Peter Kreeft
Das Gebet
Ein einzigartiges Gespräch mit Gott
Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Originaltitel: PRAYER. The Great Conversation
Originally published by Servant Publications, Ann Arbor, Michigan
Published by Ignatius Press, San Francisco
Text © 1991 by Peter Kreeft
Titel der deutschen Ausgabe:
DAS GEBET. Ein einzigartiges Gespräch mit Gott
© Media Maria Verlag, Illertissen 2014
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 978-3-945401-48-4
www.media-maria.de
Fur Tom DiLorenzo, Gregory Elmer und Ronda Chervin
Inhalt
Vorwort
ERSTES GESPRÄCH:
Beten bedeutet nicht, »Gebete aufzusagen«
ZWEITES GESPRÄCH:
Warum wir keine Zeit zum Beten finden
DRITTES GESPRÄCH:
Wie werden wir von unseren Gefühlen unabhängig?
VIERTES GESPRÄCH:
Wir beten zu Gott.
Welche Bedeutung hat die Theologie?
FÜNFTES GESPRÄCH:
Das Dynamit im Gebet
SECHSTES GESPRÄCH:
Fünf Gründe für das Beten, auch wenn wir keine Lust dazu verspüren
SIEBTES GESPRÄCH:
Die drei größten christlichen Tugenden
ACHTES GESPRÄCH:
Das Gebet, das Gott für uns vorsah
NEUNTES GESPRÄCH:
Still werden vor Gott
ZEHNTES GESPRÄCH:
Gott in allen Dingen erkennen
Vorwort
Man kann dieses Buch einzeln lesen oder als Teil einer Buchreihe, deren erster Teil unter dem Titel Yes or No?1 veröffentlicht wurde. In dem Buch Yes or No? wird die Apologetik behandelt, die Rechtfertigung des christlichen Glaubens durch Argumente: die objektive Seite des Glaubens. Dieses Buch thematisiert das Gebet und das spirituelle Leben: die subjektive Seite des Glaubens. Weitere Bände werden sich mit der Moraltheologie und der Kirche befassen.
Diese Buchreihe ist einzigartig (a) wegen der Dialogform, (b) wegen des ökumenischen Inhalts eines »Christentums schlechthin«, und (c) wegen ihres orthodoxen, konventionellen Standpunktes. Die meisten Glaubensbücher sind (a) Monologe und leiden deshalb an ihrem »Predigtcharakter«, (b) sie sind entweder nur für Protestanten oder nur für Katholiken und (c) sie sind sehr häufig aus einer »mit Wasser vermischten Christentums«-Perspektive geschrieben, wie C. S. Lewis die verschiedenen aktuellen Versuche genannt hat, das »reine Evangelium« zu verwässern, die »feste Nahrung«, an die die Kirche von Anfang an geglaubt hat.
Die Dialogform ist dem Inhalt angemessen, denn das Gebet selbst ist ein Dialog, ein »einzigartiges Gespräch« mit Gott. In Yes or No? waren die Gesprächspartner eine gläubige Person (Chris, der Christ) und eine ungläubige (Sal, der Sucher). Inzwischen ist Sal Christ geworden und Chris führt Sal in das Thema Gebet ein. (Es sei angemerkt, dass »Sal« auch für »Sally« oder »Salvatore« und »Chris« auch für »Christopher« oder »Christine« stehen kann.)
Der ökumenische Inhalt des Buches zielt nicht auf einen »kleinsten gemeinsamen Nenner«, sondern auf die Substanz, auf das Wesentliche des Christseins. Worüber sich Protestanten und Katholiken einig sind, ist unvergleichbar mehr als das, worüber sie uneins sind.
Dass die Sichtweise traditionell ist, bedeutet nicht, dass das Buch öde oder langweilig ist, es sei denn C. S. Lewis, G. K. Chesterton, Thomas Merton, John Wesley, Kierkegaard, Newman, Pascal, Luther, Thomas von Aquin, Augustinus, Paulus und Jesus selbst wären öde und langweilig.
Der Inhalt von Yes or No? war tief greifend. Darin wurde die Wahrheit leidenschaftlich gesucht. Dieser Band ist noch dramatischer, mit noch größerer Leidenschaft wird gesucht: nicht nur die Wahrheit über Gott, sondern Gott selbst. Richtig praktiziert ist das Beten die aufregendste Erfahrung im menschlichen Leben, denn Beten bedeutet, Gott zu berühren.
1 Dieses Buch ist nicht auf Deutsch erschienen (Anm. d. Ü.).
Erstes Gespräch:
Beten bedeutet nicht, »Gebete aufzusagen«
Chris: Nun, hier sind wir also wieder bei einem neuen Buch!
Sal: Das letzte war wirklich ein Erfolg. Vielleicht wird dieses auch so gut wie das letzte. Worum geht es denn dieses Mal?
Chris: Um das Praktizieren deiner Religion, um deine nächsten Schritte.
Sal: Praxis? Du denkst wohl an Ethik, Moral?
Chris: Nein, darauf werde ich in einem weiteren Buch eingehen.
Sal: Dann meinst du damit wohl das In-die-Kirche-Gehen und Gottesdienst feiern?
Chris: Nein, obwohl das schon auch ein Teil davon ist – auch darauf werde ich in einem weiteren Buch eingehen.
Sal: Aber ich dachte, diese drei Punkte seien die drei Teile der Religion: woran man glaubt, wie man lebt und was man in der Kirche tut; Worte, Werke und Gottesdienst; Glaubensbekenntnis, Gebote und Kult.
Chris: Das ist schon ziemlich gut. Aber es ist nur die Schale, nicht der Kern; die Karosserie, nicht der Motor; das Brot, nicht das Fleisch.
Sal: Und was ist das Fleisch? Was ist der Kern?
Chris: Das ist eine ziemlich wichtige Frage, findest du nicht auch?
Sal: Und wie lautet deine definitive Antwort?
Chris: Das Wesen des christlichen Glaubens ist eine gelebte Beziehung mit Gott, eine Liebesgeschichte mit Gott. Von allem, was mir einfällt, ist sie am ehesten mit der Ehe vergleichbar: mit dem gemeinsamen Leben. Die anderen drei Punkte, die wir erwähnt haben – gemeinsame Ideen, gemeinsame Werte und gemeinsame Aktivitäten – sind nur Aspekte dieses gemeinsamen Lebens.
Sal: Ich will dies ganz klar verstehen. Das letzte Mal haben wir über Theologie und Glaubenssätze gesprochen, oder? Was man im Christentum glaubt und warum man daran glaubt?
Chris: Ja, richtig.
Sal: Und jetzt erzählst du mir, dass das gar nicht das Kernstück des Ganzen ist?
Chris: Stimmt. Theologie bedeutet, die Wahrheit über Gott zu wissen. Das ist natürlich wichtig, aber nicht so wichtig, wie Gott zu kennen. So wie es weniger wichtig ist, etwas über deinen Freund zu wissen als deinen Freund wirklich zu kennen.
Sal: Ah, ich verstehe. Das Christentum ist nicht nur eine Vorstellung oder ein Konzept, sondern es ist eine Beziehung.
Chris: Genau.
Sal: Aber wie fügt sich hier dieses Konzept ein? Die Glaubenslehrsätze, die ich zu glauben gelernt habe – in welchem Zusammenhang stehen sie zu dieser Beziehung?
Chris: Sie geben die äußere Form, sie sind das Skelett. Aber ein Skelett ohne Fleisch wäre doch ziemlich hässlich – und vor allem, es wäre etwas Totes.
Sal: Das verstehe ich. Aber auch das Fleisch kann ohne das Skelett nicht leben.
Chris: Da hast du recht! Das Christentum umfasst beides. Über das intellektuelle Gerüst haben wir bei unserer letzten Unterhaltung gesprochen. Jetzt reden wir über das Wesentliche, über die Erfahrung, Gott zu berühren.
Sal: Das klingt spannend. Ich wette, es gibt einen ziemlich langweiligen Namen dafür, stimmt’s?
Chris: Ja, das ist tatsächlich so. Manchmal nennt man es Gebet, manchmal Spiritualität, manchmal das innere Leben.
Sal: Das Wort »Gebet« klingt tatsächlich nicht besonders aufregend; aber die Erfahrung einer Gottesbegegnung – Gott wirklich zu erfahren, nicht nur irgendwelche Begriffe von ihm zu kennen – klingt auf jeden Fall spannend.
Chris: Es ist die spannendste Sache der Welt, aber auf eine tiefe und ruhige Art und Weise. Niemand, der Gott schon einmal im Gebet erfahren hat, konnte danach etwas Schöneres finden, selbst wenn er die halbe Welt besitzen würde.
Sal: Glaubst du nicht, dass die meisten Leute über eine solche Behauptung lachen würden?
Chris: Nur solche, die noch nicht beides erfahren haben und es darum nicht vergleichen können. Die Erfahrung ist der zuverlässigste Lehrmeister.
Sal: Aber haben nicht die meisten Menschen versucht, eine solche Erfahrung zu machen? Betet nicht fast jeder wenigstens manchmal? Aber offensichtlich gibt ihnen das Gebet nicht viel.
Chris: Ja, die meisten Leute versuchen sich darin. Sie »sagen ein paar Gebete auf«. Aber das ist, wie wenn jemand nur mit seinen Zehen ins Meerwasser tippt und dann meint, er wisse, wie das Schwimmen im weiten Ozean gehe. Wirkliches Gebet ist wie ein Kopfsprung ins Meer, bei dem die Wellen über einem zusammenschlagen und man sich vom Sog weit hinausziehen lässt.
Sal: Das klingt irgendwie unheimlich.
Chris: Darum vermeiden es die meisten. Es klingt unheimlich, aber es ist nicht unheimlich, denn das Meer ist Gott, und Gott ist die Liebe.
Sal: Aber wie du weißt, kann die Liebe auch manchmal beängstigend sein.
Chris: Da hast du absolut recht.
Sal: Die Liebe kann wie Feuer sein.
Chris: Ja, aber die Liebe Gottes ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil von Feuer: Je näher du ihr kommst, desto weniger verbrennst du dich. Wirklich schmerzhaft oder beängstigend scheint sie nur an den äußeren Enden zu sein.
Sal: Außerdem kümmert sich das Feuer nicht um dich.
Chris: Ja, genau. Aber Gott schon. Genau in dieser Minute wünscht er nichts mehr, als dass du ihm näherkommst.
Sal: Meinst du das jetzt wörtlich?
Chris: Ja.
Sal: Ich dachte immer, Gott wäre ewig und vollkommen und bräuchte uns nicht.
Chris: Ja, aber er ist eine Person, nicht nur eine Macht. Er hat einen Willen, ein Herz, Sehnsucht. Er ist die Liebe, Sal! Und die Liebe fühlt ein Verlangen und eine Sehnsucht. Welche Bedeutung könnten wir dem Satz »Gott ist die Liebe« beimessen, wenn diese Liebe kalt und pflichtgemäß, gefühllos und berechnend wäre? Die Liebe sorgt sich immer um den anderen. Und da Gott die unendliche Liebe ist, sind auch seine Sorge um uns, seine Sehnsucht und sein Verlangen nach uns grenzenlos.
Sal: Wow! Es ist schwierig, das mit meiner Vorstellung, dass Gott ewig ist, in Einklang zu bringen.
Chris: Das stimmt. Aber wende dich nie von einer Wahrheit ab, nur weil du nicht verstehst, wie sie mit einer anderen zusammenpasst.
Sal: Wonach sehnt sich denn Gott?
Chris: Nach dem einen, was er nicht selbst tun kann, das eine, was er sich nicht selbst, sondern nur du ihm geben kannst.
Sal: Gibt es so etwas?
Chris: Ja.
Sal: Und was soll das sein?
Chris: Deine freie Liebe, dein freier Entschluss, ihm näherzukommen, dein »Ja« zu seinem Angebot einer innigen Beziehung. Es ist das, worüber wir gerade geredet haben.
Sal: Du meinst, Gott möchte, dass ich lerne, wie man betet?
Chris: Ja.
Sal: Du meinst, dass Gott jetzt, genau in diesem Moment, auf mich wartet?
Chris: Ja! Gott möchte, dass wir dieses Gespräch führen. Er möchte, dass Menschen dieses Buch lesen und es umsetzen. Das ist auch der Grund, warum der Autor dieses Buch geschrieben hat.
Sal: Wie meinst du das?
Chris: Er schrieb es für Gott. Nicht nur, um den Menschen zu helfen, ihr Verlangen nach Gott zu stillen, sondern auch um Gott zu helfen, sein Verlangen nach den Menschen zu stillen. Um Gott glücklich zu machen.
Sal: Können wir Gott glücklich machen?
Chris: Natürlich.
Sal: Wie ist das möglich?
Chris: Weil er uns wirklich liebt, weil er sich wirklich um uns sorgt. Er ist unser Vater. Wir sind seine kleinen Kinder. Die Eltern kleiner Kinder bemühen sich sehr, damit ihr Kind gehen und sprechen lernt.
Sal: Und Beten heißt, mit Gott zu sprechen, oder?
Chris: Und es heißt, mit Gott zu gehen.
Sal: Gut, diese Kunst möchte ich lernen.
Chris: Ja, es ist wirklich eine Kunst und jeder kann sie lernen.
Sal: Kannst du sie mich lehren?
Chris: Nur den Anfang kann ich dir erklären. Für fortgeschrittene Lektionen musst du zu weiseren und heiligmäßigeren Christen gehen als zu mir. Aber wenn du ein paar Stunden für Anfänger bekommen möchtest, dann geht dies in Ordnung. Das ist alles, was ein Anfänger wie ich dir beibringen kann. Man kann nicht geben, was man selbst nicht besitzt (obwohl Prediger und Lehrer das oftmals versuchen).
Sal: Gut, abgemacht. Wo fangen wir an?
Chris: Bevor wir darüber reden, wie man betet, sollten wir zuerst die Begriffe genau bestimmen, oder?
Sal: Richtig. Bitte erkläre mir das Wort »Gebet«.
Chris: Nein, wenn du etwas lernen willst, musst du es selbst herausfinden. Was meinst du, was es wohl bedeutet?
Sal: Vermutlich ist es etwas, das man Gott sagt.
Chris: Sagst du ein Gebet oder betest du?
Sal: Gibt es da einen Unterschied?
Chris: Einen himmelweiten Unterschied. So wie es auch ein gewaltiger Unterschied ist, ob ich jemandem eine Kusshand zuwerfe oder jemanden wirklich küsse.
Sal: Beten ist also so, wie wenn man Gott küsst?
Chris: Ja, und auch wie ein Ringkampf mit ihm und wie wenn man einfach bei ihm sitzt …
Sal: Ich dachte, Gebet sei eine mentale Kommunikation.
Chris: Es ist mehr als das. Das Wesentliche einer echten Kommunikation ist immer eine echte Berührung, auch bei uns Menschen.
Sal: Körperlicher Art?
Chris: Nein, geistiger Art. Es ist ein Kontakt des Geistes der Betreffenden. Eine oberflächliche Kommunikation besteht nur aus dem Austausch von Worten. Aber eine echte Kommunikation bedeutet einen Austausch von Person zu Person.
Sal: Und warum ist wahre Kommunikation nicht ein Austausch von Worten?
Chris: Weil dies auch Computer und Kassettenrecorder können.
Sal: Gut, aber Beten heißt doch, mit Gott zu sprechen, oder? Werden da keine Worte benutzt?
Chris: Und es bedeutet, mit Gott zu gehen. Erinnerst du dich?
Sal: Ja, aber was ist mit dem Sprechen? …
Chris: Es ist ein Sprechen mit Gott, nicht nur ein Sprechen zu Gott. Du musst zuerst bei jemandem sein, bevor du mit ihm sprechen kannst. Computer können zu dir, aber nicht mit dir sprechen, weil sie nicht bei dir sein können. In diesem Fall ist niemand da. Es gibt keine Präsenz, keine anwesende Person.
Sal: Ich verstehe.
Chris: Und hier ist ein weiterer Grund, warum Beten ein Sprechen mit Gott ist, und nicht nur ein Sprechen zu Gott: Die Hälfte des Gebetes sollte aus Zuhören bestehen, vielleicht sogar viel mehr als die Hälfte.
Sal: Dann müssen wir also gar nicht so viele Worte machen? Dann sind gute Gebete wohl eher kurz?
Chris: Ja. Das größte aller Gebete, das Jesus uns selbst zu beten gelehrt hat, ist sehr kurz. Alle Gebete, die Jesus im Evangelium gebetet hat, sind kurz. Dennoch hat er sehr viel Zeit im Gebet verbracht. Er ging immer wieder in die Wüste hinaus, um dort zu beten, manchmal blieb er die ganze Nacht dort. So musste er also, wenn er doch eine solch lange Zeit im Gebet zugebracht und nur so wenig gesprochen hatte, ziemlich viel zugehört haben, oder nicht?
Sal: Du hast recht.
Chris: Und welches bessere Vorbild, welchen besseren Lehrer, der uns beten lehrt, könnte es geben als Jesus selbst?
Sal: Du hast mich überzeugt. Wie kann ich also im Gebet auf Gott hören?
Chris: Das ist eine solch wichtige Frage, dass es wohl besser ist, darüber ein eigenes Gespräch zu führen, einverstanden?
Sal: In Ordnung. Und dann reden wir auch über das »Mit-Gott-Gehen«, einverstanden? Ist es möglich, die ganze Zeit zu beten, so, wie ich die ganze Zeit lebe und arbeite?
Chris: Ja, das ist möglich. Auch darüber reden wir ein anderes Mal.
Sal: Könntest du mir jetzt wenigstens kurz erklären, was es grundsätzlich bedeutet?
Chris: Gewiss. Die Bibel beschreibt es als etwas, was Adam und Eva im Paradies taten. Gott »wandelte mit ihnen im Tagwind«. Die Bibel beschreibt oft heilige Personen wie zum Beispiel Henoch als jemanden, der »mit Gott wandelte«. Das bedeutet, Gott zu kennen.
Sal: Nicht Theologie, oder?
Chris: Nein, Freundschaft.
Sal: Dann ist die Theologie eigentlich gar nicht so viel wert, nicht wahr?
Chris: Das ist falsch! Setze die Theologie nicht herunter. Etwas wird nicht dadurch wertlos, weil etwas anderes wertvoller ist. Durch einen Milliardär wird ein Millionär nicht zu einer armen Person.
Sal: Aber die Theologie ist mit einer Straßenkarte vergleichbar. Beten bedeutet, unterwegs zu sein, richtig?
Chris: Ja, das ist richtig. Aber hast du jemals versucht, in einer unbekannten Gegend ohne Straßenkarte zu fahren?
Sal: Ich verstehe den springenden Punkt. Aber hast du nicht selbst gesagt, dass das Glaubensbekenntnis, die Gebote und der Gottesdienst nur die äußere Schale der Nuss seien?
Chris: Ja, das stimmt.
Sal: Und das Gebet führt dich sozusagen nach innen?
Chris: Ja.
Sal: Und es geht darum, den Nusskern zu berühren, ihn sogar zu essen.
Chris: Richtig.
Sal: Aber um das zu tun, muss die Schale zuerst aufgebrochen werden.
Chris: Ja, aber nicht auf destruktive Art. Die Schale ist wichtig; sie schützt den Nusskern im Inneren.
Sal: Und der Nusskern ist das Gebet?
Chris: Der Nusskern ist Gott selbst, den wir beim Beten erfahren.
Sal: Oh. Aber sage mir noch, warum du immer vom »Beten« sprichst und nicht vom »Gebet«?
Chris: Weil »das Beten« etwas Aktives ist. Beten ist etwas, das man tut. Dadurch ist das Christentum eher mit eine Werkstatt als mit einem Vorlesungssaal vergleichbar.
Sal: Dann wäre es wohl auch gut, ein Tagebuch zu führen?
Chris: Ja, manchmal schon. Aber halte es kurz und einfach und auf Gott gerichtet, nicht auf dich selbst. Pass auf, dass sich deine Augen nicht nur auf dich selbst richten und du dich nur mit dir selbst beschäftigst.
Sal: Meinst du, dass ein Tagebuch dazu verleiten könnte?
Chris: Bei manchen Menschen könnte die Gefahr bestehen, bei anderen nicht.
Sal: Gut, mir gefällt die Idee eines solchen Heftes, einer Art persönliches Tagebuch. Etwas, was nur ich selbst schreiben kann, mit meiner eigenen Unterschrift darunter. Ein Geschenk für Gott, wenn es fertig ist.
Chris: Das Tagebuch mag vielleicht fertig werden, aber du wirst nie zu Ende kommen, zumindest in diesem Leben nicht.
Sal: Chris, ich habe heute noch eine Frage an dich. Die meisten Christen beten doch, oder nicht?
Chris: Ja, das ist richtig.
Sal: Wie kommt es dann, dass so wenige diese Art der Freundschaft mit Gott pflegen, über die wir gerade gesprochen haben?
Chris: Warum glaubst du, dass es so wenige sind?
Sal: Du weißt doch, was ich meine.
Chris: Nein, ich weiß es nicht, du musst es mir schon sagen.
Sal: Nun, ja. Sogar Priester – auch gute und aufrichtige – reden die meiste Zeit nur fromme Worte. Wenn du einmal einen triffst, der anscheinend wirklich Gott persönlich kennt, dann erkennst du ihn sofort. Er sticht heraus. Du weißt, was ich meine, oder?
Chris: Ja.
Sal: Nun, warum gibt es so wenige?
Chris: Woher weißt du, dass es so wenige gibt? Kannst du in die Herzen der Menschen schauen?
Sal: Nein …
Chris: Vielleicht also siehst du diesen langweiligen Durchschnittsmenschen und dieser realisiert die interessanteste Sache der Welt: Er wandelt mit Gott. Vielleicht ist dieser alte Gammler einer der engsten Freunde Gottes.
Sal: Ja, das ist möglich. Ich habe geurteilt, und zwar nur dem äußeren Anschein nach. Vermutlich ist es besser, wenn ich damit aufhöre, auf andere zu schauen, und stattdessen auf mich selbst schaue. Denn ich bin die einzige Person, die ich wirklich von innen her kenne, und die einzige Person, an der ich etwas ändern kann.
Chris: Sal! Junge, du lernst wirklich schnell!
Sal: Ich möchte Gott nicht warten lassen. Nun, beginnen wir endlich, statt nur über das Beginnen zu reden.
Zweites Gespräch:
Warum wir keine Zeit zum Beten finden
Chris: Sal, ich denke, wir sollten ganz von vorn beginnen, oder?
Sal: Natürlich.
Chris: Auch wenn der erste Schritt am schwierigsten ist?
Sal: Was in aller Welt meinst du damit?
Chris: Ich meine, dass der erste Schritt im Gebetsleben der schwierigste ist.
Sal: Wie sieht dieser erste Schritt aus?
Chris: Bevor ich dir die Frage beantworte, möchte ich wissen, ob du wirklich mit der schwierigsten Sache anfangen willst, oder ob du nur wissen willst, worum es sich handelt – also um deine Neugierde zu befriedigen?
Sal: Warum antwortest du auf meine Frage mit einer Gegenfrage?
Chris: Weil die bloße Antwort auf deine Frage »Wie sieht dieser erste Schritt aus?« nicht genug ist. Du musst es auch tun, nicht nur wissen wollen. Deswegen wollte ich wissen, ob du nur mit deinem Verstand die Frage stellst oder auch mit deinem Willen. Bist du also bereit?
Sal: Selbstverständlich.
Chris: Nein, nichts ist »selbstverständlich«.
Sal: Nun, jedenfalls bin ich bereit. Warum glaubst du eigentlich, dass ich hier bin. Ich bin hier, um beten zu lernen, nicht nur um irgendetwas darüber zu erfahren.
Chris: Na gut, beginnen wir mit dem ersten Schritt, dem schwierigsten und dem wichtigsten überhaupt: Es bedeutet, sich einfach Zeit zum Beten zu nehmen.
Sal: Das klingt ja ziemlich einfach.
Chris: Ja, es ist auch einfach, aber es ist überhaupt nicht leicht.
Sal: Warum behauptest du, dass dies der wesentlichste Punkt sei? Und wie handhabst du es selbst?
Chris: Es ist deswegen der wesentlichste Punkt, weil die Frage nicht lautet, wie man es überhaupt macht, sondern ob man es macht. Es ist wie beim Geborenwerden oder beim Kochen: Wie du es machst, ist weniger wichtig, als ob du es machst. Du kannst Hunderte von Büchern über das Gebet finden, die dir Methoden des Betens erklären werden, das »Wie«, aber sie helfen dir nicht, wenn du nicht wirklich zu beten anfängst. Sonst ist es so, als würdest du ein Kochbuch lesen, anstatt zu kochen. Ein Kochbuch kann man nicht essen.
Sal: Das ist klar. Das weiß ich bereits. Warum betonst du das mit solchem Nachdruck?
Chris: Weil, wenn du erst einmal zu beten angefangen hast, dir wahrscheinlich hundert überraschend gute Gründe einfallen werden, sofort wieder damit aufzuhören, hundert gute Gründe, das Beten auf später zu verschieben, hundert »Marta-Dinge«, welche die eine »Maria-Sache« abwürgen, die »eine Sache, die notwendig ist«.
Sal: Was meinst du mit »Marta-Dingen« und der »Maria-Sache«?
Chris: Kennst du die Geschichte von Maria und Marta im Evangelium?
Sal: Ja, ich glaube schon. Wo steht sie denn in der Bibel?
Chris: Ich glaube, in Lukas 10. Wir wollen sehen, ob es stimmt.
Sal: Du trägst eine Bibel mit dir herum?
Chris: Ein kleines Neues Testament mit den Psalmen, passt perfekt hinten in jede Hosentasche.
Sal: Wozu das?
Chris: Hat ein Cowboy nicht auch immer seine Pistole dabei?
Sal: Okay, dann hole deine Pistole heraus und schieß los. Lies mir die Stelle vor.
Chris: Hier ist sie: »Sie zogen zusammen weiter, und er kam in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn freundlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu den Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen, für ihn zu sorgen. Sie kam zu ihm und sagte: ›Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!‹ Der Herr antwortete: ›Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden/«
Sal: Und was war jener bessere Teil?
Chris: Eine Fußnote zu diesem Vers verweist auf Psalm 27,4. Schauen wir dort nach, damit die Frage mit Gottes eigenen Worten beantwortet wird und nicht nur mit meinen. Hier steht: »Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich: Im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in seinem Tempel.«
Sal: In seinem Tempel? In der Kirche?
Chris: Im Gebet. In seiner Gegenwart. Das war es, was Maria suchte – und fand. Marta stellte das Gebet an die zweite Stelle hinter die Arbeit und Jesus sagte, dass Marias Einstellung die richtige sei, nicht Martas.
Sal: Aber Marta hat doch etwas Gutes getan. Sie hat vermutlich den Tisch für Maria und Jesus gedeckt. Warum weist Jesus sie deswegen zurecht?
Chris: Er hat sie nicht deswegen zurechtgewiesen, sondern wegen ihrer großen Sorge, wegen ihrer übermäßigen Aktivität.
Sal: Wegen ihrer übermäßigen Aktivität?
Chris: Ja, wir sind dazu geschaffen, uns mit zwei Füßen zu bewegen: Gebet und Arbeit. Für Marta gab es nur Arbeit, kein Gebet.
Sal: Oh, mit zwei Füßen geht es doppelt so gut.
Chris: Mehr als doppelt so gut. Eins und eins ist in diesem Fall mehr als zwei.
Sal: Aber besteht hier nicht auch die Gefahr, die Arbeit zu vernachlässigen?
Chris: Wegen des Gebetes? In unserer heutigen Zeit? Zeige mir jemanden, der so viel betet, dass er keine Zeit mehr zum Arbeiten findet.
Sal: Ich kenne keinen.
Chris: Eben. Aber wie viele behaupten, so viel Arbeit erledigen zu müssen, dass sie keine Zeit zum Beten finden?
Sal: Praktisch jeder.
Chris: Dann ist die Stelle im Evangelium wirklich relevant, gerade für unsere Gesellschaft, oder nicht?
Sal: Stimmt. Aber Maria saß ja nur zu den Füßen des Herrn und hörte ihm zu. Ist das schon Gebet?
Chris: Ja! Jedenfalls ist es das Wesentliche.
Sal: Aber das ist ja einfach!
Chris: Nein, das ist es nicht. Der »Marta-Einstellung« Einhalt zu gebieten – der Mentalität von Hektik und Sorge –, einfach innezuhalten und Gott ein bisschen Zeit schenken, das ist schwierig.
Sal: Warum ist es so schwierig?
Chris: Du stimmst mir also zu, dass es schwierig ist?
Sal: Ja, ich glaube, du hast recht. Die wenigen Versuche, die ich unternommen habe, schienen darauf hinzuweisen.
Chris: Und je mehr du es in Zukunft versuchen wirst, desto mehr wirst du es bemerken.
Sal: Aber ich verstehe nicht, warum es so ist. Das ist wirklich ein Problem für mich. Chris, ich will ganz offen sein. Ist das in Ordnung? Ich bin noch ein ziemlicher Neuling als Christ, ein Anfänger, und ich dachte, ich hätte dieses Problem nur deswegen, weil ich eben neu bin. Und jetzt höre ich von dir, dass diese Schwierigkeit nicht verschwinden wird. Du scheinst dies aus eigener Erfahrung zu kennen. Also ist das bei dir auch so?
Chris: Ja, auch bei mir ist es so.
Sal: Dann kannst du mir vielleicht weiterhelfen. Das ist eines der Dinge, bei denen ich mich selbst nicht verstehe. Es ist einfach vollkommen irrational.
Chris: Was denn?
Sal: Immer wenn ich bete, hilft es mir ungemein, innerlich wie äußerlich. Eine große Freude und ein tiefer Friede erfüllen mich, entweder während des Betens oder danach, und alle Dinge rücken an ihren richtigen Platz.
Chris: Wunderbar. Wo liegt dann das Problem?
Sal: Ich bete trotzdem nicht. Ich bete wirklich nicht viel. Ich finde immer Entschuldigungen, wie Marta. Aber eigentlich weiß ich es besser. Warum nur fliehe ich vor dem, was mich mit Freude und Frieden erfüllt? Warum erscheint mir das Beten nicht schon vor dem Beginn schön, obwohl es mich währenddessen oder danach mit Freude erfüllt? Anscheinend fürchte ich mich davor. Zumindest renne ich davor weg. Ich finde tausend Ausreden. Ich verzichte auf fünf Minuten tiefer Freude wegen fünf Stunden voller Nebensächlichkeiten. Warum nur? Es ist wie eine Sucht – es ist irrational. Und doch bin ich eigentlich nicht nach irgendetwas süchtig. Es geht nicht darum, dass ich etwas anderes sehr gern machen würde. Ich fliehe vor dem, was Maria tat: einfach innezuhalten und zu Füßen Jesu zu sitzen und ihm zuzuhören. Warum ist das nur so schwierig?
Chris: Sal, ich weiß genau, wovon du redest. Du kannst es glauben, es ist auch mein Problem. Ich habe mich lange Zeit darüber gewundert, bis ich eine Antwort darauf gefunden habe. Die Lösung ist so einfach, dass sie – sobald du sie erkennst – naheliegend ist. Du wirst dich dann selbst fragen, wie du das übersehen konntest. Doch auch ich habe sie jahrelang nicht erkannt.
Sal: Mache es nicht so spannend. Warum renne ich vor dem Beten weg?
Chris: Denke kurz nach. Was in dir sehnt sich nach Gott, nach Gottes Licht und Gegenwart?
Sal: Ich denke, es ist die tiefste Sehnsucht meines Herzens.
Chris: Das glaube ich dir, Sal. Und denke daran: Was immer wir wirklich suchen, werden wir auch finden. Kennst du diese Verheißung?
Sal: Gut, dass du mich daran erinnerst. Aber …
Chris: Ja, »aber«. Was gibt es da noch? Was gibt es in dir, das nicht vor dem Angesicht Gottes erscheinen will? Es ist nicht deine Arbeit. Das ist nur eine Ausrede. Was in dir fürchtet das Licht? Welche Pflanze wächst nur in der Finsternis? Was würde von Gottes Licht abgetötet werden?
Sal: Keine Ahnung. Weißt du es?
Chris: Ja.
Sal: Dann bist du klüger als ich.
Chris: Nein, das trifft nicht zu. Ich habe es nicht selbst herausgefunden. Ich fand es im Wort Gottes.
Sal: Nun, was ist es?
Chris: Die Sünde.
Sal: Oh.
Chris: Du weißt, die Sünde ist eine Realität. Sie ist wie eine Krebskrankheit. Sie ist in uns. Sie ist nicht etwas, das wir hin und wieder tun; sie ist ein Bestandteil von uns. Der heilige Paulus nennt sie den »alten Menschen« oder »Adam in uns«, »das Fleisch« – die gefallene menschliche Natur. Sie fürchtet sich vor Gott und flüstert dir im Unterbewusstsein ein: »Sei vorsichtig! Gehe nicht zu nahe an Gott heran. Du weißt doch, dass er tötet.« Und diese Stimme spricht die Wahrheit. Gott will die Krebskrankheit in dir abtöten.
Sal: Das klingt ein bisschen unheimlich. Ich habe doch keine zweite Person in mir, oder? Wie kann sie mit einer solchen Stimme sprechen? Wie kann sie irgendetwas wissen?
Chris: Betrachte es einmal von einer anderen Seite: Der Geist Gottes, dem wir dienen, ist in einem bestimmten Sinne in uns, oder? Er ist doch wahrhaft in uns, oder nicht?
Sal: Ja, das stimmt.
Chris: