Matti Rönkä, geboren 1959, ist Chefredakteur und Nachrichtensprecher beim finnischen Fernsehen. Jeder Finne kennt ihn als »Mister Tagesschau« – und als Autor sehr erfolgreicher Krimis. Matti Rönkä lebt in Helsinki.
Er wurde mit dem Finnischen Krimipreis, Deutschen Krimipreis und dem Nordischen Krimipreis ausgezeichnet. In der Begründung für die Verleihung des Deutschen Krimipreises 2008 steht: »Rönkäs Sprache ist klar, erfrischend geradlinig, jegliche Manierismen sind ihr fremd. Da muss sich keiner beweisen, dass er schreiben kann.«
FINNISCHE
FREUNDE
Drei Viktor-Kärppä-Krimis
in einem Band
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2005 by Gummerus, Jyväskylä
Titel der finnischen Originalausgabe: »Ystävät kaukana«
Copyright © 2008 by Matti Rönkä
Titel der finnischen Originalausgabe: »Isä, poika ja paha henki«
Copyright © 2009 by Matti Rönkä
Titel der finnischen Originalausgabe: »Tuliaiset Moskovasta«
Originalverlag: Gummerus Kustannus Oy
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2010 & 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Stephen Mulcahey/Arcangel Images; © shutterstock/idea for life
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-0093-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
RUSSISCHE
FREUNDE
Aus dem Finnischen
von Gabriele Schrey-Vasara
Rajon Kem, Karelische Republik, Russland
Es ist nicht leicht, dir das Ganze zu erklären. Oder mir selbst.
Manchmal hängt alles von einer Kleinigkeit ab.
Und damit meine ich keine von diesen Science-Fiction-Geschichten, in denen ein Zeitreisender vom Pfad abweicht, mit seinem Stiefel einen bescheidenen Pflanzenkeim oder den Kokon einer Schmetterlingsraupe beschädigt und dadurch die ganze Evolution in andere Bahnen lenkt.
So weitreichend sind die Folgen nicht, mein Untergang hätte den Lauf der Welt nicht verändert. Du hast dir lediglich in den Kopf gesetzt, dass du mein Business haben willst, alles, was ich mir aufgebaut habe.
Das Ökosystem kommt deswegen nicht aus dem Gleichgewicht. Aber für mich ist mein Geschäft alles. Oder war.
Ich versuche, fair zu sein, das Ganze objektiv, unabhängig und unparteiisch zu betrachten. Zugegeben, das Startkapital gehörte mir nicht. Es fiel mir einfach in den Schoß, als Ryschkow starb … charascho, als er getötet wurde. Aber hätte jemand begründeten Anspruch darauf erhoben, dann hätte ich es zurückgezahlt, mit Zinsen.
Wenn ich mich sehr anstrenge, bringe ich es fertig zu lächeln. »Mach dir nichts aus irdischem Gut, man darf den Dingen nicht nachtrauern, sinnlos, über verschüttete Milch zu weinen. Tand und Trödel, davon gibt es genug auf der Welt.« So redete Mutter immer, mit diesen Worten tröstete sie mich, als ich klein war und die Kanne zerbrochen hatte, die weiße mit den blauen Blumen. Mutter sprach, aber sie sah mich nicht an. Ich ahnte oder vielmehr hörte, dass ihr Tränen in den Augen standen, und wurde noch viel trauriger. Mit dem Verlust von Geld und Besitz hätte ich mich früher oder später abgefunden. Sogar einen Finger hätte ich opfern können, den Schmerz und die Narben ertragen, den Phantomschmerz. Die Attacke auf mich, die Gefahr, damit wäre ich klargekommen.
Aber ich konnte nicht zulassen, dass du Marja bedrohst. Das war dein Fehler.
»Wo bist du?«, fragte der Mann, ohne sich vorzustellen. Auf Russisch. Die heisere Stimme hallte im Telefon. »Na, hier«, erwiderte ich vorsichtig, »auf der Baustelle.« Das Handy verstummte, ich horchte noch eine Weile, dann verstaute ich es in der Brusttasche. Kann ja mal vorkommen, dass ein Telefonat abbricht.
»Hol eine Fuhre Gipsplatten aus der Halle. Von der Ausschussware, die ist gut genug«, wies ich Antti Kiuru an, einen Ingermanländer, den ich als Vorarbeiter eingesetzt hatte.
Das aus sechs Wohnungen bestehende Reihenhaus zog sich im Zickzack über das Grundstück in Hanglage. Es war bereits überdacht. Drinnen stopften die Männer Isolierwolle in die Ritzen, befestigten Wandplatten und nagelten Deckenplatten an.
Ich hatte das Grundstück günstig von einem Baulöwen bekommen, kurz bevor er sein Unternehmen in den Konkurs führte. Auf den Baustellen war damals das Gerücht umhergeschwirrt, die Firma werde so lange blank geputzt, bis sie in den Bankrott purzeln würde. Das hatte mir nicht geschmeckt, denn dem Bauunternehmer gehörte auch das Haus, in dem ich wohnte. Und ich mochte mein Zuhause.
Der Baulöwe war einsichtig, ich brauchte ihm gar nicht groß zuzusetzen. Ich schaute ihm eine Weile in die Augen und machte ihm ein faires Angebot. Der Alte polierte seine dicken Brillengläser, schluckte seine Einwände herunter, nahm das Geld und verdrückte sich. Ich bekam mein Haus und als Dreingabe zwei Baugrundstücke, ordnungsgemäß im Bauplan eingetragen, technisch erschlossen bis zur Grundstücksgrenze.
Später hörte ich, dass der betreffende Unternehmer inzwischen Arbeitskräfte aus Tallinn vermittelte. Er warb in Estland Putzfrauen und Lagerarbeiter und Monteure aller Art an, die er per Schiff für einige Wochen nach Finnland schickte. Die Arbeitskräfte waren sehr flexibel, worüber die eine oder andere Behörde wahrscheinlich gern einmal mit dem Unternehmer gesprochen hätte. Ich nicht.
»Da muss einer als Fahrer mit«, sagte Kiuru zu meinem Rücken.
»Wo steckt denn Matti?«, erkundigte ich mich vorwurfsvoll, womit ich an eine alte Schuld erinnerte. Ich hatte Antti Kiurus Sohn Matti aus der Patsche geholfen, indem ich ihn bei mir anstellte.
»Der ist krank«, sagte Kiuru senior.
»Krank, so so«, höhnte ich.
»Wirklich. Er hat Fieber. Ein Drückeberger ist der Matti nicht. Das weißt du genau«, nahm Antti seinen Sohn in Schutz.
»Dann nimm Iljuscha oder Juri als Fahrer, die haben den Lappen. Hauptsache, ihr holt die Platten. Und zwar heute und nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag. Die Arbeit steht, mir kommt der ganze Zeitplan ins Schwimmen.« Ich drehte mich um und ging über den Betonfußboden, setzte über die Verschalung wie ein Hürdenläufer.
»Warte mal«, Antti Kiuru hielt mich zurück und wischte weißen Mörtel vom Ärmel meines Jacketts. Er stand so nah, dass ich das Sägemehl und den Schleifstaub und den warmen, väterlichen Schweiß roch. »Du solltest nicht in diesen feinen Klamotten herkommen«, brummelte er. Zwischen den Zeilen klang ein Vorwurf durch: Früher hast du einen Overall getragen oder eine Trainingshose, Hammer und Nageltasche am Gürtel, jetzt stolzierst du in feiner Hose und Jackett und Polohemd herum.
»Na, weil ich doch zwischendurch auch Büroarbeiten erledigen und zur Bank gehen muss«, verteidigte ich mich. »Ich mach mich jetzt auf den Weg. Ach übrigens, der Elektriker ist eine unbekannte Größe. Guck ihm mal auf die Finger, ob es sich lohnt, ihn zu der Baustelle in Korso mitzunehmen.«
Im Wagen holte ich die Daten des unterbrochenen Telefonats auf das Display. Die Nummer des Anrufers war gespeichert. Die ersten Ziffern verrieten mir, dass es sich um den Anschluss eines Telefonanbieters in Sankt Petersburg handelte, aber der Rest war mir fremd. Ich wunderte mich, denn der Anschluss, an dem der Unbekannte mich angerufen hatte, war nur für wenige gute Freunde reserviert.
Marja saß auf der löchrigen Bank vor dem Haus, auf der Seite, wo die Sonne schien. Sie hatte die Augen geschlossen, ließ sich das Gesicht bräunen.
»Hallo«, sagte ich.
»Ach, hallo«, entgegnete Marja tonlos.
Ich trat zu ihr. Die Grasbüschel am Steinsockel strahlten trockene Wärme aus. »Rück doch mal«, bat ich, da Marja offenbar nicht auf die Idee kam, mir Platz zu machen.
»Hier sind die Bilder vom Architekten und die Ingenieurszeichnungen auch gleich.« Ich entnahm der Klarsichtmappe des Kopiershops einen Stapel Papiere. Marja schob die Sonnenbrille von der Stirn vor die Augen, legte die Bauzeichnung auf die Knie und entfaltete sie.
»Ich finde, der Flügel macht sich gut. Und die Bäume können alle stehen bleiben. Hierher kommt die Terrasse …«
»Was zum Teufel ist das?«, fiel mir Marja unwirsch ins Wort.
»Was denn?«
»Na, das! Das hier.« Sie pochte mit dem Finger auf den Grundriss.
»Ach, den Duschraum meinst du. Sauna und Duschraum und eine Art Kaminzimmer und daneben der Hauswirtschaftsraum und der Heizungskeller. Das heißt, einen Heizungskeller braucht man ja heutzutage nicht mehr, aber da werden eben die technischen Anlagen untergebracht.«
»Nee, das hier, wo Jacuzzi steht.« Marjas Stimme wurde schärfer. Ihr Zeigefinger drückte eine Falte in den Grundriss.
»Na, Mensch, das siehst du doch! Da hat der Architekt einen Whirlpool eingeplant. Diese Bubbelblasen braucht man natürlich nicht, wenn man nicht will, aber ein Becken ist schon praktisch, da bleibt der Boden trocken und …«
»Stell die Jacuzzis in deinen Puffs auf. Da kannst du mit deinen Nutten Schaum schlagen!« Marja schmiss den Grundriss auf die Erde und ging ins Haus. Ich sammelte die Papiere auf und säuberte sie, wischte den Dreck am Ärmel ab.
Marja räumte Geschirr in die Spülmaschine.
»Was soll der Quatsch? Ich hatte das Zeug doch schon reingestellt, und zwar ziemlich ordentlich«, wagte ich zu bemerken.
»Es ist kein Quatsch, das Geschirr so einzuräumen, dass es auch sauber wird. Und dass alles reinpasst«, giftete Marja.
»He, im Ernst.« Ich trat hinter Marja, versuchte sie zu beschwichtigen, fasste sie an den Schultern. »Was hast du denn? Du weißt genau, dass keine Freudenmädchen für mich auf den Strich gehen.«
Ich streichelte ihren Rücken und pustete durch ihr T-Shirt.
»Wahrscheinlich nicht – mehr«, sie ergänzte das Wort, das ich ausgelassen hatte. Ihre Schultern bebten, aber die Muskeln blieben hart.
»Häschen, es ist alles in Ordnung. Meine Geschäfte werden immer sauberer. Okay, vielleicht zahle ich nicht alle Rentenbeiträge, aber meine Leute kriegen ihren Lohn, und die Rechnungen vom Holzhof werden pünktlich beglichen. Und Steuern zahle ich mehr als genug. Ich bin ein ganz normaler finnischer Unternehmer. Na, jedenfalls bald, fast normal und fast finnisch«, versuchte ich zu scherzen.
»Ist das dein Ziel, Viktor?« Marjas Stimme wurde schärfer. »Dass das Geld zu allen Fenstern reinströmt, du einen Mercedes fährst und das Wasser im Pool blubbert? Und dass man dich Viki nennt und glaubt, dein richtiger Name wäre Veikko? Manchmal habe ich das Gefühl, du warst netter, als es dir noch nicht so gut ging.«
Sie fixierte mich wie ein junger Fuchs, die kurzen dunklen Haare gesträubt.
»Damals hast du viel öfter gelächelt. Über andere, über dich, einfach über alles. Du hast gelacht, obwohl du allen Grund gehabt hättest zu weinen. Was willst du eigentlich? Das frage ich mich manchmal«. Marja trauerte offenbar vergangenen Zeiten nach. Ohne meine Antwort abzuwarten, bückte sie sich, um Geschirrtabs aus der Schachtel zu nehmen, schaltete die Spülmaschine ein und ging ins Schlafzimmer.
Ich schwieg. Dabei hätte ich sagen müssen, mach dir keine Sorgen, es wird sich schon alles richten, und hast du nicht gesehen, dass der Architekt auch »Kinderzimmer« auf den Grundriss geschrieben hat, oder regst du dich in Wahrheit darüber auf und nicht über den Whirlpool?
Marja kam zurück, bevor ich den Mund öffnen konnte.
»’tschuldige, Viktor, aber ich bin ziemlich nervös. Hier sind zwei Russen aufgekreuzt. Nein, nicht die üblichen Eisschränke in Lederjacken«, fuhr sie hastig fort, als sie merkte, dass ich sie unterbrechen wollte. »Sie waren gepflegt und höflich, mit langen, eleganten Gabardinemänteln und Aktentaschen aus Glanzleder. Sie haben mit ruhiger Stimme Englisch gesprochen. Vorgestellt haben sie sich nicht, aber es waren unter Garantie Iwans … Entschuldigung, Russen.« Auch jetzt gab sie mir keine Gelegenheit, etwas zu sagen. »Sie haben nach dir gefragt, dabei hatte ich den Eindruck, sie wussten genau, dass du nicht zu Hause bist. Ich soll dich von ihnen grüßen und dir sagen, sie kämen ein andermal wieder.«
»Na, das ist doch kein Grund zur Aufregung. Vielleicht waren es alte Bekannte. Oder sie haben irgendwo von mir gehört und wollen Geschäfte mit mir machen. Womöglich sind das ganz ehrbare Leute«, versuchte ich sie zu beruhigen, obwohl ich selbst nicht an das glaubte, was ich redete.
»Mein lieber Viktor, ich bin alt genug, um das eine oder andere zu verstehen. Das waren böse Menschen. Sie hatten kalte Augen und kalte Stimmen. Und sie haben mich angeguckt wie einen Putzlappen. Oder vielleicht wie ein Freudenmädchen, das nicht mehr zu gebrauchen ist. Und der eine hat gelacht und mich in die Backe gezwickt wie ein kleines Kind, dabei war er bestimmt nicht älter als ich.«
Mein Handy klingelte. Nichts als Stille drang an mein Ohr, leeres Rauschen. Aber ich war mir sicher, dass es russische Stille war.
Oksana Pelkonen, meine Halbtagssekretärin, wuselte bereits im Büro herum, als ich meinen Mercedes in der Viherniemenkatu in eine Parklücke zwängte. Ich war meinem Büro am Markt von Hakaniemi treu geblieben, obwohl man mir modernere Räume angeboten hatte. Immerhin hatte ich an der Tür und an den Fenstern neue Aufkleber angebracht. Sie verkündeten – meiner Ansicht nach dezent –, dass sich hier die Geschäftsstelle des VK-Konzerns befand, zu dem die Firmen Bau-Kärppä, VK-East-Trade, VK-Consulting und Osthilfe Hakaniemi gehörten. Darunter stand der Werbespruch »Osthandel schon im zweiten Jahrhundert«. »Im zweiten Jahrtausend« wäre nicht weniger zutreffend gewesen, hätte meine Kunden jedoch zum Grübeln gebracht.
»Guten Morgen, Vitjucha, guten Morgen«, begrüßte Oksana mich gleich doppelt. »Ich habe gerade deinen Tee aufgegossen. Schau mal, auf dem Poststapel liegen zuoberst drei Briefe an Viktor Kärppä, daher wusste ich, dass du kommst.«
»Dazu brauchst du kein Orakel. Ich komme jeden Morgen ins Büro, auf fünf Minuten pünktlich«, fauchte ich. »Und die Post, die in mein Büro kommt, ist ja wohl größtenteils an mich gerichtet.«
Oksana machte einen Schmollmund, quasselte aber weiter. »Oje, hast du Herzweh, Vitja? Ist die Liebe zerknüttert?«
Ich hütete mich, ihr mein Herz auszuschütten, obwohl ihre Vermutung der Wahrheit recht nahekam. Marja hatte sich am Abend aufs Sofa gekauert und gelesen, war früh schlafen gegangen und hatte mich allein im Wohnzimmer hocken lassen. Am Morgen war sie zeitig aus dem Haus gegangen, nach einem hartlippigen Kuss und einem flüchtigen Tschüs.
»Es heißt zerknittert, nicht zerknüttert. Aber über die Liebe kann man das sowieso nicht sagen«, korrigierte ich und goss mir Tee ein. Den Becher mit der Aufschrift Boss hatte Oksana auf dem Markt erstanden. Sie verzichtete auf weiteres Schmollen und begann geschäftig Rechnungen auszudrucken und Briefumschläge zuzukleben.
Ich brauchte keine Vollzeitbürokraft. Oksana Pelkonen kam nur zwei oder drei Tage pro Woche ins Büro. Sie schrieb Rechnungen, beherrschte die Regeln der einfachen Buchführung, beantwortete Faxe und E-Mails und schaltete das Bürotelefon bei Bedarf auf ihr Handy um, an dem sie sich auch in ihrer Freizeit mit den Worten meldete: »VK-Konzern, guten Tag.«
Ich hatte Oksana kennengelernt, als ich noch für Ryschkow arbeitete. Er hatte sie im früheren Rajon Leningrad angeworben, in irgendeiner vergessenen Kleinstadt oder einem lahmgelegten Kombinat.
Da Oksana ganz passabel aussah, war sie zusammen mit anderen Mädchen in einem Ikarus-Bus mit blinden Fenstern nach Helsinki gekarrt worden. Aber aus der Arbeit war nichts geworden. Oksana war brav und gefügig, dabei aber kindlich und ungeschickt und ungefähr so erregend wie eine Strumpfhose im Kühlschrank. Ryschkow hatte sie aus dem Geschäft gezogen und mit Kochen und Waschen beschäftigt, während sie auf den Rücktransport nach Sankt Petersburg wartete. Oksana war einen Monat lang geblieben, dann einen zweiten, war zwischendurch nach Russland gefahren, um ihr Visum zu erneuern, aber immer wieder nach Helsinki zurückgekehrt, um für Ryschkow zu arbeiten.
Und als Ryschkow gestorben war, hatte ich neben seinem geschäftlichen Erbe auch die Verantwortung für Oksana übernommen. Oksana war väterlicherseits finnischer Abstammung und sprach ein wenig Finnisch. Ich schickte sie zum Sprachkurs, brachte ihr bei, wie die Büroarbeiten für meine kleinen Firmen zu erledigen waren, und verschaffte ihr einen Zweitjob in einer Reinigung. Inzwischen hatte Oksana einen finnischen Pass und wohnte mit ihrer Oma im Vorort Vuosaari.
»Apropos Besucher, die Petersburger Männer kommen gleich«, zwitscherte Oksana wie ein Buchfink, der den Frühling ankündigt.
»Was für Petersburger Männer, zum Teufel?«, krächzte ich.
Oksana sah mich verschreckt an. »Warrum schreist du so … Zwei Bisnezz-Männer, junge, ordentliche.« Vor Schreck vergaß sie die finnische Intonation und klang zu drei Vierteln russisch. »Am vorigen Tag waren sie hier. Haben geredet, als wärst du ein Bekannter … und dass sie ein Meetink hätten … wie hätte ich denn da Böses ahnen sollen«, sprudelte sie hervor, holte zwischendurch quiekend Luft.
Bevor ich sie beschwichtigen konnte, schrie Oksana auf und bekreuzigte sich fahrig. »Da kommen sie, um Himmels willen … was soll ich nur tun?«
»Schon gut, keine Panik, alles ist in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Setz dich nur an deinen Schreibtisch und tu deine Arbeit.«
Ich musste meine Aufforderung wiederholen, denn Oksana flatterte immer noch kopflos im Büro herum. Sie machte den Mund auf, sagte aber nichts, als sie meinen warnenden Finger sah. Stumm verschwand sie hinter der Stellwand in ihrem Teil des Kontors.
Ich trank meinen Tee aus. Die Türfeder knarrte. Ich legte beide Hände auf den Tisch, mit gespreizten Fingern, und konzentrierte mich.
Bei der Spezialausbildung in der Armee hatte man uns getestet, geprüft und darauf getrimmt, Stress auszuhalten. Wir waren durch Wälder gestiefelt und über Steppen getrottet, bis wir vor Erschöpfung zitterten. Wir hatten unter Hunger und Schlafmangel gelitten und waren verhört worden, so realistisch, dass mancher bereitwillig seine eigene Mutter des Landesverrats bezichtigt hätte. Man hatte uns isoliert und gegeneinander aufgehetzt, hatte durch finstere Andeutungen dafür gesorgt, dass einige aus unserem Kreis abgesondert und misstrauisch beäugt wurden, ohne zu wissen, weshalb.
Und die ganze Zeit über hatte man uns eingebläut, dass man fähig sein musste, seine Handlungsfähigkeit zu bewahren. Behalte einen kühlen Kopf, denk nach, überlege, konzentriere dich auf das Wesentliche, hatte der Leiter der Einheit, Major O. A. Sorokin, uns eingehämmert. Befiehl deinem Herzen, ruhiger zu schlagen, gib ihm den Rhythmus vor. Das Herz gehorcht, hatte er versichert. Und wenn du deine Gesichtszüge unter Kontrolle hast, gleichmäßig atmest und deinen Puls zügelst, funktioniert auch dein Verstand. Du musst sein wie Kohlenmonoxyd – geruchlos, geschmacklos, farblos, aber tödlich.
Anfangs hatten wir über den Genossen Major und seine Sprüche gelacht. Der junge Mann, ein vierschrötiger Bursche mit gutmütigem, gerötetem Gesicht, sah aus wie ein ukrainischer Bauer, zu dem es besser gepasst hätte, auf einem Getreidesack zu sitzen und auf einen Schnaps zu warten. Aber nach und nach war uns das Grinsen vergangen. Sorokin wusste, wovon er sprach. Und als wir begriffen, wozu wir nach der Ausbildung fähig sein würden, waren auch die letzten Spuren eines Lächelns aus unseren Gesichtern verschwunden.
Aber ich war hier nicht in einem Kurs über psychophysische Operationstaktik. Ich saß auf meinem Bürostuhl, ohne zu wippen oder mich hin und her zu drehen, und bereitete mich auf meine Besucher vor.
Es waren zwei. Sie waren mittelgroß, schlank, pfirsichhäutig und so modisch individuell gekleidet wie Zwillingsbabys, denen man Jäckchen und Strampelhosen in verschiedenen Farben anzieht. Der eine war dunkelhaarig, der andere blond. Der Dunkelhaarige trug eine rahmenlose Brille, der Blonde hatte einen Diamantstecker im Ohrläppchen. Der Anzug des Dunklen war blau, sein Hemd kariert, und die Krawatte hatte Schrägstreifen. Der Blonde trug ein graubraunes Jackett, sein Hemd war gestreift und seine Krawatte kariert.
Ich war eher an Zweigespanne gewöhnt, bei denen der eine Muskeln und der andere ein Gehirn besaß, aber beide tätowiert waren. Wenn man mit solchen Typen eine Weile plaudert, entdeckt man bald gemeinsame Bekannte, und dann tischt man ein Gläschen Wodka auf, wir haben doch keine Eile, man heizt die Sauna und quasselt über Frauen, die Gesichter röten sich und schließlich singt man gemeinsam wehmütige Lieder. Und die eigentlichen Verhandlungen führt man am nächsten Tag, in versöhnlicher Stimmung, bei einem Glas Salzgurkenlake gegen den Kater. Mit diesen beiden hätte ich dagegen allenfalls über die richtige Fermentierung von Teeblättern plauschen können.
»Sdrastwite, Jungs«, begrüßte ich sie, als trügen sie noch kurze Hosen. Ich versuchte, Herr der Lage zu bleiben.
»Guten Morgen, Viktor Nikolajewitsch«, erwiderte der dunklere Zwilling huldvoll, während der Blonde sich mit einer knappen Verbeugung begnügte. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich die Vorzeichen womöglich völlig falsch gedeutet hatte, vielleicht waren die Herren richtige Geschäftsleute und in ehrbarer Absicht gekommen, und ich hatte mit meiner unhöflichen Bemerkung ein einträgliches Projekt verspielt.
»Das heißt, der Morgen war nur bis jetzt gut«, fuhr der Dunkelhaarige fort. »Ich will nicht mehr Zeit vergeuden als unbedingt nötig. Also kurz und bündig: Wir möchten, dass du deine Firmen und deine Geschäftstätigkeit und sämtliche Gewinne, die sie dir eingebracht haben, uns überträgst … wir haben die Papiere schon vorbereitet.«
Er nickte seinem blonden Genossen zu. Der holte eine kleine schwarze Mappe aus seiner schmalen Aktentasche, zog die Gummibänder über die Ecken und ließ mich säuberlich beschriftete Papiere sehen.
»Ja. Wir möchten dieses Unternehmen … zurück. Du verstehst schon«, lächelte er.
Auch ich lächelte. Hatte ich also doch recht gehabt. Die beiden waren Räuber.
Der Dunkelhaarige holte ebenfalls saubere, ordentliche Bögen aus seiner schmalen Aktentasche. Er legte keine Eile an den Tag, als er den Stapel durchblätterte und sich vergewisserte, dass alle Unterlagen vorhanden und richtig geordnet waren. Dann las er in gleichmäßigem Tonfall die Besitztümer meiner Firmen ab. Der Kurswert der Börsenaktien und Fondsanteile entsprach auf den Cent genau dem gestrigen Stand, die Grundstücke waren nach dem jeweiligen Baurecht und die unvollendeten Bauprojekte nach dem Grad der Fertigstellung bewertet, Werkzeuge und Materialien mit Stückzahlen und laufenden Metern aufgelistet. Ich saß still da und hörte zu.
»Und dann noch Sun-Rise Enterprises, registriert in Gibraltar … Ryschkow war ja der unmittelbare Besitzer, auch wenn er das Unterschriftsrecht delegiert hatte. Wir schlagen vor, dass du die Wohnungen, die dieses Unternehmen besitzt, direkt auf uns überschreibst oder zuerst auf deine finnischen Firmen. Wir hatten keine Zeit, diesen Teil komplett auszuarbeiten«, sagte mein dunkelhaariger Besucher entschuldigend.
Sein blonder Partner fasste das Ganze noch einmal zusammen. »Du überträgst also deine gesamte Geschäftstätigkeit auf die von uns zu benennenden neuen Besitzer. Das Personal wird zu den bisherigen Bedingungen weiterbeschäftigt, die Damen aus der Vergnügungsbranche bleiben als Mieterinnen in den Wohnungen …«
»Die Frauen arbeiten nicht für mich. Ich besitze lediglich die Wohnungen. Was die Mieterinnen dort tun, ist ihre Sache«, unterbrach ich ihn.
»… nur der Besitzer wechselt. Beziehungsweise der ursprüngliche Besitzer kehrt zurück«, ergänzte der Dunkelhaarige den Satz des Blonden, ohne eine Miene zu verziehen.
»Nee, zum Teufel! Das ist doch Humbug«, protestierte ich. »Zugegeben: Nach Ryschkows Tod ist mir sein Eigentum zugefallen. Die Wohnungen sind Ryschkows Erbe. Ihr könnt sie haben, ich erstatte euch auch die Mieteinnahmen, mit Zinsen. Aber das Bauunternehmen und der Im- und Export und der sonstige Handel – das habe ich mir alles selbst aufgebaut. Damit hatte Ryschkow nichts zu tun. Der Mann hat in seinem ganzen Leben keinen Hammer angefasst, jedenfalls nicht beim Hausbau. Das hier habe ich mir hart erarbeitet. Und mit legalen Mitteln«, erklärte ich und deutete mit ausladender Geste in den Raum, in dem sich sämtliche Büromöbelstile von den 1960er-Jahren bis heute abgelagert hatten.
»Viktor, übertreibe nicht, dramatisiere nicht«, mahnte der Dunkelhaarige. Der Blonde stützte sich auf meinen Schreibtisch und musterte mich von oben herab.
»In Sankt Petersburg war bekannt, dass du dir Ryschkows Erbe unter den Nagel gerissen hast wie ein selbstherrlicher Bastard. Du hast dort Beziehungen zu hohen Leuten, das wissen wir. Vielleicht wurde dein Treiben deshalb toleriert. Oder man wollte abwarten, bis deine Firmen reif sind. Pflückreif, verstehst du? Wir brauchen Geschäftstätigkeit, und wir brauchen Firmen, die einige Jahre lang sauber gewesen sind. Finnland gehört zur EU, Estland ist inzwischen auch beigetreten – das ist unsere Version der Globalisierung. Wir belassen die Produktion hier und verlagern dich nach China«, gluckste der Blonde. Das Lachen wirkte fehl am Platz.
»Entschuldige, Viktor, dein Business in allen Ehren, aber es geht hier wirklich nicht um ein Cornering bei Nokia. Wir reden hier von einem kleinen Unternehmen, nicht wichtig, aber im Prinzip wesentlich«, beschwichtigte er.
»Um es klar und deutlich auszudrücken: Du hast keine Alternative, kein Einspruchsrecht, keine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten. Oder willst du die Polizei verständigen?«
Die Männer legten die Papiere in die Mappen und die Mappen in die Aktentaschen.
»Man sagt, du bist ein vernünftiger Mann, ein Realist. Wir hoffen es, obwohl das ehrlich gesagt scheißegal ist. Trotzdem möchte unser Auftraggeber ausdrücklich betonen, dass du nicht am Hungertuch nagen wirst. Du bekommst irgendeinen Job von uns. Also lies dir die Papiere genau durch und unterschreib sie. Und keine Mätzchen! Auf Wiedersehen, Viktor Nikolajewitsch.«
Der Dunkelhaarige beendete die Unterredung so gönnerhaft, wie er sie begonnen hatte. Dann gingen die beiden. Die Türfeder knarrte wieder und hallte verstimmt nach.
Oksana kam hinter ihrem Wandschirm hervor, huschte zwischen Schränken und Tischen herum, ließ Papiere fallen.
»Tippel hier nicht rum«, fuhr ich sie an.
»Aber was soll denn nun aus unserem Viktor werden?«, klagte Oksana und zerknüllte ein Taschentuch in der Faust.
»Mach dir keine Sorgen, Oksana, Kindchen«, beruhigte ich sie. »Uns passiert nichts. Ich werde mir schon was einfallen lassen.«
Ich bemühte mich, ruhig und überzeugend zu lächeln, brachte aber keinen wirklich hilfreichen Satz zustande. Das Einzige, was mir einfiel, waren die liebevollen Sprüche, mit denen Mutter Missgeschicke immer abgetan hatte. Auch auf den Reisighaufen scheint die Sonne. Wir werden schon nicht untergehen, so tief ist der Brunnen nicht. Wenn die Sauna brennt, braucht man wenigstens nicht zu frieren. Das hätte Mutter gesagt. Aber diesmal hätte ihr melancholischer Optimismus wie leeres Geschwätz geklungen, Friede ihrer Seele.
»Putz dir die Nase, bring deine Wimperntusche und sonstige Schminke in Ordnung und mach ein paar Erledigungen. Du bringst diese Rechnungen und ein paar andere Briefe zur Post. Und dann holst du in der Markthalle frisches Brot und ein paar Scheiben Kochschinken und zum Nachtisch diese kleinen Berliner mit Quarkfüllung. Danach sieht das Leben gleich viel freundlicher aus«, redete ich ihr zu.
Oksana schniefte und schluchzte und verschwand in der Toilette. Ich hörte Wasser laufen.
Keine Mätzchen. Das hatte das Jüngelchen gesagt. Ein Rotzbengel war er, auch wenn er kultiviert redete und nach teuren Wässerchen roch. Solche Pappkameraden schmeiß ich kopfüber auf den Misthaufen, stachelte ich meinen Kampfgeist an. Und gleichzeitig lauschte ich dem Gewisper des Zweifels und der Angst, die hinter meinem Rücken lauerten und mich daran erinnerten, dass die ungleichen Zwillinge einen Grund für ihre Forderungen hatten.
Ich hatte lange für Ryschkow gearbeitet, war ihm bei Geschäften behilflich gewesen, die bei böswilliger Betrachtung den Tatbestand des Schmuggels, der Kuppelei, der Nötigung und ähnlicher Bagatelldelikte erfüllt hätten. Als mein Arbeitgeber in den estnischen Heroinhandel eingestiegen war, hatte ich mich losgerissen. Ryschkow war bei der Gelegenheit ums Leben gekommen, und ich kann nicht behaupten, dass ich an dem Zwischenfall ganz und gar unschuldig gewesen bin.
Jedenfalls waren Güter und Firmen ohne Besitzer und Nachfolger geblieben. Ryschkows Frau war sofort nach Russland zurückgekehrt und hatte ihre Tochter mitgenommen. Ich wusste, dass sie keineswegs als arme Witwe und Waise darbten. Auch in Russland hatte sich genug Familieneigentum angesammelt. Zudem besaßen sie wahrscheinlich nicht genug Informationen, um auf den finnischen Nachlass Anspruch zu erheben. Ryschkow hatte seine Firmen nämlich so geschickt verkettet, dass sich die Spuren verloren, fast im Unsichtbaren endeten. Ich hatte ein Glied nach dem anderen aufgespürt, Unternehmen und Wohnungen und Gelder entdeckt, die niemand vermisste. Ich hatte aus der Erbmasse Kapital und Sicherheiten entnommen – das Fundament für all die Firmen, die ich jetzt führte.
Und die gehören mir, wiederholte ich in Gedanken.
»Grüß dich, Kärppä, altes Haus, wie sieht’s mit dem Bauern aus?«, rief eine fröhliche Stimme. Der Mann war lautlos hereingeschlüpft, hatte es geschafft, das Knarren der Türfeder zu dämpfen, und grinste nun zufrieden über die gelungene Überraschung. Er war eine Spur zu elegant gekleidet, ein Mann mittleren Alters mit erschlafftem, schönem Gesicht und trotz des Lächelns traurigen Augen.
»Oksana, bring für Korhonen auch einen Berliner mit«, seufzte ich. »Einen von gestern, wenn es die noch gibt.«
»Na was?«, fragte Korhonen und setzte sich.
»Was was?«, fragte ich zurück.
»Heilige Scheiße, ein Dialog auf höchstem Niveau«, seufzte Korhonen. »Erzähl Onkel Teppo, was es Neues gibt, unter Freunden.«
»Unter Freunden?«, fragte ich mit übertriebener Verwunderung und sah mich um. »Oksana ist schon gegangen, ich sehe also nur dich, und du bist Polizist. Sicher, vom Hund sagt man, er sei der beste Freund des Menschen. Aber von einem Polizisten?«
Korhonen lachte.
»Weißt du, Viktor, es ist schon komisch. Ich komme demütigen Sinnes zu dir, um dich zu fragen, wie es dir geht. Dieses eine Mal habe ich dich wegen gar nichts in Verdacht, jedenfalls wegen nichts Größerem. Von deinen kleinen Schwindeleien weiß ich natürlich. Zu deiner Warnung sei gesagt, dass der Nachrichtendienst deine Männer abgecheckt hat, diejenigen, die ein Visum zum Beerenpflücken haben, aber mit Pranken gesegnet sind, denen keine Blaubeere standhält, und die einen Pflücker höchstens benutzen würden, um sich die Zähne zu säubern. Also sei ein bisschen vorsichtig, stell nicht zu viele ehemalige Klassenkameraden aus der Agentenfachschule ein.«
Ich kannte meine Männer und glaubte auch zu wissen, was die Polizei überwachte und was nicht. Aber aus Korhonen wurde ich nicht schlau. Ich stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und sah dem Polizisten in die Augen. Bei der Armee hatte man uns gelehrt, dass Schweigen oft die beste Verhörmethode ist. Ich hatte kein Problem damit, drei Minuten lang auf einen Punkt zwischen Korhonens Augenbrauen zu starren, aber er hielt es nicht durch.
»Na schön, du verfluchter Indianer. Ich brauch deine Hilfe. Vernünftige Informationen. Mit meiner Arbeit gegen die organisierte Kriminalität läuft’s nicht ganz glatt. Früher durfte ich schalten und walten, wie ich wollte, und ab und zu hat sich auch immer mal ein Verbrechen aufgeklärt, oder wir haben einen Tipp gekriegt, wenn jemand etwas plante. Aber jetzt hab ich einen neuen Chef. Und nun hock ich verdammt noch mal mit Ohrhörern in irgendeinem Scheißkeller und hör mir an, wie ein drittklassiger Pavian mit seiner Freundin darüber klönt, ob sie jetzt gleich zur Sexmesse gehen sollen oder erst zu der größeren im September. Die Tussi sagt, sie will sich auf jeden Fall einen neuen Vibrator kaufen, und der Kerl stottert, wozu denn, Honey. Und gleich danach ruft er einen besoffenen Kumpel an und erkundigt sich, warum das Modem bloß vier komma fünfeinszwei Geschwindigkeit hat und ob das wohl an dem Bitzen liegt, und danach beschwert er sich bei irgendeinem baumwollhosigen Knallkopf vom Kundendienst über dasselbe Problem. Und ich schnall überhaupt nix und kann verdammt noch mal nicht mal sicher sein, ob die nicht vielleicht irgendeine Kacke planen. Außerdem krieg ich Sodbrennen, weil keiner mehr Schamgefühl und Manieren hat.«
Wieder wartete ich schweigend, mit ausdruckslosem Gesicht. Diesmal hielt Korhonen vierzig Sekunden durch.
»Ja, ja, keine Bibelsprüche mehr. Bei der atheistischen Gehirnwäsche, der man dich unterzogen hat, wären die sowieso vergeudet, schade um die ewigen Weisheiten. Ich geb ja zu, dass ich ein bisschen von der Rolle war, als wir uns das letzte Mal begegnet sind. Aber jetzt will ich endlich mal wieder an einem richtigen Fall arbeiten. Im Prinzip beobachte ich immer noch die Russenfront, sprich den Komplex Einwanderer und Ostkriminalität. Aber nichts tut sich, man hört und sieht nichts. Und prompt heißt es bei der Besprechung, Korhonen hat im Moment nichts zu tun, der kann das Abhören übernehmen.«
Ich schwieg weiterhin und betrachtete Korhonen. Er hatte vor Zeiten versucht, die dunkle Seite von Ryschkows Business aufzudecken, und mich dazu erpresst, ihm Informationen zu liefern. Ich hatte ihm die Organisation der Petersburger Kasse erklärt, ihn über die in Finnland operierenden Gruppierungen unterrichtet und vor Auseinandersetzungen zwischen Drogendealern gewarnt, die das geregelte Leben durcheinanderbrachten und allen schadeten. Als Gegenleistung hatte Korhonen großzügig über meine Aktivitäten hinweggesehen.
Wir hatten zweifellos beide voneinander profitiert. In letzter Zeit hatte ich mich allerdings von Korhonen ferngehalten. Ich hatte seine Hilfe nicht gewollt und nicht gebraucht. Und vor allem hatte ich keine Lust gehabt, den unberechenbar herumspinnenden Polizisten zu beaufsichtigen und zu hüten. Er war nicht mein Bruder, gehörte nicht zur Familie, war nicht einmal entfernt verwandt. Ich hatte genug damit zu tun, für die Meinen zu sorgen.
»Ich weiß, dass ich ziemlich von der Rolle war. Aber jetzt habe ich alles im Griff. Ich bin wieder im Lot«, untermalte Korhonen meine Gedanken.
»Hör mal, Teppo«, sagte ich sanft. »Ich bin nicht undankbar und auch sonst kein Arschloch. Ich habe keineswegs vergessen, was du für mich getan hast, und ich weiß es zu schätzen. Aber diesmal kann ich dir nicht helfen. Weder aus deiner Midlife-Familienkrise noch aus deiner beruflichen Sackgasse und auch nicht bei dem religionsmoralischen Knoten, den du zerschlagen willst, indem du ein Standgericht hältst und alle Verbrecher umlegst. Ich versuche mich rein auf das Geschäftliche zu konzentrieren. Ich habe keine Informationen für dich.«
»Hör mal, Viktor«, ahmte Korhonen mich nach. »Ich bin mit einer finnlandschwedischen Psychologin verheiratet. Wenn ich etwas Unverständliches hören möchte, bitte ich meine Alte, mir einen Vortrag über Freudianismen in der Sprache zu halten.«
Er stand auf. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Kann sein, dass du demnächst wieder meine Hilfe brauchst, Kärppä. Ein kleiner Hinweis: Wir beobachten routinemäßig Aufträge und Anfragen an die Behörden. Gewisse Leute zeigen großes Interesse an deinen Firmen, beim Handelsregister sind alle möglichen Erkundigungen eingezogen worden. Also ruf rechtzeitig, wenn Onkel Teppo dich retten soll.«
Er ging, ließ die Tür zuschlagen.
Ich überlegte eine Weile, ob ich mit Korhonen über meine Sorgen hätte sprechen sollen. Immerhin hatten mich gerade zwei waschechte Ganoven aufgesucht. Ich wusste nur nicht, welche Verbrechen ich ihnen anhängen könnte.
»Eine Million, eine Million …«, sang Aleksej beinahe schön und nur wenig tiefer als Alla Pugatschowa, dabei war er immerhin Bariton. »… eine Million Euro.« Ächzend hievte er die Registrierkasse auf den Tresen. »Ab jetzt singt die Maschine und das Geschäft brummt«, grinste er fröhlich.
Ich dämpfte den Eifer meines Bruders nicht, denn ich hielt seine Geschäftsidee und sein Betriebsmodell für durchaus realisierbar. Aleksej war vor zwei Jahren nach Finnland gekommen. Er hatte seinen Posten als Ingenieur und die Anwendungen der Reibungslehre beim Forschungsinstitut der Sibneft in Moskau aufgegeben. Nun verkaufte er in einem Zubehörladen Öl in Vierliterkanistern statt in Millionen Barrels.
Ich hatte ihn ein wenig zurechtstutzen müssen, meinen großen Bruder, aber nach dem ersten Rausch hatte Aljoscha sein Gleichgewicht wiedergefunden, hatte tagsüber im Laden gearbeitet und abends und an seinen freien Tagen für mich und meine Kumpane. Auch seine Frau Irina hatte dazu beigetragen, das Leben meines Bruders in vernünftige Bahnen zu lenken. Sie hatte zu guter Letzt ihren glänzenden Nussbaumschreibtisch und ihre weitläufige Verwandtschaft in der Umgebung von Rjazan aufgegeben und war ihrem Mann nachgereist.
In Helsinki lackierte sich Irina die Nägel, färbte sich die Haare von Woche zu Woche röter und konzentrierte sich darauf, die Spitzendeckchen gerade und das Leben unter Kontrolle zu halten. Über die Stränge schlagen geht nicht mehr, sagte Aljoscha immer wieder, nicht klagend, sondern eher zufrieden.
Ich hatte ihm einige meiner eigenen Geschäfte übertragen. Dann hatte ich ihm meine Hälfte der Industriehalle in Tattarisuo vermietet, wo er seinen eigenen Ersatzteilhandel eröffnen wollte. Die Lichtreklame war bereits fertig. Ganz zuoberst stand in großen Lettern Auto-Alex. Darunter versprach ein kleinerer Text in russischer Sprache Autobedarf aller Art und guten Service, und auf all diese Druckbuchstaben folgte in nachempfundener Handschrift Alexej Cornostayev JR.
»Wie zum Teufel bist du auf X und C in deinem Namen verfallen? Und was soll der Junior? In meinem Pass steht als Vatersname jedenfalls Nikolai«, setzte ich meinem Bruder zu.
»Schau, bei der Transliteration von einer Sprache in die andere eröffnen sich viele Möglichkeiten«, begann er, und ich wusste, dass er bei einem Satz mit so vielen Worten selbst unsicher war, was am Ende herauskam. »Dieser Fußballer, Eremenko, der schreibt sich auch Alexej. Und nennt sich Junior. Kornostajew sieht einfach zu bäurisch aus, und Kärppä erst recht. Marketing, Visionen, Branding, immaterielle Werte, das gehört zum modernen Business«, predigte Aleksej selbstzufrieden.
»Aha. Dann lass uns mal die materiellen Werte an ihren Platz stellen. Sonst geht der ganze Sonntag für nichts und wieder nichts drauf«, drängte ich und stapelte Autowachs und Schwämme und Wildledertücher in die Regale.
Aleksej reckte sich und starrte mich an. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja«, ächzte ich und hob Akkus auf ein Podest. »Nun tu endlich was, ist schließlich dein eigener Laden.«
»Aha. Du siehst ganz so aus, als ob dein Leben perfekt wäre«, spöttelte Aleksej. »Komm schon, sag deinem großen Bruder, was los ist. Hat dich jemand geärgert? Wie steht es mit den spirituellen Fragen, bist du bereit für die Begegnung mit Jesus? Oder lassen die Frauen dich nicht mehr ran? Hat dir womöglich dein kleiner Mann den Dienst gekündigt?«
»Was? Welcher kleine Mann, verdammt noch mal? Lass mich bloß in Ruhe!«
Aleksej betrachtete mich liebevoll wie ein kleines Kind. »Viktor, du kommst allmählich in ein Alter, in dem Erektionsstörungen ganz normal sind. Ich selbst hab damit zwar keine Erfahrung … die Härteklassifizierung für Stahl ist nach meinem Ständer standardisiert«, schwätzte er.
»Ja ja, und deinen Schwanz haben sie nach Paris ins Museum gebracht, da liegt er neben dem Urmeter«, unterbrach ich ihn. »Als Maß für den Zentimeter. Nur um die Sache klarzustellen, Aleksej, ich hab noch nie Probleme wegen mangelnder Potenz gehabt, ganz im Gegenteil. Liegt wohl in der Familie. Aber mal ehrlich«, fügte ich hastig hinzu, als ich merkte, dass mein Bruder einen weiteren Spruch vom Stapel lassen wollte, »in Wahrheit ist Marja schlecht gelaunt. Vielleicht ist sie wegen der Renovierung gestresst, schon im Voraus. Und im Geschäft steh ich auch unter Druck. Schuldeneintreiber aus Sankt Petersburg. Aber damit werde ich schon fertig«, versicherte ich. Ich bemühte mich, sorglos zu wirken, obwohl mir der Besuch des Zwillingspaars das ganze Wochenende durch den Kopf gegangen war.
»Na, wenn nötig, bittest du deinen großen Bruder um Hilfe«, erklärte Aleksej fröhlich. »Und die Frauen beruhigen sich, sie bocken eine Weile wie wilde Fohlen, aber dann erwarten und verlangen sie, dass man sie mit harter Hand zügelt.«
Ich sah ihm in die Augen.
»Okay, daran glaub ich selber nicht«, räumte er ein.
Ich sagte, ich ginge nach Hause. Aleksej blieb noch, um Sonderangebotsschilder zu schreiben. Er richtete mir Grüße an Marja aus. Ich mochte ihm nicht sagen, dass ich keine Ahnung hatte, wo Marja steckte. Sie war am Morgen aus dem Haus gegangen, hatte nur gesagt, sie würde in der Stadt einen Salat essen und ich solle mir selbst etwas zurechtmachen, in der Gefriertruhe sei genug. Und ich war weggefahren, um Aleksej zu helfen, und hatte das Haus leer zurückgelassen.
Ich schloss die Aluminiumtür der Halle. Am Kotflügel meines Mercedes lehnten die Businesszwillinge.
»Ihr geht wohl auch gemeinsam scheißen«, begrüßte ich sie.
»Es gibt keinen Grund, ausfällig zu werden«, antwortete der Blonde liebenswürdig. Seine Stimme wirkte glättend wie Sandpapier der Körnung sechshundert. »Du bist ein intelligenter Mann. Nimm die Sache nicht persönlich. Betrachte sie als Geschäftsangelegenheit.«
Ich legte keinen Wert darauf, ihm zu erklären, dass Frotzeleien meine typische Reaktion auf Angst sind. Manche waren vor Furcht wie gelähmt oder begannen zu zittern, aber bei mir funktionierte der Kopf in solchen Momenten besonders klar und schnell, meine Miene wurde abweisend, und meinem Mund entströmten provozierende Äußerungen oder Schmähungen. Das passierte mir immer wieder, einfach so, obwohl die Stimme der Vernunft mich auch jetzt warnte: Ts, ts, blas dich nicht auf, denk daran, dass diese Burschen dich nur am Leben lassen, weil es schwieriger ist, mit einem Toten einen Vertrag zu schließen.
»Geht weg von dem Auto, Jungs. Sonst wird es noch schmutzig«, hörte ich mich sagen. Mir wurde klar, dass ich wirklich Angst hatte.
Der dunkle Zwilling richtete sich hoch auf und ballte die Fäuste, doch der Blonde fasste ihn am Ärmel.
»Sehr dumm von dir. Oder zumindest unsachlich«, sagte er mit süffisantem Lächeln. »Zu so etwas geben wir uns nicht her. Aber wir haben Männer, die gerade auf dem Niveau operieren, das du dir da ausgesucht hast.«
Er holte eine Schachtel aus der Manteltasche, steckte sich eine Zigarette an und rauchte in aller Gemütsruhe. Ich erinnerte mich, dass nach dem Besuch des Duos ein leiser Hauch von Tabak in meinem Büro in Hakaniemi zurückgeblieben war, ein Geruch, der nicht zu dem geschäftsmäßig eleganten, gesunden und durchtrainierten Erscheinungsbild der beiden passte.
»Auf Wiedersehen«, sagte der Blonde. »Erledige deinen Anteil bis morgen. Wir lassen von uns hören.«
Er öffnete die Tür meines Mercedes und warf die Zigarette auf den Sitz.
»Oops«, lächelte er und gab dem Dunklen mit einem Kopfnicken das Signal zum Aufbruch. Die beiden Männer gingen zu einem metallicgrauen BMW, setzten vom Hof zurück auf die Straße, ohne den Motor aufheulen zu lassen, und brausten davon.
Ich riss die Tür auf. Die Zigarette glimmte auf dem Beifahrersitz. Sie hatte bereits ein kleines Loch in den Bezug gebrannt. Ich warf die Kippe auf den kiesbestreuten Hof und löschte den kokelnden Stoff mit der Hand.
Mein Handy klingelte. Die Melodie durchschnitt die Stille mit brutaler Fröhlichkeit. Karpow ruft an, stand auf dem Display.
»Grüß dich«, schnaufte ich.
»Was macht die kämpferische Jugend? Hast du schon angefangen, dich auf den Schnee des kommenden Winters vorzubereiten? Rollskilauf, Jogging mit Skistöcken, Rudern und dergleichen«, redete Karpow drauflos.
»Ach weißt du, ich trag keine Wettkämpfe mehr aus, ich lauf bloß noch mit einem x-beinigen starik um die Wette. Und der stammt aus dem hungernden Karelien, ist von Rachitis gezeichnet, und soweit ich mich erinnere, war sein größter Erfolg der dritte Platz im Parkskilauf von Petrozawodsk, in der Klasse Omas, sonstige Rentner und Tuberkulöse«, gab ich zurück. Ich malte mir aus, wie Karpow grinste und zufrieden das Gesicht verzog, das dem des Opernsängers Jorma Hynninen glich.
»Ach ja, jetzt erinner’ ich mich. Das war der Wettkampf, den du abbrechen musstest, weil dir nach knapp dreihundert Metern die Puste ausging«, schlug Karpow zurück und mischte karelische Wörter unter sein fast korrektes Finnisch. »Na, gibt’s was Neues? Viktor, der Kapitalist, wird immer fetter, fährt im Mercedes, und die Armen müssen sich in den Graben werfen, barmherziger gospodin. Und die Liebe hat sich für immer in Vitjuchas und Marjuschkas Herzen eingenistet.«
»Normalnyj«, quittierte ich die Frage. »Eine vorübergehende Tiefdruckphase in der Abteilung zwischenmenschliche Beziehungen. Und ein paar Feineinstellungen im Businessbereich. Nichts Weltbewegendes, aber es kann sein, dass ich Hilfe brauche. Zuverlässige Hilfe«, betonte ich.
Karpow schwieg eine Weile. »Du weißt, ich helfe dir immer«, sagte er dann feierlich. Als er davon sprach, wie wir uns schon als Jungen gemeinsam durchgeschlagen hatten, musste ich schlucken. Karpow war nicht der Mutigste, aber er hatte in vielen brenzligen Situationen an meiner Seite gestanden oder sich zumindest hinter meinem Rücken versteckt.
»Ich weiß«, bestätigte ich. »Aber sag mal, hast du irgendwas Richtiges zu bereden?«
»Nein, ich wollte nur mal hören, was mit der Halle ist, da steht immerhin auch meine Ware drin. Wird es eng, wenn Aleksej jetzt mein Nachbar wird?«