KRISTIN HARMEL
Über
uns der
Himmel
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Veronika Dünninger
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »The Life Intended«
bei Gallery Books, New York.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung April 2015 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Kristin Harmel
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Redaktion: Ivana Marinović
ES · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-14383-1
V002
www.blanvalet.de
Für all jene, die jemanden geliebt
und verloren haben.
Und für Jason, die Liebe meines Lebens.
Ich kann mir eine Welt ohne dich
nicht vorstellen.
»Musik ist der Raum zwischen den Noten.«
CLAUDE DEBUSSY,
französischer Komponist (1862–1918)
1
10. September 2001
Es war 23:04 Uhr, als Patrick an jenem Abend zur Tür unserer Wohnung hereinkam.
Ich erinnere mich an jeden Augenblick dieser letzten vierundzwanzig Stunden so deutlich, als wäre es erst gestern gewesen.
Ich erinnere mich an die Ziffern, die rot und wütend auf der Digitaluhr neben unserem Bett glühten, an das Geräusch seines Schlüssels, der sich im Schloss drehte. Ich erinnere mich an seine verlegene Miene, die Art, wie er sich mit einer Hand durch den dichten, dunklen Haarschopf fuhr, die Art, wie er meinen Namen aussprach, Kate, als wäre es eine Entschuldigung und ein Gruß zugleich.
Ich hatte Fortress gehört, mein Lieblingsalbum einer Band namens Sister Hazel. »Champagne High«, der vierte Song auf der CD, lief, und ich dachte über den Text nach, an »die eine Million Stunden, die wir waren«, und was für eine schöne Art das war, um ein gemeinsames Leben zu beschreiben.
Patrick und ich waren damals erst seit vier Monaten verheiratet. Ich weiß noch, dass ich, kurz bevor er nach Hause kam, dachte, dass eine Million Stunden nicht so klang, als wäre es genug. Vielleicht werden wir das Glück haben, mehr Zeit zu bekommen. Vielleicht wird man, bis wir alt geworden sind, eine Möglichkeit gefunden haben, unsere Leben zu verlängern. Ich konnte mir keinen Tag vorstellen, an dem ich nicht mehr mit ihm zusammen sein würde.
Die Zeit war mir nie genug, immer wollte ich noch mehr. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass wir erst einen winzigen Bruchteil der Augenblicke, die wir im Laufe unseres Lebens zusammen verbringen würden, aufgebraucht hatten. Ich war damals siebenundzwanzig, Patrick achtundzwanzig. Die Jahre schienen sich zu einem endlosen Horizont vor uns auszudehnen. Ich wusste nicht, dass uns die letzten Augenblicke unserer gemeinsamen Zeit durch die Finger rannen wie Sand.
Wenn ich nervös war, neigte ich dazu, Musik zu Tode zu analysieren, was wohl der Grund war, weshalb ich mir an jenem Abend eine CD anhörte, die ich schon hundertmal gehört hatte. Ich zergliederte den Text und die Akkorde, während ich darauf wartete, dass Patrick zur Tür hereinkam. Das ist etwas, was ich noch heute tue, wenn ich Ablenkung brauche. Ich verliere mich in den Noten, den Melodien und Harmonien, den Vokal- und Instrumentalpartien – und darin, wie sich manchmal, im glücklichsten Fall, alles perfekt zusammenfügt.
So wie Patrick und ich. Wir waren Harmonie und Melodie, Yin und Yang, wie eine uralte Fünftonleiter, gepaart mit einem modernen Percussion-Rhythmus. Wir passten mühelos zusammen von dem Augenblick an, in dem wir uns begegneten, neunzehn Monate und zehn Tage zuvor, am Silvesterabend 1999, wenige Augenblicke, bevor das neue Jahrtausend anbrach. Ich hatte nie geahnt, dass es möglich wäre, sich so vollkommen, so im Einklang, so erfüllt von einem anderen Menschen zu fühlen.
Letztendlich besteht die Musik aus Zahlen.
Genau wie das Leben.
Ich zählte sie später zusammen, in jenen letzten zerbrochenen Augenblicken des Jahres 2001.
Die Zahl, die uns, Patrick und mich, letztendlich definierte, war 14098.
Das war die Zahl der Stunden, in denen wir wussten, dass wir unseren Seelenverwandten gefunden hatten. Die Zahl der Stunden, in denen wir glaubten, dass wir nie wieder allein sein würden. Die Zahl der Stunden, in denen wir das Gefühl hatten, alles zu haben – bevor am Morgen des 11. September 2001, um 8:46 Uhr, ein tiefer Riss durch unser beider Leben ging.
14098 ist nicht einmal annähernd eine Million, oder?
Ich habe mir dieses Lied nie wieder angehört, auch wenn mich seine Melodie mitunter noch immer heimsucht.
»Schatz, es tut mir schrecklich leid.« Patrick entschuldigte sich in einem fort, während er durch den dunklen Flur ins Schlafzimmer tappte, wo ich, die Knie an die Brust gezogen, auf dem Bett saß und betont auf meine Armbanduhr sah. Die Erleichterung darüber, dass er sicher zu Hause war, wich rasch dem Ärger darüber, dass er mir solche Sorgen bereitet hatte.
»Du hast nicht angerufen.« Ich wusste, dass ich beleidigt klang, aber das war mir in dem Moment egal. Im Jahr zuvor, nachdem mein Onkel bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, hatten wir uns versprochen, immer zu versuchen, dem anderen Bescheid zu geben, wenn wir uns verspäten würden. Meine Tante hatte damals fast zwanzig Stunden in seliger Unwissenheit über den Tod ihres Ehemanns verbracht, eine Vorstellung, die Patrick und mich zutiefst entsetzt hatte.
»Es ist etwas dazwischengekommen«, sagte Patrick, wobei er meinem Blick auswich. Sein Bartschatten war dunkel, sein Haar zerzaust, und seine grünen Augen blickten tief bekümmert, als er mich schließlich ansah.
Ich sah auf das Telefon auf unserem Nachttisch, das Telefon, das den ganzen Abend geschwiegen hatte. »Du wurdest im Büro aufgehalten?«, fragte ich. Es wäre nicht das erste Mal. Patrick arbeitete als Risikomanagement-Consultant bei Marsh & McLennan. Er war jung und ehrgeizig, einer dieser Menschen, die immer einsprangen, wenn es etwas zu erledigen gab. Und auch dafür liebte ich ihn.
»Nein, Katielee«, redete er mich mit dem liebevollen Kosenamen an, den er seit dem Abend verwendete, an dem wir uns kennenlernten. Er hatte meinen Mädchennamen, Kate Beale, falsch verstanden, als ich ihn über den Lärm der Menge hinweg brüllte. »Meine wunderschöne Katielee«, murmelte er jetzt, während er das Schlafzimmer durchquerte und sich neben mir aufs Bett setzte. Sein rechter Handrücken streifte meine Waden, und ich streckte langsam die Beine aus und schmolz an seiner Seite dahin. Er rutschte näher an mich heran und schlang die Arme um meine Schultern. Er roch nach Eau de Cologne und Rauch. »Ich habe mich mit Candice getroffen«, flüsterte er mir ins Haar. »Sie hatte mir etwas Wichtiges zu sagen.«
Ich wich von ihm zurück und kletterte hastig aus dem Bett. »Wie bitte, Candice? Du hast dich mit Candice getroffen? Bis elf?«
Candice Belazar war das Mädchen, mit dem er unmittelbar vor mir zusammen gewesen war, und seit ich Patrick kannte, war sie wie ein Stachel in meinem Fleisch. Er hatte mir oft beteuert, es sei eher eine kurze Liebelei gewesen als eine Beziehung, und sie hätten sich zwei Monate, bevor er mir begegnete, getrennt. »Es war rein körperlich«, versuchte er, es zu erklären, als er sie zum ersten Mal erwähnte. »Ich hatte das Gefühl, in einer Tretmühle zu stecken. Und sie war da. Ich habe die Sache beendet, sobald mir klar wurde, dass wir beide überhaupt nicht zusammenpassten.« Aber das war mir kein großer Trost.
Wir waren Candice einmal zufällig über den Weg gelaufen, in einem Restaurant in Little Italy, und ein Gesicht mit dem Namen verbinden zu müssen, machte alles nur noch schlimmer. Sie war ein gutes Stück größer als ich, mit riesigen, offenkundig künstlichen Brüsten, gesträhntem, blondiertem Haar und hohlen Augen. Sie grinste herablassend, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte, und ich hörte, wie sie ihrer Freundin betont laut zuflüsterte, Patrick würde mit einer richtigen Frau offenbar nicht klarkommen.
»Kate, Schatz, es ist nichts passiert«, beeilte sich Patrick zu sagen, während er zur Bettkante vorrutschte und die Arme nach mir ausstreckte. »Ich würde niemals irgendetwas tun, was dich verletzt.«
»Warum hast du denn nicht angerufen?«, fragte ich spitz. Ich hasste den Klang meiner Stimme, schrill und vorwurfsvoll. Seitdem wünschte ich mir jeden Tag, ich könnte meine Worte zurücknehmen … all diese Wut zwischen uns am Schluss.
»Kate, es tut mir so leid.« Er fuhr sich seufzend mit den Fingern durch seinen dunklen Haarschopf. »Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber ich würde dich niemals betrügen. Nie im Leben. Das weißt du.« Seine Stimme stockte am Satzende, aber seine Augen blickten so unschuldig wie eh und je. Ich spürte, wie sich meine Schultern ein wenig entspannten, während sich ein Teil meiner Empörung legte.
»Egal«, schnaubte ich, denn mir fiel keine bessere Reaktion ein. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, aber der Stachel des Schmerzes, zu Hause auf ihn warten zu müssen, während er mit seiner Exfreundin in einer verrauchten Bar saß, steckte noch immer tief. Ich würde ihm nicht sagen, dass es in Ordnung sei, denn das war es nicht.
»Hör zu.« Er hob die Hände wie zu einem Schuldeingeständnis. »Ich weiß, ich befinde mich hier völlig im Unrecht. Aber es war ein schweres Gespräch, und ich hatte nicht das Gefühl, kurz weggehen zu können, um zu telefonieren.«
»Ja, bloß nicht Candice kränken«, murmelte ich.
»Kate …« Patricks Stimme verlor sich.
Ich wusste, dass ich einlenken sollte, dass ich zu ihm gehen und ihm sagen sollte, dass alles in Ordnung sei. Aber ich konnte es nicht. Stattdessen sagte ich: »Ich gehe ins Bett.«
»Wollen wir nicht darüber reden?«
»Nein.«
Patrick seufzte. »Kate, ich werde dir morgen alles erklären.«
Ich verdrehte die Augen, stürmte ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu. Ich sah blinzelnd auf mein Spiegelbild, während ich mich fragte, wie es Candice über zwei Jahre, nachdem die beiden sich getrennt hatten, noch immer schaffte, eine gewisse Macht über meinen Ehemann auszuüben. Ich wartete, bis ich seine Schritte hörte, die das Schlafzimmer verließen.
Als ich zehn Minuten später ins Bett kroch, konnte ich spüren, wie ich ein wenig auftaute. Schließlich hatte Patrick mir sofort gesagt, wo er gewesen war. Ich wusste, dass er ehrlich war. Außerdem hatte er sich für mich entschieden, und tief in mir wusste ich auch, dass er sich für den Rest unseres Lebens jeden Tag für mich entscheiden würde. Während ich die Decke über mich zog, flaute meine Wut in langsamen, gleichmäßigen Wellen ab.
Ich war bereits halb eingeschlafen, als Patrick zu mir ins Bett kam. Ich wandte mich von ihm ab, mit dem Gesicht zur Wand, und einen Augenblick später spürte ich, wie er die Arme um mich legte. Er rutschte näher an mich heran, schmiegte sich an meinen Rücken und schlang seine Beine um meine.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich ihm entziehen sollte, aber es war Patrick, mein Patrick. Ich wusste, dass er mir am nächsten Morgen sagen würde, was passiert war, und ich würde es verstehen. Und so entspannte ich mich bald in seiner Wärme.
»Du weißt, dass ich dich niemals verletzen würde, Katielee«, murmelte er, während er mich näher an sich zog. »Niemals. Nicht in einer Million Jahren. Es ist nichts passiert.«
Ich schloss die Augen und atmete aus. »Ich weiß.«
Patrick küsste die Vertiefung unter meinem linken Ohr, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief. »Ich wusste, schon bevor ich dir begegnete …«, murmelte er, als ich eben wieder in den Schlaf zu sinken begann.
Ich lächelte. Das war die Art, auf die wir immer Ich liebe dich zueinander sagten, in unserer ganz eigenen Sprache.
»… dass ich für dich bestimmt war«, erwiderte ich. Das war die Antwort, die immer Ich liebe dich auch bedeutete. Ich wusste, dass ich so für den Rest unseres Lebens empfinden würde.
2
11. September 2001
Sonnenlicht strömte zusammen mit dem Geruch von Kaffee und Speck ins Schlafzimmer, als ich am nächsten Morgen erwachte. Ich blinzelte und rollte mich herum, um auf die Uhr zu sehen. Es war 6:47 Uhr, und Patrick war bereits auf und machte mir Frühstück. Ich wusste, dass das seine Art war, sich zu entschuldigen, aber im Grunde hatte ich ihm bereits verziehen.
Ich schlüpfte aus dem Bett, putzte mir die Zähne, wusch das Gesicht und zog den grau melierten Frotteemorgenmantel über, der an der Badezimmertür hing.
»Morgen«, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen, als ich in die Küche trat. Patrick wandte sich vom Herd um. Er hatte einen Spatel in der Hand, und ich brach in Lachen aus. Er trug eine gelbe Küss-den-Koch-Schürze über seinen I-Love-NY-Boxershorts und einem weißen T-Shirt. Er war barfuß und sein dunkles Haar vom Schlaf verwuschelt.
»Le Küchenchef stäht Ihnen zu Dienstön«, verkündete er mit einem übertriebenen französischen Akzent, bei dem ich prompt wieder lachen musste. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte er und wies mit dem Spatel auf unseren winzigen Küchentisch. »Das Frühstück wird sofort serviert, Madame.«
Er eilte mit zwei Tellern mit Rühreiern, extra knusprigem Speck und Toast mit Erdbeermarmelade herbei. Einen Augenblick später stellte er zwei dampfende Tassen Kaffee, bereits mit Sahne und Zucker abgemildert, auf den Tisch und setzte sich zu mir.
»Du hättest doch kein warmes Frühstück machen müssen, Schatz«, sagte ich lächelnd.
Er gab mir einen Kuss auf die Wange. »Nur das Beste für mein Mädchen.«
Ich nahm einen Happen von dem Rührei und sah ihn an. Er beobachtete mich noch immer und ließ den Blick nicht von mir. »Was denn?«, fragte ich mit vollem Mund.
»Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass ich gestern Abend nicht angerufen habe«, sagte er. Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. »Ich fühle mich fürchterlich. Ich wollte dir keine Sorgen bereiten.«
Ich nahm einen Schluck Kaffee, dann holte ich tief Luft. »Schon gut«, sagte ich.
Erleichterung breitete sich auf seinen Zügen aus wie ein Sonnenaufgang. »Du verzeihst mir?«
»Ich hätte nicht so kindisch reagieren sollen. Tut mir leid, dass ich mich aufgeregt habe.«
»Hast du nicht«, beeilte er sich zu sagen. Er nahm einen Bissen von seinem Speck, und ich sah zu, wie sein kräftiger Kiefer arbeitete, während er kaute. »Hör zu, es gibt da etwas, worüber ich wirklich gern mit dir reden würde«, sagte er. Er blinzelte mehrmals, und bei seiner Miene wurde mir auf einmal mulmig zumute. Er schien fast nervös. »Kann ich für heute Abend irgendwo einen Tisch reservieren und dich zum Essen einladen? Das Restaurant im Sherry-Netherland vielleicht? Ich weiß, dass du dieses Lokal liebst.«
»Klingt toll.« Ich lächelte.
»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragte Patrick einen Augenblick später, während ich an einem Stück Speck knusperte.
Ich sah auf. »Was denn?«
Er strich seine Schürze glatt und schob die Brust vor. »Da steht Küss den Koch.« Er grinste schelmisch, und als ich seinen Blick erwiderte, zwinkerte er mir zu. »Und es ist nur höflich, Schürzenanweisungen Folge zu leisten.«
Ich lachte. »Ist das so?«
»Ich bin mir sicher, es ist eines der Grundgesetze aller Küchenokratien weltweit.«
»Küchenokratien?«
»Natürlich. Souveräne Küchennationen. Wie diese hier.«
»Verstehe«, erwiderte ich völlig ernst. »Nun ja, ich will keinesfalls gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, Sir.«
»Dann ist es vermutlich in Ihrem besten Interesse, sich einfach an sie zu halten.« Er grinste mich an, stand auf und breitete die Arme aus. »Also?«
Ich kicherte und erhob mich ebenfalls von meinem Platz. Er neigte den Kopf, ich stellte mich auf die Zehenspitzen, und unsere Lippen trafen sich.
»Reicht das?«, flüsterte ich einen Augenblick später, während er die Arme um mich schlang und mich festhielt.
»Nicht einmal annähernd«, murmelte er. Dann küsste er mich wieder, teilte meine Lippen sanft mit seiner Zunge. Ein leises Stöhnen entfuhr meiner Kehle, während mein Körper sich seinem hingab.
An jenem Morgen liebten wir uns rasch, eindringlich, berauscht voneinander. Dann räumte ich unser Frühstücksgeschirr ab, während er duschte und sich für die Arbeit anzog.
»Gut siehst du aus!« Ich pfiff bewundernd durch die Zähne, als er wieder in der Küche erschien, mit frisch gewaschenem Haar, einer anthrazitfarbenen Hose, einem makellosen blauen Hemd und einer grau gestreiften Krawatte.
»Ich dachte, die Schürze und die Boxershorts würden sich bei dem wichtigen Meeting, das ich heute Vormittag habe, nicht so gut machen«, sagte er, »auch wenn meine Beine – und ich will hier nicht prahlen – wirklich sexy sind.«
Ich lachte und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. »Viel Glück mit deinen Kunden.«
»Wer braucht schon Glück?«, fragte er mit einem schiefen Grübchenlächeln. »Ich habe die tollste Ehefrau der Welt. Das Leben ist schön.«
»Ja, das Leben ist schön«, pflichtete ich ihm bei. Ich küsste ihn noch einmal, und diesmal verharrten unsere Lippen etwas länger aufeinander. Diesmal war es Patrick, der sich zu früh löste.
Als ich die Augen aufschlug, hielt er einen Silberdollar aus der alten Sammlung seines Großvaters hoch. »Hör zu, könntest du den bis heute Abend für mich aufbewahren?«, fragte er.
Ich nickte und nahm ihn entgegen. »Wofür ist er?« Patrick hatte die Tradition, einen Silberdollar irgendwo hineinzuwerfen, wann immer ihm etwas Gutes widerfuhr. Man muss das Glück weitergeben, pflegte er zu sagen. Auf diese Weise kann sich jemand anders etwas wünschen. Wir warfen einen Silberdollar in den Central Park an dem Tag, an dem ich für mein Aufbaustudium zugelassen wurde, einen anderen in den Brunnen vor der City Hall, als Patrick im vergangenen Jahr eine große Beförderung bekam, und einen dritten in der Nähe seines Elternhauses auf Long Island ins Meer, nachdem wir im Frühjahr geheiratet hatten. »Muss ja etwas Wichtiges sein«, ergänzte ich.
»Das ist es«, versprach er. »Du wirst schon sehen. Ich erzähle es dir beim Essen. Wir können ihm danach in den Pulitzer-Brunnen werfen. Und, Katielee?«
»Ja?«
Er stand im Türrahmen und blickte mich einen langen Moment an. »Ich wusste, schon bevor ich dir begegnete …«, sagte er schließlich mit sanfter Stimme, während er mir gebannt in die Augen sah.
Mein Herz flatterte. »… dass ich für dich bestimmt war.«
Die Tür schloss sich um 7:58 Uhr hinter ihm.
Ich sah ihn nie wieder.
Ich war auf meiner morgendlichen Joggingrunde, als es passierte.
In diesem Semester begannen meine Vorlesungen erst am frühen Nachmittag, daher hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, auf dem begrünten Pfad am Hudson River joggen zu gehen, sobald Patrick zur Arbeit aufbrach. An diesem Morgen war ich in Gedanken über eine Vorlesung vertieft, die ich am Tag zuvor gehört hatte. Ich hatte, auf Patricks Drängen hin, eben erst mein Aufbaustudium in Musiktherapie begonnen, und bis zu meinem Master-Abschluss lagen noch vier Semester vor mir, aber ich war bestrebt, zügig fertig zu werden und in die wirkliche Welt hinauszukommen, um endlich anderen Leuten helfen zu können.
Auf dem College hatte ich BWL im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach studiert, aber meine Lieblingssprache war schon immer die Musik gewesen. Als Patrick und ich uns kennenlernten, arbeitete ich für eine Bank in Midtown – ein Job, für den ich mich überhaupt nicht begeistern konnte. Eines Abends, kurz nachdem wir uns verlobt hatten, gestand ich ihm, dass es schon immer mein Traum war, benachteiligten Kindern durch Musik zu helfen, meine Eltern sich aber geweigert hatten, mir ein Musiktherapiestudium zu bezahlen, da sie es für irgendeinen neumodischen esoterischen Quatsch hielten. Er meinte sofort, ich solle meinen Job an den Nagel hängen, wieder studieren und tun, was mein Herz mir sagte.
»Ich werde dich auf deinem Weg unterstützen«, sagte er. »Das Leben ist zu kurz, um seinen Träumen zum Glück nicht zu folgen.«
Und hier war ich nun, seit ein paar Wochen eingeschrieben für das Aufbaustudium, von dem ich jahrelang geträumt hatte, und seit ein paar Monaten verheiratet mit dem besten Mann, den ich mir vorstellen konnte. Ich wusste nicht, wie ich zu so viel Glück gekommen war, aber mein Herz war erfüllt davon.
Das war es, worüber ich nachdachte, als ich an jenem Morgen joggen ging – Patrick, das Schicksal, die Zukunft –, und als ich kehrtmachte, um zurück in Richtung Innenstadt zu laufen, sah ich lächelnd zum World Trade Center hoch, das in einiger Entfernung vor mir emporragte. Die Zwillings-Türme füllten auch das Küchenfenster unserer Wohnung aus, und wenn ich allein zu Hause war, stellte ich mir gern vor, ich könnte genau sehen, wo Patrick arbeitete. Ich wusste, dass er im zwölften Stockwerk von oben im Nordturm saß, von der nordwestlichen Ecke des Gebäudes aus im dritten Raum auf der Nordseite. Einmal hatte er mich mit einem Fernglas mit zu seinem Büro genommen, damit wir unsere Wohnung in der Chambers Street ausfindig machen konnten.
An jenem Tag neckte mich Patrick, ich sollte beim Duschen die Jalousien offen lassen, damit er sich von seinem Büro aus an einer kleinen Peepshow erfreuen könnte. Ich nannte ihn einen Perversling, und er kitzelte mich, bis ich so heftig lachen musste, dass ich kaum noch Luft bekam. »Das Kitzelmonster lässt sich nicht beschimpfen«, kicherte er.
»Kitzelmonster«, murmelte ich vor mich hin, während ich an jenem Morgen lief. Ich verdrehte die Augen bei dem Gedanken, was für einen Witzbold ich geheiratet hatte. Und das war der Moment, als der Frieden dieses Morgens jäh zerrissen wurde.
Ich hörte es, bevor ich es sah – ein alles erschütterndes, motorisiertes Vibrieren in der Luft, das mich an die Flugeinlagen von Kampfjets erinnerte, die ich als Kind bei Footballspielen mit meinem Dad gesehen hatte. Ich sah instinktiv auf und suchte den Himmel nach einer schnittigen F-16 ab.
Stattdessen, in einem solch flüchtigen Augenblick, dass ich kaum Zeit hatte zu begreifen, was ich da sah, füllte ein Passagierjet, der viel zu niedrig flog, den Himmel. Einen Sekundenbruchteil später sah ich in fassungslosem Entsetzen zu, wie er in die Nordseite des Nordturms krachte. Patricks Turm. Ein Donnergrollen erschütterte die Erde.
»Nein«, flüsterte ich. Mir stockte der Atem, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Eine fast cartoonartige graue Rauchwolke stieg aus dem Gebäude auf, gefolgt von einem wogenden Flammenmeer, das die Wolke orangerot verfärbte und die Rauchfahnen, die sich in den dunklen Himmel schlängelten, schwärzte. Ich taumelte und fiel auf die Knie, als sich die ersten Rauchwolken lichteten und den Blick auf eine gezackte, klaffende Wunde freigaben, wo Patricks Büro sein sollte. »Nein«, flüsterte ich noch einmal.
Mir war vage bewusst, dass rings um mich herum Leute schrien, Autos quietschend zum Stehen kamen, Sirenen heulten. Ich rappelte mich hoch und begann, so schnell wie möglich nach Süden zu laufen, auf unsere Wohnung zu, die zehn Blocks nördlich des brennenden Turms lag. Ich musste zum Telefon gelangen. Ich musste da sein, wenn Patrick anrief, um mir zu sagen, dass es ihm gut ging.
Schließlich musste es ihm gut gehen, oder? Er würde mich nicht verlassen. Wir waren füreinander bestimmt. Wir sagten es uns jeden Tag. Er hatte gesagt, dass er an diesem Morgen ein Meeting hatte. Vielleicht war er noch gar nicht im Gebäude. Es gab tausend Gründe, weshalb er irgendwo anders als in seinem Büro sein könnte, das jetzt nur noch ein Loch im Himmel war.
Ein paar Minuten später stürmte ich in unsere Wohnung, atemlos und verschwitzt. Meine Haut war bereits mit einem dünnen Film aus Asche und Ruß von dem einstürzenden Himmel bedeckt. Ich hastete auf den Anrufbeantworter auf unserem Küchentresen zu, und mir stockte das Herz, als ich sah, dass das rote Licht stetig leuchtete, ohne zu blinken.
Patrick hatte nicht angerufen.
Mein Magen verkrampfte sich, und ich wollte mich am liebsten übergeben, aber ich wusste nicht mehr, wie. Mein Körper zitterte so heftig, dass meine Beine mich nicht mehr trugen, und ich sackte halb zu Boden, während ich mich am Küchentresen festklammerte. Sei vernünftig, ermahnte ich mich. Er konnte nur noch nicht zu einem Telefon kommen. Das Mobilfunknetz ist vermutlich überlastet. Er wird aus dem Gebäude evakuiert. Er wird bald anrufen.
Ich glaube, ich wusste bereits, dass ich mir etwas vormachte. Ich hatte es in dem Moment gespürt, in dem das Flugzeug in den Turm raste. Ich hatte es gewusst, als ich mich neben dem Hudson auf die Knie fallen ließ. Ich konnte es nur nicht ertragen, wirklich zu glauben, dass mein Ehemann – mein warmherziger, liebenswerter, witziger Ehemann – nicht mehr war. Es war unmöglich. Noch vor einer Stunde hatte ich ihn in meinen Armen gehalten.
Ich wählte Patricks Handynummer, aber ich wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Ich legte auf und versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Ich versuchte es auch in seinem Büro, obwohl ich wusste, dass das sinnlos war. Mir wurde schwindelig, während ich mir vorstellte, wie das Telefon in dem klaffenden schwarzen Loch klingelte, wo eben noch sein Schreibtisch, sein Computer und unser gerahmtes Hochzeitsfoto standen.
Nach einer Weile, noch immer zu wackelig auf den Beinen, um ohne Halt zu stehen, schleppte ich mich ans Küchenfenster und starrte schweigend hinaus. Ich sah den Turm brennen, sah die schwarzen Rauchwolken in den hellblauen Himmel aufsteigen, sah die Ascheflocken aus der Bläue hinunterdriften. Es geht ihm gut, redete ich mir ein. Es muss ihm gut gehen. Ich drückte immer wieder auf die Wahlwiederholung, hörte, wie sich immer wieder Patricks Mailbox einschaltete, und lauschte den ersten Silben seiner Ansage.
Ich schaltete den Fernseher ein, wofür ich dreißig Sekunden benötigte, da meine Hände so unkontrolliert zitterten. Der CNN-Nachrichtenmoderator redete mit einem Augenzeugen, der mit ruhiger Stimme berichtete, wie er ein kleines Flugzeug in das Gebäude hatte fliegen sehen.
»Nein, es war ein Jet«, flüsterte ich ins Nichts. »Es war kein kleines Flugzeug. Es war ein Jet.«
Der Fernseher dröhnte im Hintergrund. Vor mir brannte die Welt.
Um 9:03 Uhr starrte ich noch immer wie gelähmt vor Entsetzen aus dem Fenster, als ein zweiter Jet von Westen heranschoss, tief und schwer, und mitten in den Südturm raste, ein Feuerball, der in den klaren blauen Morgen explodierte. Tod regnete überall herab.
Fast eine Stunde später, nachdem ich auf einen Anruf gewartet hatte, der nie kam, hielt ich den Silberdollar umklammert, den Patrick mir am Morgen gegeben hatte – ein Glücksbringer, sagte er immer –, während ich durch einen Ascheregen zum World Trade Center rannte. Ich werde ihn selbst finden, sagte ich mir verzweifelt. Ich werde Patrick finden und ihn nach Hause bringen. Ich hatte eben die Warren Street überquert, als der Südturm, der als Zweiter getroffen wurde, in einem unheilvollen Getöse aus Rauch, Stahl und Schutt in sich zusammenstürzte. Ich blieb wie angewurzelt stehen, verblüfft, dass ein solch gewaltiges Gebäude einfach vom Himmel fallen konnte. Aber als sich der Rauch lichtete, stand der Nordturm noch immer. Das hieß, dass Patrick noch immer eine Chance hatte.
»Patrick!«, schrie ich aus vollem Hals, während ich die rußverschmierten Gesichter der Leute, die mir entgegenliefen, nach ihm absuchte. Ich rannte wieder los, auf das Chaos zu. »Patrick!«
Ich schrie, bis ich heiser war, bis meine Stimme nur noch ein Krächzen war. Ich war wie ein Lachs, der sich flussaufwärts kämpfte, während mit Asche und Staub bedeckte Leute nach Norden strömten und hustend und weinend und blutend vor dem Wahnsinn flohen.
Ich schaffte es bis zu einer Barrikade ein paar Blocks vor dem World Trade Center, bevor mich ein milchgesichtiger Polizist mit ausgebreiteten Armen aufhielt und mir zurief, ich müsse umkehren.
»Aber mein Mann …«, keuchte ich. »Er ist im Nordturm. Ich muss ihn finden. Er braucht mich. Ich muss helfen.«
»Ich kann niemanden durchlassen«, sagte er. »Gehen Sie nach Hause, Ma’am.« Sein Gesicht, bemerkte ich auf einmal, war von Ruß bedeckt und von dicken Tränen verschmiert.
»Nein, das kann ich nicht!«, begann ich zu protestieren, aber dann gab es noch ein Donnern, eine tiefe Erschütterung in der Erde, und wir standen schweigend zusammen da, während der Nordturm in sich zusammenstürzte.
»Es tut mir leid«, sagte der Polizist mit erstickter Stimme. »Es tut mir so leid.«
»Nein. Nein. Meinem Mann geht es bestimmt gut«, flüsterte ich, während meine Augen brannten. »Er würde mich nicht verlassen. Das würde er nie tun.« Bevor der Polizist etwas erwidern konnte, wandte ich mich ab, um nach Hause zu gehen, den Silberdollar, den Patrick mir an diesem Morgen gegeben hatte, noch immer umklammernd.
Die Beisetzung fand an einem Samstag statt. Man nannte mich eine der glücklicheren Witwen – als ob es so etwas geben könnte –, da man Patricks Leichnam gefunden und identifiziert hatte. Viele seiner Kollegen wurden einfach vermisst. Ihre Leichen würden nie gefunden werden.
»Wenigstens können Sie abschließen«, sagte ein übermüdeter Mitarbeiter der Gerichtsmedizin mit angespannter Stimme, als er mir die Unterlagen überreichte, die Patricks Schicksal besiegelten. »Er ist schnell gestorben, Miss«, ergänzte der Mann leise. »Er wusste gar nicht, wie ihm geschah.«
Aber ich wusste es.
Und in einem Moment, der niemals ungeschehen gemacht werden konnte, hatte meine ganze Welt aufgehört zu existieren.