Geschwister
Die längste Beziehung des Lebens
Ich danke meiner Mutter, meinem Vater, meiner Stiefmutter, meinem Stiefvater und allen meinen Geschwistern dafür, dass sie meine Familie sind.
Für die Welt da draußen danke ich meinen Freunden.
Dieses Buch ist für meine große Schwester.
Um die Privatsphäre der Protagonisten zu schützen, wurden manche Namen und persönliche Details verändert.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2014/2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos und Gabler, Hamburg
Unter Verwendung eines Fotos von fotolia © PIXXart Photography
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96193-5
E-Book: ISBN 978-3-608-10732-6
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Teil Eins: Was Geschwister sind
Arthur
Gene
Rollen
Verhandlung und Spiel
Wut und Macht
Ausweichen
Eingewoben
Sollbruchstellen
Zeugen
Teil Zwei: Wobei Geschwister stören
Moral
Kain, Abel, Leo und Marlene
Der Alptraum vom Familienglück
Sphären
Fremde Welten
Abstand
Wozu klären
Reflexion
Teil Drei: Wo man Geschwister herbekommt
Gute Menschen, schlechte Menschen
Stückwerk
Trümmerbande
Drama am Familientisch
Zweierlei Maß
Kuckuckskinder, Samenspender und andere Geheimnisse
So ist es anderswo
Spätberufene
Teil Vier: Wie man Geschwister loswird
Sichere Seite
Neue Dramen am Familientisch
Thron und Trauma
Einer trage des anderen Last
Ballast abwerfen
Dunstkreis und Freundschaft
Geschwister von Beruf
Versöhnung am Totenbett
Teil Fünf: Warum Geschwister gut sind
Solitäre
Mädchenhäuser, Jungenhäuser
Lasten
Im Seitenflügel
Dunkle Welten
Üben üben üben
Das Geschwistergeheimnis
Abschied von Arthur
Literatur
»Pass auf, habe ich gesagt, ich brauche diese Art Beweise nicht. Ich glaube an das, was ich sehe, was ich fühle. Genauso wenig wie ich irgendeine künstliche Befruchtung brauche, um schwanger zu werden, genauso wenig brauche ich einen Gentest, um zu glauben, dass das mein Bruder ist. Wenn überhaupt, dann Halbbruder, hat Holger gespielt unbeteiligt vor sich hin gemurmelt, aber egal – ihr seid aus einem Fleisch und Blut. Ihr seid Verwandte. Dagegen könnt ihr nichts machen. Das hat Holger gesagt. Und ich habe gesagt: Ich bin mehr als mein Blut. Ich bin ein Mensch mit einer Geschichte.«
Björn Bicker: Was wir erben
Was Geschwister sind
Heute vor drei Jahren ist mein Bruder Arthur gestorben. Er ist eine Treppe hinuntergefallen und hat sich dabei den Schädel gebrochen. Ich erfuhr es an einem Samstagmorgen. Als die SMS kam mit der Bitte um Rückruf, ahnte ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert war. In der Nacht hatte ich geträumt, dass ein Freund von mir ums Leben kam.
Als Arthur mein Bruder wurde, war ich acht und er elf Jahre alt. Davor besuchten seine Eltern meine manchmal zum Essen und umgekehrt, und wir spielten zusammen. Aber daran erinnere ich mich kaum. Dann zog mein Vater mit einer anderen Frau in eine andere Stadt. Nicht viel später verließ Arthurs Mutter in einer verschneiten Winternacht nach einem Streit ein Ferienhaus in den Bergen und kam nicht wieder. Erst im Frühjahr darauf fand man sie in einer Schlucht.
Nach etwas mehr als einem Jahr zog meine Mutter zu Arthurs Vater nach Ringen. Auch für mich wurde Platz gemacht. Ich bekam das Gästezimmer. Die beiden waren der Ansicht, dass diese Lösung für alle die beste sei. Meine Mutter könnte im Haus nach dem Rechten sehen und sich um Arthur und seinen Bruder Gregor kümmern, während der Vater arbeitete. Ich könnte mit den Jungen spielen und ihr im Haus zur Hand gehen. Damit wir uns aneinander gewöhnten, trafen wir uns vorher eine Weile fast jedes Wochenende zu Ausflügen und Wanderungen. Wenn wir danach in einem Restaurant einkehrten, durften wir Kinder essen, was wir mochten, und so oft Getränke nachbestellen, wie wir wollten. Arthurs Vater hieß für mich jetzt Berni. Auch die Jungen nannten meine Mutter mit ihrem Vornamen, Lina. Nach dem Essen spielten Arthur, Gregor und ich Detektiv, Disco oder Fangen, und diese Sonntage gingen immer schnell vorbei.
Eines Nachmittags, als ich aus der Schule kam, rief mich meine Mutter dann ins Wohnzimmer und sagte, dass wir in den kommenden Herbstferien nach Ringen ziehen und dass ich nach den Ferien dort zur Schule gehen würde. Damit hatte ich nicht gerechnet. In den Tagen danach weinte ich um meine beste Freundin, die ich in der alten Klasse zurücklassen musste. Dann schwor ich in hilfloser Wut, Berni in Zukunft nur noch »Herr Ballmer« zu nennen wie früher, und ihn wieder zu siezen. Er war mir nie geheuer gewesen.
Unser Name wurde in Ringen nicht an den Briefkasten des Hauses geschrieben. Aber Berni informierte die Briefträgerin, dass sie Post für uns in Zukunft bei ihm einwerfen könne. Am Esstisch wurde ein Platz für mich freigemacht. Die Jungen und ich fügten uns ins Unvermeidliche und stritten nur am Anfang. Nach und nach führte meine Mutter ein paar neue Kochrezepte ein, die kommentarlos akzeptiert wurden.
Das Tischgespräch dominierte meist Arthur, und ich war bald Sekundantin. Wir waren beide schnell mit Worten, und in Arthur fand ich jemanden, der sich für ähnliche Dinge interessierte wie ich: Musik, Tiere, Fernsehen. Gregor nahm immer weniger an den Gesprächen teil, aber das bemerkten wir damals nicht. Die verstorbene Frau wurde nur selten und beiläufig erwähnt. Mein Vater so gut wie nie. Ich glaube, Arthur war froh, dass ich jetzt da war. Mit Gregor hatte er sich nie besonders gut verstanden. Obwohl Gregor jünger war, war er viel größer und schwerer und zwang Arthur immer, sein Bett für ihn zu machen und ihm auch die anderen Haushaltsämtchen abzunehmen. Wenn Arthur sich weigerte, nahm Gregor ihn so lange in den Schwitzkasten, bis er um sein Leben fürchtete.
Nach ungefähr einem Dreivierteljahr lag ich an einem Samstagnachmittag mit Fieber im Bett. Die Erwachsenen waren in der Stadt zum Einkaufen, Arthur und Gregor bei den Pfadfindern. An der Haustür hörte ich Stimmen, und nach einer Weile kam Arthur mit einem Freund in mein Zimmer.
»Wir müssen dir etwas zeigen.«
Sie hielten mir eine gefaltete Zeitungsseite hin. Es war der amtliche Anzeiger von Ringen. Die Abteilung mit den Zivilstandsmeldungen. Arthur deutete auf die Seite mit den Eheschließungen und dort auf eine bestimmte Zeile. Dort stand der Name meiner Mutter neben dem von Arthurs Vater. Mein fiebriger Kopf verstand nicht.
»Die haben heimlich geheiratet«, sagte Arthurs Freund.
Wie konnte das sein? Warum hatten wir das nicht bemerkt? »Was machen wir jetzt?«, fragte ich nach einer Weile.
»Wir sagen erstmal nichts«, sagte Arthur. Er schien darüber schon nachgedacht zu haben. »Wir warten eine Woche ab. Und wenn sie dann nichts gesagt haben, fragen wir sie.« Am Abend wollte Arthur Gregor Bescheid geben.
Eine Woche später, kurz vor dem Abendessen, stellte sich Arthur beiläufig neben seinen Vater. »Kann es sein, dass ihr vergessen habt, uns etwas zu sagen?«
»Nein«, sagte Berni. »Wieso?«
»Wir haben das hier gefunden.« Arthur zog die Zeitungsseite mit der Eheverkündung hervor.
»Ach das«, sagte meine Mutter, die inzwischen aus der Küche gekommen war. »Das wollten wir euch ja sagen. Aber ihr hattet ja nie Zeit.«
Damit hatten wir nicht gerechnet. Arthur und ich waren zwölf und neun Jahre alt, Gregor zehn, und wir kannten noch nicht alle Tricks der Erwachsenen. So sagten wir nichts mehr, sondern setzten uns nur an den Tisch, wo meine Mutter inzwischen die Schüsseln aufgetragen hatte.
Auf diese Weise wurden Arthur, Gregor und ich zu Geschwistern. Wir haben uns einander nicht ausgesucht. Andere haben unser Verhältnis festgelegt, ohne uns zu fragen, ob wir einverstanden sind. Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.
Jeder bekommt auf diese Weise seine Geschwister.
Auch in einer herkömmlichen Familie entscheidet ein Kind darüber nicht mit. Über Geschwister bestimmen Vater und Mutter. Kinder haben sich damit abzufinden. Man kann sich nicht einmal aussuchen, ob es ein Bruder oder eine Schwester sein soll. Stattdessen muss man mit diesem Fremden vertraut werden und nebeneinander auskommen, viele Jahre, ein Leben lang.
In diesem Zwang, vielleicht auch in dem Schock, liegt der Kern einer Geschwisterbeziehung. Es ist eine Beziehung, die einem aufgezwungen wird. Aber ausgerechnet in dieser Unausweichlichkeit kann auch ihr Glück liegen.
Die wissenschaftliche Disziplin der Geschwisterforschung gibt es erst seit ungefähr 30 Jahren. Zuvor hat sich die Psychologie vor allem darauf konzentriert, herauszufinden, welche Auswirkung das Verhältnis zu den Eltern auf das eigene Fühlen und Verhalten hat. Inzwischen weiß man, dass Geschwister einen ebenso starken Einfluss auf die Seele eines Menschen haben wie die Eltern. »Während die elterliche Liebe, vor allem die Mutterliebe, in der heutigen Erziehung sehr hoch eingeschätzt wird, besteht in der Realität immer noch die Gefahr der Unterschätzung der geschwisterlichen Liebe«, schreibt der Essener Familientherapeut Hans Goldbrunner. Aber die Wissenschaft ist sich nicht sicher, wie lange dieser Einfluss anhält. Ob er, wie die Beziehung zu den Eltern, ein Leben lang immer wieder eine Rolle spielen kann. Oder ob er nach wenigen Jahren hinter dem Einfluss zurücksteht, den Freunde und andere Bezugspersonen auf einen haben. Das Forschen über Geschwister und ihre Wirkung aufeinander ist auch deshalb so schwierig, weil diese Beziehung mystifiziert werden kann wie nur wenige andere. Geschwister klingt nach Blutsbande und Geschwisterliebe. Nach etwas Archaischem, das tiefer geht als die vielen banalen Begegnungen, die wir jeden Tag haben. Aber in dieser Sichtweise liegt eine Gefahr. Wenn man sich auf den symbolischen Wert dieser Verbindung beschränkt, übersieht man leicht, was Geschwister im Leben tatsächlich bedeuten. Welchen Sinn sie für uns haben können. Und auch, welchen Schaden sie manchmal anrichten. »Die Wirkungen der alten Einflüsse sind oft versteckt. Sie betreffen emotionale Haltungen, elementare Motive und Interessen, deren sich der Betroffene mitunter gar nicht bewusst ist. Sie wirken aber auf sein soziales Verhalten ein, und zwar oft umso nachhaltiger, je weniger sie ihm bewusst sind.« Das schrieb Walter Toman, ein Vorkämpfer der Geschwisterforschung. Sein Buch Familienkonstellationen erschien 1961 und gilt bis heute als eines der Grundlagenwerke dieser Disziplin.
Von Geburt an ist man Sohn von oder Tochter von. Außerdem ist man Bruder von oder Schwester von. Bis dass der Tod euch scheidet. In einem romantischen Verhältnis ist das der Traum. Ausgerechnet bei Geschwistern ist es die Wahrheit. Dabei ist ihre Beziehung genau das Gegenteil einer romantischen Liebesgeschichte. Das Gegenteil von Sehnsucht und Herzklopfen. Die Besonderheit einer Geschwisterbeziehung liegt in ihrer Absichtslosigkeit. Ausgerechnet diese Verbindung lässt sich ein Leben lang nicht lösen. Auch dann nicht, wenn sie nicht funktioniert. Sogar wenn wir keinen Kontakt mehr mit ihnen haben, bleiben diese Menschen unverändert Bruder oder Schwester. Geschwister laufen in unserem Leben mit, ob wir es wollen oder nicht. Sie bleiben Bestandteil unserer Identität. Geschwister leben im Normalfall ungefähr so lange wie wir selbst. Das, was wir mit ihnen erlebt haben, ist an einem Ort der eigenen Psyche eingebrannt, wo man es nie mehr auslöschen kann. »Wir müssen die Beziehungsmuster zwischen Geschwistern besser verstehen«, sagte der Münchner Familienforscher Hartmut Kasten 2006 in einem Interview mit dem Spiegel. »Zuweilen sind sie Ursache krankhafter Gemütszustände.« In der Forschung wird die Geschwisterbeziehung heute als die »in der Regel am längsten währende, unaufkündbare, annähernd egalitäre menschliche Beziehung« bezeichnet. So heißt es in einer Studie, die Psychologen der Uni Leipzig 2007 veröffentlicht haben. Die Betonung liegt dabei auf »annähernd egalitär«.
Mit Geschwistern machen wir die ersten sozialen Erfahrungen auf Augenhöhe. Deshalb setzt, was wir mit ihnen erleben, einen Maßstab und eine Norm für unser späteres Erwachsenenleben. Zusammen mit einem Bruder oder einer Schwester erfahren wir fast alle Gefühle zum ersten und intensivsten Mal: Eifersucht, Liebe, Zorn, Vermissen, Geborgenheit, Wut, Zusammengehörigkeit, Freude, Ausgelassenheit, Vertrautheit, Angst. Wir lernen einander ungeschützt kennen. In der Beziehung zu unseren Geschwistern gehen wir von Anfang an aufs Ganze und halten keinen höflichen Abstand. Das Verhältnis von Nähe und Distanz mit unserem Bruder oder unserer Schwester müssen wir erst lernen. »Die Geschwisterbeziehung bietet Entwicklungsmöglichkeiten, die andere nahe Beziehungen nicht haben«, sagt die kanadische Psychologin Jennifer Jenkins. »Geschwister kannste nicht annullieren«, sagt eine Freundin, die seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit ihrem Bruder spricht. Geschwisterverbindungen funktionieren anders als jede andere Beziehung, die wir im Laufe unseres Lebens zu einem Menschen haben. Wenn sie tragen, können sie uns ein Leben lang mit beiläufigem Glück versorgen. Wenn sie kranken, können sie immer wieder Schmerzen bereiten wie ein fauler Zahn.
Für viele Menschen ist die Verbindung zu Geschwistern die einzige Beziehung im Leben, die sie nie in Frage stellen. Der Bruder oder die Schwester können die einzigen Menschen sein, die einem nahestehen, ohne dass man sie ändern will. Ein Geschwister kann einen katastrophalen Musikgeschmack haben, eine lächerliche Frisur und die falsche Parteizugehörigkeit. Trotzdem können wir es lieben und an seinem Platz in unserem Leben niemals zweifeln. In dieser Beziehung schaffen wir etwas, was uns mit Freunden oft nicht gelingt: Wir können einen anderen Menschen annehmen, ohne Bedingungen an ihn zu stellen. Um ein Geschwister zu haben, muss man nicht einmal beziehungsfähig sein.
Aber fast nichts kann uns davor schützen, in extremen Situationen wieder ganz von selbst der ältere Bruder zu sein, der alle Schläge abfängt, oder die jüngere Schwester, der niemand etwas zutraut, oder das mittlere Kind, das eigentlich niemand braucht. Mit seinen Geschwistern wird man nach einer Weile immer wieder zu dem Kind, das man war. Ganz egal, ob das ein Glück oder ein Elend ist.
Wenn Psychologen über Geschwister sprechen oder Journalisten darüber schreiben, stehen meist die Chancen dieser Beziehung im Vordergrund. Die Lernmöglichkeiten, die Unbedingtheit der Zusammengehörigkeit, die Nachhaltigkeit der Verbindung. Als »soziales Trainingscamp« beschrieb es ein Journalist der Zeit. Als »Die längste Liebe des Lebens« war in der Süddeutschen Zeitung eine Geschichte über Geschwister betitelt. »Geschwisterbeziehungen – das reinste Schicksal« hieß ein Artikel in der Welt. In einer Zeit, wo uns Liebe als vorläufig und Freundschaft als kündbar erscheint, versprechen wir uns von der Beziehung zu Geschwistern eine Absolutheit, in der wir uns sicher fühlen können. Der letzte Hort der Verlässlichkeit. Ein Sinn in unserer eigenen Geschichte. Wenn man sich auf diese Sichtweise einlässt, fühlt man sich für einen Moment vom Glück begünstigt, wenn man Geschwister hat. Auch wenn man nachdenken muss, wann man zuletzt mit ihnen telefoniert hat und wann sie überhaupt Geburtstag haben. Die Idealisierung der Blutsbande ist kein Zufall. Eines von drei Kindern in Deutschland wächst heute ohne Bruder und Schwester auf.
Für die anderen stellen Geschwister oft eine so große Selbstverständlichkeit dar, dass sie keinen Grund haben, über sie nachzudenken. Meist beschäftigt man sich mit dieser Beziehung erst, wenn es darin Schwierigkeiten gibt. Geschwister können jahrzehntelang im toten Winkel des eigenen Daseins existieren. Aber es lohnt sich, sie zu entdecken. Und es lohnt sich, diese Verbindung ohne ideologische Scheuklappen zu betrachten. Am besten, solange die Geschwister noch leben. Manchmal wird nämlich noch eine Freundschaft daraus. Oder aber eine Geschichte, die man sauber abschließen kann.
Außer Arthur und Gregor habe ich drei Halbgeschwister und eine leibliche Schwester. Die Halbgeschwister stammen aus einer späteren Ehe meines Vaters und sind viel jünger als ich. Meine Schwester Marlene ist zehn Jahre älter. Als ich in die erste Klasse kam, fuhr sie schon allein mit Freundinnen in den Urlaub. So bin ich alles zugleich: Einzelkind, Halbschwester, Stiefschwester und Schwester. In meinem Leben gibt es sechs Menschen, für die nur eine Bezeichnung richtig ist: Geschwister. Mit keinem von ihnen habe ich engen Kontakt. Keiner von ihnen spielt eine tragende Rolle in meinem Alltag. Aber alle müssen nachhaltig zu dem Menschen beigetragen haben, der ich heute bin. Auch dazu, welche Freunde ich habe, mit welchen Vorgesetzten ich mich nicht verstehe, welche Männer ich brauche. Wie ich als Kollegin auftrete und was ich selbst für eine Frau und Freundin bin. Wenn meine Eltern sterben, sind diese Geschwister meine einzige Familie, weil ich selbst keine Kinder habe. »Wen auch immer jemand als Ehepartner, Freunde, Lebensgefährten, Mitarbeiter, Vorgesetzte und Ähnliches auswählt, wird von den Menschen mitbestimmt, mit denen diese Person am längsten, intimsten und regelmäßigsten zusammengelebt hat«, schrieb Walter Toman, der Vorkämpfer der Familienforschung, 1961 in Familienkonstellationen. Und das sind, neben den Eltern, die Brüder und Schwestern.
Bevor ich in das Haus zu Arthur und Gregor kam, verbrachte ich ein paar Jahre fast als Einzelkind, weil Marlene als Au Pair im Ausland war. Als die Kleinen von meinem Vater auf die Welt kamen, war ich schon über 20. Arthur und Gregor sah ich da allerhöchstens ein Mal im Jahr, wenn ich Weihnachten zu meiner Mutter und meinem Stiefvater fuhr und sie zufällig auch da waren. Aber das hat nichts an ihrer Position in meinem Leben geändert.
Die Gefühle gegenüber einem Bruder oder einer Schwester sind komplex. Sie setzen sich zusammen aus einer fast instinkthaften Verbindung, die sich durch körperliche Ähnlichkeit erklären kann. Dazu kommt die Vertrautheit, die durch eine gemeinsame Kindheit und unzählige Stunden gemeinsamer Erfahrungen entsteht. Und es gibt das soziale Ideal der Gemeinschaft, das so gut wie jede Kultur durchdringt und das wir von den Eltern und der Umwelt lernen. Die Vorstellung, dass man mit Geschwistern Teil einer Sippe ist, die einen davor schützt, irgendwann allein auf der Welt zu stehen.
Wenn man in einer traditionellen Kleinfamilie aufgewachsen ist, verbinden sich diese Erfahrungen oft zu einer Identität, die so selbstverständlich ist, dass man kaum über seine eigene Rolle als Bruder oder Schwester nachdenkt. In dieser Selbstverständlichkeit liegt für die Psychologie eine Wurzel der Geschwistererfahrung. Forscher der University of California haben 2007 untersucht, ob Geschwister einander instinktiv als blutsverwandt erkennen können. Die Untersuchung brachte ein erstaunliches Resultat. Sie ergab, dass das gar nicht notwendig ist. Der Mensch hat eine andere Strategie, um sicherzugehen, dass das Wesen, das seit Jahren mit im Wohnzimmer herumlungert, tatsächlich mit ihm verwandt ist: Wenn man nämlich mit eigenen Augen gesehen hat, wie sich die Mutter lange Zeit Tag für Tag intensiv um das Wesen kümmert, geht man automatisch davon aus, dass es sich um ein Geschwister handelt. Das gilt auch für diejenigen, die als jüngste Geschwister diese Erfahrung nicht gemacht haben. Sie leiten die Überzeugung, dass das andere Kind mit ihnen verwandt ist, von der Länge der Zeit ab, die sie mit ihm in der Kindheit gemeinsam verbringen. Etwas salopp könnte man diese Erkenntnis so formulieren: Geschwister sind die, die auch schon in der Kindheit da waren. Das bedeutet, dass unsere Sicht auf Brüder und Schwestern in erster Linie kulturell geprägt ist. Und dass die Blutverwandtschaft dabei nur ein Aspekt unter anderen ist.
Ich kann vieles über Geschwister erzählen. Nichts davon ist allgemeingültig. Aber das trifft auf alle Familien zu. Es gibt keine Regeln, nach denen man sich und seine Geschwister qualifizieren muss, um mitreden zu können. Jede Familie ist einzigartig, jede Geschwisterbeziehung ist individuell. Die Dinge, die man über seinen Bruder oder seine Schwester erzählen kann, sind für die anderen nie ganz gültig. Aber häufig kann man in den Erfahrungen Ähnlichkeiten sehen. Auch diese Ungenauigkeit macht das Erforschen dieser Verbindungen schwer. »Generell lässt sich sagen, die frühe Geschwisterforschung konzentrierte sich auf die charakterlichen Unterschiede zwischen Geschwistern und suchte deren Erklärung in familiären Konstellationen, da schwer verständlich erschien, wie sich Geschwister im gleichen familiären Umfeld unterschiedlich entwickeln, wie man es in der Realität beobachtete«, schrieb der Essener Familientherapeut Hans Goldbrunner 2011 in einem Aufsatz mit dem Titel »Geschwisterbeziehungen – ein vernachlässigter Faktor in der modernen Erziehung«.
Bei mir sind die Geschwistergefühle auf Menschen verteilt, die einander kaum kennen. Bei jedem Bruder und bei jeder Schwester fehlen wichtige Bestandteile der biologischen und psychologischen Geschwisteridentität. Aber mit jedem von ihnen verbinden mich auch prägende Teile davon. Das gibt mir die Chance, genau zu betrachten, was »Geschwister« eigentlich bedeutet. Diese Bedeutung wandelt sich in unserer Gesellschaft in allen Epochen immer wieder. Menschen leben schon immer in Verbindungen mit Halb- oder Stiefgeschwistern und nennen sie Familie. Seit ein paar Jahren benutzen wir dafür den Begriff »Patchwork«. Aber das ist nur ein neuer Name für etwas, das als Variante der blutsverwandten Familie existiert, seitdem Menschen die Erde bevölkern.
Mit Arthur und Gregor verbinden mich gemeinsame intensive Jahre der Kindheit und der Jugend. Zusammen verbrachten wir die Zeit, in der man die Wahrheiten in der Außenwelt sucht und doch immer noch nur zu Hause zur Ruhe kommen kann. Unausgesprochen verband uns auch die Erfahrung, dass die Ruhe, die wir dort fanden, trügerisch war. Vor allem aber stritten wir erbittert und unermüdlich über gute und blöde Filme, tolles und ekliges Essen, alberne und schöne Tiere, spitzenmäßige und peinliche Sportler. Diese Dispute haben uns geholfen, unsere eigenen Vorlieben, unsere Geschmäcker, unsere Individualität zu entwickeln und voneinander abzugrenzen. Wir haben zusammen Stunden und Stunden geübt, wie man erwachsen wird und sich in der Außenwelt behauptet. Wir waren einander Publikum, als man jede Sekunde eine andere Stimmung hatte, gleichzeitig albern und sentimental, peinlich und aggressiv, weinerlich und souverän war. Die hysterischsten Ausbrüche und die sinnlosesten Monologe der anderen haben wir großzügig über uns ergehen lassen und einander die Anfälle von Großspurigkeit und Wankelmütigkeit schulterzuckend gegönnt. So dass wir danach beruhigt und gestärkt der wirklichen Welt in Form unserer Freunde gegenübertreten konnten. Mit den Geschwistern haben wir uns warmgespielt. Danach konnten wir souverän aufs Feld. Wir hatten den ersten Test zu Hause ja schon bestanden.
Für diese Dinge war meine leibliche Schwester schon zu alt. Sie hatte wenig Verständnis für meine Make-up-Experimente und meine Verzweiflung, als Paul Young sein Konzert in Zürich kurzfristig absagte. Ich fand ihre Schallplatten ermüdend, und in ihren Freunden sah ich nur alte, langweilige Männer mit zotteligem Haar. Mit Marlene verbindet mich, dass sie mich vom ersten Tag meines Lebens an kannte und dass sie auf mich aufpasste, als ich ein hilfloses Bündel war. Sie hat den schwarzen Flaum mit eigenen Augen gesehen, der nach der Geburt meinen Kopf bedeckte und den ich nur von Fotos kenne. Sie erinnert sich an die Stunden, in denen ich schlief und sie mich hütete und von denen ich nur aus Erzählungen weiß. Sie kannte unsere Familie schon, als Vater, Mutter und Kinder noch zusammen waren und alle gemeinsam in die Ferien fuhren. Sie weiß noch, wie unsere Eltern zusammen geredet und auch noch miteinander gelacht haben. Davon fehlen mir schon die Bilder. Marlene war immer dabei, an ihrer Seite hatte ich meinen selbstverständlichen Platz in der Welt. Dass diese Dinge mir etwas bedeuten, fühle ich nur, wenn ich »meine Schwester« sage. Aber dann jedes Mal.
Mit meinen drei Halbgeschwistern aus der neuen Ehe meines Vaters gibt es keine gemeinsamen Jahre. Mit ihnen verbinden mich die Gene. Zuerst aber verband mich mit ihnen ein Entschluss. Als mein ältester Halbbruder zur Welt kam, war ich 22 Jahre alt. Er war der erste Sohn meines Vaters, und als ich von seiner bevorstehenden Ankunft erfuhr, musste ich weinen. Ich dachte, dass jetzt, wo er einen Jungen bekommt, meine Schwester und ich für meinen Vater den Wert völlig verlören. Aber ich fühlte auch, dass ich dieses Baby nicht für etwas büßen lassen wollte, an dem es unschuldig war. In den ersten Jahren verbrachten Lino und ich viele Stunden zusammen. Ich fuhr ihn durch den Zoo, und wenn niemand es hörte, sprach ich mit ihm holprig den fremden Dialekt seiner Mutter, damit er sich mit mir vertrauter fühlen sollte. Bald bekam er noch eine kleine Schwester und einen Bruder. Auch auf sie war ich stolz und auch sie hatte ich lieb. Aber nach dem dritten dachte ich, dass es jetzt auch reicht.
Von allen meinen Geschwistern irritieren mich diese drei Halbgeschwister am meisten. Sobald sie keine Säuglinge mehr waren, entstand mit ihnen eine merkwürdig instinkthafte Nähe, die aus der starken Familienähnlichkeit kommt, die wir teilen. Eine solche Verbindung habe ich sonst mit niemandem. Nicht mit meiner allerbesten Freundin, nicht mit meinem Mann, nicht mit den Menschen, die ich am meisten liebe und die mir am nächsten sind. Und auch nicht mit Marlene, weil wir uns nicht besonders ähnlich sehen. Aber meine Halbgeschwister und ich haben die gleichen Augen, die gleichen Gesten, eine ähnliche Form der Hände. Ich sehe die Zehen meiner kleinen Schwester, die Zahnlücke meines kleinen Bruders, höre den anderen lachen und weiß, dass unser Fleisch dasselbe ist. Diese Verbindung wurde stärker, je deutlicher die Ähnlichkeit wurde. Aber nach kurzer Zeit gibt es auch immer eine merkwürdige Gereiztheit und Fremdheit, die im Widerspruch dazu steht. Sie kommt daher, dass wir im Alltag keinerlei Berührungspunkte haben und auf so gut wie keine gemeinsamen Erfahrungen zurückgreifen können. Und vielleicht auch vom Generationengraben, der uns als Geschwister eigentlich disqualifiziert.
Im Durchschnitt sind Geschwister zu 50 Prozent genetisch miteinander verwandt. Das heißt, dass sie ungefähr die Hälfte ihrer Erbanlagen gemeinsam haben. Im Einzelfall variiert die genetische Ähnlichkeit aber zwischen 25 und 75 Prozent. So erklärt es sich, warum einige Geschwister bei gleichen Eltern fast wie Zwillinge aussehen und andere kaum äußerliche Ähnlichkeit miteinander haben. Der Sinn dieser Varianten stammt aus der Evolution. Je unterschiedlicher die Erbanlagen von Geschwistern sind, desto größer ist die Chance, dass unter widrigen äußeren Umständen wie Krankheiten, feindlichem Klima oder unzuverlässiger Ernährung eines der Kinder überlebt und die Sippe weiterführen kann.
Als Teil einer Sippe habe ich mich nie empfunden. Mich überfordert schon die Nähe, die sich einstellt, wenn ich mit einem meiner Geschwister länger als ein paar Stunden zusammen bin. Nach einer Weile fühle ich mich bedrängt. Es irritiert mich, dass ich jemandem auf unerklärliche Weise nah bin, ohne ihn eigentlich zu kennen. Vielleicht ist das ein Ergebnis meiner Jahre als Einzelkind. Mit Arthur und Gregor gab es diese Art von intuitiver Vertrautheit nicht, obwohl ich mit ihnen die meiste Geschwisterzeit verbracht habe. Die beiden waren adoptierte Kinder, jedes aus einer anderen Familie. Zwischen uns gab es keinerlei genetische Verbindung. Wir sind nur ein paar Jahre zusammen aufgewachsen. Aber das hat gereicht, dass ich sie als meine Brüder empfand. Auch wenn ich es erst richtig bemerkte, als sie beide tot waren.
Ich verästele mich in den Details meiner Familie, um zu verstehen, welche Bedeutung diese verschiedenen Menschen für mich haben. Ich kreise um die Frage, was meine Geschwister über den Verlauf meines bisherigen Lebens aussagen. Was haben meine Geschwister mit mir zu tun? Ich glaube, dass ich mich selbst besser verstehe, wenn ich darauf eine Antwort gefunden habe. Dass ich dann besser durchschaue, welche verschiedenen Rollen ich spiele und warum mich einige davon immer wieder unglücklich machen. »Es geht um den einzelnen Menschen, wie er in einigen seiner grundlegendsten Eigenheiten beschaffen ist, wie er sich in einigen der wichtigsten Fragen verhält und welche Wünsche er hat«, beschrieb Walter Toman in Familienkonstellationen die Bedeutung dieser nächsten Verwandten. »Die Hauptbestandteile dabei sind andere Menschen, sowie auch der Verlust dieser Menschen, wann immer er auch eingetreten sein mag.«
Die Beziehungen zu Geschwistern verändern sich im Laufe eines Lebens in einer U-förmigen Linie. Das hat die Geschwisterforschung herausgefunden. Die größte Rolle spielen Geschwister in der Kindheit. Ein einjähriges Kind verbringt mit Geschwistern gleich viel Zeit wie mit der Mutter. Zwischen drei und fünf Jahren ist es doppelt so viel. In der Jugend distanziert man sich von der Familie und damit meist auch von Bruder oder Schwester. Danach dünnt der Kontakt oft weiter aus, weil man an unterschiedlichen Orten lebt und mit der Einrichtung seines eigenen Lebens beschäftigt ist. Wenn man eigene Kinder bekommt, vertieft sich der Kontakt häufig wieder. Im Alter wird er für viele Menschen noch einmal sehr intensiv. Wenn sich das Leben allmählich zu einem Kreis schließt, steuert man in Gedanken gern zu den Anfängen. Wenn die Eltern sterben, sind Bruder oder Schwester ohnehin die letzten verlässlichen Zeugen der eigenen Kindheit und man kann die Erinnerungen daran meist nur noch mit ihnen teilen.
Meine Freundin Rosalie wurde erst mit Ende 30 kurz hintereinander zweimal Mutter. »Lena soll nicht als Einzelkind aufwachsen«, sagte sie, als sie mir mit ihrem Mann zusammen das zweite Kind ankündigte. Sie waren beide mit Geschwistern aufgewachsen und fanden es schade, wenn ihre Tochter niemanden hätte, mit dem sie sich gegen die Eltern verbünden könnte. Das genügte als Grund für ein zweites Kind. Mich faszinierte dieser Mut, so viel Verantwortung für das Leben anderer Menschen zu übernehmen. Sie beinahe wie auf einem Schachbrett anzuordnen und die Sippe aktiv zu vergrößern. Mein Mann und ich hatten uns kurz davor gestanden, dass wir uns ein Leben ohne Kinder sehr gut vorstellen können. Wir waren beide erleichtert, dass wir diese Verantwortung für das Glück oder Unglück eines anderen nicht auch noch tragen müssen. Als Kinder haben wir das Leben in unseren Familien oft als etwas Bedrückendes und Gefährliches empfunden. Daraus entstand kein drängendes Bedürfnis, ein nächstes Kapitel dieser Geschichte zu schreiben.
Meine Kollegin Corinna fängt jedes Mal an zu weinen, wenn ein Feiertag im Kalender steht. Fast immer fährt sie dann zu ihrer Mutter, die in einem entlegenen Pflegeheim in der Provinz lebt und scheinbar unsterblich ist. Weil es in der Nähe kein Hotel gibt, muss sich Corinna meist für ein paar Tage bei der Mutter im Heim einquartieren. Auf diese Weise hat sie die letzten Ostern und drei Weihnachten in Folge verbracht und so, wie sie davon erzählt, müssen es trostlose Tage voller Vorwürfe und Missverständnisse gewesen sein. Corinna hat vier Geschwister. Kann sie sich die Besuche bei der Mutter nicht mit ihnen teilen? Wenn ich das frage, steigen neue Tränen in Corinnas Augen. »Die haben alle Familie und keine Zeit, zu ihr hinzufahren.« Corinna ist alleinstehend. Als Älteste hat sie sich immer um alle Geschwister gekümmert. Das war eine Selbstverständlichkeit, mit der ihre Brüder und die Schwester aufgewachsen sind und auf die die Mutter gebaut hat. Niemand aus ihrer Familie kennt Corinna als Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Nicht einmal Corinna selbst kennt sich als Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Sie ist ihr ganzes Leben lang die große Schwester geblieben. Schon jetzt, im Juni, graut ihr vor dem nächsten Weihnachten.
Von vielen meiner Freunde weiß ich nicht, ob sie überhaupt Geschwister haben. Brüder und Schwester, mit denen wir nicht befreundet sind, haben ihren Platz oft über Jahre in einer abgeschlossenen und entlegenen Nische unseres Erwachsenenlebens. Manchmal sind sie kaum mehr als eine Art Karteileichen in unserem Alltag. Ihre alltägliche Funktion als Vertraute, als Gesprächs- und Freizeitpartner, vielleicht auch als Konkurrenten und Gegner haben sie vor langer Zeit an Freunde und Kollegen abgetreten. Normalerweise gibt es dann keinen Anlass mehr, vor diesen die Geschwister mehr als nötig zu erwähnen. Vielleicht auch, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, man habe keine richtigen Freunde gefunden. Jede neue Bekanntschaft ist schließlich eine Chance, uns jemandem als selbständige Person vorzustellen, deren Rolle nicht irgendwo schon festgeschrieben ist.
Im Grunde ist es aber nebensächlich, ob man noch Kontakt hält. Was in der Geschwisterforschung zählt, sind die Jahre der Kindheit. Die größte Bedeutung für unser Leben hat nach Ansicht vieler Forscher der Platz, den man in der eigenen Geschwisterfolge eingenommen hat. Dieser Platz legt nicht nur fest, mit welchen Verhaltensweisen wir uns besonders geborgen fühlen. »Die Geschwisterkonstellation ist entscheidend dafür, wie wir uns in einer Beziehung mit einem Mann beziehungsweise einer Frau verhalten.« Das sagt der Psychologe und Familientherapeut Hans-Reinhard Schmidt. Er war Assistent des Geschwisterforschungspioniers Walter Toman. Dieser selbst schreibt über seine Thesen zu den verschiedenen Geschwisterkonstellationen: »Diese Annahmen lassen sich von der Psychoanalyse ableiten. Mit etwas mehr Umwegen auch von der allgemeinen Lerntheorie. Sogar vom gesunden Menschenverstand.« Überdurchschnittlich oft verbinden sich Männer, die eine jüngere Schwester haben, mit Frauen, die jüngere Schwestern sind. Überdurchschnittlich oft verbinden sich Einzelkinder mit anderen Einzelkindern. Am prägendsten für solche Bindungen ist das Geschwister, das direkt vor einem kam. Wir suchen, was wir kennen. Merkwürdigerweise wird auf Partnersuchportalen nicht nach der Geschwisterposition gefragt. Wir halten so sehr daran fest, uns als Individuen selbst geformt zu haben.
Mein Mann ist ein Jahr älter als Arthur. Seine Schwester ist ein Jahr jünger als ich. Meine beste Freundin ist elf Jahre älter als ich, ein Jahr älter als meine große Schwester. So gut wie alle meine Freundinnen und Freunde sind älter als ich, die meisten zwischen zwei und zehn Jahren. So wie Gregor, Arthur und Marlene. Ansonsten haben sie keinerlei Ähnlichkeiten mit meinen Geschwistern. Keine, die ich bemerken würde. Aber jetzt, wo ich zum ersten Mal darüber nachdenke, bemerke ich doch die Auffälligkeit, von der ich nicht glauben mag, dass sie nur Zufall ist. »Je mehr die neuen Beziehungen den früheren ähneln, je mehr Gemeinsamkeiten es gibt, umso besser ist die Person auf die neue Beziehung vorbereitet und umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese glücklich, erfolgreich und von Dauer ist«, heißt es bei Walter Toman.
Von den meisten Geschwistern meiner Freunde habe ich erst erfahren, als es Probleme mit ihnen gab. Mein Freund Ole brach nach langem Zweifeln den konfliktreichen Kontakt mit seiner Mutter ab. Wir haben unzählige Male darüber gesprochen. Er hatte Angst, dass er an den Schuldgefühlen zugrunde geht, wenn seine Mutter stirbt, ohne dass er sich mit ihr versöhnen kann. Aber das war nicht der Grund, warum er sich immer wieder auf Begegnungen mit der alten Frau einließ und nachher tagelang deprimiert war. Eigentlich fürchtete Ole um die Beziehung zu seiner Schwester. Mit ihr telefoniert er mindestens einmal pro Woche und sieht sie mehrmals im Jahr. Sie lebt nur wenige Straßen von der Mutter entfernt, und hat mit ihr ein schwieriges, aber enges Verhältnis. Erst nach einer Weile fand er eine Lösung. Die Schwester hat versprochen, dass sie sich mit der Mutter nicht über Ole unterhält. Und er hat versprochen, dass er auf negative Kommentare verzichtet, wenn die Schwester die Mutter manchmal erwähnt.
Mein Vater spricht seit über 40 Jahren nicht mehr mit seiner Schwester. Es war ihm schon immer so vorgekommen, als sei sie von den Eltern bevorzugt und vergöttert worden, während man an ihm nur herumkritisierte. Als die Schwester nach dem Tod des Vaters das Elternhaus erbte und er nur den Pflichtteil, heuerte er den teuersten Anwalt der Stadt an. Als auch dieser nichts ausrichten konnte, brach er mit Maria. Vor ein paar Wochen hat sie ihn nachts angerufen, krank und betrunken. Sie war für ihn eine fremde Frau und er hat den Hörer aufgelegt.
Mein Kollege Martin sah seine drei Geschwister erst bei der Beerdigung des Vaters wieder. Man geriet in Streit, bevor der Sarg mit Erde bedeckt war. Martin erzählte davon bei einem gemeinsamen Abendessen. Zuvor hatte er seine Geschwister nie erwähnt. Und auch seither nie wieder. Er sprach nur darüber, weil allen am Tisch aufgefallen war, wie erleichtert und gelöst Martin auf einmal wirkte. Die Beerdigung, erklärte er, habe ihn darin bestärkt, dass seine Entscheidung vor vielen Jahren richtig war: Nie wieder will er etwas mit seiner Familie zu tun haben. Und jetzt, wo beide Eltern tot seien und das Erbe geklärt, haben auch die Geschwister endlich jede administrative Macht über ihn verloren. Es gibt jetzt niemanden mehr in seinem Leben, der ihn als Versager sieht und ihm bloß immer das Scheitern zutraut.
»Geschwisterbeziehungen können nicht beendet werden, sie wirken fort, auch wenn sich die Geschwister getrennt haben oder keine Kontakte mehr stattfinden«, schrieb der Familienforscher Hartmut Kasten. Dieser Satz ist zu einem der Lehrsätze der Geschwisterforschung geworden. Er wird oft falsch verstanden. Er bedeutet nicht, dass man eine qualvolle Beziehung ein Leben lang fortführen muss. Er bedeutet nur, dass man sich bewusst sein sollte, dass mit einem Kontaktabbruch nicht alle Schmerzen auf einen Schlag verschwinden.
»Mein Leben ist erst richtig gut, seitdem ich meine Schwester los bin«, sagt meine Freundin Eleonor. Fast ihr ganzes Leben hat sie sich um Nina gesorgt. Nina ist acht Jahre jünger und war immer der Liebling der Mutter. Die Nachzüglerin, die Prinzessin. Diejenige, bei der die Mutter endlich weich und sanft geworden war. Eleonor hat es mit leisem Groll beobachtet. Nina hat sich immer auf dieser Rolle ausgeruht. So hat es Eleonor empfunden. Nina hat nie um etwas gekämpft. Ihr Studium dauerte 32 Semester, weil sie Angst vor der Abschlussprüfung hatte. Als sie es endlich abschloss, war sie zu alt, um damit eine Stelle zu finden. Die schon uralte Mutter begann sie mit Geld zu unterstützen. Als Nina in letzter Minute ein Kind bekam und ihren langjährigen Freund heiratete, war die Mutter bezaubert von dem neuen Enkel und schwärmte Eleonor von ihm vor. Auch Eleonor hat zwei Kinder, an denen die Mutter immer Freude hatte. Aber sie war von ihnen nicht verzaubert. Sie habe immer um ihre Selbständigkeit gekämpft, sagt Eleonor. Etwas anderes hätte sie sich gar nicht getraut. Sie war früh von zu Hause ausgezogen und hatte in einer fremden Stadt studiert und nebenbei ihren Lebensunterhalt verdient. Ein Dasein als Prinzessin hatte es für sie nie gegeben. Seit sie diese Schwester hatte, wünschte sich Eleonor, es sich auch einmal so leicht machen zu können wie diese. Aber diese Rolle hatte ihr die Jüngere weggeschnappt.
Als die Mutter gebrechlich wurde, verschärfte sich der Ton zwischen den Schwestern. Unmöglich konnte die alte Frau allein in dem kalten, dunklen Haus am Waldrand wohnen bleiben. Jemand musste sich um sie kümmern. Nina fühlte sich überfordert, außerdem hatte sie ja jetzt ein Kind, für das sie sorgen musste. Dass Eleonor ebenfalls Kinder hat, freiberuflich arbeitet und mit dem Problem ebenfalls überfordert sein könnte, spielte für Nina keine Rolle. So war es Eleonor, die sich eines Abends ins Auto setzte, weil sie ein ungutes Gefühl hatte, und zur Mutter fuhr. Sie fand sie gestürzt, mit einem gebrochenen Bein, unfähig, bis zum Telefon zu kommen. In einer Sekunde entschied sie, die Mutter zu sich in die viele hundert Kilometer entfernte Stadt zu holen und dort einen Platz in einem guten Altersheim für sie zu finden. Seit Jahren hatte sie diesen Gedanken immer wieder verworfen. Es sei nicht gut, die Mutter zu entwurzeln, außerdem sprach sie einen Dialekt, den in der Stadt niemand verstand. Das war Ninas Einwand gewesen, und Eleonor musste ihr in dieser Sache Recht geben. Aber jetzt wollte sie sich nicht mehr mit ihr beratschlagen. Sie lud die halb ohnmächtige Mutter in ihr Auto und fuhr mit ihr in die Stadt.
»Wie konntest du so über meinen Kopf hinweg entscheiden?«, schrie Nina am nächsten Tag, als Eleonor sie informierte. »Es ist genauso gut meine Mutter. Du hättest mich anrufen müssen.« Eleonor hatte keine Kraft zum Streiten. Die Mutter war im Krankenhaus, wo ihr gebrochenes Bein behandelt wurde. Eleonor begann, einen Heimplatz für sie zu suchen.
Die Entscheidung war die richtige gewesen. Die Mutter blühte auf in der Stadt, die Aufregung der Reise hatte sie belebt und das neue, schöne Altersheim, wo sie ein Zimmer bekommen hatte, kam ihr vor wie ein Luxushotel. Sie begann Hochdeutsch zu sprechen und wurde immer munterer. Nach ein paar Monaten verdunkelte sich ihr Geist und sie lebte erst tageweise, dann andauernd in einer Welt aus Phantasie und Vergangenheit. Aber sie schien glücklich, sang und lachte viel. Regelmäßig besuchte Eleonor sie zusammen mit ihren Töchtern, die ihre kuriose Oma ganz selbstverständlich liebten. Nina tat sich schwer mit den Besuchen. Nur selten konnte sie sich dazu überwinden. Es befremdete sie, dass die Mutter sie nicht mehr erkannte. Es belastete sie, dass ihr eine fremde Frau gegenübersaß. Vielleicht auch, dass diese in ihr keine Prinzessin mehr sah. Sie weigerte sich, häufiger als alle zwei Wochen ins Altersheim zu gehen. Eleonor wurde wütend. Am liebsten hätte sie nichts mehr mit ihr zu tun gehabt. Aber da war noch die Sorge um den Besitz der Familie. Das Elternhaus hatte die Mutter Nina überschrieben. Diese versuchte es zu verkaufen und traf lauter falsche Entscheidungen. Das Haus drohte abgerissen zu werden. Um die anderen Besitztümer begann ein erbitterter Kampf, in dem Anwälte viele Briefe schrieben. Eleonor lag nächtelang wach und konnte nur noch daran denken, wie sie ihre Schwester aus ihrem Leben bekam. Vorher, so kam es ihr vor, würde es bei ihr nicht mehr richtig weitergehen.
Vor einem halben Jahr starb die Mutter. Jetzt war nur noch die Beerdigung zu regeln. Ein letztes Mal mussten Eleonor und Nina der Familie als Schwestern gegenübertreten, als gute Töchter der Verstorbenen, die alles nach deren letzten Wünschen regelten. Ein paar Tage später rief mich Eleonor an. »Es ist vorbei.« Noch nie in ihrem Leben, sagte sie, habe sie sich so leicht gefühlt. Die Last, die ihre Schwester für sie ein ganzes Leben lang bedeutet habe, sei auf einmal verschwunden. Die Erbangelegenheiten waren geregelt. Nie wieder muss sie Nina begegnen. Es sei wie ein neues Leben, das für sie nun beginne, sagt Eleonor, mit über 50 Jahren, und endlich ohne eine Schwester, die ihr am Bein hängt wie ein schwerer Stein.
Das letzte Kapitel in den Beziehungen zu unseren Geschwistern beginnt mit dem Tod der Eltern. Manchmal kündigt es sich schon beim sichtbaren Altern an. Mit einer eintretenden Krankheit oder einer Unmündigkeit, mit dem Umzug in ein Pflegeheim. In solchen Zeiten müssen grundlegende Dinge oft in wenigen Tagen von Geschwistern gemeinsam entschieden werden. Das, was wir für Jahre oder Jahrzehnte am Rand abgelegt haben, bricht mit Gewalt in unseren Alltag ein. Das kann im Chaos enden. Oder in einem Vakuum. Dass die Beziehung zu Geschwistern nicht lösbar ist, bemerkt man dann am stärksten, wenn die Eltern endgültig die Autorität verlieren, mit der sie das Verhältnis innerhalb der Familie manchmal ein Leben lang geordnet haben. »Die Nähe zwischen Geschwistern stellt sich im höheren Alter nicht automatisch wieder ein«, schreibt der Geschwisterforscher Hartmut Kasten. »Sie wird oftmals erst allmählich in einem Prozess der verstärkten wechselseitigen Kontaktaufnahme und des Sichaustauschens wiederaufgebaut.« Das geht aus einer Reihe von Untersuchungen hervor. »Nicht selten müssen Konflikte der Vergangenheit, unerfreuliche Kindheitserlebnisse, Vertrauensbrüche, unterschiedliche Wertorientierungen und Grundhaltungen noch einmal durchgearbeitet und verkraftet werden.« Und das zu einem Zeitpunkt, wo man alle Kraft für das Regeln administrativer Aufgaben braucht.
Wenn die Eltern sterben, haben die Kinder in ihren Verhaltensweisen und Gedanken manchmal kaum noch Ähnlichkeit mit den Menschen, die sie in ihrem Erwachsenenleben geworden sind. Alles, was sie in der Zwischenzeit gelernt haben, fällt von ihnen ab. Unter dem emotionalen Druck solcher Situationen springen die Kinder zuerst einmal zurück in die Rollen, die sie in den ersten Jahren ihres Lebens miteinander eingeübt haben. In solchen Phasen können auch stabile und gesunde Menschen in einen psychischen Ausnahmezustand geraten, in dem sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen. Ausgelöst durch die Nähe zu Geschwistern, die sie in einem schwachen Moment überwältigt und überfordert.
Geschwister sind in unserem Innern zu Hause. Wenn sie uns willkommen sind, können wir aus dem Verhältnis zu ihnen ein Leben lang Sicherheit und Vertrauen schöpfen wie aus kaum einer anderen Beziehung. Aber auch wenn wir ihnen den Zutritt verwehren, sind wir vor ihnen nicht sicher. Sie besitzen einen Generalschlüssel. Falls sie ungebeten kommen oder im falschen Moment, können sie scheußliche Verwüstungen anrichten. Um sichere Distanz zu ihnen zu gewinnen, müssten wir das Schloss auswechseln. Seine Kindheitsgeschwister loszuwerden, ist eine der schwierigsten Aufgaben im Leben. Sie gelingt nur, indem wir wirklich erwachsen werden. Das nimmt manchmal ein ganzes Leben in Anspruch. Aber es ist möglich. Auch darüber sind sich die Forscher einig.
Ich habe mich meiner großen Schwester immer unterlegen gefühlt. Viele Jahre lang war ich ihr auch immer unterlegen. Sie war diejenige, die seit vielen Jahren eine feste Anstellung und ausreichend Geld hatte. Während ich mich mit unsicheren Jobs über Wasser hielt und verzweifelt um berufliche Anerkennung kämpfte. Viele Jahre musste sie immer wieder einspringen, wenn ich nicht wusste, wie ich meine Miete bezahlen sollte. Als ich mich während meines Studiums aussichtslos verschuldete, zahlte sie ganz selbstverständlich mehrmals im Jahr größere Beträge auf mein Konto ein. Aber sie ließ mich, so schien es mir, ihre finanzielle Überlegenheit auch stets beiläufig, aber deutlich spüren. Wenn sie mir, als ich noch eine Jugendliche war und sie schon lange erwachsen, etwas Gutes tun wollte, lud sie mich zum Mittagessen ein. Danach bummelten wir durch die Stadt, und wenn ich Glück hatte, kaufte sie mir einen Schal oder ein Schmuckstück, das mir gefiel. Oder sie bot es mir wenigstens an und zog dann im letzten Moment zurück. So kam es mir damals vor. Es war wie ein Spiel. Das Szenario hat mein Verhältnis zu ihr für viele Jahre geprägt: Wir gehen durch die Stadt, ich bleibe vor einer Vitrine oder einem Schaufenster stehen und sehe eine Kleinigkeit, die mir gefällt, die ich mir aber nicht leisten kann. Ich weiß, dass sie es sieht. Ich weiß, dass sie weiß, wie traurig ich deswegen bin. Ich hoffe, dass sie mir das Stück schenkt. Ein- oder zweimal hat sie das getan. Was sie viel häufiger tat: Sie forderte mich auf, es mir doch zu gönnen. Wenn ich abwinkte, zuckte sie mit den Achseln und wir gingen weiter. Manchmal fragte sie vor dem Schaufenster: Soll ich dir etwas dazuzahlen? Das musste ich natürlich ablehnen. Wie hätte ich mir noch etwas kaufen können, wo ich doch sowieso schon so häufig von ihrem Geld lebte? Marlene schien meine Beschämung nicht wahrzunehmen. Wenn sie im nächsten Laden eine Gesichtscreme oder eine Handtasche kaufte, bat sie mich, sie zu beraten. Wenn ich ihr dann zu einer Farbe zu oder von einem Material abriet, fühlte ich mich wie eine Hochstaplerin. Was verstand ich denn von einer teuren Tasche?