken inszeniert.
Das genau bedeutet ja im Wortsinn „Renaissance“: Wiedergeburt. Und genau aus diesem Grund ist das Erkennungsmal am Körper Alexanders so entscheidend, die Warze, anhand derer ihn der Kaiser identifiziert. Nur wer nämlich von derlei intimen Körpermalen weiß, ist mit dem Überlieferten offensichtlich so vertraut, dass er eine solche Genealogie in Anspruch nehmen kann. Die Identifikation des Anderen dient zur Identifizierung des Selbst, so dass die Ankunft des Neuen als Abkunft vom Alten dargestellt wird. Das aber zeigt nicht nur den Mythos der Renaissance, sondern überhaupt das Mythische schlechthin. Sich mit dem, was von alters her erzählt wird, zu identifizieren, sich im Hergebrachten zu spiegeln und darin immer wieder und zumal in Krisenzeiten vergewissern zu können, unsere je aktuelle Selbstverständigung also dadurch zu gewinnen, dass wir auf vorrätige Figuren, Bilder und Geschichten zurückgreifen und sie in unseren Dienst stellen: Das verstehe ich als Leistung des Mythos, und das leistet für die Renaissance das große Repertoire der antiken Überlieferungen. Alexander der Große steht hier gewiss nur als ein Repräsentant dieses großen Zusammenhangs von Texten und Figuren, die aus dem Altertum in die Neuzeit ragen und die immer wieder neu und programmatisch anzueignen sind. Die Frage also, die wir im Zusammenhang mit Faustus untersuchen müssen, lautet: Welche Rolle spielt dabei die Magie? Was leistet seine Zaubermacht für dieses Programm?
Faustus ist ja seinerseits ein Mythos der Renaissance, aber ein höchst sonderbarer. Wie wir in der Historia lesen, bietet seine Beschwörungsmacht auf kaiserlichen Wunsch die Chance, die Selbstpositionierung der höchsten weltlichen Autorität zu zeigen und damit den Renaissancekaiser als Wiedergänger eines großen Vorfahren zu inszenieren. Andererseits lässt gerade die Historia keinen Zweifel, dass solcherlei Beschwörungen als Schwarze Kunst und Teufelsspuk zutiefst verdammungswürdig sind. Wir sind, wie gesagt, im dritten Teil der Geschichte, der, wie die Überschrift ankündigt, mit Faustens schrecklichem Tod endet. Doch schon bevor wir überhaupt mit der Lektüre dieser Lebensschilderung beginnen, stellt der Titel der Historia alles klar:
Historia von D. Johann Fausten / dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler / Wie er sich gegen dem Teuffel auff eine benandte Zeit verschrieben / Was er hierzwischen für seltsame Abentheuwer gesehen / selbs angerichtet vnd getrieben / biß er endtlich seinen wol verdienten Lohn empfangen.
Wie im 16. Jahrhundert üblich, gibt uns der Buchtitel gleich eine Zusammenfassung der Geschichte, die darin erzählt wird, und eine klare Wertung ihres Endes: der wohlverdiente Lohn für einen Teufelspakt, so viel ist klar, kann nur ein grausamer Tod ohne Errettung der Seele sein. Und tatsächlich, am Ende des 68. Kapitels kommt es genau so. Es ist Mitternacht, die Frist ist abgelaufen, aus Faustens Stube hören die Studenten „ein greuwliches Pfeiffen vnnd Zischen / als ob das Hauß voller Schlangen / Natern vnnd anderer schädlicher Würme were“. Doktor Faustus „hub an vmb Hülff vnnd Mordio zu schreyen“. Als es tagt, treten die Studenten in die Stube, sehen aber keinen Faustus mehr, stattdessen bietet sich ihnen folgender Anblick: „die Stuben voller Bluts gesprützet / Das Hirn klebte an der Wandt / weil jn der Teuffel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen vnd etliche Zäen allda / ein greulich vnd erschrecklich Spectackel“.5 Das ist es in der Tat. Die gleiche Art Horror, wie heutzutage die Splatter Movies, bot damals das Ende der Historia von D. Johann Fausten: Blut- und Hirnspritzer an der Wand, herumliegende Körperteile, herumkullernde Augen – ein besonders aufschlussreiches Detail, das genauere Betrachtung lohnt – und ausgebrochene Zähne. Drastischer ist das Ende eines Sünders wohl nicht darstellbar.
Genau darauf kam es offensichtlich an. Um dieses Endes willen wird die gesamte Historia erzählt, von diesem Schrecken leitet sich ihre Motivation her, das Leben des schändlichen Doktors für christliche Leser auszubreiten. Man nennt dieses Verfahren eine Motivation „von hinten“,6 um die besondere Erzählweise und Logik solcher Exempelgeschichten zu charakterisieren. Es ist dieselbe Erzählweise und Logik wie von Heiligenlegenden, bei denen die Zentralfigur des Heiligen ja ebenfalls nur dazu dient, ein beispielhaftes Lebensmuster vorzuführen, so dass alles Geschehen sich einzig darauf ausrichtet, was am Schluss geschieht. Bei Heiligen ist dies in der Regel der Märtyrertod sowie die göttliche Errettung ihrer Seele. Bei Faustus ist es umgekehrt die Höllenfahrt: Nicht der Herrgott, sondern der Teufel holt sich seine Seele. Auf diesen Schreckensschluss läuft sein gesamtes Leben zu. Die Historia, so lässt sich also sagen, ist eine invertierte Heiligenlegende, d. h. eine Umkehrung der Wertungsperspektive unter Beibehaltung der erzählerischen Grundstruktur. Dieser Faustus ist ein Negativexempel, ein Abschreckungsbeispiel, an dem das Schema der Heilsgeschichte ex negativo bekräftigt werden soll.
So jedenfalls müssen wir, auf der Grundlage des Titels wie des Endes, das Erzählprogramm des anonymen Autors der Historia von 1587 wohl verstehen. Der weitere Titel formuliert genau in diesem Sinn:
Mehrertheils aus seinen eygenen hinderlassenen Schrifften / allen hochtragenden/ fürwitzigen und Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / und treuwherziger Warnung zusammen gezogen und in den Druck verfertiget.
Was das Programmatische betrifft, lässt diese Ankündigung keine Fragen offen. Dennoch wird sich zeigen, dass die Historia gerade deshalb so fragwürdig ist, weil ihr erklärtes Programm nicht durchweg aufgeht und womöglich sogar ins Gegenteil umschlagen kann. Dazu nachher mehr.
Zunächst zu einer näherliegenden und dringlicheren Frage: Wer ist oder war dieser Doktor Johann Faustus, der hier so emphatisch als Negativexempel eingesetzt wird?
Mit dieser Frage nun bewegen wir uns historisch ein ganzes Stück zurück und müssen auf die frühen Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts blicken, gut ein bis zwei Generationen bevor die Historia im Druck erschien. Nach den Spuren der historischen Faust-Gestalt zu suchen ist insgesamt eine sehr mühselige und strittige Unternehmung, mit der sich die Forschung seit geraumer Zeit beschäftigt und zu der es bis heute keine einheitliche Meinung gibt. Dennoch müssen wir uns dieser Frage stellen, wenn es – gemäß der eingangs aufgestellten These – zu untersuchen gilt, wie und wodurch Faustus zu einem Renaissance-Mythos geworden ist.
Einen ersten Hinweis gibt uns wiederum der Titel der Historia. Wie eben zitiert, wird darin nicht nur behauptet, es handele sich um eine wahre Lebensgeschichte, sondern auch, dass diese Darstellung von Faustens Leben „mehrenteils seinen eigenen hinterlassenen Schriften“ folge, also gewissermaßen aus erster Hand erzählt sei. Davon trifft allerdings nur so viel zu, dass die Historia ein Kompilat aus vielen vorliegenden Schriften ist, darunter jedoch keiner einzigen, die von ihrem Titelhelden selbst stammt. Wer immer dieser Faustus war oder gewesen sein könnte, er hat jedenfalls keine Schriften hinterlassen und sehr wahrscheinlich nie welche verfasst. Dagegen gab es um 1500 eine ganze Reihe großer europäischer Gelehrter oder Humanisten, die mit Geheimwissen und Magie in Zusammenhang standen, darunter so gewichtige Figuren wie Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, der Mediziner Paracelsus oder der Philosoph Johannes Trithemius, Abt in Sponheim. Sie alle waren weithin anerkannte, wenn auch oft umstrittene Autoren, deren Werke über die hermetischen Wissenschaften große Wirkung hatten, viel gelesen und vielfach debattiert wurden.
Unter dem Sammelbegriff „hermetische Wissenschaften“ versteht man das okkulte, d. h. geheime Wissen, wie es in der Renaissance verbreitet war und das landläufig als „Alchemie“ oder „Magie“ bekannt ist. Es speist sich aus antiken Quellen und geht zurück auf einen Bestand an alten Schriften, die unter dem Namen Hermes Trismegistos aus dem hellenischen Ägypten überliefert sind.7 Jahrhunderte lang befand sich das Zentrum dieses hermetischen Wissen in Byzanz bzw. Konstantinopel, d. h. am Ort der hellenischen Diaspora, bevor es nach der türkischen Eroberung dieser Stadt im Jahre 1453 – ein Datum, das oft als Beginn der Renaissance gesetzt wird – mit den vertriebenen Gelehrten in den westlichen Mittelmeerraum und besonders nach Italien gelangte. Dort gab, vor allem im Florenz der Medici, das Corpus Hermeticum die entscheidenden Impulse für das Aufblühen des Neuplatonismus und damit für die neuerliche Auseinandersetzung mit den alten griechischen Ideenwelten, die jetzt durch Übersetzung und philosophische Weiterentwicklung in Verbindung mit christlicher Theologie und jüdischer Kabbalistik gebracht wurden. Durch das Wirken dieser Florentinischen Schule, die sich als Re-Inszenierung der platonischen Akademie verstand, und ihrer namhaften Vertreter wie Marsilio Ficino oder Pico della Mirandola verbreiteten sich die hermetischen Wissenschaften auch nach Nordeuropa und gingen in die Kultur der Renaissance ein. Die genannten Humanisten und Gelehrten bezogen ihr okkultes Wissen über eben diese Quellen und gelten in diesem Sinne alle als hermetische Autoren.
Einen Autor namens Faustus aber gab es nicht. Was an Schriften, wie es der Titel der Historia behauptet, „von“ ihm hinterlassen sein soll, können tatsächlich nur Schriften über ihn gewesen sein. Davon nämlich gibt es viele und zwar schon hundert Jahre vor Drucklegung der anonymen Historia.8 Bereits in den 1480er Jahren finden sich erste Spuren in diversen Quellen, die zumeist dem Umkreis der Universität Heidelberg entstammen, einem deutschen Zentrum des Neuplatonismus und der humanistischen Gelehrsamkeit. Die historischen Hinweise verdichten sich nach der Wende zum 16. Jahrhundert. Immer wieder ist von einem Faustus die Rede und zwar zumeist im Zusammenhang mit Wahrsagerei, Astrologie, Beschwörungsakten und sonstigen fragwürdigen Zaubereien. Darunter finden sich übrigens etliche Aussagen, die das geographische wie kulturelle Umfeld von Eichstätt betreffen. An der Universität von Ingolstadt soll ein gewisser Georgius Faustus Vorlesungen über Philosophie und Chiromantie (das ist die Handlesekunst) gehalten haben. Georg Schenck von Limpurg, ein bedeutender Geist jener Zeit und später Bischof von Bamberg, der zu einem der großen Repräsentanten des Goldenen Zeitalters in der Kulturgeschichte Frankens wurde, hat damals in Ingolstadt studiert. 1518, als er glanzvoll Hof hielt, sollte er sich von einem fahrenden Astrologen namens Faustus sein Horoskop erstellen lassen und damit zum Auftraggeber des umstrittenen Wahrsagers und Beschwörungskünstlers werden. Zehn Jahre später berichtet Prior Kilian Leib aus Rebdorf ebenfalls über eine astrologische Expertise, die Faustus gestellt habe; im Juni 1528 wurde er deshalb aus Ingolstadt ausgewiesen. Andere Quellen sprechen immer wieder von angeblichen Flugversuchen, die Faustus unternommen haben soll, um seine Kunst unter Beweis zu stellen.
Es ist bei weitem nicht immer klar, ob solche Hinweise jeweils dieselbe Person betreffen. Allein der Name variiert erheblich. Als aussichtsreichster Kandidat einer historischen Faust-Figur gilt ein gewisser Georg Helmstetter, auf dessen Lebensweg, soweit er sich in archivierten Spuren niederschlägt, viele der genannten Quellenfunde hinzudeuten scheinen. Feststeht jedenfalls, dass viele prominente Zeitgenossen des frühen 16. Jahrhunderts einen Gelehrten namens Faustus anführen und zahlreiche Geschichten über ihn erzählen, die einschlägig auf Magie und Hermetismus verweisen und die später in erweiterter und zum Teil erheblich spektakulärerer Form in der Historia wiederkehren. Zumeist sind dies – und das ist zweifellos bedeutsam – klare Abschreckungsgeschichten. Zu den prominentesten Vertretern jener Zeit, von denen wir auf diese Weise einiges von Faustus und seinem Teufelsverkehr hören, zählen beispielsweise die großen Wittenberger Reformatoren. Luther kommt in seinen Tischreden wie auch Melanchthon in seinen Sonntagspredigten immer wieder auf Faustus zurück. Beide wurden damit gleichermaßen zu den wirkungsvollsten Überlieferern seiner Geschichte. Mit den vielfachen Erzählungen und Erwähnungen in diesem Kontext gerät die Figur immer stärker in die zeitgenössischen Debatten und Konflikte um die Neuordnung der Kirche und der Religion. Das sollte sich für ihre weitere Wirkung als sehr folgenreich erweisen. Spätestens seit den 1520er bis 30er Jahren wird Faustus zu einer protestantischen und polemischen Figur, die in den Auseinandersetzungen der Römischen Kirche mit der Reformation wie zugleich auch bei den Auseinandersetzungen innerhalb des Protestantismus oft und gern beschworen wird. Hätte es Faustus nie gegeben, so kann man diesen Tatbestand zusammenfassen, hätte man ihn hierzu wohl erfinden müssen, denn in den erbitterten Glaubens- und Machtkämpfen der Renaissance spielt er bald eine unersetzliche Rolle. Es hat ihn aber offenbar gegeben, und ehe wir auf die Reformatoren zurückkommen, sollten wir wenigstens eine der dokumentarischen Spuren, die er hinterlassen hat, kurz betrachten.
Es handelt sich um ein besonders aufschlussreiches Dokument, das als einziges „Selbstzeugnis“ des historischen Faustus angesehen werden kann,9 und zwar um nichts Geringeres als seine Visitenkarte. Wir wissen davon aus einem Brief, den der schon erwähnte Philosoph Trithemius im Jahr 1507 schrieb. Da dem Adressat des Briefes, wie es scheint, dieselbe Visitenkarte vorlag, kann man mit einiger Plausibilität annehmen, dass ihre Aufschrift einigermaßen wörtlich wiedergegeben wurde. Sie lautet:
Magister Georgius Sabellicus Faustus iunior, fons necromanticorum, astrologus, magus secundus, chiromanticus, agromanticus, pyromanticus, in hydra arte secundus.
Was lässt sich daraus entnehmen? Als erstes fällt auf, dass Faustus sich hier mit einem Universitätsgrad vorstellt, allerdings nicht, wie uns geläufig, mit dem Doktortitel, sondern als Magister – diesen Titel führt er bis zum Erscheinen der Historia, die ihn zum ersten Mal in der Überlieferungsgeschichte promovierte, offenbar mit dem Ziel, durch den Doktorgrad die Fallhöhe zu vergrößern. Weiterhin fällt auf, dass Faustus sich mit einem dreiteiligen, latinisierten Namen vorstellt, was einer Mode der Humanisten entsprach. Eine solche Namensform galt als Programm, geradezu als Renaissance-Programm. Der Name „Faustus“ ist dabei für einen Astrologen und Wahrsager zudem besonders günstig gewählt, denn er bedeutet zu deutsch „glücklich“ oder „glücksverheißend“, war also gewissermaßen Aushängeschild seiner Kunst.
Worin diese Kunst genau besteht, wird dann im Einzelnen aufgelistet. Nekromantie ist die Kunst, Tote ins Leben zurückzurufen, also genau das, was sich in der diskutierten Szene am Kaiserhof zuträgt, wenn der tote Alexander den Lebenden erscheint; Chiromantie ist die Handlesekunst, Hydromantie und Pyromantie die Vorhersage der Zukunft aus den Linien des Wassers bzw. aus der Gestalt des Feuers. Damit bietet die gesamte Liste einschlägige Hinweise auf die sogenannten mantischen Künste, d. h. die Techniken der Wahrsagerei, auf die Faustus sich, wie er hier ankündigt, verstand. Besonders interessant jedoch ist, dass dieser Magier sich auf seiner Karte als „Faustus iunior“ und „magus secundus“ ausweist. Was soll das heißen? Wer ist oder war dann Faustus senior, wer jener magus primus, in dessen Nachfolge er sich namentlich stellt?
Darüber ist viel gerätselt worden. Frank Baron meint, es handele sich um Zoroaster, jenen Ersten Magier oder Ur-Magier aus dem Zweistromland, Kulturgründer und Zivilisationsstifter der Frühgeschichte, der auch als Zarathustra bekannt ist. Ein anderer Kandidat, der wohl um einiges plausibler wäre, ist Simon Magus, ein Zauberer aus Samaria, von dem die Apostelgeschichte der Bibel berichtet (Kapitel 8) und der in der Renaissance oftmals als Inbegriff magischer und gefährlicher Mächte angeführt wird. Aber auch diese Identifizierung muss spekulativ bleiben. Vielleicht ist daher die gesamte Frage, um wen genau es sich beim magus primus handelt, längst nicht so wichtig wie die schlichte Einsicht, dass der historische Faustus – wenn wir ihm denn diese Textspur zuordnen wollen – sich dezidiert als Nachfolger und Abkömmling darstellt, von wem auch immer. Dieser Faustus sagt von sich, dass er „magus secundus“, d. h. ein Wiedergänger oder auch Wiedergeborener sei. Er legitimiert sich und seine Autorität also dadurch, dass er die Autorität eines Vorgängers borgt. Das ist genau wieder jene schon beschriebene Grundfigur des Renaissance-Programms, der wir hier erneut begegnen: Das Aktuelle sucht Vergewisserung am Alten und schafft sich seine Genealogie, indem es sich einen Vorfahren erwählt.
Wenn wir nun allerdings verstehen wollen, wie dieser „Faustus iunior“ zu einem so zentralen Mythos der Renaissance werden konnte, dass Luther und Melanchthon und viele andere große Geister jener Zeit sich ihrerseits auf ihn beziehen, müssen wir den Kontext des Briefes in Betracht ziehen, in dem Trithemius die Visitenkarte überliefert. Das Entscheidende ist nämlich, dass Johannes Trithemius diese Selbstdarstellung der mantischen Künste nur zitiert, um sie sogleich scharf zu verurteilen. Er führt in seinem Brief das bekannte Beispiel Faustus an, um sich kritisch davon abzugrenzen und zu zeigen, was man tunlichst lassen sollte. Der Brief stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 1507 und damit aus den Lebzeiten der historischen Faustus-Figur, deren schreckliches Ende noch längst nicht bevorstand (als Todesjahr kann 1539 gelten), aber offenbar bereits erwartet wurde. 80 Jahre vor der Historia und ihrer Erzählung der invertierten Heiligenlegende dient Faustus dem Trithemius bereits klar als Negativexempel: An ihm wird ausgewiesen, was die Zeitgenossen von sich weisen.
Das gilt durchweg. Wann immer in den historischen Quellen – Stadtchroniken, Briefen, Akten und Berichten – von Faustus die Rede ist, geht es in aller Regel um seine Ausweisung, Ablehnung, Verurteilung oder sonstige Kritik. Das kurze Patronat des Bischofs von Bamberg, das oben erwähnt wurde, bildet daher eine denkwürdige Ausnahme. Es überwiegen die Berichte darüber, wie der Wanderzauberer und fahrende Gelehrte jeweils aus der Stadt vertrieben und verschiedener Scharlatanereien und Verbrechen bezichtigt wird. Hierher gehören beispielsweise die Geschichten über Flugversuche, die er unternommen haben soll und die offenbar als betrügerischer Spuk gesehen wurden. Weiterhin und schlimmer aber wird er vielfach der Sodomie bezichtigt, worunter man jede Form der sexuellen Ausschweifung verstand. Man fand ihn, wie es in den Quellen heißt, in Gesellschaft von diversen Tieren (der schwarze Hund) oder Frauen (die schöne Helena) oder auch sonstigen Anhängern (die losen Studenten), mit denen er womöglich allerhand Undurchsichtiges und Unzüchtiges trieb, so dass man ihn durchweg außerhalb der regulären Gesellschaft sah und mit niemand anderem im Bunde als dem Teufel selbst, der, wie es hieß, die diversen Gestalten wie Hund, Helena und so weiter annehmen konnte.
Dass Faustus einen regelrechten Teufelspakt geschlossen habe, kommt in den verstreuten Quellen als Behauptung zwar erst relativ spät auf, geht dann aber umso wirkungsvoller in die Überlieferungsgeschichte ein. Durchweg handelt es sich bei solcher Mythenbildung ja um volkstümliche und das heißt mündliche Tradierung, bei der mit jeder Weitergabe der Geschichte durch Nacherzählung Weiteres hinzugefügt wird. Dabei stammt der Leibhaftige als Faustens zeitweiliger Diener und eigentlicher Herr, dem er sich und seine Seele mutwillig verschrieben habe, wohl aus Wittenberg. Denn dieses zentrale und für uns entscheidende Motiv des Faustus-Mythos, das wir heutzutage mit ihm gleichsetzen, gelangt erst mit den Faustus-Erzählungen der Reformatoren zu Prominenz und Relevanz.
Insbesondere die Tischgespräche Luthers und die Sonntagspredigten Melanchthons sind es, denen das Beispiel Faustus oftmals zur Veranschaulichung dient, um allen wahren Christenmenschen warnend aufzuzeigen, wohin die Einlassung mit schwarzen Mächten führt. Im März 1539 beispielsweise hat Luther seinen Tischgenossen ausführlich erzählt, wie ein gewisser Zauberer dem Kaiser Maximilian die Geister allerhand verstorbener Monarchen seit Alexander dem Großen vorgeführt habe.10 Maximilian I. war der Großvater Karls V.; offensichtlich handelt es sich hier um eine frühere Version der Episode, die dann in der Historia, wie dargelegt, eine so wichtige Rolle spielt. Schon an diesem Detail zeigt sich beispielhaft, dass Luthers Erzählungen und Aufzeichnungen der wichtigste Quellenbestand für die spätere Historia bilden, die sich im Grunde durchweg als ein lutheranisches Propaganda-Buch verstehen lässt. Auch früher schon ist im Hause Luther nämlich von Faustus viel die Rede, wie folgender Ausschnitt aus den Tischgesprächen zeigt:
Da uber Tisch zu Abends eines Schwarzkünstlers, Faustus genannt, gedacht ward, saget Doctor Martinus ernstlich: der Teufel gebraucht der Zäuberer Dienst wider mich nicht; hätte er mir gekonnt und vermocht Schaden zu thun, er hätte es lange gethan. Er hat mich wol oftmals schon bei dem Kopf gehabt, aber er hat mich dennoch mussen gehen lassen. Ich hab ihn wol versucht, was er fur ein Gesell ist. Er hat mir oft so hart zugesetzet, dass ich nicht gewußt hab, ob ich todt oder lebendig sei. […] Aber mit Gottes Wort hab ich mich seiner erwehret.11