Rachel Cohn & David Levithan sind beide renommierte Jugendbuchautoren und seit Langem miteinander befreundet. Sie lebt in New York City, er auf der anderen Seite des Hudson River in Hoboken/New Jersey. »Nick & Norah – Soundtrack einer Nacht« wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Der Tag fängt mitten in der Nacht an. Nichts zählt mehr, nur der Bass in meiner Hand, der Lärm in meinen Ohren. Dev brüllt, Thom taumelt herum, und ich bin das Uhrwerk, ich bin der, der das Ding, das alle Musik nennen, mit dem Ding, das alle Zeit nennen, zusammenbringt. Ich bin das Ticken, ich bin das Pulsieren, ich bin der, der in diesem Augenblick alles vorantreibt. Wir haben keinen Schlagzeuger. Dev hat sein T-Shirt in die Menge geworfen, Thom stolpert nach vorne, um Beifall zu kriegen, und ich bin der im Hintergrund, ich bin der, der hinter allem steckt. Ich bin der Generator. Ich höre genau zu und ich höre nicht zu, denn was ich spiele, ist nichts, über das ich nachdenke, es ist etwas, das ich im ganzen Körper spüre. Alle schauen uns an. Zumindest stelle ich mir das so vor, denn auf der Bühne bin ich blind. Der Club ist klein und wir sind jede Menge Lärm und ich bin der nichtschwule Bassist in einer Queercore-Band, die den Club mit ihrer Botschaft füllt. Dev singt und brüllt Fuck the Man / Fuck the Man / I really want to / Fuck the Man. Ich hämmere und durchbohre und zerfetze die Luft mit meinem Körper, während meine Finger hart die Akkorde schlagen. Schweiß, Hass und Hunger. Ich spüre alles gleichzeitig. Das ist die Erlösung oder vielleicht auch nur das Flehen nach Erlösung. Dev schreit und Thom kracht auf den Boden und obwohl meine Füße wie festgeschraubt sind, bewege ich mich durch den Raum. Ich blicke hinter die Scheinwerfer und sehe, wie die Leute vor der Bühne auf- und abwippen, wie sie hochhüpfen, wie sie Dev beobachten, als er das Mikro in den Mund nimmt und weiter seine Wörter herausbrüllt. Ich schleudere ihnen die Akkorde entgegen, ich mache sie klitschnass mit meinen Soundwellen, ich mache die Zeit so laut, dass sie sie hören müssen. Ich bin stärker als die Wörter und ich bin größer als die Bühne, auf der ich stehe, und dann entdecke ich sie in der Menge und es ist vorbei.
Ich hatte ihr gesagt, dass sie nicht kommen soll. Als sie mich in tausend Stücke zerfetzt hat, war es das Einzige gewesen, worum ich sie gebeten hatte. Lass mir das eine. Bitte komm nicht, wenn wir Musik machen. Ich will dich da nicht haben. Und sie hatte es versprochen und es war keine Lüge gewesen. Aber irgendwann wurde daraus eine Lüge, denn jetzt ist sie da, und meine Finger rutschen ab und mein Sound verliert seine Schärfe und ich will nichts mehr herausschreien, sondern nur noch aufschreien – und das alles in der kurzen Zeit, die ausgereicht hat, um die Form ihrer Lippen zu erkennen. Und dann – oh nein – sehe ich, dass sie nicht allein ist, dass sie mit einem Typen da ist, und wenn sie später sagen, dass sie gekommen sind, um mich mit der Band zu sehen, dann kann ich ganz sicher sein, dass das eine Lüge ist, dass sie nur gekommen ist, damit ich sie mit ihrem neuen Typen sehen kann. Es ist vorbei, hatte sie gesagt, und war das nicht die größte Lüge? Ich stottere mich durch die Noten und Dev ist schon eine Textzeile weiter und Thom spielt schneller, als er spielen sollte, deshalb muss ich mich ranhalten, da sehe ich, wie sie sich an den Typen lehnt und zum Takt den Kopf bewegt, als ob die Musik nur für sie ganz allein da wäre, und wenn ich könnte, würde ich jetzt alle Töne auslöschen und sie in einem so tiefen Schweigen versinken lassen, wie sie mir Schmerz zugefügt hat.
Ich versuche, mich von Dev und Thom nicht abhängen zu lassen. Wir sind heute Abend als The Fuck Offs angekündigt, das ist unser neuer Name, aber es wird wahrscheinlich nur drei Konzerte dauern, bis Dev wieder mit einem anderen ankommt. Wir waren schon Porn Yesterday, The Black Handkerchiefs, The Vengeful Hairdressers und None of Your Business. Ich mische mich da nicht groß ein. Nur wenn es darum geht, die wirklich bescheuerten Ideen von Dev zu verhindern. (»Hey Alter«, musste ich einmal zu ihm sagen, »niemand will eine Band hören, die Dickache heißt.«) Dev will denen mit den Piercings das ultimative Piercing verpassen und denen mit den Tattoos das ultimative Tattoo und auch den abgefucktesten Punks noch was geben, die zu unseren Auftritten kommen, ohne zu ahnen, dass sie am Ende einen Typen cool finden werden, der How big is your cocker spaniel? ins Mikro brüllt. Dev kommt aus einer Stadt in Jersey, die Lodi heißt, was für mich sehr korrekt ist, denn wenn er etwas ist, dann das Gegenteil von einem Idol. Thom kommt aus South Orange und hat das »h« in seinem Vornamen erst seit zwei Monaten. Ich bin aus Hoboken, so nah an New York, wie man nur sein kann, wenn man nicht aus New York kommt. In einer Nacht wie heute, wenn wir die Chance kriegen, mal nicht nur vor unseren Freunden zu spielen, würde ich notfalls durch den Hudson schwimmen, um in dieses Kellerloch von Club zu kommen. Und dann muss Tris auftauchen, und ich verblute auf der Bühne, ohne dass es einer merkt.
Take the Power / Fuck the Man / Take the Power / and Fuck the Man. Dev peitscht den Song voran und voran, bis er die Schallgrenze durchbrochen hat: die vierte Minute. Ich treibe nur noch dahin und warte auf das Ende. Thom sieht so aus, als ob er gleich mit einem Solo anfangen will, was nie eine gute Idee ist. Ich schraube meine Füße vom Boden los und drehe mich weg von ihr und versuche, so zu tun, als ob sie nicht da wäre, was der verdammt schlechteste Witz ist, über den ich jemals nicht lachen konnte. Ich versuche, Dev ein Zeichen zu geben, aber er wischt sich gerade den Schweiß von der Brust, zu beschäftigt. Doch dann hat er plötzlich den Energieschub, um das Ding zu Ende zu bringen. Er wirft die Arme hoch und brüllt, von mir kommt ein letzter schlingernder Akkord, dann ist es aus und vorbei. Die Menge antwortet uns mit einer Explosion ihres eigenen Lärms. Ich versuche, ihre Stimme herauszuhören, versuche, diesen einen Ton aus dem Schreien und Klatschen herauszufiltern. Aber sie ist für mich so fern und unerreichbar wie in der Nacht, als ich angefangen hab zu weinen und sie sich nicht umgedreht hat, um zu fragen, ob ich das alles überstehen würde. Drei Wochen, zwei Tage und dreiundzwanzig Stunden. So lang ist das her. So kurz. Und sie ist schon mit einem anderen zusammen.
Die nächste Band wartet am Rand der Bühne. Der Besitzer des Clubs macht eine Handbewegung, dass wir aufhören müssen. Ich bin nicht so völlig weggetreten, dass ich nicht zufrieden die »Zugabe, Zugabe«-Rufe registriere und das leicht enttäuschte Aufstöhnen, als das Licht angeht, damit die Leute schneller an die Bar finden können. Ich bin an diesem Abend das Mädchen für alles. Dev stürzt sich in die Menge, um sich seinen sexiesten Bewunderer herauszufischen, Thom verzieht sich verlegen zu seinem verständnisvollen Emo-Lover, nur ich muss sofort von der Musik runterkommen, um unser Equipment zusammenzupacken. Ich gehe von Instrument zu Instrument, drehe überall den Strom ab. Einer der Typen von der nächsten Band ist so cool und hilft mir, die Cases von hinten vorzuholen. Doch die Instrumente rühre selbstverständlich nur ich an, behutsam bringe ich sie zu Bett. Schluss für heute. Dann frage ich die andere Band, ob ich beim Aufbau helfen soll, und bin froh, als sie ja sagen und ich mich mit den Kabeln und dem Mischpult beschäftigen kann, statt meine ganze Energie darauf zu verschwenden, mich von Tris fernzuhalten.
Meine Augen suchen immer noch überall automatisch nach ihr. Mein Atem stockt mir immer noch, wenn ich sie plötzlich sehe und das Licht genau im richtigen Winkel auf sie fällt. Mein Körper will immer noch die Bewegungen ihres Körpers neben sich spüren. Die Entfernung zwischen ihr und mir – alles, was nicht Berührung ist, sondern Trennung – wiederholt ununterbrochen den Augenblick der Zurückweisung. Wir waren sechs Monate zusammen und in diesen sechs Monaten habe ich sie jeden Tag neu und anders geliebt. Es ist vorbei, kann damit nicht einfach Schluss machen. Alle Songs, die ich in meinem Kopf geschrieben habe, waren für sie, und ich kann jetzt nicht einfach die Stopp-Taste drücken, damit sie nicht mehr abgespult werden. Verdammt überflüssiger Soundtrack. Ich brauche mehr Zeit, hatte sie gesagt, und ich hatte darauf geantwortet, ja, bräuchte ich auch, mehr Zeit für uns. Und dann hat sie gesagt, Nein, für mich allein, und ich bin in das surreale-aberwahre Universum gerutscht, in dem es mit uns aus und vorbei war. Aber nicht für mich. Sie war noch da, aber nicht mehr für mich. Sie lebte nicht mehr in der Welt, zu der auch ich gehöre. Hier und jetzt.
Während ich das Equipment und die Instrumente irgendwohin räume, wo sie sicher sind, drehe ich den Leuten vor der Bühne den Rücken zu. Doch dann kommt der Augenblick, in dem ich mich umdrehen muss, denn man kann nicht endlos lang eine Wand anstarren, ohne sich wie ein Idiot zu fühlen. Die nächste Band rettet mich. Sie dreht die Lautstärke noch weiter auf als wir und stürzt uns alle in ein großartiges Chaos. Sie nennen sich Are You Randy?, und der Frontmann singt tatsächlich, statt nur zu keuchen und auf Joey Ramone zu machen. Ich wage einen Blick in die Menge und kann sie nicht mehr sehen. Ich sehe überhaupt nicht mehr viele weibliche Wesen – stattdessen eine wogende Masse von Jungs, die sich aneinanderdrücken und -pressen, während der Sänger ihnen erklärt, was Sache ist, und »I Want You to Want Me« und »Blue Moon« und »I Wanna Be Sedated« in tausend Stücke und Splitter zertrümmert und so tanzt, als müsste er seine eigenen sieben Schleier zerreißen.
Ich bin mir sicher, dass Tris diese Band mag, und die Tatsache, dass ich das weiß, versetzt mir erneut einen Stich, denn ob ich weiß, was sie mag oder was sie nicht mag, ist jetzt völlig egal. Ich will mehr über den Typ wissen, mit dem sie gekommen ist. Ob sie ihn schon gekannt hat, damals, vor drei Wochen und fast drei Tagen. Ich bin froh, dass ich ihn nicht richtig sehen konnte, denn sonst würde ich mir beide zusammen nackt vorstellen. Jetzt stelle ich mir nur sie nackt vor, und die Erinnerung an ihren Körper ist so lebendig, dass meine Finger sich danach ausstrecken, um sie zu berühren. Ich drehe meinen Kopf weg, als hätte ich sie tatsächlich gesehen, und sehe Thom und seinen Freund Scot zur Musik rumknutschen, als ob sie ganz allein auf der Welt wären. Dev ist wahrscheinlich an der Bar, so wie ich ihn kenne, und macht weiter Show. Wir sind alle noch nicht achtzehn, aber das spielt hier keine Rolle. Die anderen sind fast alle älter als wir, gehen aufs College – oder zumindest sollten sie das tun –, und ich spüre, dass ich hier nicht wirklich was zu suchen habe. Ein paar der älteren Jungs aus der Menge mustern mich, nicken mir zu. Ich habe keinen Sticker auf dem T-Shirt mit »Hallo, ich bin nicht schwul« oder so was. Manchmal nicke ich zurück, wenn ich das Gefühl habe, dass sie mich als Musiker meinen und nicht als Typen, von dem sie was wollen. Ich bleibe immer in Bewegung.
Ich finde Dev an der Bar, er spricht mit einem Typen, der so alt ist wie wir, einer von der Sorte, die einem immer irgendwie bekannt vorkommt. Als ich neben ihnen stehe, werd ich ihm von Dev als »Nick, unser Bassist, der wie ein Gott spielt«, und er mir als »Hunter von Hunter« vorgestellt. Dev bedankt sich bei mir, dass ich mich an diesem Abend um den Abbau und alles kümmere, und als danach das Gespräch nicht wieder in Gang kommt, merke ich, dass ich störe. Wenn es Thom wäre, nicht Dev, würde er wahrscheinlich spüren, wie aufgewühlt ich bin. Aber Dev muss man alles vorbuchstabieren, wenn es um Gefühle geht, und dazu bin ich jetzt nicht in der Stimmung. Deshalb sag ich ihm nur, wo ich alles hingeräumt habe, und tu so, als würde ich nach einem freien Platz an der Bar suchen, um was zu bestellen. Und als ich so tue, als wäre es die Wahrheit, merke ich, dass es gar nicht gelogen ist. Ich kann Tris immer noch nicht entdecken, und ein Teil von mir zweifelt daran, ob sie es vorhin überhaupt war. Vielleicht war es nur ein Mädchen, das Tris sehr ähnlich sieht, was erklären würde, warum sie diesen Typ neben sich hatte, der nicht nur irgendwer war.
Are You Randy? sind am Ende angekommen, die Bandmitglieder hören nacheinander zu spielen auf, bis nur noch der Sänger einen letzten einsamen Ton verklingen lässt. Ich wünschte mir für die Band, dass ich erzählen könnte, der Club sei daraufhin in andächtiges Schweigen verfallen, aber die Wahrheit ist: Es wurde auf halber Lautstärke losgequatscht. Aber das ist immer noch besser als der Durchschnitt und sie kriegen ihren Beifall. Ich klatsche auch und sehe, wie das Mädchen neben mir zwei Finger in den Mund steckt, um ganz altmodisch darauf zu pfeifen. Der Ton kommt klar und energisch, und als ich ihn höre, muss ich an die Baseballspiele in meiner Kindheit denken. Das Mädchen trägt tatsächlich ein Flanellshirt, kaum zu glauben, und ich kann nicht sagen, ob sie das macht, weil sie die einzige Mode der letzten fünfzig Jahre, die bisher noch kein Revival hatte, zum Trend erklären will, oder ob sie es einfach nur anhat, weil das Ding wirklich so bequem ist, wie es aussieht. Sie hat sehr blasse Haut und einen Haarschnitt, der »Privatschule« verkündet, auch wenn sie die Haare verstrubbelt hat, damit keiner es merkt. Die nächste Band war Vorgruppe von Le Tigre auf ihrer letzten Tour, und ich nehme an, dass das Mädchen ihretwegen hier ist. Wenn ich anders drauf wäre, dann würde ich vielleicht versuchen, mit ihr ein Gespräch anzufangen, einfach so, um sich nett zu unterhalten. Aber ich spüre genau, wenn ich jetzt mit irgendjemand anderem rede als mit ihr, dann wird dabei nichts herauskommen.
Thom und Scot wären wahrscheinlich einverstanden, dass wir jetzt fahren, wenn ich sie darum bitten würde, aber Dev hat ziemlich sicher noch nicht rausgefunden, ob er lieber mit uns kommen oder hierbleiben will, und ich will ihm nicht den Spaß verderben und jetzt vor ihm aufkreuzen und ihn danach fragen. Ich sitze hier fest und ich weiß es und dann schaue ich nach rechts und in diesem Augenblick entdecke ich, wie Tris und ihr neuer Typ sich an die bierverklebte Bar schieben, um ein zweites Mal irgendwas zu bestellen, was ich nicht habe und nicht mehr haben will. Sie ist es, ganz definitiv, und ich sitze hier definitiv in einer beschissenen Falle, denn jetzt drängen alle zur Bar, und wenn ich von hier fortwill, muss ich mir den Weg freiboxen, und wenn ich mir den Weg freiboxe, dann sieht sie, dass ich auf der Flucht bin, und dann weiß sie, dass ich vor ihr fliehe und dass ich es wegen ihr hier nicht mehr aushalte, und auch wenn das die beschissene Wahrheit ist, braucht sie das nicht auch noch vorgeführt zu bekommen. Sie sieht wahnsinnig sexy aus, und ich bin das Gegenteil davon, und der Typ, mit dem sie gekommen ist, hat seine Hand auf ihren Arm gelegt, und zwar so, wie es ein schwuler allerbester Freund niemals, aber wirklich niemals tun würde, und das hab ich jetzt vorgeführt bekommen. Ich bin das Auslaufmodell und er ist der Newcomer und ich könnte mit meinem Bass ganze Lichtjahre zum Ticken und Pulsieren bringen, das würde nichts, absolut gar nichts ändern.
Sie sieht mich. Sie kann nicht so tun, als ob das für sie eine Riesenüberraschung wäre, weil sie verdammt genau wusste, dass ich hier sein würde. Deshalb lächelt sie ein kleines Lächeln und flüstert dem Newcomer irgendwas ins Ohr, und an ihrem Gesicht kann ich ablesen, dass die beiden, wenn sie gleich ihre Getränke in der Hand haben, rüberkommen und Hallo und Guter Auftritt sagen werden, und dann wird sie – kann sie wirklich so dumm und grausam sein? – mich Wie geht’s dir? fragen. Und ich kann den Gedanken daran nicht ertragen. Ich sehe das alles auf mich zukommen, und ich weiß, dass ich irgendwas – egal was – tun muss, um es in letzter Sekunde zu verhindern.
Und so kommt es, dass ich, Nick O’Leary, der Bassist einer mittelmäßigen Queercore-Band, mich zu dem Mädchen in dem Flanellshirt umdrehe, das ich überhaupt nicht kenne, und frage:
»Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam, aber könntest du für die nächsten fünf Minuten meine Freundin spielen?«