Prolog
Laurie Garvey war nicht zum Glauben an die Entrückung erzogen worden. Eigentlich war sie zu gar keinem Glauben erzogen worden, außer zu dem, dass Glaube Unfug ist.
Wir sind Agnostiker, hatte sie ihren Kindern immer gesagt, als die noch klein waren und sich ihren katholischen, jüdischen oder unitarischen Freunden gegenüber irgendwie definieren mussten. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, und die anderen wissen es auch nicht. Sie sagen vielleicht, sie wüssten es, aber das tun sie nicht.
Zum ersten Mal hatte sie von der Entrückung in ihrem ersten Jahr am College gehört, in einem Kurs namens »Einführung in die Weltreligionen«. Was der Professor da beschrieb, kam ihr vor wie ein Witz: Heerscharen von Christen, die aus ihrer Kleidung gleiten und durch die Dächer ihrer Häuser und Autos gen Himmel fahren, wo Jesus schon auf sie wartet, während alle anderen mit weit aufgerissenen Mündern herumstehen und sich fragen, wo all die guten Menschen geblieben sind. Das theologische Argument wurde ihr auch nicht klarer, nachdem sie den Abschnitt über »Prämillenarischen Dispensationalismus« in ihrem Lehrbuch gelesen hatte, das ganze Geschwafel über Armageddon, den Antichrist und die vier apokalyptischen Reiter. Es kam ihr vor wie religiöser Kitsch, so geschmacklos wie Bilder von Einhörnern im Mondschein, wie Fantasy für Leute, die zu viel Frittiertes essen, ihren Kindern den Hintern versohlen und bereitwillig glauben, ihr lieber Gott habe Aids erfunden, um die Schwulen zu bestrafen. In den Jahren darauf sah Laurie ab und zu am Flughafen oder in einem Zug jemanden eines der Finale-Bücher lesen und verspürte einen Anflug von Mitleid, ja sogar so etwas wie zärtliche Güte gegenüber dem armen Irren, der nichts Besseres zu lesen hatte, nichts Besseres zu tun, als herumzusitzen und vom Ende der Welt zu träumen.
Und dann geschah es. Die biblische Prophezeiung erfüllte sich, wenigstens zum Teil. Überall auf der Welt verschwanden Menschen, millionenfach und auf einmal. Das war nicht bloß ein altes Ammenmärchen wie jenes von dem Toten im alten Rom, der plötzlich wieder lebendig wird, und auch keine angestaubte Volkssage wie die von Joseph Smith, der im Norden des Staates New York goldene Tafeln ausgräbt und sich mit Engeln unterhält. Das war echt. Die Entrückung geschah in ihrer Heimatstadt, und sie geschah unter anderem der Tochter ihrer besten Freundin, während Laurie selbst bei ihnen zu Gast war. Gottes Eingriff in ihr Leben hätte selbst dann nicht eindeutiger sein können, wenn Er aus einer brennenden Azalee zu ihr gesprochen hätte.
Sollte man jedenfalls meinen. Trotzdem verleugnete sie wochen- und monatelang erfolgreich das Offensichtliche, klammerte sich an ihren Zweifeln fest wie an einem Rettungsring und plapperte hartnäckig den Experten, Politikern und Wissenschaftlern nach, die darauf beharrten, dass der Grund für den von ihnen so bezeichneten »Plötzlichen Fortgang« noch unklar sei, und vor voreiligen Schlüssen warnten, ehe der offizielle Bericht des unparteiischen Regierungsausschusses zu der Angelegenheit veröffentlicht wäre.
»Es war ein tragischer Vorfall«, wiederholten die Fachleute unablässig. »So etwas Ähnliches wie die Entrückung, aber sehr wahrscheinlich nicht die wirkliche Entrückung.«
Zu den lautstärksten Vertretern dieser These gehörten interessanterweise einige Christen, denen nicht entgangen war, dass viele der am 14. Oktober Verschwundenen – Hindus und Buddhisten, Muslime und Juden, Atheisten und Animisten, Homosexuelle, Eskimos, Mormonen, Zoroastrier und was immer sie sonst waren – Jesus Christus nicht als ihren Erlöser angenommen hatten. Soweit sich sagen ließ, war es eine willkürliche Auslese gewesen, und wenn die Entrückung eines nicht sein konnte, dann willkürlich. Der ganze Sinn der Sache war, die Spreu vom Weizen zu trennen, die wahrhaft Gläubigen zu belohnen und den Rest der Welt abzustrafen. Eine wahllose Entrückung war gar keine Entrückung.
Es lag also durchaus nahe, ratlos die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen und zu erklären, man verstünde nicht, was vor sich ging. Doch Laurie wusste es. Ab dem ersten Moment wusste sie es, ganz tief im Herzen. Sie war zurückgelassen worden. Alle waren sie zurückgelassen worden. Dass Religion bei Gottes Entscheidung keine Rolle spielte, war gleichgültig – wenn überhaupt wurde es dadurch nur noch schlimmer, eher zu einer Art persönlicher Zurückweisung. Und doch ignorierte sie dieses Wissen ganz bewusst, verbannte es in einen finsteren Winkel ihres Verstands, in denselben Kellerverschlag, wo man unerträgliche Gedanken wie das Wissen um die eigene Sterblichkeit versteckt, um durchs Leben gehen zu können, ohne jede wache Minute von Depressionen erdrückt zu werden.
Obendrein waren die ersten Monate nach der Entrückung ziemlich hektisch. In Mapleton fiel die Schule aus, ihre Tochter war den ganzen Tag zu Hause, und ihr Sohn kam vom College zurück. Genau wie vorher mussten Einkäufe und Wäsche gemacht, Mahlzeiten gekocht und Geschirr und Besteck gespült werden. Es galt Beerdigungen zu besuchen, Diashows vorzubereiten, Tränen zu trocknen und unzählige anstrengende Gespräche zu führen. Sie verbrachte viel Zeit mit der bedauernswerten Rosalie Sussman, besuchte sie fast jeden Vormittag und versuchte, ihr in ihrer unermesslichen Trauer beizustehen. Manchmal sprachen sie über Rosalies fortgegangene Tochter Jen – so ein liebes Mädchen, immer ein Lächeln auf den Lippen etc. –, aber meistens saßen sie einfach still nebeneinander. Das Schweigen fühlte sich bedeutsam und richtig an, so als könnte keine von ihnen irgendetwas sagen, das wichtig genug wäre, es zu brechen.
Im folgenden Herbst tauchten sie zum ersten Mal in der Stadt auf: weiß gekleidete Menschen, unterwegs in gleichgeschlechtlichen Zweierteams und immer eine Zigarette zwischen den Lippen. Ein paar von ihnen kannte Laurie. Barbara Santangelo, deren Sohn mit ihrer Tochter in eine Klasse ging; Marty Powers, der früher Softball mit ihrem Mann gespielt hatte und dessen Frau bei der Entrückung – oder was auch immer es gewesen sein mochte – verschwunden war. Meistens ignorierten sie einen einfach, aber manchmal verfolgten sie einen auch so hartnäckig, als hätte jemand sie als Privatdetektive angeheuert. Wenn man sie grüßte, blickten sie einen nur ausdruckslos an, aber wenn man eine gehaltvollere Frage stellte, reichten sie einem eine Visitenkarte, die auf einer Seite mit folgender Botschaft bedruckt war:
WIR SIND MITGLIEDER DES SCHULDIGEN RESTS. WIR HABEN EIN SCHWEIGEGELÜBDE ABGELEGT. WIR SIND DIE LEBENDE ERINNERUNG AN GOTTES FÜRCHTERLICHE MACHT. SEIN URTEIL IST ÜBER UNS GEKOMMEN.
Auf der anderen Seite stand in kleinerer Schrift eine Internetadresse, unter der man weitere Informationen finden konnte: www.schuldigerrest.com.
Ein seltsamer Herbst war das. Seit der Katastrophe war ein ganzes Jahr vergangen. Die Hinterbliebenen hatten den Schlag weggesteckt und zu ihrer Verwunderung festgestellt, dass sie immer noch aufrecht standen, auch wenn einige stärker schwankten als andere. Zaghaft kehrte ein zerbrechlicher Alltag zurück. Die Schulen waren wieder geöffnet, und die meisten Leute gingen wie früher zur Arbeit. Am Wochenende spielten Kinder im Park Fußball, an Halloween waren ein paar von ihnen sogar für Süßes oder Saures unterwegs. Man spürte, wie die alten Gewohnheiten wieder Einzug hielten, wie das Leben wieder seine vorherige Form annahm.
Doch Laurie konnte da nicht mithalten. Sie kümmerte sich nicht nur um Rosalie, sondern war auch krank vor Sorge um ihre Kinder. Tom war fürs Sommersemester zurück ans College gefahren, dort dem Einfluss eines zwielichtigen, selbst ernannten »Heilungspropheten« namens Heiliger Wayne erlegen und in sämtlichen Kursen durchgefallen. Jetzt weigerte er sich, nach Hause zu kommen. Während des Sommers hatte er ein paarmal angerufen, um zu sagen, dass es ihm gut gehe, aber nie erzählt, wo er war oder was er machte. Jill kämpfte mit Depressionen und posttraumatischem Stress – kein Wunder, schließlich war Jen Sussman seit der Vorschule ihre beste Freundin gewesen –, doch sie weigerte sich, darüber mit Laurie zu sprechen oder zu einem Therapeuten zu gehen. Nur ihr Mann Kevin wirkte merkwürdig beschwingt, hatte ständig gute Neuigkeiten zu verkünden. Das Geschäft lief bestens, das Wetter war spitze, und er war gerade zehn Kilometer in weniger als einer Stunde gelaufen.
»Und du?«, fragte er, kein bisschen verlegen in seiner Stretchhose, das Gesicht glänzend von Gesundheit und einem dünnen Schweißfilm. »Was hast du den ganzen Tag so getrieben?«
»Ich? Ich habe Rosalie mit ihrem Album geholfen.«
Er verzog das Gesicht, gleichzeitig missbilligend und nachsichtig.
»Macht sie das immer noch?«
»Sie will nicht aufhören. Heute haben wir eine kleine Chronik von Jens Schwimmkarriere geklebt. Man konnte auf den Fotos zusehen, wie sie von Jahr zu Jahr größer wurde, wie ihr kleiner Körper sich in dem blauen Badeanzug verändert hat. Herzzerreißend sah das aus.«
»Hm.« Kevin füllte sein Glas mit Eiswasser aus dem eingebauten Spender am Kühlschrank. Ganz offensichtlich hörte er nicht zu; er hatte das Interesse am Thema Jen Sussman schon vor Monaten verloren. »Was gibt’s zum Abendessen?«
Laurie war nicht besonders überrascht, als Rosalie ankündigte, sich dem Schuldigen Rest anschließen zu wollen. Ihre Freundin war fasziniert von den Leuten in Weiß, seit sie ihnen zum ersten Mal über den Weg gelaufen war, und sie dachte oft laut darüber nach, wie schwierig es wohl wäre, so ein Schweigegelübde einzuhalten, vor allem dann, wenn man einen alten Freund träfe, jemanden, den man schon lange nicht mehr gesehen hat.
»Da werden sie doch wohl Zugeständnisse machen, meinst du nicht?«
»Keine Ahnung«, antwortete Laurie. »Eher nicht, glaube ich. Das sind Fanatiker. Die machen nicht gern Ausnahmen.«
»Nicht mal, wenn man seinen Bruder trifft und man ihn zwanzig Jahre nicht gesehen hat? Nicht mal Hallo darf man dann sagen?«
»Frag nicht mich, frag sie.«
»Wie soll ich sie denn fragen? Die dürfen ja nicht sprechen.«
»Keine Ahnung. Schau auf die Website.«
Rosalie schaute in diesem Winter oft auf die Website. Sie schloss eine enge Chatfreundschaft mit der Direktorin für Öffentlichkeitsarbeit – offenbar erstreckte sich das Schweigegelübde nicht auf elektronische Kommunikation –, einer netten Dame, die all ihre Fragen beantwortete und ihre Ängste und Vorbehalte mit ihr durchsprach.
»Sie heißt Connie. Früher war sie Dermatologin.«
»Ach ja?«
»Sie hat ihre Praxis verkauft und den Erlös der Organisation gespendet. Das machen viele so. Ist nicht billig, so einen großen Laden am Laufen zu halten.«
Laurie hatte in der Lokalzeitung einen Artikel über den Schuldigen Rest gelesen und wusste daher, dass mindestens sechzig Menschen auf dessen »Gelände« in der Ginkgo Street lebten, einer Siedlung mit acht Häusern, die deren Bauherr der Organisation überschrieben hatte – ein wohlhabender Mann namens Troy Vincent, der dort jetzt ohne besondere Privilegien als ganz normales Mitglied lebte.
»Und du?«, fragte Laurie. »Verkaufst du das Haus?«
»Nicht sofort. Die haben eine sechsmonatige Probezeit. Solange muss ich keine Entscheidungen treffen.«
»Das ist schlau.«
Rosalie schüttelte den Kopf, als staunte sie über ihren eigenen Mut. Laurie sah ihr an, wie aufgeregt sie war, jetzt, wo sie kurz vor einer völligen Veränderung im Leben stand.
»Wird bestimmt komisch, die ganze Zeit Weiß zu tragen. Ich glaube, Blau oder Grau fänd ich besser. Weiß steht mir nicht.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du anfangen wirst zu rauchen.«
»Igitt.« Rosalie verzog das Gesicht. Sie war militante Nichtraucherin, eine von denen, die sich wild mit der Hand vorm Gesicht herumwedeln, sobald im Umkreis von zwanzig Metern eine Zigarette brennt. »Daran werde ich mich erst mal gewöhnen müssen. Aber das ist wie ein Sakrament, weißt du? Man muss rauchen. Das kann man sich nicht aussuchen.«
»Deine armen Lungen.«
»Wir leben sowieso nicht mehr lange genug, um Krebs zu kriegen. In der Bibel steht, nach der Entrückung kommen nur noch sieben Jahre Trübsal.«
»Aber das war ja nicht die Entrückung«, erinnerte Laurie sich selbst genauso wie ihre Freundin. »Nicht wirklich.«
»Du solltest mit mir kommen«, sagte Rosalie leise und ernsthaft. »Wir könnten uns ein Zimmer teilen oder so.«
»Ich kann nicht«, antwortete Laurie. »Ich kann meine Familie nicht alleinlassen.«
Familie. Sie fühlte sich schlecht dabei, das Wort auch nur in den Mund zu nehmen. Rosalie hatte keine Familie, die den Namen verdiente. Sie war seit Jahren geschieden, und Jen war ihr einziges Kind gewesen. Sie hatte eine Mutter und einen Stiefvater in Michigan und eine Schwester in Minneapolis, aber mit denen sprach sie nur selten.
»Dachte ich mir schon.« Rosalie zuckte resigniert mit den Schultern. »Na ja, einen Versuch war’s wert.«
Eine Woche später fuhr Laurie Rosalie zur Ginkgo Street. Es war ein schöner Tag, voll Sonnenschein und Vogelgesang. Die Häuser waren imposant – großzügige, dreistöckige Kolonialvillen auf 2 000m2-Grundstücken, von denen jede zur Bauzeit wahrscheinlich mindestens eine Million Dollar eingebracht hätte.
»Wow«, sagte sie. »Ganz schön protzig.«
»Ich weiß.« Rosalie lächelte nervös. Sie war weiß gekleidet und trug einen kleinen Koffer, in dem sich hauptsächlich Unterwäsche, Toilettenartikel und die Alben befanden, in die sie so viel Zeit gesteckt hatte. »Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich mache.«
»Wenn’s dir nicht gefällt, ruf mich einfach an. Dann hol ich dich ab.«
»Das wird schon, glaub ich.«
Sie gingen die Außentreppe eines weißen Hauses hinauf, über dessen Tür das Wort HAUPTQUARTIER aufgemalt war. Laurie durfte das Gebäude nicht betreten, also umarmte sie ihre Freundin zum Abschied auf der Veranda und sah dann zu, wie eine Frau mit blassem, freundlichem Gesicht sie hineinführte – möglicherweise Connie, die ehemalige Dermatologin.
Fast ein Jahr verging, bevor Laurie zur Ginkgo Street zurückkehrte – wieder an einem Frühlingstag, etwas frischer allerdings, nicht ganz so sonnig. Dieses Mal war sie es, die weiße Kleidung trug und einen kleinen Koffer mithatte. Schwer war er nicht: Nur Unterwäsche war darin, eine Zahnbürste und ein Album mit sorgfältig ausgewählten Fotos ihrer Familie, eine kurze, in Bildern erzählte Geschichte der Menschen, die sie liebte und die sie zurückließ.