BESTIE
THRILLER
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Die Originalausgabe ist 2013 im Verlag Giulio Einaudi editore, Turin, unter dem Titel
Il sogno di volare erschienen.
© Giulio Einaudi editore, Torino 2013
Published by arrangement with Roberto Santachiara Agenzia Letteraria
© der deutschprachigen Ausgabe
FOLIO Verlag Wien • Bozen 2014
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: © Gettyimages / Tim Flach
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Typoplus, Frangart
Printed in Europe
ISBN 978-3-85256-647-4
www.folioverlag.com
Für Yodit, Giuliana und Angelica,
Personen aus dem wirklichen Leben,
das schöner ist als jeder Roman.
Da giovane avevo un sogno,
volare come un uccello,
ma adesso che schiaccio l’aria
col mio peso non mi pare bello.
Io volo come un mattone,
come un sasso, una chiave inglese,
volare senza le ali
è un problema, mi sembra palese,
volare senza le ali
è un problema, mi sembra palese.
In meiner Jugend hatte ich einen Traum,
ich wollte fliegen wie ein Vogel,
aber jetzt, da ich die Luft
zerquetsche mit meinem Gewicht, gefällt es mir nicht.
Ich fliege wie ein Ziegel,
wie ein Stein, wie ein Schraubenschlüssel,
fliegen ohne Flügel
ist schwierig, das ist wohl klar,
fliegen ohne Flügel
ist schwierig, das ist wohl klar.
Andrea Buffa, Il sogno di volare
Es war nur ein vages Gefühl.
Kein Geräusch, denn die Musik aus dem iPod verstopfte ihm die Ohren wie weiches, flüssiges Wachs, und es war auch kein Schatten und keine Bewegung. Die Laterne war kaputt und unter den Arkaden war es fast dunkel, aber er war derart in Gedanken versunken, mehr mit seiner Innen- als mit seiner Außenwelt beschäftigt, dass er nicht mal was bemerkt hätte, wenn es taghell gewesen wäre und die Sonne geschienen hätte.
Es war nur ein Gefühl.
Wie wenn man plötzlich aufwacht, weil man spürt, dass einen jemand ansieht, und Enzo riss sich tatsächlich von der Musik und seinen Gedanken los, nahm die Kopfhörer ab und drehte sich um.
Aber da war nichts.
Er dachte: nichts. Nicht niemand, sondern nichts, denn sein Gefühl sagte ihm, dass unter der dunklen Arkade, wo er das Rad abstellte, etwas gewesen war, nicht jemand, sondern etwas.
Etwas.
Aber da war nichts.
Am liebsten hätte er sich wieder seinen traurigen Gedanken überlassen und sich von der Musik berieseln lassen, die so traurig wie seine Gedanken war, und die er gehört hatte, während er durch das menschenleere Bologna nach Hause geradelt war, aber ausgerechnet der Anblick des Fahrrads oder besser gesagt der Kette, die er in der Hand hielt, oder eigentlich des offenen Schlosses ließ ihn alles vergessen, das Gefühl, die Gedanken, die Traurigkeit und die Musik.
Unter der Arkade, an der Säule, an der er immer sein Rad festmachte, klebte nämlich ein Plakat, ein in Großbuchstaben beschriftetes Plakat, ein Computerausdruck, und darauf stand, es sei absolut verboten, Fahrräder und Mopeds hier abzustellen. Und tatsächlich war der Laubengang leer, nichts lehnte an Wänden und Säulen, und allen, die sich nicht an die Anordnung hielten, wurden die Reifen aufgestochen.
Nur ihm nicht.
Er stellte sein Rad nach wie vor dort ab, kettete es am Pfosten des Halteverbotsschilds oder direkt an der Säule an, niemand hatte je was zu ihm gesagt.
Er wusste, warum. Und das machte ihn wütend, so was von wütend, dass er mit den Zähnen knirschte, auch jetzt knirschte er mit den Zähnen, und er ließ das Schloss offen, ließ die Kette über der Lenkstange hängen, dachte, Verdammt, mir stehlen sie nicht mal das Rad, öffnete das Tor und ließ es zufallen, und das um diese Uhrzeit, obwohl die dumme Kuh aus dem ersten Stockwerk ebenfalls ein Plakat geschrieben und im Flur aufgehängt hatte, bitte die Tür nicht zufallen lassen, verdammt, verdammt, verdammt nochmal.
Aber Enzo neigte eher zu Traurigkeit als zu Wut. Also setzte er sich wieder die Kopfhörer des iPod auf, und da er die Wiedergabe auf endlos eingestellt hatte, hörte er wieder den Song, in dem es um eine Elster ging, vurria ca fosse ciaola, sie möchte zu dir fliegen, und den ganzen Kram, den man sich anhört, wenn man verliebt ist und nicht erhört wird, sonst wäre es nämlich eher Sehnsucht gewesen und nicht Traurigkeit.
Diese Zicke.
Und da er in diesem Augenblick sehr, sehr traurig war, stellte er den iPod lauter und hörte nicht, dass das Tor, das er zufallen hatte lassen – verdammt, verdammt, verdammt – nicht ins Schloss gefallen, sondern ganz leise geschlossen worden war.
Diese Zicke.
Die Musik füllte seinen Kopf mit einem dichten, warmen Nebel, wie Marihuana. Er sang die Worte ganz leise mit, vulasse a ’sta fenesta, er hatte sie ihr vorgespielt, der Zicke, er hatte sie ihr übersetzt, und während sie mit typisch nördlicher Herablassung lächelte, die ihn vor Angst und Begehren vergehen ließ, hätte er ihr gern erklärt, dass die Musik nicht einfach Volksmusik war, sondern von der Nuova compagnia di canto popolare stammte, aber wozu eigentlich, offensichtlich verstand sie die Musik nicht – Ethno hatte sie sie genannt, Ethno, nicht Volksmusik – sie gefiel ihr nicht und vor allem er, Enzino, gefiel ihr nicht. Sie könnten ja Freunde sein, aber das war ihm nicht genug. Welcher Junge hätte sich damit zufriedengegeben, der Freund des Mädchens zu sein, das er liebte und das ihn nicht erhörte? Gab es so einen Jungen? Also verpiss dich, verpiss dich, verpiss dich, du dumme Zicke, aber bei diesem Gedanken empfand er keine Wut, sondern eine sanfte Traurigkeit, sodass die Worte fast wie ein Kompliment klangen, und in diesem Augenblick spürte er es wieder.
Das Gefühl.
Jetzt spürte er allerdings ganz deutlich, dass da was war, und da riss sich Enzo die Kopfhörer vom Kopf, er nahm sie nicht ab, sondern riss sie vom Kopf und schnellte herum, hielt den Schlüssel, den er gerade ins Schloss stecken hatte wollen, wie eine Waffe vor sich, und er hatte eine Gänsehaut bis zu den Haarwurzeln, obwohl er noch gar nichts gesehen hatte.
Und als er ihn sah, streckte er die Hände nach unten aus, als würde er einen Hund abwehren, denn er kam von unten, er dachte oh Gott, oh Gott, oh Gott, und riss den Mund auf, um so laut zu schreien, dass ihm die Stimmbänder gerissen wären, doch er konnte nur die Augen verdrehen, aufgrund einer stummen, absoluten Angst, die allein schon ausgereicht hätte, ihn umzubringen.
Ich erinnere mich nicht mehr
Non ricordo più come andò, come fu
la storia riporta che
non trovai Belzebú, Odino o Manitú …
qualcuno che aiutasse me!
Ich erinnere mich nicht mehr, wie es geschah,
die Geschichte besagt, dass
ich nicht Belzebub, Odin und Manitù fand …
ich niemanden fand, der mir half!
Bandabardò, Non ricordo più
Der Cursor funktioniert wie ein Radiergummi.
Er löscht den blauen Bindestrich und lässt einen weißen Strich übrig, der immer länger wird, langsam, entschlossen und stumm, ich kann mit den Kommandos nämlich noch nicht so gut umgehen und der Cursor bewegt sich stumm, während darunter, in Klammer, die Sekunden angezeigt werden.
Den schwarzen Hintergrund habe ich auf Vorschlag des Providers gewählt, die anderen Vorschläge erschienen mir unpassend, zu eindeutig – eine blaue Feder, rote Tinte, grüne Steine, Blumen –, unpassend und zu bedeutungsvoll. Am liebsten wäre mir eine weiße Seite gewesen, einfach eine weiße Seite, aber es gab keine, also kam nur Schwarz in Frage, eine schwarze Seite mit grauen Vierecken am Rand.
Oben in der Mitte, in Tahoma, Größe 20, mit weichen, langen Schleifen, steht der Titel: Logbuch, grau auf schwarz, darunter, in weißen, flachgedrückten Buchstaben, Größe 12, der Untertitel: gibt es jemanden da draußen der mir helfen kann? Ohne Beistriche, alles in Kleinbuchstaben.
Es war einfach gewesen, den Untertitel einzufügen, genauso einfach, wie das Foto einzufügen. Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt, ich richtete den Pfeil der Maus auf das Icon des Fotoapparats (Dateipfad anlegen, umblättern, Bilder einfügen, Ausrichtung und Größe wählen, hinzufügen, nein, zuerst das Kästchen ankreuzen, zum Beweis, dass man die Geschäftsbedingungen akzeptiert) und schon war es da, mitten auf der Seite.
Auf dem Foto ist ein Mann zu sehen, er sitzt auf einem Stuhl, einem Holzstuhl.
Er sitzt in einem Innenhof, auf Lehmboden, und neigt sich auf die rechte Seite – es sieht aus, als würde er auf zwei Stuhlbeinen balancieren und gleich umfallen –, einen Arm hat er abgewinkelt, als hielte er einen Schirm, und er beißt die Nägel der anderen Hand.
Es ist ein sehr altes Foto, eine an den Rändern vergilbte Buchseite, dunkle Fäden im Gewebe des Papiers, wie Falten, und auch das Bild mit dem dünnen schwarzen Strich rundherum (Abb. 10) ist porös und ausgeblichen wie eine Daguerreotypie. Und in der untersten Zeile der Bildunterschrift steht auch tatsächlich mars 1877, auf Französisch, und der Mann auf dem Sessel ist auch kein Mann, sondern ein Junge, denn er ist erst treize ans, dreizehn Jahre alt.
Er sieht jedoch älter aus.
Und nicht nur wegen der vorne offenen Jacke mit den großen Knöpfen, wegen der langen Männerhose, nicht nur wegen des Scheitels, der die dichten Haare teilt.
Er sieht älter aus, weil es ein trauriges Foto ist.
Der Junge, der aussieht wie ein Mann, starrt geradeaus, nach unten, auf seine übereinander geschlagenen Beine, auf die Schuhe, die übereinander liegen wie Hände, die einander zum Gruß gereicht werden, aber er sieht sie nicht an, er schaut ins Leere. Er nagt am Nagel eines Fingers, wahrscheinlich des kleinen Fingers, und er runzelt die Stirn, die Augen versteckt unter den buschigen Augenbrauen.
Ich frage mich: Was sieht er an?
Ich frage mich, warum sieht er es so an?
Eigentlich dürfte er gar nicht traurig sein.
Die Bildunterschrift besagt eindeutig, dass Louis, so heißt der Junge, n’a pas encore vu la vipère.
Er hat die Schlange noch nicht gesehen.
Sei ruhig (denke ich), noch ist nichts passiert, und berühre den Bildschirm mit den Fingerspitzen, berühre das traurige Foto, und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe, ich muss fertig werden, bevor die anderen kommen, aber ich sehe das Foto lange an, und ich lege die Hände auf den Mund, übereinander, während mir eine Gänsehaut über die Haut läuft, bis es fast wehtut.
Ich weiß, wenn Musik anstelle des stummen Cursors wäre, würde ich mich immer schwächer, immer leerer fühlen, so leer, dass ich nach vorne kippen würde, bis meine Stirn die Tastatur berührte, mit aufgerissenem Mund, aus dem die restliche Luft strömen würde, spärlich, trüb und flüssig, meine Wange würde auf dem Plastik zerfließen, das Kinn würde auf dem Holz des Schreibtisches schmelzen, zur Seite fließen wie Wachs und auf den Boden tropfen.
Das passiert mir immer.
Ein plötzlicher, sehr kurzer Schwindel, eine kurze Benommenheit und dann teilt sich die Luft vor dem Gesicht und ich sinke hinunter, langsam, sehr langsam, bis mich etwas aufhält.
Das Blut rinnt nicht länger in den Adern und der ganze Körper wird groß, weich und schwer (glaube ich zumindest), kraftlos, nur noch ein Wimmern, nur der Wunsch, mich zusammenzuziehen, um das Feuchte, das ich in mir spüre, herauszupressen.
Es gibt jedoch keine Musik, nur den weißen Strich, nur die Schrift Bandabardò, Non ricordo più daneben, stumm über dem traurigen Foto. Louis hat die Schlange noch nicht gesehen, aber es geht ihm trotzdem schlecht, und jetzt nehme ich die Hände vom Mund und das Gesicht in die Hände und drücke mit den Handflächen auf die Augen, als ob ich sie in die Augenhöhlen hineinpressen möchte, und weine, schreie mit weit aufgerissenem Mund, wie damals, als ich mir beim Weinen zugesehen habe, mit nach unten gezogenen Augen- und Mundwinkeln, drei schwarze Löcher in der Mitte wie die Fenster einer Kathedrale, drei Ofenlöcher, drei finstere Höhlen, aus denen ein langes tränenloses Heulen dringt, das lange anhält (wie lange?).
Zum Glück hören mich die anderen nicht, und als ich aufhöre, ist mein Mund so trocken, dass es wehtut.
Jetzt vermeide ich es, das Foto anzusehen, und bevor ich alles online stelle, samt dem automatisch auftauchenden Datum (Donnerstag, 4. August 2010), tippe ich auf der Tastatur rasch das einzige, was ich hinzufügen kann.
Times New Roman, Größe 12.
Weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund.
Gibt es da draußen jemanden, der mir helfen kann?
Gibt es da draußen jemanden, der mir helfen kann?
Sie hatte einen Traum, sie sah das verknautschte Gesichtchen eines kleinen Kindes, eines Babys, es plärrte unaufhörlich und laut, und daneben noch ein Gesicht, das genauso aussah, dieselben vor Anstrengung verzerrten Züge, geschwollen und rot, und mitten drin dieselben Schlitze, die geschlossenen Augen und der weit aufgerissene Mund.
Grazia sah von oben auf sie hinunter, sie stand unbeweglich am Rande des Bettchens, ein kochend heißes Milchfläschchen in der Hand, sie sah den Babys zu, wie sie plärrten und strampelten und mit den kleinen Fäusten ins Leere boxten, und sie erinnerte sich nicht mehr, welchem der beiden sie eben das Fläschchen gegeben hatte, denn sie sahen ganz genau gleich aus, eineiige Zwillinge. Sie dachte, wenn sie sich irrte und dem Baby das Fläschchen gäbe, das schon getrunken hatte, dann würde es übergehen wie ein volles Glas, und sie sah – nach wie vor im Traum – gewissermaßen als Vorwegnahme des Gedankens das weiße Rinnsal, das ihm aus den Mundwinkeln, den Augenwinkeln und der Nase lief wie ein Fluss weißer Tränen, und dabei verspürte sie Angst, Furcht, und davon wachte sie auf, denn das war kein Traum, sondern ein Alptraum.
Es war kein häufig wiederkehrender Traum. Sie hatte ihn einmal geträumt und dann nicht wieder, vor langer Zeit, aber jetzt fiel er ihr ein, während sie auf dem Rücken lag, mit gespreizten Beinen und den Knöcheln auf den gepolsterten Fußstützen am Fußende des Stuhls. Diese Stellung war ihr immer unangenehm gewesen, sie wackelte nervös mit den Zehen, bis der Gynäkologe, egal ob Mann oder Frau, sie endlich aufforderte, sich wieder anzuziehen. Früher, als sie noch ein Teenager gewesen war, hatte man sie geduzt, jetzt siezte man sie, aber das Gefühl war dasselbe geblieben.
– Fertig. Sie können sich wieder anziehen.
Grazia ließ die Beine sinken, setzte langsam die Fußsohlen auf den Boden, in der Erwartung, dass der Krankenhausboden kalt war, obwohl es draußen unerträglich schwül und drinnen aufgrund der Klimaanlage angenehm kühl war. Mit einem Taschentuch wischte sie sich das Gel vom Bauch und zog sich rasch wieder an, Jeans, T-Shirt, Bluse, und als sie hinter dem Paravent hervorkam, hatte sie die Turnschuhe, das Pistolenhalfter und das Handy in der Hand, sie wartete nämlich ungeduldig auf eine Antwort.
Es war eine Gynäkologin, sehr kompetent und sehr freundlich, sie erklärte ihr alles sehr genau, sogar das, was Grazia ohnehin nicht verstehen würde. Die Ultraschallbilder, die vor ihr lagen, sahen wie gestrichelte Zeichnungen aus. Grazias Gebärmutter war darauf zu sehen, doch für sie sahen sie wie eingescannte Fingerabdrücke aus, die die Spurensicherung schickte, oder wie Bilder von Überwachungskameras, die von schlecht ausgestatteten Kommissariaten gefaxt wurden.
Sie sah die Ärztin an, diese zeigte beim Sprechen auf die Ultraschallbilder, und Grazia sah sie an, ohne ihr zuzuhören, weil sie Angst hatte, sie könne was sagen, das sie nicht hören wollte. Sie hätte gerne die Beine angezogen, die Fersen am Rand des Stuhls aufgesetzt und die Arme um die Knie gelegt, wie sie es als Kind nach Untersuchungen immer gemacht hatte, sich verschlossen wie eine Muschel, wie damals, als sie das erste Mal am Strand Sex gehabt hatte. Doch sie blieb aufrecht sitzen, bückte sich, um in die Schuhe zu schlüpfen, da stellte sie fest, dass sie noch immer keine Socken anhatte.
– Also, sagte sie plötzlich und unterbrach die Ärztin, wird es funktionieren?
– Aber sicher. Hier ist alles in Ordnung, die Ärztin berührte die Ultraschallbilder wieder mit der Fingerspitze, das Blutbild ist okay und auch das Spermiogramm Ihres Mannes ist ziemlich gut.
– Meines Lebensgefährten, sagte Grazia, und dachte an Simone, der zu Hause auf sie wartete, auf dem Sofa, verärgert und noch immer peinlich berührt, es war, als hätte ich mir auf dem Klo einen runtergeholt, während der Schularbeit, mit dem Lehrer vor der Tür.
– Natürlich wird es funktionieren. Nichts spricht dagegen, dass Sie schwanger werden. Aber es gibt auch viele Faktoren, die sich negativ auswirken. Stress zum Beispiel.
Das Handy vibrierte wieder neben der Pistole, es summte auf dem Holz des Schreibtisches wie eine riesige Hummel. Grazia drückte auf den Knopf an der Seite und machte den Ton aus, ohne überhaupt nachzusehen, wer sie angerufen hatte, sie hatte sich nämlich den Tag freigenommen, um in die Klinik zu gehen. Sie legte das Handy mit der Vorderseite nach unten hin und stellte fest, dass die Ärztin die Pistole betrachtete.
– Wahrscheinlich ist auch Ihre Arbeit nicht gerade …
– Es ist eine Arbeit wie jede andere auch, sagte Grazia und befestigte das Halfter am Gürtel, im Rücken, unter der Bluse, die sie offen trug wie eine Jacke. – Hängt nur vom jeweiligen Augenblick ab.
– Nun, dann sorgen Sie dafür, dass es der richtige Augenblick ist. Früher sorgte die Natur dafür, vor allem bei einer jungen Frau wie Ihnen. Wie alt sind Sie, einunddreißig?
– Dreißig.
– Dachte ich mir’s doch. Und außerdem die Umweltverschmutzung, die Ernährung, Häufigkeit und Qualität des Verkehrs …
Wieder Simone auf dem Bett, nackt, bei einer der letzten Gelegenheiten, als sie Liebe gemacht hatten. Er starrte an die Decke, ohne sie anzusehen, er war von Geburt an blind, aber es war, als könne er sehen, und mehr noch, denn er nahm die Dinge mit allen Sinnen wahr. Er hörte, wie sie Rotz hochzog, kaum mehr als ein Seufzen, aber etwas zu feucht, streckte den Arm aus, bevor sie den Kopf wegdrehen konnte, und wischte eine Träne weg.
Hätte er doch etwas gesagt, hätte sie doch was gesagt, damals, gleich, aber niemand sagte was, Simone starrte an die Decke und sie ging in die Dusche.
Sag ja nicht, wir hätten Liebe gemacht, hatte er ihr beim letzten Mal zugeflüstert, ich weiß nicht, was es war, Grazia, aber Liebe ist es nicht mehr.
– Stress vor allem.
Das Handy hatte wieder zu summen begonnen. Grazia schaltete wieder auf lautlos, sah nicht auf das Display.
– Warum machen Sie es nicht aus?
– Ist egal, es stört mich nicht.
– Gut. Ich brauche noch ein paar Unterschriften, Ihre Erklärung, dass Sie die Informationen zur Therapie erhalten haben, Ihre Zustimmung zu Datenschutz und Kostenvoranschlag. Ich schreibe Ihnen mal das Rezept für Gonal und Decapeptyl auf, und dann erkläre ich Ihnen, wie Sie es einnehmen sollen.
Wieder die Hummel. Grazia hatte das Handy zwar auf lautlos gestellt, aber es war trotzdem lästig, ein lang anhaltendes Summen, das aufhörte und wieder von vorne begann, immer wieder, genau wie eine riesige fliegende Hummel, mal weiter weg, mal nahe, dann wieder weiter weg …
Grazia nahm das Telefon und sah auf das Display.
Matera.
Sie hatte im Büro doch gesagt, sie nähme sich einen Tag frei. Sie hatte gesagt, sie käme an diesem Vormittag nicht ins Büro, müsse etwas erledigen, Privatangelegenheiten, ein Arztbesuch.
Matera.
Sie hatte es doch gesagt, sie hatte es doch gesagt.
Matera.
Scheiße.
– Matè, was willst du? Ich habe gerade zu tun.
Matera hatte die Gewohnheit angenommen, mit fast geschlossenem Mund zu sprechen, mit der Zigarre zwischen den Zähnen. Seitdem er auf Anordnung des Arztes nicht mehr rauchen durfte, hatte er immer eine Zigarre zwischen den Lippen, sie glühte zwar nicht, aber dafür hatte er sie immer im Mund. Er aß sie langsam auf und am Ende des Tages war sie verschwunden.
– Grazia, du musst sofort kommen. Es ist wichtig.
– Auch ich hab was Wichtiges zu erledigen. Ich habe ja gesagt, dass ich heute nicht komme, ich habe es doch gesagt.
– Hör zu, heute Nacht ist ein Junge umgebracht worden.
– Ich weiß, ich hab es gehört, ein Student. Aber was geht uns das an, das ist ein Fall für das Morddezernat. Was hat die Antimafia-Abteilung damit zu tun?
– Nichts, solange er nur Vincenzo Cardello hieße, Cardello wie sein Vater. Willst du wissen, wie seine Mutter heißt?
Grazia hatte eines der Formulare genommen und wollte sich gerade einen Kugelschreiber aus dem Becher fischen, auf dem sich das Logo einer Arzneifirma befand. Sie wollte gerade ihre Unterschrift unter eines der Formulare setzen, um der Ärztin zu beweisen, dass das Telefonat gar nicht so wichtig war, dass sie gleich auflegen würde, aber sie setzte keinen Strich aufs Papier und der Kugelschreiber blieb im Becher.
– Sie heißt Giannello. Anna Maria Giannello. Der ermordete Junge ist der Neffe von Giannello Carmelo.
– Scheiße.
Sie wusste nicht, ob sie es gesagt oder nur gedacht hatte. Die Ärztin hörte jedenfalls damit auf, Kreuzchen neben die gepunkteten Linien zu machen, und sah Grazia an, die schüttelte den Kopf und biss sich so fest auf die Lippe, dass es wahrscheinlich wehtat.
– Ist gut, Matè, ich komm schon, sagte sie ins Handy, und dann zur Gynäkologin: – Ich nehme die Formulare mit und unterschreibe sie zu Hause, geben Sie mir bitte das Rezept, ich rufe Sie später an.
– Genau das, sagte die Ärztin, habe ich gemeint.
Das bedeutet Krieg, dachte Grazia und versuchte sich an der Kreuzung zur Via Isernio zwischen ein Taxi und einen Volvo zu quetschen, wegen der Baustellen für die neue Straßenbahnlinie bildeten die Autos eine lange Schlange. Instinktiv hob sie den Arm, als hielte sie die Kelle in der Hand und könnte die wütende Schlange entzwei teilen, die sich in der Gluthitze vorwärts wälzte im ohrenbetäubenden Lärm der Presslufthämmer, die den Asphalt aufbrachen, aber sie saß nicht im Dienstauto, sondern in ihrem Panda mit der kaputten Klimaanlage, die Fenster waren zwar heruntergekurbelt, aber das nützte nichts, die Luft stand still, und der Ventilator blies ihr heiße Luft ins Gesicht, wenigstens trocknete so der Schweiß.
Das bedeutet Krieg, dachte Grazia, und der Gedanke beschäftigte sie so sehr, dass sie nicht einmal daran dachte, dem Taxifahrer eine entschuldigende Geste zu machen; die Stoßstange seines Wagens war nur eine Handbreit von ihrer entfernt, und im Rückspiegel sah sie, wie er ihr den Stinkefinger zeigte.
Carmelo Giannello.
Sie kannte ihn gut, beziehungsweise sie kannte seinen Körper bis zum Gürtel, denn dort hörte das Foto auf, das auf der Tafel in ihrem Büro befestigt war, an der Spitze einer Fotopyramide, direkt unter der etwas größeren Schrift LEITUNG DER MAFIAERMITTLUNGEN und der etwas kleineren OPERATION RIGOLETTO. Auf dem Foto trug er noch einen Rollkragenpulli unter der Lederjacke und auch einen langen Bart, aber es war ein altes Foto, denn seitdem er das Bindeglied zwischen den Baufirmen in der Emilia-Romagna geworden war, die von der Familie kontrolliert wurden, kleidete er sich angeblich wie ein echter Unternehmer. Angeblich, denn seitdem er auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher in Italien – und der vierzehn meistgesuchten in ganz Europa – stand, hatte ihn niemand mehr gesehen, zumindest offiziell nicht. Und angeblich war er trotz der Designerklamotten nach wie vor ein Killer, ein Killer mit Rollkragenpullover und Lederjacke.
Grazia wand sich, um sich im engen Auto die Bluse auszuziehen, Schultern und Arme verhedderten sich im eng anliegenden Stoff. Die Autoschlange war wieder zum Stehen gekommen und sie glaubte in der Gluthitze platzen zu müssen, obwohl ihr Unbehagen wahrscheinlich nicht nur von der Hitze herrührte. Sie verspürte eine innere Unruhe, rutschte auf dem Sitz hin und her.
Warum, fragte sie sich, warum. Der letzte Mafiamord in der Region lag drei Jahre zurück, ein Unternehmer aus Caserta war im Kofferraum eines Autos eingequetscht gefunden worden, in Castelfranco Emilia, Erdaushubmaschinen, er hatte sich mit denen aus Casale nicht einigen können, sagte ein Spitzel. Seit damals nichts mehr. Die Familien kontrollierten einmütig Zementwerke, Supermärkte und Girokontos zwischen Bologna und Modena, die Region Reggio war der ’ndrangheta überlassen worden, und im Augenblick herrschte Friede, Freude, Eierkuchen.
Warum also?
Unbescholten, na gut, Enzino Cardella war sicher ein braver Junge, hatte mit dem Milieu nichts zu tun, o. k., so wenig, dass nicht einmal sie wusste, wer er war und dass er in Bologna wohnte, aber er war umgebracht worden, und wenn jemand wie der Neffe Carmelo Giannellos umgebracht wird, kann es sich nicht einfach um einen Zufall handeln.
Das bedeutet Krieg, dachte Grazia, das bedeutet Krieg.
Er ist nicht einfach umgebracht worden, sagte Doktor Carlisi in dem Augenblick, als Grazia die Tür zum Besprechungszimmer öffnete, ohne zu klopfen.
– Tut mir leid, dass ich zu spät komme, die ewigen Baustellen in dieser Scheißstadt … aber sie verstummte augenblicklich.
Sie hatte gedacht, nur Doktor Carlisi mit Matera und Sarrina anzutreffen und allenfalls noch jemanden vom Morddezernat, aber stattdessen waren jede Menge Leute da, sogar zwei Carabinieri mit silbernen Tressen auf dem Revers, zwei Offiziere. Den einen, den großen Dünnen, der sie missbilligend anblickte, kannte sie, es war Colonello De Zan, der Chef der Kriminalabteilung. Den anderen, den Capitano, kannte sie nicht, er hatte rote, kurze Haare, ein freundliches Gesicht, fast ein Kindergesicht. Er lächelte sie an und Grazia erwiderte das Lächeln, sie knöpfte die Bluse über dem T-Shirt zu, denn der Colonello sah sie noch immer an, als ob sie nackt wäre, aber nicht begehrlich, sondern missbilligend.
– Frau Kommissar Negro, sagte Carlisi, ohne ihr die anderen vorzustellen, und redete weiter, Grazia setzte sich neben einen Kommissar vom Morddezernat. Er ist nicht einfach umgebracht worden. Vielmehr … vielmehr ist er … irgendwie … verstümmelt worden. Wir wissen noch nicht wie.
Er sprach mit einer kleinen, rundlichen Frau, die eine Brille mit Goldrand an einer goldenen Kette um den Hals trug. Grazia kannte sie, es war Staatsanwältin Deianna von der lokalen Antimafia-Abteilung.
Sie hörte ein Summen hinter sich, der Videoprojektor warf einen bleichen Lichtstrahl auf die Leinwand hinter Doktor Carlisi und auch auf einen Ärmel seiner Jacke. Carlisi saß auf der Kante seines Schreibtisches, den anderen gegenüber, wie ein Lehrer, und offenbar zog er es in die Länge, um seinen Platz nicht verlassen zu müssen.
– Herr Doktor, sagte Deianna und setzte die Brille auf, früher oder später müssen Sie uns die Fotos der Spurensicherung zeigen, wir sind ja keine blutigen Anfänger mehr, wir haben doch schon genug hässliche Dinge gesehen, oder?
Sie warf De Zan einen Blick zu, der schüttelte den Kopf, mit demselben herablassenden Blick, mit dem er auch Grazias verschwitztes T-Shirt betrachtet hatte. Carlisi stand vom Schreibtisch auf und machte Matera ein Zeichen, der ließ die Finger über die Tastatur eines Notebooks gleiten, unsicher, als ob er in der Dunkelheit tappte. Kommissar Matera stand kurz vor der Pensionierung und gehörte noch jener Generation an, die mit Computern nichts am Hut hatte, deshalb nahmen ihm Grazia oder Kommissar Sarrina diese Aufgabe ab. Sarrina war jedoch aufgestanden, hatte entschuldigt gemurmelt, und dann so etwas Ähnliches wie Toilette, aber er war zu schnell und mit gesenktem Kopf hinausgegangen, als ob er sich genierte, und Grazia wollte unbedingt sehen, was einen wie ihn derart aus der Fassung brachte. Deshalb setzte sie sich nicht auf Materas Platz, sondern blieb sitzen, die Ellbogen auf dem Klapptisch des Stuhles, den Blick auf den Bildschirm geheftet, wie in der Schule oder im Kino.
Beim ersten klick wandte Grazia instinktiv den Kopf ab, so schnell, dass sie sich fast den Hals verrenkte.
Die anderen gaben ein Stöhnen von sich, das beim zweiten Bild in einen leisen Aufschrei überging. Der Mann neben der Staatsanwältin presste den Handrücken auf den Mund, um den Brechreiz zu unterdrücken, und lief aus dem Zimmer. Die anderen blickten starr auf den Bildschirm, wollten sich keine Blöße geben, aber es fiel ihnen offensichtlich schwer, selbst dem Colonello, der sich am wenigsten aus der Fassung bringen ließ, doch auch er war blass geworden, leichenblass.
Der Capitano mit dem Kindergesicht drehte sich zu Grazia um, als suchte er ihren Blick, so geschockt, dass er ihr leidtat.
– Was ist das Weiße da?, fragte Deianna ganz leise.
– Zähne. Sie kleben auch an der Mauer.
Carlisi machte eine Geste, als würde er etwas mit beiden Händen auseinanderreißen. – Aber davor hat man ihm Nase und Ohren abgerissen und das Kiefer ausgerenkt, um ihm die Zunge herauszureißen.
Klick, klick, klick.
– Es reicht, sagte die Staatsanwältin. – Ich lese den Autopsiebericht. Macht das Ding aus … gebt das bitte weg!
Matera tippte umsonst auf die Tasten, mit der Zigarre zwischen den Lippen, und Carlisi stellte sich vor den Projektor, der ihnen das zerfleischte Gesicht Enzo Cardellas entgegenspie, schließlich machte Grazia ihn aus. Sie rang nach Luft, wie Matera, und ihr war, als würde sich eine Hand um ihren Magen krampfen, trotzdem hätte sie sich die Fotos gerne fertig angesehen. Sie würden sie später ansehen, wenn sie allein im Büro waren.
De Zan fuhr sich mit der Hand über den Kopf, als wollte er seine Haare glätten, aber er wollte sich nur den kalten Schweiß von der Stirne wischen.
– Wir haben Cardella lange beschattet, sagte er, zur Staatsanwältin gewandt.
– Das wussten wir nicht, sagte Carlisi.
– War auch nicht notwendig. Es war eine Ermittlung der Kriminalabteilung, und wenn wir etwas in Erfahrung gebracht hätten, hätten wir die Frau Doktor informiert.
– Und habt ihr etwas in Erfahrung gebracht?, fragte Carlisi.
Der Colonello presste die Lippen zusammen. – Nein, flüsterte er. Wir dachten, möglicherweise hätte Cardella Kontakt zu seinem Onkel. Capitano Pierluigi hat ein paar Monate lang in dem Haus in der Via Remorsella gewohnt.
Das war der Carabiniere mit dem Kindergesicht. Er nickte heftig und räusperte sich, als hätte er gerade geweint.
– Ich war bis zu seinem Geburtstag dort. Wir glaubten zwar nicht, dass ihn sein Vater besuchen würde, allenfalls, dass er ihm etwas schickte, was uns ein paar Hinweise lieferte. Aber nichts, nicht einmal Glückwünsche. Nur seine Mutter kam ihn besuchen, Giannello Carmelos Schwester.
Seine Augen glänzten noch immer, und Grazia dachte, er habe tatsächlich geweint.
– Warum sind Sie sich dessen sicher?, fragte Carlisi.
– Weil Pierluigi tüchtig ist und ihm nichts entgeht, sagte der Colonello streng, und dann: – Frau Doktor, wir haben nicht vor, hier …
– Es reicht, es reicht.
Die Staatsanwältin war aufgestanden, die Brille zitterte auf ihrem Busen, und selbst im Stehen war sie nicht viel größer als im Sitzen. Aufgrund des sardischen Akzents betonte sie das B – basta, basta – wie immer, wenn sie sich ärgerte.
– Aufgrund von Cardellas Verwandtschaftsbeziehungen ist das ein Fall für die Antimafia-Abteilung.
Sie hob eine Hand, um De Zan zum Schweigen zu bringen. – Colonello. – Mit doppeltem L am Anfang und geschlossenem E. – Sofern es sich bei diesem Mord nicht um einen Zufall handelt, haben wir es mit einer Kriegserklärung, schlimmer als Pearl Harbor, zu tun, und wir wissen nicht einmal, von wem. Ich schlage vor, dass wir eine Taskforce gründen und einen Verbindungsoffizier ernennen. Ich will kein Durcheinander, wir suchen alle dasselbe, wenn auch auf verschiedenen Wegen.
Sie betonte noch immer die Konsonanten und sprach das E geschlossen aus.
– Und jetzt sagen Sie mir bitte, wo die Toilette ist. Ich muss meinen Mitarbeiter abholen, wenn ihm nicht mehr schlecht ist.
Wenn.
Wenn Matera nicht den Drucker im Büro benutzt hätte, um das Handyfoto seiner Enkelin auszudrucken, wäre noch Tinte im Drucker gewesen und Grazia hätte nicht zur Kriminalpolizei hinuntergehen müssen, um Enzinos Fotos auszudrucken, dann hätte sie am Ende der Hintertreppe auch nicht D’Orrico getroffen, der ihr vom Gang aus ein Zeichen machte, sie solle in sein Büro kommen.
Und wenn sie nicht hingegangen wäre, dann hätte sie auch nicht gesehen, dass dem Inspektor die Schamesröte im Gesicht stand (nur einen Augenblick, Grazia, ganz bestimmt, nur auf ein Wort) und dass hinter ihm in seinem leeren Büro eine Dame stand, mit zusammengekniffenem Mund und einer Louis-Vuitton-Tasche fest in der Hand.
Grazia kannte die Dame. Die auftoupierte Löwenmähne wie frisch vom Friseur, die dicke Schminke, die Designerkleider – all das hatte sie schon einmal gesehen, ebenfalls auf einem Foto, aber nicht auf einem Fahndungsfoto wie dem ihres Bruders, sondern auf einem gestellten Hochzeitsfoto, auf dem alle Personen gelbe Kreise um den Kopf hatten und von einem Pfeil markiert wurden, mit ihrem Namen daneben. Sie war Anna Maria Giannello, Giannello Carmelos Schwester.
Enzinos Mutter.
– Tut mir leid, Grazia, aber ich konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen, flüsterte D’Orrico hastig, während er die Tür schloss und hinauslief, und Grazia begriff, dass man sie früher oder später unter einem anderen Vorwand in die Falle gelockt hätte.
Grazia machte die Tür wieder auf.
– Sie dürften gar nicht hier sein, sagte sie, ich bitte Sie …
– Ich möchte wissen, wer es war.
– Dann müssen Sie mit dem Staatsanwalt oder mit meinem Vorgesetzten sprechen, aber nicht mit mir und nicht hier, ich bitte Sie …
Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Grazia berührte sie nicht, sie hatte die Akte mit den Fotos der Spurensicherung auf den Schreibtisch gelegt, sie streckte zwar den Arm in Richtung der Frau aus, ihre Finger berührten fast die Seidenbluse, während die andere Hand auf der Türklinke lag, nein, sie berührte sie nicht, aber ihre Geste war unmissverständlich und entschlossen. Die Frau rührte sich nicht von der Stelle, sie stand mitten im Büro, wie angewurzelt, genauso unmissverständlich und entschlossen. Sie blickte ihr direkt in die Augen, sie hatte ihr von Anfang an direkt in die Augen geblickt, und zwar nicht herausfordernd, sondern sachlich, und Grazia begriff, dass sie sie berühren hätte müssen, um sie wegzuschicken, ihr zumindest eine Hand auf den Arm legen oder sie mit Gewalt an den Schultern packen, aber sie fühlte sich nicht dazu imstande. Also ließ sie die Klinke los, ließ jedoch die Tür offenstehen.
– Ich möchte wissen, wer es war.
– Wir ermitteln …
– Sie sind aus dem Süden, wie ich.
– Ich bin Polizistin.
– Sie sind aus dem Süden wie ich. Haben Sie Kinder?
– Nein, sagte Grazia.
Sie hatte einen Sekundenbruchteil gezögert. Die Frau bemerkte es und lächelte, ebenfalls einen Sekundenbruchteil lang.
– Wenn Sie mal welche haben, werden Sie meine Gefühle verstehen. Ich bin eine Mutter aus dem Süden, und mein Sohn ist umgebracht worden.
Grazia warf einen Blick auf die Akte mit den Fotos des Massakers. Unter dem beigen Karton lugte ein winziges Eckchen bedruckten Papiers hervor. Sie schob es schnell hinein.
– Lassen Sie das, sagte die Frau, ich habe sie schon gesehen.
Grazia erwiderte den Blick der gleichgültigen Augen. Der Blick der Frau war kalt und hart, etwas Grausames und Böses, etwas Gewalttätiges und Wildes lag darin, etwas, das ihn undurchdringlich und gleichgültig machte.
Grazia fragte sich, ob sie und ihre Kollegen nicht die falsche Person verfolgt hatten. Ob der flüchtige Giannello Carmelo die Geschäfte der Familie führte, oder nicht doch Signora Anna Maria Giannello.
– Ich möchte wissen, wer es war.
– Signora, ich bitte Sie. Das dürfen Sie nicht mich fragen, Sie müssen mit Doktor Carlisi sprechen, oder noch besser mit der Staatsanwältin Deianna, die können Ihnen was sagen …
– Blödsinn. Ich weiß, dass Sie hier das Sagen haben.
Anna Maria Giannello, unbescholten, niemals ein Interview, niemals ein Wort über ihren Bruder, Shopping, Charity-Veranstaltungen und Abendessen im Kreise des kampanischen Jetsets, auch ihr Tonfall war offen wie der des Großbürgertums und nicht geschlossen wie der der Camorra. Hatten sie sich tatsächlich getäuscht?
– Wie gesagt, die Ermittlungen laufen.
– Ich weiß. Auch wir ermitteln.
So. Jetzt war es kein Verdacht mehr, sondern Gewissheit. Sie hatte es gesagt. Wie eine Nachricht, eine amtliche Mitteilung, nicht wie ein Geständnis. Sie war der Boss der Familie Giannella.
– Wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um etwas handelt, das … sozusagen … uns betrifft, gut. Wir machen unsere Arbeit und ihr macht die eure. Sollte es sich jedoch um etwas handeln, das nichts mit uns zu tun hat …
– Haben Sie etwa einen Verdacht? Gibt es Probleme, Interessenskonflikte, Missstimmungen mit gewissen Personen, aufgrund derer …
– Das habe ich nicht gesagt …
– Hier in der Region? Hier im Norden? Oder auch unten bei euch, oder vielleicht im Ausland?
– Das habe ich nicht gesagt.
Sie hatte nicht die Stimme erhoben, aber es war, als hätte sie es getan. – Ganz im Gegenteil, ich habe nichts gesagt. Vergessen Sie, dass ich Anna Maria Giannello bin, ich bin Enzinos Mutter.
Eine Pause. Aber sie war nicht von Sentimentalität übermannt worden, sie war von allem Möglichen, auch von Wut, übermannt worden, aber nicht von Sentimentalität. – Ich möchte bloß wissen, wer es war.
Grazia seufzte. Sie zuckte mit den Achseln, ohne etwas zu sagen, sie wusste, dass es nicht notwendig war. Sie richtete sich auf, in ihrer hellgelben Bluse über dem beigen T-Shirt, mit im Nacken zusammengebundenen Haaren stand sie vor dieser großgewachsenen Frau, die nur Designerware, selbst Designerschmuck trug, mit aufgeplusterter roter Mähne wie ein Löwe.
– Auf Wiedersehen, sagte Anna Maria Giannello und ging auf den Gang hinaus, wo D’Orrico etwas entfernt auf sie wartete.
Sie ging an ihm vorbei, als ob es ihn gar nicht gäbe, und er wollte ihr schon nachlaufen, doch dann wartete er, bis Grazia aus der Tür kam.