Marlitt Wendt
Die Intelligenz der Pferde
Ein kluger Kopf unter jedem Schopf
VORWORT: EINSTEIN IN PFERDEGESTALT?
DIE UNTERSCHÄTZTE PFERDELOGIK – EINFÜHRUNG IN DIE KOGNITION DER PFERDE
Warum Hauspferde und keine Wildpferde?
Aber braucht man dazu Studien?
Verschiedene Arten von Verhaltenstests
Pferde im Intelligenztest
Was verstehen Pferde?
Wie Wahrnehmung funktioniert
Wahrnehmung: kontextabhängig und veränderbar
PFERDE DENKEN ANDERS – WIE INTELLIGENT SIND PFERDE?
Pferdeintelligenz im Visier
Positive Einflüsse
Ich denke , also bin ich ein Pferd
Lernen als Konstrukt
Lernst du noch oder verstehst du schon?
Klassische Konditionierung oder Reiz-Reaktions-Lernen
Operante Konditionierung oder Lernen am Erfolg
1 Positive Verstärkung
2 Negative Verstärkung
3 Negative Strafe
4 Positive Strafe
Fazit
Pferdeforschung: Behaviorismus contra Kognitivismus
Vegetarische Wunderkinder
WENN PFERDE IHREN EIGENEN KOPF BENUTZEN – KOGNITIVE FÄHIGKEITEN
Was die kleinen Blindenpferde alles leisten
Pferde in einer abstrakten Welt
Geruchsunterscheidung
Objekterkennung
Objektpermanenz
Pferde lieben es kniffelig
Nur Pferde lösen Pferdeprobleme
Neues aus der Pferdeforschung
Verhalten als Belohnung
EIN GROSSER PFERDEKOPF VOLLER IDEEN – PFERDELOGIK IM ALLTAG
Auf der Weide
Strafe muss sein?
Erfolgreich belohnen
Die Pferdelogik sagt: „Eins und eins bleibt zwei.“
Profibotaniker
Funktionskreise auf der Weide
Die innere Uhr
Konditionierungsprozesse auf beiden Seiten
Bedeutung kleinster Erinnerungssplitter
IM ZICKZACKKURS DURCHS PFERDEGEHIRN – WAS STECKT UNTER DEM PFERDESCHOPF?
Im pferdischen Oberstübchen
Empfindung aus Sicht des Pferdes
Denkslalom
Wie kategorisieren Pferde ihr Weltbild?
Sinn für Schönheit?
Das Pferdegehirn in seiner Umwelt
Vollblüter schlauer als Kaltblüter?
Ein weiter geistiger Horizont
Bewegung macht schlau
KEIN PFERD IST EINE INSEL – SOZIALE INTELLIGENZ
Die Pferdeherde unter sich
Komplexe Herdenkonstellationen
Das Beziehungsgeflecht
Feine Antennen
Soziale Lebewesen auf Augenhöhe
DEM PFERDEVERSTAND AUF DIE SCHLICHE KOMMEN – JEDES PFERD IST ANDERS
Wo geht es hin?
Um die Ecke gedacht
Verhaltenskreativität
Konzentrationsfähigkeit testen
Ein Besuch im Morgengrauen
Vertrauen gegenüber ungewohnten Untergründen
Der Schneemann
Spaziergang mit Überraschungsmoment
Geschicklichkeit
NACHWORT: PFERD UND MENSCH – EINE SEELENVERWANDTSCHAFT
Pferdekosmos der Gefühle
Wir spiegeln uns in ihren Augen
ANHANG
Tipps zum Weiterlesen
Studien im Internet
Kontakt zur Autorin
Register
Autorin und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Copyright © 2013 by Cadmos Verlag, Schwarzenbek
Gestaltung und Satz: Ravenstein, Verden
Lektorat: Anneke Fröhlich
Titelzeichnung und Zeichnungen im Innenteil: Susanne Retsch-Amschler Fotos im Innenteil: siehe Fotonachweise
Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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ISBN Print 978-3-8404-1038-3
ISBN Epub 978-3-8404-6143-9
ISBN Kindle 978-3-8404-6144-6
Einstein in Pferdegestalt?
Ein Fachbegriff im Buchtitel – schon halbiert sich die Leserschaft, so lautet eine Faustregel in der Verlagsbranche. Da das Thema Pferdeintelligenz so wichtig ist, wäre es schade gewesen, dieses Risiko einzugehen, indem man das Buch korrekterweise mit dem Stichwort Kognition bezeichnet hätte. Streng genommen ist dies nämlich genau das Thema dieses Buches: das Erkenntnisvermögen von Pferden. Der Begriff „Intelligenz“ ist sehr einseitig und in einem menschlichen Sinne geprägt. Die Suche nach den „kognitiven Fähigkeiten“ stellt eine größere Bandbreite dar, das Pferd kann so in Bezug auf seine ganz individuellen Möglichkeiten betrachtet werden und wird nicht in ein vorher festgelegtes Bewertungskonzept gepresst. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, einen Überblick darüber zu gewinnen, was die Forschung in diesem so schnell voranschreitenden Gebiet für Ergebnisse dazu liefert, was Pferde von ihrer Welt verstehen, wie sie sich selbst sehen und wie wir uns ihrem Denken und Fühlen annähern können.
Bei meinen Vorträgen geht immer ein Raunen durch das Publikum, wenn ich berichte, dass in den USA schon diverse Miniponys zum Blindenführpferd ausgebildet wurden. Es erscheint vielen Reitern unglaublich, wie so etwas möglich sein kann. Sicher kann man über die artgerechte Unterbringung dieser Tiere streiten; unbestritten ist jedoch, dass sie genau das tun, was viele Jahre lang für undenkbar gehalten wurde: Sie erledigen einen Job, der sonst nur Blindenhunden vorbehalten war, und dies mindestens genauso gut (siehe Seite 45). Sie sind ebenso in der Lage, sich im Stadtverkehr zurechtzufinden, ihren blinden Menschen sicher über Treppen zu führen oder den nächstgelegenen Zebrastreifen anzuzeigen. Gerade diese kleinen Pferde haben auch den Forschern bewiesen, dass mehr hinter den dichten Ponyschöpfen steckt, als man lange Zeit erwartet hat.
Inzwischen gehen die Forschungen noch weiter, sie befassen sich außer mit dem eindrucksvoll unter Beweis gestellten Lernverhalten der Pferde auch mit den weiteren Teilgebieten der Kognitionsforschung, wie etwa mit dem Gedächtnis der Pferde oder ihren komplexen Gehirnleistungen. Außerdem beschäftigen sie sich mit sämtlichen mentalen Prozessen, mit denen das Pferd seine Umwelt und sich selbst wahrnimmt, Probleme löst und sich an Vergangenes erinnert.
So erstaunlich viele Ergebnisse dieser Studien auch sein mögen – komplett eintauchen können wir natürlich immer noch nicht in den Geist des Pferdes. Vieles bleibt uns noch verborgen, aber es ist spannend, den für uns erfassbaren Anteil der Denkprozesse zu ergründen. Dabei wird immer deutlicher, dass das Pferd eben wie ein Pferd denkt und nicht wie ein Mensch. Es hat seine eigene Art der Intelligenz, nicht unbedingt eine bessere, aber auch keine generell schlechtere. In manchen Punkten sind Pferde dem Menschen sogar überlegen, in anderen können sie nicht einmal Kleinkindern das Wasser reichen. Im Laufe der Evolution haben sich die kognitiven Fähigkeiten des Pferdes genau so ausgeformt, wie es sich für das Überleben in der pferdischen Umwelt als passend erwiesen hat.
Marlitt Wendt, im August 2013
Einführung in die Kognition der Pferde
Heutzutage stellen sich Forscher auf der ganzen Welt Fragen zum Erkenntnisvermögen der Pferde, um zu beantworten, wie diese wohl die Welt sehen – ein äußerst interessantes Forschungsgebiet. Was verstehen sie von dem, was um sie herum passiert? Können sie sich an einzelne Zusammenhänge erinnern oder Ereignisse bewerten? Wie sehen sie sich selbst und was verstehen sie von ihrer Umwelt und physikalischen Naturgesetzen? Und wie sehen die Pferde andere Tiere und auch uns Menschen? Verwenden sie im Kontakt zu fremden Spezies andere Kommunikationsformen und können Freundschaften zwischen unterschiedlichen Arten entstehen?
Für mich am wichtigsten ist die Frage, was wir von den Pferden lernen und wie wir für sie ein möglichst lebenswertes Pferdeleben garantieren können. Damit meine ich eine erfüllte Existenz, die nicht nur ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt, sondern in der sie auch in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen und nach ihrem individuellen Potenzial geistig gefördert werden.
Lange Zeit konzentrierte sich die Verhaltensforschung auf die Beobachtung von frei lebenden Pferden, wie etwa den Mustangs in den USA oder den Camargue-Pferden in Frankreich. Hier sollte das unverfälschte Leben unter natürlichen Bedingungen beobachtet und aufgrund der hier gewonnenen Daten auf die Natur und das Denkvermögen der Hauspferde an sich geschlossen werden. Die Sache hatte nur leider mehrere Haken: Zunächst einmal sind die heute wild lebenden Pferde keine wirklichen Wildpferde, sondern verwilderte Hauspferde. Das Hauspferd ist ja nicht die domestizierte Form des Mustangs. Auch die Przewalski-Pferde sind keine direkten Vorfahren unserer Hauspferde, sondern eben lediglich nahe Verwandte. Was nun bei den Beobachtungen der Forscher für die eine Gruppe von Pferden galt, musste bei einer anderen Gruppe absolut nicht vorkommen.
Sehr wichtige Faktoren für die Kognition der Pferde sind neben der jeweiligen Umwelt auch ihr soziales Umfeld, ihre Lebenserfahrungen und ihre individuelle Persönlichkeit. All diesen Parametern wurde in den ersten Studien keine Rechnung getragen. Man kann Pferde nicht einfach gedanklich in einen Topf werfen. Es ist ein großer Unterschied, ob wir das Verhalten bei der Wassersuche bei Pferden in der Namib-Wüste beobachten oder ob wir eben dieses Verhalten im von Schnee und Eis geprägten Gletschergebiet auf Island betrachten. Pferde haben sich über viele Generationen mit ihrem Verhaltensrepertoire an die vorherrschenden Umweltbedingungen angepasst und besitzen dementsprechend besondere Stärken, aber auch Schwächen. Sie wären überfordert, wenn man sie vor Aufgaben stellte, denen sie aufgrund ihrer Herkunft nicht gewachsen sind. Das kognitive Spektrum der Pferde ist somit immer geprägt von dem feinen Zusammenspiel ihrer Lebensbedingungen, ihres genetischen Erbes, ihrer sehr persönlichen Lebensgeschichte und ihren Lernerfahrungen.
Vom „echten“ Wildpferd, also dem Vorfahren unserer Hauspferde, der eben auch schon je nach Lebensraum auf unserer Erde in unterschiedlichen Typen vorkam, bis zu den vielen heute existierenden Pferderassen vollzogen sich tief greifende Veränderungen in körperlicher, aber auch geistiger Hinsicht. Zunächst konnte, wie bei den meisten Haustieren im Verlauf der Domestizierung, ein Prozess beobachtet werden, der zu einer Reduktion der Hirnmasse und zu einer Verminderung des Riech- und Hörvermögens geführt hat. Deswegen ist das Hauspferd allerdings kein „unvollständiges“ Wildpferd – es hat sich nur an seine neue Umwelt angepasst und neue Fähigkeiten ausgestaltet, wie etwa die sozialen Bindungsmöglichkeiten anderen Arten und auch dem Menschen gegenüber. Während das prähistorische Wildpferd vor allem aufgrund seiner besonders leistungsfähigen Sinne extrem reaktionsschnell war und damit frühzeitig auf bedrohliche Situationen reagieren konnte, ist das heutige Hauspferd doch wesentlich ruhiger und vor allem dem Menschen gegenüber weniger scheu. Teilweise schlummert das Erbe der Wildpferde in jedem Pferd; es wird immer wieder Situationen geben, in denen das Pferd nicht rational überlegt, wie es sich verhalten soll, sondern rein emotional und spontan agiert. Bestimmte Situationen lösen etwa Urängste beim Pferd aus. So wird ein sich am Boden näherndes, quasi lauerndes Objekt immer misstrauisch beäugt werden, da es sich aus Pferdesicht hier im Zweifelsfall um den sprichwörtlichen Säbelzahntiger handeln könnte. Da sich manche der Wildpferd-typischen Reaktionen jedoch für den Gebrauch der Pferde in menschlicher Obhut wenig eigneten, versuchte der Mensch, das Pferd mithilfe der gezielten Zucht nach seinen Vorstellungen zu verändern. So wurde etwa generell Wert auf ein weniger aggressives Wesen gelegt und auf ein weniger ausgeprägtes Sexualverhalten der männlichen Tiere. Den Unterschied macht zum Beispiel ein Vergleich mit den auch heute noch als Wildtiere lebenden Zebras deutlich. Zebras gelten als sehr schwer dressierbar, da sie eben die für das Haustierdasein besonders erwünschten Eigenschaften wie Zugewandtheit dem Menschen gegenüber oder weniger impulsives Verhalten nicht wie gezielt gezüchtete Haustiere besitzen.
Außerdem hat der Mensch die Fähigkeiten der Pferde geprägt, indem er sie in den letzten Jahrhunderten gezielt für seine Zwecke gezüchtet hat. Je nach Verwendungszweck entschied er sich für bestimmte Elterntiere, um deren Eigenschaften weiterzuvererben. So wählte er etwa für die Arbeit mit Rindern gezielt Tiere aus, die über das verfügten, was man später mit „cow sense“ bezeichnete. Es handelte sich dabei um Pferde, die sozusagen ein Gespür für Rinder hatten, also keine Angst vor ihnen zeigten und sich gut in ihre Bewegungen und Verhaltensmuster einfühlen konnten. Ebenso wählte der Mensch besonders wendige und sprintstarke Tiere, aber eben auch solche, die sich sehr gut räumlich orientieren konnten und einen Überblick über zahlenmäßig größere Ansammlungen behielten. Deswegen sind die heutigen Quarter Horses aus gerade diesen für die Rinderarbeit gedachten Arbeitslinien selektiert worden und werden auch bei ähnlich gestalteten Kognitionstests sehr gut abschneiden. Sicher müssen auch individuelle Eigenschaften der einzelnen Tiere mit einbezogen werden, aber ein für die schwere Zugarbeit im Wald gezüchtetes Rückepferd etwa wird von Natur aus andere Eigenschaften mitbringen und eher in anderen Arbeitsbereichen glänzen und sich wohlfühlen.
Möchten wir uns also den kognitiven Fähigkeiten unserer Hauspferde annähern, so müssen wir sie mit all ihren verschiedenen Anlagen wahrnehmen und als einzigartige Persönlichkeiten. Pferde begleiteten den Menschen auf dem Weg durch die verschiedenen Epochen ganz entscheidend. Ihre Fähigkeiten zur Kooperation mit anderen Pferden und auch dem Menschen, ihre Schnelligkeit und Ausdauer und auch ihre große Kraft ermöglichten es dem Menschen, sich immer weiter zu entwickeln. So gingen die Evolution des Menschen und seine Erfindungen und Entdeckungen, wie die Erfindung des Rades oder die Entdeckung neuer Kontinente, Hand in Hand mit der Zucht und damit Formung unterschiedlicher Pferdetypen und ihrer einzigartigen kognitiven Fähigkeiten.