Lisa Graf-Riemann, in Passau geboren, studierte Romanistik und Völkerkunde und war als Redakteurin und Autorin für große Schulbuchverlage tätig. Sie schreibt Reisebücher und Kriminalromane.
Ottmar Neuburger, in Simbach am Inn geboren, studierte Neuere Deutsche Literatur, Physik, BWL und VWL. Er war lange im IT-Bereich tätig und arbeitet heute als Projektmanager und Autor.
Beide Autoren leben und arbeiten im Berchtesgadener Land.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/spiderplay/RyanJLane
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
ISBN 978-3-86358-393-4
Originalausgabe
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Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschiene den Menschen alles, wie es ist: unendlich.
Denn der Mensch hat sich selbst eingesperrt, sodass er alle Dinge nur durch die engen Ritzen seiner Höhle sieht.
William Blake (1757 – 1827), »The Marriage of Heaven and Hell«
Berchtesgaden, Sommer 2011
Sie ist ihnen jetzt schon fast zwei Stunden durch den Berg gefolgt, eigentlich ging es immer bergauf. Wahrscheinlich hätte sie es auch in der halben Zeit geschafft, aber sie muss sich an das Tempo der Vorangehenden anpassen. Bis jetzt ist es trocken geblieben, und die Höhlengänge waren gut begehbar. An manchen Stellen sind die Durchschlupfe ziemlich eng, dann wieder weiten sich die Gänge zu Hallen. Andere Expeditionen würden ihnen Namen geben: Dom, Tropfsteinkapelle und so weiter, aber für Leni ist es nur das Ziel, das zählt, und dass sie nicht zu früh von den anderen entdeckt wird. Die unterirdische Landschaft ist eher nebensächlich. Außerdem ist ihre Stirnlampe kein Scheinwerfer, und wenn der Dom nicht ausgeleuchtet wird, erkennt man ihn nicht einmal. Wichtig ist nur, dass sie an keiner Engstelle hängen bleibt. Überhaupt ein Wunder, dass die anderen so gut durchkommen, sie müssen das ganze letzte Jahr über hart trainiert haben.
Plötzlich dringt Licht in den Gang, in dem sie gerade wartet, damit sich ihr Abstand zu den anderen vor ihr ja nicht verringert. Sie tastet sich vorwärts, blickt nach vorn, und was sie nun erkennt, kommt ihr nicht vor wie ein Traum, sondern eher wie ein Dokumentarfilm mit Originalaufnahmen aus der Nachkriegszeit. Eine Halle, die mit Scheinwerfern ausgeleuchtet ist. Eine von Menschen gesprengte Höhle, die Decke mit Bohrmaschinen oder Pickeln bearbeitet, eine riesige Tiefgarage im Berg. Am Boden liegen verpackte Bündel wie Trophäen nach einer Treibjagd. Sie hat solche Bilder bereits gesehen. Es sind Beutestücke, die da nebeneinanderliegen, gebündelt, zählbar, in Reihen parallel ausgerichtet. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig und so fort. Kleinere Bündel, größere, schmälere, breitere, längliche und rundlichere, aufmarschiert wie die Krieger der Terrakotta-Armee des ersten Kaisers von China. Ja, sie kennt solche Bilder in Schwarz-Weiß, auf denen auch immer Soldaten oder uniformierte Wächter mit Maschinengewehren zu sehen waren. Und das dahinten, kann es sein, dass das eine Rakete ist? Ist es vielleicht doch ein Traum? Einer der Männer, den sie in dieser Umgebung besonders unheimlich findet, erteilt den anderen Anweisungen. Plötzlich löst sich über ihr ein Steinbrocken und trifft sie an der Schulter. Als sie laut aufschreit, stürzt der Mann, den sie am meisten fürchtet, auf sie zu, packt sie grob am Arm und zerrt sie zu den anderen. Was werden sie jetzt mit ihr machen?
Der Mann, der sie immer noch festhält, will sie beseitigen. Weg mit ihr, bedeutet seine Handbewegung, daran gibt es keinen Zweifel. Nicht der Berg ist jetzt ihr Schicksal, sondern ihre Neugier und die ausgesprochen blöde Idee, sich ganz allein hier hineinzuwagen, um die anderen zu verfolgen und ihren Plan und ihr Geheimnis aufzudecken. Selbstüberschätzung, natürlich, so könnte man es auch nennen. Sie schafft ja alles allein. Immer hat sie alles allein geschafft. Nicht ein einziger Mensch weiß, wo sie sich befindet.
Sie merkt, wie eine Schwäche sie überkommt. Die Angst schlägt sich auf den Kreislauf. Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden. Wehr dich, du kannst doch jetzt nicht einfach so stillhalten. Jetzt wehr dich schon! Es geht ums Ganze. Ich will noch nicht sterben. Aber sie ist wie gelähmt. Gerade sieht es so aus, als wären die anderen vier nicht einer Meinung. Doch was nützt es ihr, wenn der eine sie erschießt und die anderen das scheiße finden? Nichts nützt ihr das! Nun greift der zweite Mann den ersten an. Sie ringen miteinander. Der, der sie festgehalten hat, schiebt den anderen zur Seite und zieht eine Pistole. Ein Schuss kracht und hallt von den Wänden wider. Sie erschrickt zu Tode und sinkt zu Boden.
Kiew, Sommer 2010
Er tastet sich an den rauen Felswänden entlang. Es ist kalt und feucht. Seinen Atem kann er noch sehen, aber seine Lichtquelle wird immer schwächer. Etwas rumpelt, ein dumpfes Grollen ist zu hören. Die Erde bebt. Eine Frau schreit. Marjana? »Ma …« Es gelingt ihm nicht, ihren Namen zu rufen. Es ist, als hätte er einen Knoten in der Zunge.
Dann schlägt Wiktor endlich die Augen auf. Wo ist er? Was ist los? Die Frau, die geschrien hat, ist nicht Marjana. Die Frau liegt zusammengerollt im Mittelgang und wimmert. Über ihr baumelt eine Traube von Sauerstoffmasken, die aus einer Klappe über den Sitzen gefallen ist. Als Wiktor nach oben sieht, bemerkt er braune Spuren an der Unterseite der Gepäckkästen. Die Zeitung, in der er gerade noch gelesen hat, ist weg, ebenso seine Brille. Ein leerer Becher Cola wandert auf dem Tischchen vor ihm langsam hin und her. Nachdem das Personal der jammernden Frau aufgeholfen hat, bleibt sie an die Sitzreihe gelehnt stehen und hält sich den Kopf.
Wiktor sucht seine zwei Begleiterinnen unter den Passagieren. Da vorn sitzen sie. Marjana winkt ihm mit einer Zeitschrift. Also waren sie doch nicht so unbedacht, ihre Sicherheitsgurte trotz der Warnungen des Kapitäns zu öffnen. Leichte Turbulenzen waren angekündigt worden. Wiktor war eingeschlafen und hatte statt des Gewitters einen Bergsturz geträumt. Ein Unwetter ist nichts Besonderes. Und eigentlich ungefährlich, solange man angeschnallt ist. Als Pilot versucht man immer, ein Gewitter zu über- oder zu umfliegen, aber manchmal ist das eben unmöglich. Und obwohl ein Flugzeug ein Faraday’scher Käfig ist, dringt bei einem direkten Einschlag der Blitz meist oben oder seitlich ein und unten wieder aus. Dabei entstehen kleine Brandlöcher, und anschließend muss man das Material komplett überprüfen und die Löcher reparieren. Nur sehr selten stören Blitze die Elektronik eines Flugzeugs oder bringen es gar zum Absturz.
Das alles weiß Wiktor im Gegensatz zu den anderen Passagieren, deshalb sind sie aufgeregt und fürchten sich und er nicht. Hoffentlich beruhigt sich die Frau, die nicht angeschnallt war, bald wieder und die Stewardessen bringen etwas zu trinken. Wiktor hat Durst. Seine Lesebrille kann er wohl vergessen. Bis er sie wiederfindet, werden sie längst in Kiew gelandet sein. Kein Wunder, dass er bei den Turbulenzen einfach geschlafen und von einer Felsenhöhle geträumt hat. Als die Stewardess, eine echt wasserstoffblonde Kiewerin mit erstaunlich langen Zähnen, an seinem Sitz vorbeikommt, bittet er sie um ein Getränk. Ob es ein Cognac sein darf oder ein kleiner Wodka, fragt sie.
»Um Himmels willen«, sagt Wiktor. »Sehe ich so aus, als machten mir Gewitter beim Fliegen etwas aus? Alles, nur keinen Alkohol. Und vielleicht hätten Sie auch etwas Süßes, nur eine Kleinigkeit?«
Mit der Antwort hat er seinen Status als toller Hecht mit einem Schlag eingebüßt, und als die Blondine ihm wenig später eine Cola light mit einem eiskalten, in Plastik verpackten Keks serviert, liegt nur noch Mitleid in ihrem Blick.
Nach der Landung treffen sie sich kurz am Gepäckband, dann verschwinden Luba und Marjana in den Toiletten. Wiktor hütet das Handgepäck. Als ihre Koffer auf dem Band auftauchen, sind die Damen wieder da, Marjana frisch geschminkt, wie aus dem Ei gepellt. So braun ist sie in den Bergen geworden, dass ihr Make-up-Ton jetzt viel zu hell ist und ihr wie eine Maske auf dem Gesicht liegt. Was muss sie sich auch so zukleistern? Aber klar, sie sind wieder daheim, im Land der geschminkten und adrett zurechtgemachten Damen in Kostümchen und Stöckelschühchen. In der Regel sind die Ukrainerinnen eine ausgesprochene Augenweide, und auch Wiktor ist ein Nutznießer dieser Putzsucht. Nur Luba schafft es immer wieder, sich diesem Diktat zu entziehen. Sie pflegt ihren Bikerstil und stemmt sich gegen das vorherrschende Frauenimage. Sie ist jung.
»Und ich hab schon gedacht, es war alles umsonst«, sagt Marjana. »Die ewige Kraxelei in diesen schrecklichen Bergen, die Höhlenkriecherei, einfach alles. Die ganze Aufregung und dann ein Blitzeinschlag, ein kleiner Triebwerksschaden. Die Elektronik an Bord versagt, und es geht abwärts, irgendwo über Polen oder der Westukraine. Der Herr Ex-Hubschrauberpilot hat ja alles verpennt. Ich habe schon befürchtet, die Frau, die über dir an der Decke schwebte, würde dir in den Schoß fallen.«
»Pech gehabt«, sagt Wiktor.
»Sie sah aus wie eine Mutti aus der Vorstadt«, antwortet Luba. »Also nichts für dich.«
»Aha. Hast du dir den Absturz auch so hübsch wie Marjana ausgemalt, Lubotschka?«
»Das wäre ein ziemlich übler Scherz gewesen. Dabei ist das Universum doch auf unserer Seite. Ohne Beistand von oben hätten wir das doch alles gar nicht geschafft, oder, Wiktor?«
Selbst die Zöllnerinnen, auf die sie nun mit ihrem Gepäck zurollen, erscheinen Wiktor in ihren grünen Uniformen adretter als sonst. Als hätten sie alle an einer Typberatung teilgenommen. Wahrscheinlich wegen der aus ganz Europa erwarteten Besucher. Dieses Mal schlendern sie ganz lässig durch die Kontrollen, denn sie haben ja tatsächlich nichts zu verzollen, sind einfache Touristen, die nach Hause kommen, sonst nichts.
Sie spazieren durch das nagelneue Terminal F. Der Boden wie aus zweifarbigem Marmor, grau und beige. Durch die weiß lackierte Stahlgerüstkonstruktion, die ein Glasdach trägt, dringt das Tageslicht. Wolkenloser Himmel, strahlende Sonne, draußen muss es heiß sein. Das Flughafengebäude ist voll klimatisiert, angenehm kühl und schon unglaubliche achtzehn Monate vor Eröffnung der Europameisterschaft fertig geworden. Die EM-Plakate hängen auch schon, überall die Blau-Gelben mit dem Superstar Schewa, der zu seinen letzten Länderspielen auflaufen wird. Fußball und Nationalismus. Ein Haufen blöder Hoffnungen, von denen am Ende wie so oft nichts bleiben wird außer Suff und Enttäuschung.
Eine Crew der Ukraine International Airlines kommt ihnen entgegen. Ein Schwarm flotter Bienen in blauen Kostümen, weißen Blusen und gelben Halstüchern, die den Platzhirsch mit seinem dicken Pilotenkoffer flankieren. Aber dieses Pfannkuchengesicht kennt Wiktor doch. Sein alter Freund und Exkollege Boris! Schon lässt Boris den Koffer stehen und stürmt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Es gibt kein Entrinnen. Bevor Wiktor noch etwas sagen kann, wird er an Boris’ breite Brust gequetscht, und seine Pranken klopfen ihm die Schultern, als wären sie Schnitzel.
»Wiktor, altes Haus! Schon wieder zurück aus Deutschland? Ist wohl nichts geworden mit einem Posten bei der Lufthansa, wie? Har, har! Oder hat dich das Heimweh gepackt?« Boris hat ihn endlich losgelassen, und Wiktor kann wieder Luft holen. Der Pilot mustert ihn von Kopf bis Fuß und bleibt an den klobigen Bergstiefeln hängen, die Wiktor trägt, ein Teil seiner Berchtesgadener Neuerwerbung für Höhlenforscher.
Doch Wiktor hat jetzt keine Lust auf Erklärungen und Tarnmanöver und sowieso keine Zeit, denn er sieht Luba und Marjana gerade noch aus dem Terminal entschwinden. Er fasst es nicht. Die beiden hauen einfach ohne ihn ab? Da haben sie gerade eines der größten, wenn nicht das größte Abenteuer ihres Lebens miteinander erlebt und wären dabei beinahe hopsgegangen, und jetzt ziehen die beiden Ladys einfach so dahin? Die letzte Ecke ihrer Rollkoffer verschwindet gerade durch eine automatisch schließende Glastür.
»Boris, ein andermal, ja? Ich hab’s furchtbar eilig«, sagt Wiktor und entwindet sich der dunkelblauen breiten Brust, die ihm den Weg verstellt. »Mein Sohn bekommt gerade sein erstes Kind!«, ruft er dem Flugkapitän noch zu, der ihm hinterherstarrt.
»Du hast es ja verdammt eilig, Opa zu werden, alter Haudegen«, wundert sich Boris, aber Wiktor ist schon davon, so schnell sein Koffer rollt. Es fühlt sich beschissen an, diesen Weibern hinterherzurennen, aber genauso blöd wäre es, sich einfach so abservieren zu lassen. Frauen sind nun einmal von Grund auf egoistische, eigennützige Wesen. Denken immer nur an sich. Und ist das Geld erst auf dem Konto, geht’s sofort ab ins neue Highlife. War da nicht noch so ein alter Knacker dabei? Brauchen wir den eigentlich noch? Verdammte Glastür, warum geht die eigentlich nicht auf? Was ist denn jetzt schon wieder los? Wiktors Nase berührt fast den Spalt, an dem die Tür schon längst hätte auseinandergleiten müssen. Auf der anderen Seite steht jetzt jemand vom Flughafenpersonal und macht eine Bewegung mit beiden Händen, mit der man normalerweise Hühner aus einem Gemüsebeet verscheucht. Von den Lippen des Mannes kann Wiktor ein Wort ablesen. Es heißt: Zu-rück! Er tritt einen Schritt zurück, und wirklich, die Tür hat kapiert, dass er durchwill. »Fehlkonstruktion«, raunzt er dem Kerl zu, der ohne Unterlass seinen geschniegelten Kopf schüttelt. Noch nie so einen Blödmann gesehen, denkt Wiktor und fällt fast über Marjanas Rollkoffer. Da sind sie doch schon, die beiden Puten, die sich einfach so davongemacht hätten, ohne sich auch nur von ihm zu verabschieden.
»Ich dachte, wir wären ein Team«, zischt Wiktor den beiden mit zusammengepresstem Kiefer zu. Jetzt nur nicht vollständig ausrasten, schließlich steht er noch immer unter Aufsicht zumindest eines Vertreters des Flughafenpersonals.
»Wir waren ein Team«, sagt Marjana. »Jetzt sind wir wieder jeder für sich. Ich mit meinen Leuten, ihr mit euren.«
»Und wer sind deine Leute, hm?«, fragt Wiktor. »Ich habe nur noch einen, und das ist mein Sohn. Das war’s auch schon. Und du?«
»Das geht dich wirklich nichts an, Wiktor. Nur weil wir auf Berge gestiegen und in Höhlen rumgekrochen sind, macht uns das nicht gleich zu Freunden fürs Leben.«
Kann dieses Weib wirklich so kalt und blasiert sein? »Ach, und dass wir zusammen den größten Schatz der Menschheit entdeckt, einen Bergsturz und den Anschlag eines Killers überlebt haben, das zählt auch nicht?«, fragt Wiktor.
»Sorry!« Luba haut in die gleiche Kerbe wie Marjana.
Das ist das wirklich Widerliche, dass diese Frauen nicht nur zusammen aufs Klo rennen, sondern dass sie, wenn’s denn sein muss, gegen einen Mann zusammenhalten wie Pech und Schwefel.
»Sorry!«, sagt Luba noch einmal. »Und die einzige fleischliche Entgleisung da unten in dem Raketenbauteil auch nicht. Das war ein Unfall, ein Zwischenfall, ein Exzess. Aber jetzt geht das Leben weiter. Wir trennen uns, wie wir uns gefunden haben. Wir werden doch jetzt zusammen keine Familie gründen. Ich zum Beispiel habe auch schon Eltern.«
Wiktor ist perplex.
»Mach den Mund wieder zu, Wiktor.« Marjana setzt sich mit ihrem Koffer in Bewegung. »Und tu bloß nicht so überrascht. Sag nicht, du hättest dir mehr Anhänglichkeit von uns erwartet. Du kennst uns doch jetzt schon ein paar Wochen. Können wir dich immer noch überraschen?«
Notgedrungen greift auch Wiktor nach seinem Koffer und trottet hinter den beiden her. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal stehen bleiben, wenn er sich mit Atemnot und Herzrasen am Boden krümmen würde.
»Was willst du?«, fängt Luba wieder an. »Keiner wollte diesmal Marjanas Reizwäsche und ihre Dildos sehen. Das Gepäck ist einfach durchgewinkt worden. Wir haben weder Blüten noch echte Euros geschmuggelt, da die brav auf unseren österreichischen Konten liegen, und wenn wir nicht den Fehler machen, alles auf einen Schlag abzuheben, dann werden sie uns auch in Ruhe lassen. Ist doch alles bestens!«
»Und wenn keine von euch Puten auf die Idee kommt, mit dem Geld um sich zu werfen. ›Arbeitslose Historikerin kauft Zwölf-Zimmer-Villa‹ oder ›Mädchen aus der Fischfabrik Uschgorod zahlt x-tausend in einen Hilfsfonds für Strahlenopfer ein‹. Solche Überschriften möchte ich nicht in der Zeitung lesen müssen. Aber so dumm seid hoffentlich nicht mal ihr beide.«
»Oh«, macht Marjana, rollt ihren Koffer auf Wiktors Zehen und lässt ihn dort stehen. »Puten sollen wir sein? Das habe ich ja schon lange nicht mehr von dir gehört. Ungefähr seit Frankfurt, wenn ich mich recht erinnere. Beginnen wir jetzt wieder von vorn? Spielst du jetzt wieder den Macho und behandelst uns wie zwei Dummchen?«
»Wenn ihr euch so benehmt, dann behandle ich euch auch so, verdammt! Und jetzt Schluss mit dem Blödsinn, darum geht’s doch gar nicht.«
»Und worum geht’s dann, bitte schön?«, fragt Luba.
»Zum Beispiel um diese winzige Kleinigkeit: Wer dackelt jetzt zu Jurij und holt sich bei ihm eine Tracht Prügel für unsere Zwangsanleihe ab?« Wiktor schlägt einen Haken nach rechts und steuert den äußersten Tisch einer Café-Bar an, die mit Spezial-EM-Cocktails mit aufgestecktem Mini-Fußball wirbt.
»Ist Jurij nicht dein Freund?«, fragt Luba. »Oder soll ich gehen, weil er auf junge Frauen steht? Bestimmt steht er auf mich.«
»Oder ich«, schlägt Marjana vor und zieht eine Papierserviette aus dem Spender, mit dem sie die Sitzfläche des Plastikstuhls abwischt, bevor sie sich setzt. »Wenn ich mich zwei Tage im Schönheitssalon aufpeppen lasse, sehe ich auch wieder umwerfend aus. Außerdem bin ich eine Respektsperson.«
»Ach ja«, feixt Wiktor, »wie konnte ich das nur vergessen. Du bist ja Akademikerin. Natürlich, der Pate von Kiew wird vor dir in Ehrfurcht erstarren. Akademikerinnen haben bei ihm normalerweise freie Hand, vor allem, wenn sie plus/minus fünfzig sind. Du wirst ihn glatt umhauen.«
»Erinnere mich ja nicht an mein Alter«, erwidert Marjana und bestellt für alle Kaffee und für sich dazu noch ein Glas ihres Lieblingswodkas. »Was meinst du, woran ich bei jeder einzelnen Kletter- und Abseilaktion in den Bergen gedacht habe? Aber ich bin zäh, Wiktor, und hell auf der Platte. Und ich habe Stil. Gerade im Alter ist das wichtig, finde ich.«
»Toll«, sagt Luba. »Ihr zwei zankt euch schon wieder genau wie bei unserer Abreise aus Kiew. Als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Als hätte sich rein gar nichts verändert. Macht nur so weiter, wenn ihr wollt, aber ich halte mich da raus und verschwinde dann einfach, wenn’s recht ist.«
»Ja, Mädchen, geh du nur die Welt retten«, sagt Wiktor. Marjana hält Luba zurück, die tatsächlich Anstalten macht aufzustehen. »Aber pass bloß auf, dass du dich dabei nicht verhebst. Kostet etwas mehr als ein paar Prada-Schühchen, die Welt. Wahrscheinlich bist du schneller pleite, als du denkst, denn irgendwer wird dir Ahnungsloser schon das süße Köpfchen verdrehen, und wenn du danach wieder zu dir kommst, wirst du feststellen, dass es ihm gar nicht um deinen Kopf oder um andere Körperteile von dir, sondern allein um dein Geld gegangen ist. Denn du wirst feststellen, dass es weg ist. Futsch. Verstehst du?«
»Ziehst du mal wieder diese Papanummer ab?«, mault Luba. »Du bist und bleibst einfach ein Idiot, Wiktor. Zonenfledderer, abgehalfterter Hubschrauberpilot. Kaum sind wir zurück in Kiew, bricht dein wahres Ich wieder voll durch. Erst großer Held, dann aber doch nur wieder das kleine Macho-Arschloch, das du immer schon warst: von dem Augenblick an, als du mich in der Zone angehalten hast, als du uns in Milas Haus belauscht hast und du mir später im Café Puschkin die Karte klauen wolltest.«
»Macho-Arschloch?«, schreit Wiktor. »Ohne mich wärt ihr doch nie aus Kiew rausgekommen, ihr zwei Leuchten! Für das Geld, das ich für die Reise akquiriert habe, hättet ihr lange sparen und entweder eine Bank überfallen oder eine Puffmutter beerben müssen.«
Stilles Augenrollen, während die Kellnerin den Kaffee und den Wodka bringt.
»Ich mache es. Ich geh zu Jurij.« Wiktor rührt allen verfügbaren Zucker in seinen Kaffee. »Aber eine von euch sollte mir Feuerschutz geben. Natürlich nicht wörtlich. Mit einer Knarre könntet ihr sowieso nicht umgehen. Aber ihr solltet Bescheid wissen und die Polizei verständigen, falls ich nicht mehr wiederkomme.«
»Und was sollen wir den Bullen sagen?«, fragt Luba. »Die Wahrheit vielleicht?«
»Dass Jurij der Pate und ich der Kurier war, sonst nichts, Baby. Der Rest gehört dann zwar euch, aber ohne mich nutzt euch das auch nicht viel.«
»Klar, weil du unersetzlich bist, Wiktor, und wir nichts als dumme Puten. Wir wissen Bescheid«, sagt Luba.
»Und wann gehst du zu Jurij?«, fragt Marjana.
»Sobald ich das Geld habe.«
»Du gibst ihm das Doppelte von dem, was wir uns geliehen haben, wie besprochen.« Marjana trinkt ihr Glas Wodka in einem Zug leer.
»Das mache ich. Ich hoffe, er gibt sich damit zufrieden.«
»Und wenn nicht?«, fragt Luba.
»Dann rufe ich dich in der Fabrik an und frage dich, was ich tun soll, Luba.«
Sie zieht eine Schnute.
»Und wenn er seinem toten Killer, diesem Wladimir, immer noch hinterhertrauert?«, fragt Marjana. »Kann ja sein, er glaubt dir nicht, dass du nichts mit seinem schrecklichen Tod zu tun hast.«
Wiktor ist, als habe gerade jemand am Lichtschalter gedreht oder alle Vorhänge zugezogen, so dunkel wird es um ihn herum. Das, was Marjana da ausspricht, ist seine allergrößte Angst. Nicht das Geld. Und er hat immer noch keinen Plan, was er dann machen wird.
»Aha, darüber hast du wohl auch schon nachgedacht?«, fragt Marjana. »Du hast keine Idee? Schön blöd, denn ich glaube fast, dass es genau so kommen wird.«
»Ich erzähle ihm, wie es wirklich war.« Sogar in seinen eigenen Ohren hört sich das ziemlich naiv an.
»Tatsächlich?« Marjana triumphiert. »Und wie erklärst du ihm, dass wir in den Alpen waren und nicht in Frankfurt geblieben sind? Haben wir vielleicht Bergurlaub gemacht?«
»Na klar, Urlaub!«
»Und du glaubst ernsthaft, dieser Killer Wladimir hat nichts rausgefunden und war nur wegen Jurijs Kröten hinter uns her? So wie auch dieses Frankfurter Rattengesicht?«
Marjana hat recht. Jurij muss irgendwas wissen, zumindest ahnen, denkt Wiktor und stöhnt auf.
»Du brauchst dringend einen Plan, Wiktor.« Marjana lässt nicht locker. »Wenn du keinen hast, lässt du das Geld am besten durch einen Kurier hinbringen, tauchst unter und hoffst, dass du dem Kerl in deinem Leben nie wieder begegnest.«
»Ich hör hier immer ›untertauchen‹«, braust Wiktor auf. »Meinst du etwa, der Pate findet mich nicht, hier in seiner Stadt? Außerdem redest du mit einem Mann, nicht mit einer Memme. Wiktor ist kein Feigling, falls du das selbst noch nicht gemerkt hast, Frau Professor. Untertauchen kommt für mich nicht in Frage. Ich muss zu ihm.« Wiktor stürzt seinen Kaffee hinunter. »Mitten ins Auge des Hurrikans.«
»Nimm mich mit«, sagt Marjana.
»Oh, du willst mich beschützen, ja? Womit denn? Mit deinen weiblichen Reizen oder mit deinem Regenschirm, mit dessen Spitze du Jurij im Fall der Fälle aufspießen wirst? Jetzt schau nicht so. Deine Reize genügen schon noch einem Haudegen wie Jurij oder einem alten Sack wie mir. Und hast du nicht gesagt, du wolltest dich sowieso noch in einen Schönheitssalon begeben?«
Marjana verdreht die Augen. »Ich dachte nicht an Schirmspitzen. Eher daran, dass er dich vielleicht nicht auf der Stelle umbringt, wenn ich dabei bin. Beißhemmung in Anwesenheit von Damen, verstehst du?«
»Guter Witz«, meint Wiktor. »Aber wahrscheinlicher ist doch, dass wir dann beide über die Klinge springen. Die Reihenfolge ist dabei ganz egal. Na gut, ich überlege mir einen Plan.«
»Und gibst du uns Bescheid?«, fragt Marjana.
»Wir könnten uns ja bei deinem Sohn im Café treffen«, schlägt Luba vor.
»Nein«, zischt Wiktor. »Lasst Mitja aus dem Spiel. Es kann schließlich sein, dass wir überwacht werden.«
»Überwacht?«, schmunzelt Luba. »Von dem da oben?«
»Nein, von dem, von dem wir die ganze Zeit sprechen.«
»Oh, also der, dessen Name nicht genannt werden darf«, höhnt Luba.
Aber Wiktor geht nicht darauf ein. Er weiß sehr gut selbst, vor wem es sich lohnt, Angst zu haben und vor wem nicht. Jurij gehört eindeutig in die Kategorie Nummer eins, in die der Leute, vor denen man unbedingt Angst haben sollte.
***
»Was machst du denn hier?« Jurij sieht zum Beifahrersitz hinüber. »Jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt.«
Jurijs neuer Wagen hat dreihundertfünfzig PS und fährt kaum schneller als zweihundertsiebzig Stundenkilometer, dann ist Schluss, obwohl es ein Porsche ist. Daran ist der Hybridantrieb schuld. Jurij meint, es sei zwar ziemlich blöd, sich einen angeblich umweltfreundlichen Porsche zu kaufen, aber er steht dazu. Er hat sich den Wagen seiner Tochter zuliebe angeschafft. Natascha hat gerade ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert und will die Umwelt retten. Jurij weiß, dass ihr das nicht gelingen wird, aber er liebt sie über alles. Was soll’s, ob er jetzt dreihundertfünfzig oder fünfhundert PS unterm Arsch hat, ist ja schlussendlich auch egal. Schneller als erlaubt schafft der Wagen allemal, und seine Tochter freut sich, eine schwarze Seele wie die seine bekehrt zu haben. Sie fehlt ihm, seit sie in diesem Schweizer Internat ist, aber manchmal werden ihm die Flausen, die sie in den Ferien von dort mitbringt, auch zu viel. Womit genau ihr Papi sein Geld verdient, weiß sie zum Glück nicht, sonst hätte sie vielleicht daran auch noch etwas auszusetzen.
»Was machst du hier?«, fragt Jurij seinen Beifahrer noch einmal.
»Du täuschst dich«, antwortet der Mann neben ihm. »Deine Phantasie spielt dir einen Streich. Ich bin gar nicht da. Du sitzt ganz allein im Wagen und phantasierst nur.«
»Ich phantasiere nicht! Du siehst verdammt noch mal aus wie Wladimir, du hörst dich an wie Wladimir, du riechst sogar wie Wladimir, also bist du es auch.«
»Du träumst, Jurij, oder glaubst du, ich könnte mich einfach so neben dich setzen wie in der Straßenbahn, während du mit zweihundertsiebzig Sachen auf der E373 in Richtung Kiew unterwegs bist?«
»Was weiß denn ich, was alles möglich ist. Wenn Manna vom Himmel fallen kann und die Ikone unseres letzten Zaren Myrrhe weint, wieso sollte es dann nicht auch möglich sein, dass du dich bei dem Tempo neben mich setzt? Hab ich dir schon mal gesagt, dass du wie ein Sohn für mich bist, Wladimir? In einem Augenblick bin ich stolz auf das, was ich aus dir gemacht habe, doch gleich im nächsten habe ich Angst, dass du zu viel riskierst und meine Aufträge dich das Leben kosten könnten. Das ist nicht gut, verstehst du?« Jurij schlägt mit beiden Händen auf das Lenkrad ein. »Seit Tagen habe ich kein Wort von dir gehört, kein Anruf, keine E-Mail, nicht einmal eine SMS hast du geschickt. Das ist doch wirklich scheiße, Wladimir! Und was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du bist noch irgendwo in den Alpen.«
»Stress«, sagt Jurijs Beifahrer, »das ist die einzig schlüssige Erklärung. Ich glaube, du solltest dir mal eine Auszeit gönnen. Du hast einfach zu viel Stress. Das ist schlecht für deine Gesundheit und schlecht für deine Seele. Fahr doch ein paar Wochen auf die Krim oder besuch deine Tochter in der Schweiz. Warum denn nicht Davos?«
»So einen Quatsch habe ich von dir überhaupt noch nie gehört. Ich phantasiere doch nicht. Hat nicht außerdem Rasputin den kleinen Zarewitsch mehrmals durch ein Wunder vor dem sicheren Tod bewahrt?«, fragt Jurij und präsentiert diese Kenntnis wie einen Trumpf, der gerade aus seinem Ärmel gerutscht ist.
»So kenne ich dich ja gar nicht. Haben sie dich bekehrt, oder was ist los mit dir? Willst du demnächst vielleicht sogar noch eine Kapelle bauen?«, fragt Wladimir.
»Red doch nicht so, ich mag das nicht. Aber ja, könnte schon sein, dass ich mal eine Kapelle stifte. Vielleicht haben wir den Bogen überspannt. Verstehst du, was ich meine? Vielleicht müssen wir als Ausgleich ein paar gute Werke tun, das wäre doch keine schlechte Idee, findest du nicht auch?«
»Jetzt redest du aber wirklich Unsinn. Meinst du denn, mit einer kleinen Spende an den World Wildlife Fund oder das UNICEF-Kinderhilfswerk können wir unsere Seelen reinwaschen? Ich habe für dich Leute umgebracht, Witwen geschlagen und Verrätern die Finger gebrochen, das lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Ganz abgesehen davon glaube ich, dass für mich sowieso alles zu spät ist.«
Während sein Beifahrer durch die Windschutzscheibe hinaussieht, meint Jurij, dass er immer blasser wird, so durchscheinend wie ein Glas wässrige Milch. »Wirfst du mir gerade vor, schuld daran zu sein, dass deine Seele vielleicht für immer in der Hölle schmoren muss, oder wie soll ich das verstehen?«, schreit Jurij, den jetzt Panik erfasst. »Ist das alles schon beschlossene Sache, oder, noch schlimmer, bist du bereits in der Hölle und nur wegen eines Schwätzchens mit mir zurückgekommen? Willst du mir sagen, dass ich das Arschloch bin, das dir das alles eingebrockt hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagt der, dessen Schädel nun schon fast durchsichtig ist. Eine Beobachtung, bei der Jurijs Panik nur noch zunimmt. »Eigentlich nicht«, sagt er dann, »aber irgendwie stimmt es sogar. Ich glaube, ich habe in meinem Leben ziemlich viel falsch gemacht, verstehst du?«
»Ich verstehe überhaupt nichts«, behauptet Jurij. »Du tust ja gerade so, als würdest du schon nicht mehr leben, dabei sitzt du hier in meinem Wagen neben mir. Ich kann dich doch sehen! Ich muss nur meinen Kopf drehen, damit ich sehe, wie du neben mir sitzt und zum Fenster hinausstarrst.« Über die Sache mit der seltsamen Durchsichtigkeit sagt Jurij nichts.
»Für mich ist es vorbei, Jurij. Das, was du neben dir sitzen siehst, ist nur ein Gebilde deiner Vorstellung. Ein Trugbild. Das, was du siehst, bin nicht ich, weil ich nicht mehr da bin. Ich bin tot, verstehst du?«, insistiert sein Beifahrer.
»Nein, nichts verstehe ich! Und schon gar nicht, dass du tot sein sollst. Wann wärst du denn gestorben und vor allem: warum?« Jurij umklammert das Lenkrad seines Porsches, hält sich daran fest, um nicht in tausend Einzelteile zu zerspringen, um sich nicht in einer Welle aus Wut und Trauer aufzulösen, die mit Wucht auf ihn zurollt. Schon spürt er die Druckwelle, die sie vor sich herschiebt, und wie ihr Atem seinen Nacken streift. Er ahnt, dass er ihr nichts entgegenzusetzen hat. Dass sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen wird.
»Du wirst es gleich erfahren«, sagt der andere. »Unser Mann bei der Polizei wird dich darüber informieren. Deshalb musst du doch heute zu ihm, hast du das vergessen?«
»Unser Mann bei der Polizei, Jakow, dieser Idiot, hat mich am Telefon doch glatt angepflaumt«, ereifert sich Jurij. »›Kommen Sie sofort zu mir ins Präsidium‹ und so weiter. Er hat mir sogar mit Verhaftung gedroht, kannst du dir das vorstellen? Mir hat er gedroht, dieser Arsch!«
»Und dieser Arsch wird dir auch gleich erzählen, dass ich tot bin«, sagt sein Beifahrer, den Jurij für Wladimir hält oder für Wladimirs Schatten.
»Schwachsinn«, sagt Jurij. »Wahrscheinlich bin ich nur überarbeitet. In Irpin werde ich Kaffee trinken und dazu ein paar Oladji essen, und dann wird dieser Alptraum hoffentlich aufhören. Jakow wird mich irgendeinen Schwachsinn fragen, ob ich etwas von Falschgeld in Frankfurt oder Menschenschmuggel weiß. Irgendwas, wovon ich ihm stundenlang erzählen kann, ohne irgendetwas zu sagen. Und dann, dann ziehe ich meine Jacke wieder an, setze mich ins Auto und fahre zurück, als sei nichts gewesen. Und du rufst mich in den nächsten zwei Tagen gefälligst an, sonst werde ich noch ganz irre, verstehst du?« Jurij wagt es nicht mehr, zu Wladimir hinüberzusehen, zu groß ist seine Angst, er könnte sich unter seinen Augen vollends auflösen.
»Ich glaube, du kommst langsam wieder zur Besinnung«, sagt die Stimme, die Jurij so gut kennt. »Außerdem ist es für mich jetzt sowieso Zeit abzuhauen.«
Im nächsten Augenblick, in dem Jurij doch wieder zum Beifahrersitz hinübersieht, ist Wladimir verschwunden, und Jurij fährt ein Stich wie von einem scharfen Florett durchs Herz. Er will nicht wahrhaben, dass dies ein Abschied war, möglicherweise für sehr lange Zeit oder sogar für immer.
Bei Irpin fährt Jurij tatsächlich von der Autobahn ab, ein Stück in den Ort hinein, vorbei an den Fabriken und den Plattenbauten aus der Sowjetzeit und den Plattenbauten, die erst vor wenigen Jahren gebaut wurden, jetzt aber nicht mehr Plattenbauten heißen, sondern Apartmenthäuser, natürlich first class. Weiter über die Gleise zum Bahnhof und dort zum kleinen Café Amour in einem Haus, das wie eine Baracke aussieht. Im Café Amour gibt es unbestritten den besten Kaffee und die besten Oladji der ganzen Oblast, und genau hier hat er auch Tatjana kennengelernt. Er macht gern hier Pause, wenn er von Borodyanka nach Kiew fährt. Es sind nur fünfzig Kilometer, und wenn es sein muss, fährt er fünfhundert Kilometer, ohne auch nur einmal anzuhalten. Die Pausen hier haben nichts mit den Fahrten zu tun. Hier kann er Kraft tanken für sein Leben, für die nächste Woche, den nächsten Tag, darum geht es ihm, wenn er in Irpin beim Café Amour stoppt.
Eine alte Geschichte, die heute nichts mehr bedeutet, zumindest nach Aktenlage. Aber vielleicht ist es genau diese Geschichte, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist. Nein, das Café ist kein Schmuckstück, wirklich nicht, aber der Kaffee und die Leckereien sind ausgezeichnet. Die weißen Resopaltische stehen auf lackierten Stahlrohren. Einige Gäste haben bereits bewiesen, dass Resopal, anders, als es die Werbung verspricht, doch verwundbar ist. Jurij setzt sich auf ein aufgemaltes Herz mit Pfeil. 1991 war noch alles picobello, aber trotzdem nicht schöner. Vielleicht hatten die Züge, die man aus dem Fenster vorbeifahren sah, eine andere Beschriftung als heute, aber sie waren ebenso blau-weiß und schnell wieder weg.
»Wie immer?«, fragt Irina im Vorbeigehen.
Jurij nickt. »Wie immer.« Er versucht sogar ein Lächeln. Was kann schließlich Irina für sein Unglück?
Als sie den Kaffee und die Oladji bringt, fragt sie: »Was fehlt dir?«
»Was soll mir schon fehlen? Nichts. Wie kommst du überhaupt darauf, dass mir etwas fehlt?«, fragt Jurij.
»Natürlich fehlt dir etwas, das sehe ich doch an deinem verbissenen Lächeln. Wenn es dir gut geht, dann lachst du wie ein Sieger, wie ein Junge, der gerade aus Nachbars Garten ein Pfund Birnen geklaut hat. Aber jetzt lachst du wie ein Junge, der vom Drei-Meter-Brett einen Salto versucht hat und mit dem Rücken aufs Wasser geklatscht ist. Der blöd grinst, damit ihn die Freunde nicht als Schlappschwanz verlachen, obwohl sein Rücken brennt wie Feuer und er am liebsten nur brüllen und heulen würde. Also, was ist los?«, fragt Irina.
»Nichts ist los, das bildest du dir nur ein«, sagt Jurij.
Irina ist hiergeblieben, aber Tatjana ist fortgegangen, weg, nach Amerika. In die USA. Im November 1991 war sie plötzlich nicht mehr hier. Zuerst dachte er, Irina sei von Anfang an in alles eingeweiht gewesen und habe nur so getan, als habe Tatjana auch sie im Stich gelassen. Inzwischen glaubt er ihr, dass auch sie vorher nichts gewusst hat. Zu dritt hatten sie ein Unternehmen gegründet, gleich nach der Unabhängigkeit der Ukraine, noch im August. Es war nicht einfach gewesen, aber sie hatten es geschafft. Irina und Tatjana das Café, Jurij seinen Sicherheitsdienst. Denn plötzlich gab es Bedarf an Sicherheit, und wer, wenn nicht ein ehemaliger KGB-Major, hätte in jenen Zeiten des Umbruchs Sicherheit gewährleisten können?
»Und hier meine compañera Tatjana«, so hatte ihm Irina ihre Freundin und Mitbetreiberin des Café Amour vorgestellt. Jurij war fast das Herz in die Hose gerutscht, als sie ihn neugierig ansah und dann auf ihn zutrat, um die obligatorischen Freundschaftsküsse mit ihm auszutauschen. Vor dem ersten Kuss spürte er einen Funken, der von ihren Lippen auf seine Wange übersprang, nicht metaphorisch, sondern wirklich, physikalisch. Wahrscheinlich wegen der trockenen Luft und des seltsamen Bodens, den sich die Frauen für ihr Café ausgesucht hatten.
Als Tatjana aufschrie und rief: »Iiih, ein Funke!«, scherzte Irina noch, der Funke der Liebe sei übergesprungen. Jurij wurde rot, wie es überhaupt nicht seine Art war, und Tatjana fuhr ihm mit der flachen Hand gegen den Strich durch sein kurz geschnittenes Haar.
»Musst nicht verlegen werden«, sagte sie und küsste ihn noch einmal, diesmal ohne Funken, dafür aber auf den Mund.
Er hat oft darüber nachgedacht und tut es immer noch manchmal, was es war und irgendwie noch immer ist, das ihm an Tatjana so gefiel. Sie trug ihr kastanienbraunes Haar lang, ihre Lippen erinnerten ihn an den Schmollmund einer französischen Schauspielerin, nur sah sie damit intelligenter aus als diese, was Jurij besonders gut gefiel. In Wirklichkeit gab es keinen Grund, sich Hals über Kopf in Tatjana zu verlieben, so sehr, dass er eine Menge Blödsinn machte und sich manchmal selbst wie ein Affe vorkam. Er schenkte ihr Rosen, kaufte ihr Schmuck; sogar einen kleinen, wenn auch etwas klapprigen Wagen schenkte er ihr, nachdem sie einmal in einem Nebensatz bemerkt hatte, dass die Fahrten mit Bus und Bahn sie tödlich nervten.
Sie war immer nett zu ihm, aber Hoffnungen machte sie ihm keine. Und trotzdem war er davon überzeugt, dass sie seine Bestimmung war, und kämpfte um sie. Er wollte sie unbedingt haben. Aber Tatjana hatte andere Pläne und längst eine Annonce in einer amerikanischen Zeitung aufgegeben, worüber sie einen texanischen Rancher kennenlernte, zu dem sie schließlich zog. Ein paarmal schrieb sie Irina noch, erzählte vom gelobten Land und dass sie auf der Ranch sogar ein eigenes Flugzeug hätten.
Das war es dann. Jurij bildete sich ein, sie wäre wegen des Geldes fortgegangen. Hätte er ihr statt eines klapprigen Wolgas einen schicken Jeep kaufen können, dann wäre er Tatjanas Rancher geworden. Nie mehr wollte er zu wenig Geld haben, aber dafür durfte er nicht zimperlich sein. Er begann, auch für die Sicherheit von Unternehmen zu sorgen, die ihm keinen Auftrag erteilt hatten. Bezahlten sie seine Rechnungen nicht, dann geschah etwas Schlimmes, und bezahlten sie auch dann noch nicht, geschah etwas noch Schlimmeres. Irgendwann zahlten die Inhaber kleinerer und größerer Unternehmen dann doch, schlossen mit Jurijs Firma offizielle Verträge, fühlten sich endlich wieder sicher und waren es auch. Wladimir war dafür zuständig, dass jeder noch so kleinste Fehler bestraft wurde. Sie waren Senkrechtstarter im jungen Staat und hatten das Zeug dazu, eine Weltmacht zu werden.
So war das damals, genau so. Jurij trinkt den letzten Schluck kalten Kaffee. Frankfurt ist nicht die Welt, aber es ist ein Teil davon, und wenn Wiktor in Frankfurt Jurij bescheißt, dann ist klar, dass Jurij sich das nicht gefallen lassen wird. Er kann es sich nicht gefallen lassen. Ein Auftrag für Wladimir, nicht der erste, und Jurij dachte nicht daran, dass es sein letzter werden könnte. Frankfurt, München, Rosenheim, ein Abstecher nach Verona, dann weiter nach Berchtesgaden. Wann immer er aufs Handy schaute, sah er, wo sich Wladimir gerade befand, wenn er Wiktor und den beiden Weibern folgte. Und jetzt, seit Tagen, gar nichts mehr beziehungsweise immer derselbe Punkt auf demselben blöden Berg. Als hinge Wladimir, seine Wunderwaffe, sein Ziehsohn, seine rechte Hand, am Gipfelkreuz dieses Berges fest.
Genauso gut hätte der Mann ein Bigfoot oder ein Yeti sein können, aber Jurij findet, er ist ein Chewbacca, der von Luke Skywalker nach dessen letzter Landung auf diesem Planeten hier vergessen worden ist. Doch dem Chewbacca gefällt es nicht auf unserer Erde, und entsprechend kratzbürstig gibt er sich, als Jurij zur Tür hereinkommt. Jurij würde ihn gern zur Sau machen, denn er hasst es, herumkommandiert zu werden. Und daran, dass ihn der Chewbacca hierherkommandiert hat, gibt es nicht den geringsten Zweifel. Nur die körperliche Statur und die berufliche Stellung des zotteligen Beamtenwesens hindern Jurij daran, dem Chewbacca seine Meinung zu sagen. Stattdessen ringt er sich dazu durch, ihn mit einem unverfänglichen »Dobryj den, Jakow!« zu begrüßen, als er dessen Büro betritt. »Ich hasse es, in die Polizeizentrale zu kommen. Warum verlangst du das von mir?«, beschwert sich Jurij.
»Du machst dir zu viele Gedanken. Ist doch alles in Ordnung. Komm, lass uns einen Kaffee trinken.« Jakow steht auf und geht zur Tür. Als er Jurij passiert, tippt er sich mit dem Finger auf die Lippen. Jurij versteht und folgt dem vollbärtigen Zwei-Meter-zehn-Mann schweigend.
Erst als sie auf der Terrasse eines nahen Straßencafés sitzen, beginnt Jakow wieder zu sprechen: »Weißt du, nichts ist mehr wie früher. Damals konnte man sich noch darauf verlassen, dass man vom KGB kontrolliert und abgehört wurde, und man wusste auch, was man machen musste, wenn sie einmal nicht jedes Wort verstehen sollten. Heute ist alles viel komplizierter. Du müsstest das eigentlich noch besser wissen als ich. Inzwischen werden wir doch schon von allen abgehört, die es sich leisten können. Nur deshalb wollte ich, dass wir uns treffen, daher auch die Vorladung in mein Büro. Somit gibt es nichts, woraus man mir einen Strick drehen könnte. Also kein Grund zur Aufregung, Jurij. Ich bin wie immer auf deiner Seite. Bevor du gehst, unterschreibst du noch ein Protokoll, und alles ist gut.«
Sie bestellen piwo, Bier.
»Weißt du, dass mein Computer im Vergleich zu früher heute fünfmal so lange braucht, um hochzufahren?«, fragt Jakow. »Die Prozessoren sind fünfmal so leistungsfähig wie früher, den Speicher habe ich verzehnfacht, aber warum braucht er nun länger als früher? Der Grund ist, dass mein Computer zuerst das Ausspähprogramm der Briten starten muss, dann das der Russen, der Deutschen, der Franzosen, der Amis, der Israelis und zum Schluss wahrscheinlich auch noch das der Österreicher. Man kann sie nicht einfach löschen, sonst werden die Lauscher sofort misstrauisch, verstehst du?«
»Okay, meinetwegen, aber jetzt wird uns doch keiner belauschen«, meint Jurij. »Also, was ist los? Spuck’s schon aus.«
»Leider ist es etwas sehr Unangenehmes«, hört Jurij den Affenmenschen sagen und merkt, wie seine Hände plötzlich kalt werden. »Was hast du denn?«, fragt Jakow. »Du bist ja ganz grau im Gesicht.«
Jurij würde am liebsten davonlaufen. Flucht oder Angriff, große Mengen Adrenalin rücken in Stellung. »Nichts, schieß los«, fordert er Jakow mit einer fahrigen Handbewegung auf.
»Du hattest Wladimir nach Deutschland geschickt, richtig? Er sollte für dich etwas erledigen, ich ahne, worum es ging, aber das geht mich nichts an.« Jurij nickt, und Jakow fährt fort, nachdem die blonde, ein wenig pausbäckige Bedienung die zwei Biere gebracht hat. »Ich wurde von einer deutschen Polizeidienststelle befragt, ob wir hier in Kiew Wladimir und dich kennen.«
»Mich?«, fragt Jurij.
»Jurij, hör mir zu. Sie haben Wladimirs Leiche gefunden.«
»Du lügst, Jakow, du bist ein elender Lügner. Zuerst lässt du mich in deinem Büro antanzen, und jetzt belügst du mich auch noch!« Jurij brüllt wie ein Tier, das bereit ist zu sterben. Er tritt mit dem Fuß gegen den Tisch. Gläser, Aschenbecher, Tassen, alles fällt um, geht kaputt oder auch nicht, nicht einmal die Kellnerin interessiert sich dafür. Sie starrt wie gebannt auf Jurij.
»Bring mir eine Flasche Wodka, den billigsten, den du hast. Ich möchte Kopfschmerzen haben, wenn ich wieder aufwache«, sagt Jurij zu ihr, als er sich wieder etwas beruhigt hat. »Es tut so weh«, jammert er. »Wladimir, mein Falke, mein Bruder. Was waren wir zusammen, und was bin ich jetzt? Nicht einmal mehr die Hälfte meiner selbst. Wladimir, schau her zu mir, wenn die Popen recht haben und du nun durch den Himmel fliegst. Schau zu mir herunter und schäm dich dafür, dass du mich allein zurückgelassen hast.«
Jurijs Auftritt hat im Café im Handumdrehen für Ruhe gesorgt. Niemand sagt mehr ein Wort. Da packt Jurij Jakow am Kragen. »Das stimmt doch alles gar nicht, was du mir hier erzählst. Sag endlich die Wahrheit, du Hund. Ich weiß, dass du mich nur demütigen und verarschen willst. Los, sag schon, hab wenigstens dazu den Mumm, du Schlappschwanz.«
Das kann nicht gut gehen. Jedem Gast auf der Terrasse ist das sonnenklar. Auf der einen Seite der Putin-Verschnitt, sicher nicht unsportlich, aber dennoch ein Wicht, den die Natur nicht größer als einen Meter fünfundsiebzig werden ließ. Auf der anderen Seite Jakow, das Wesen aus einer fremden Galaxie, die bisher nur die Besatzung des Raumschiffs Enterprise gesehen hat. Zwei Meter zehn oder noch größer, behaart wie ein Affe und nicht ganz gerade, zumindest der Kopf im Verhältnis zum Hals, an dem sich der kleine Rüpel Putin jetzt zu schaffen macht.
Jeder sieht es kommen, dass die Sache nicht gut ausgehen wird. Allerdings überrascht die Beobachter, dass es so lange dauert, bis sich abzeichnet, was genau passieren wird. Doch dann passiert es. Nach langem Warten, aber dafür umso heftiger, so als hätte sich erst eine Feder spannen müssen, bevor die Faust zuschlagen kann, erfolgt der Angriff. Und zwar in genau dem Ausmaß, das alle befürchtet haben.
Zu schwach sind Jurijs Hände, als dass sie Jakow daran hindern könnten, wie ein Klappmesser aufzuspringen und Jurij am Kragen zu packen. Jakow hebt ihn in die Luft und trägt ihn am ausgestreckten Arm vor sich her, bis er die Hausmauer erreicht, gegen die er Jurij presst. Erst als Jurij aufschreit, lässt Jakow ihn fallen, als hätte er plötzlich keine Lust mehr, ihn zu verprügeln und ihm wehzutun.
Jurij sinkt am Boden zusammen, heult wie ein Kind, dann schreit er: »Wo bleibt mein Wodka, ihr Arschlöcher, habt ihr Bohnen in den Ohren?«
Jakow geht in das Café und kommt kurz darauf mit zwei Trinkgläsern in der einen Hand und einer Flasche Wodka in der anderen zurück.
»Gib schon her!« Jurij reißt dem Yeti das eben gefüllte Glas aus der Hand und schüttet den Fusel in einem Zug in sich hinein. »Los, schenk nach, oder willst du einen alten Freund verdursten lassen?«
Jakow macht beide Gläser noch einmal voll. »Budmo«, sagt er. »Prost! Auf Wladimir! Auf die Katze von Olschowsk!«
»Und darauf, dass die Welt endlich untergehen soll!«, lallt Jurij.
Jakow hechelt nach Luft, gibt galaktische Grunzlaute von sich, und als er sich von der trinkglasgroßen Ladung ex getrunkenen Wodkas etwas erholt hat, sagt er: »Ich glaube, sie ist gerade untergegangen.«
Jurij streckt ihm sein Glas entgegen. »Noch mal«, grölt er.
Jakow zittert ihm mit der Flasche entgegen. Fünfzig Prozent vom ausgegossenen Wodka landen im Glas, der Rest auf Jurijs Kopf.
»Nicht mal zum Einschenken kann man dich gebrauchen«, schimpft Jurij. »Bevor die Welt untergeht, muss ich diesem Mörder, diesem Verräter, dieser Drecksau Wiktor noch alle Finger abschneiden! Ich muss ihm ins Knie schießen und ihm die Gurgel aus dem Hals reißen. Er ist schuld!«
»Wenn du das alles tun musst, musst du es tun. Aber helfen kann ich dir dabei leider nicht«, sagt Jakow.
»Und warum nicht? Ich dachte schon, wir werden Freunde. Du musst ihn ja nicht gleich umbringen, aber ins Knie könntest du ihn doch vielleicht schießen, oder ist das zu viel verlangt?«
»Im Moment schon. Und zwar aus mindestens zwei Gründen.«
»Was gibt es da für Gründe?« Jurij glotzt ihn empört an.
»Der erste: Ich muss jetzt kotzen.« Jakow dreht seinen Kopf zur Seite und übergibt sich. »Und der zweite: Wiktor kann nichts dafür. Wladimirs Mörder heißt Reichenberg, oder sollte ich besser sagen von Reichenberg?« Jakow beginnt zu lachen und kann gar nicht mehr damit aufhören.
»Was lachst du so blöd? Hör auf zu saufen, wenn du es nicht verträgst«, echauffiert sich Jurij.
»Oder sollte ich besser sagen von Reichenberg?«, wiederholt Jakow. »Or should I say Doctor von Scott?«
»Bist du jetzt total besoffen, oder was?«, stammelt Jurij.
»Or should I say Doctor von Scott? Or should I say Doctor von Reichenberg?«, sabbert Jakow vor sich hin. »Hast du denn nie die Rocky Horror Picture Show gesehen? Oder Dr. Seltsam, besser gesagt von Seltsam, diesen Arsch, der die Bombe liebte? Or should I say Doctor von Reichenberg? Hihihi.«
»Und dieser von Reichenberg hat Wladimir auf dem Gewissen?«, begreift Jurij nun endlich.
»Natürlich, dieser Faschist hat Wladimir umgebracht. Aber dem kannst du die Eier nicht mehr herausreißen, denn der ist schon tot, um nicht zu sagen von Tot. Hahaha.«
»Tot?« Es dauert, bis Jurij begreift, was der Polizist ihm erzählt hat. »Das ist jetzt aber blöd, wenn der tot ist. Irgendwer muss ja schließlich büßen. Irgendwer muss büßen, verstehst du?«, lallt Jurij, kippt zur Seite und beginnt fast augenblicklich zu schnarchen.
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