Peter Kreeft
Sokrates trifft Jesus
Peter Kreeft
Sokrates trifft Jesus
Der größte Denker der abendländischen Geschichte
stellt sich dem Anspruch Christi
Media Maria Verlag
Bibliografische Information: Deutsche Nationalbibliothek.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Originaltitel: Socrates meets Jesus
Published by Inter Varsity Press, Downers Grove
Text © 1987 by Peter Kreeft
Introduction © 2002 by Peter Kreeft
Titel der deutschen Ausgabe: Sokrates trifft Jesus
© Media Maria Verlag, Illertissen 2013
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Bernhard Heun, Rüssingen
ISBN 978-3-945401-49-1
www.media-maria.de
Für Therry Miethe und Gary Habermas
INHALT
Einleitung
1. Kapitel: Vom Schierlingsbecher zur Have It University
2. Kapitel: Ein Schritt über den Fortschritt hinaus
3. Kapitel: War Jesus ein Fundamentalist?
4. Kapitel: Schoko-Moral
5. Kapitel: Sind Wunder unwissenschaftlich?
6. Kapitel: Was heißt »vergleichsweise religiös«?
7. Kapitel: Jesus, einzigartig
8. Kapitel: Wie merkwürdig, dass Gott die Juden erwählte
9. Kapitel: Vorsicht! Er lebt!
Nachtrag
Einleitung
Es gab zwei Impulse, die zur Verwirklichung der Idee zu diesem Buch führten: Das erste Kapitel von Søren Kierkegaards Philosophische Brocken, in dem Jesus und Sokrates als die beiden bedeutendsten Lehrmeister der Menschheitsgeschichte einander gegenübergestellt werden, und die Apostelgeschichte, Kapitel 17, wo die Schüler dieser beiden Lehrer zum ersten Mal aufeinandertreffen.
Jesus und Sokrates waren mit Sicherheit die beiden einflussreichsten Menschen, die je gelebt haben. Die westliche Zivilisation gründet auf zwei Wurzeln: auf der biblischen (jüdischchristlichen) und der klassischen (griechischrömischen) Kultur. Jesus ist das Zentrum der ersten und Sokrates gilt als Begründer der zweiten Kultur. Denn unsere Zivilisation – die größte säkulare Erfolgsstory in der Geschichte – unterscheidet sich von allen anderen Zivilisationen am deutlichsten durch die Technik. Und die Technik ist ein Ergebnis der Naturwissenschaften. Und die Naturwissenschaften sind ein Ergebnis der Philosophie. Und die Philosophie wurde von Sokrates begründet.
Weder Sokrates noch Jesus haben jemals ein Buch geschrieben, sie haben keine Schule gegründet, keine Auslandsreisen unternommen, sich nicht mit Politik beschäftigt und sie hatten auch keinerlei weltliche Ambitionen. Der heilige Thomas von Aquin schrieb, dass Christus nicht durch Schriften gelehrt habe, weil seine Lehre einer höheren Ordnung angehöre. Seine Person und sein Leben seien die vollständige und vollkommene Lehre, sodass es unnötig sei, ihr eine Lehre niedriger Ordnung, eine Secondhand-Lehre, hinzuzufügen, also Worte in einem Buch. Und Thomas fügte ergänzend hinzu: »… so wie Sokrates unter den Philosophen«1.
Kierkegaard, dessen Werke nach seiner eigenen Aussage um ein einziges Thema kreisen, nämlich was es bedeutet, Christ zu sein beziehungsweise Christ zu werden (das Anliegen auch meiner Arbeit als Autor), sah Sokrates als idealen Prüfstein für Jesus. Wie könnte jemand Sokrates noch übertreffen? Kann es zu dessen leidenschaftlicher Suche nach Wahrheit auf dem Weg des demütigen Fragens eine Alternative geben? Oder könnte es sein, dass stattdessen die Wahrheit nach uns sucht? Könnte es sein, dass die Wahrheit eher von außen als von innen zu uns kommt? Kierkegaard entwickelte dieses »Gedankenexperiment« im Kapitel »Denkprojekt«, dem ersten Kapitel seines Buches Philosophische Brocken, wo er Schritt für Schritt die Perspektive des sokratischen Philosophen einnimmt und dann Jesu Lehre Punkt für Punkt mit der von Sokrates vergleicht. Es ist die aufschlussreichste Gegenüberstellung dieser beiden größten Männer der Geschichte, die ich kenne. Als ich sie las, dachte ich, das kann nicht einfach nur so stehen bleiben, das muss Verbreitung finden.
Der zweite Impuls stammt aus dem Bericht über eines der schicksalsträchtigsten Treffen der Geschichte: Der ersten Begegnung zwischen einem Jünger Jesu und Sokrates’ Schülern. Der dramatische Bericht dieses Tages, der die Welt veränderte, findet sich im Neuen Testament:
Während Paulus in Athen auf sie wartete, erfasste ihn heftiger Zorn; denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern. Er redete in der Synagoge mit den Juden und Gottesfürchti gen und auf dem Markt sprach er täglich mit denen, die er gerade antraf. Einige von den epikureischen und stoischen Philosophen diskutierten mit ihm und manche sagten: Was will denn dieser Schwätzer? Andere aber: Es scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein. Er verkündete nämlich das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. Sie nahmen ihn mit, führten ihn zum Areopag und fragten: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du vorträgst? Du bringst uns recht befremdliche Dinge zu Gehör. Wir wüssten gern, worum es sich handelt. Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören.
Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: »Einem unbekannten Gott«. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch (Apg 17,16–23).
Mitten im Zentrum der weltweiten Götzenverehrung findet Paulus Verehrer des wahren Gottes und erklärt deshalb: »Was ihr als Unwissende verehrt, das verkünde ich euch.« Wie kann das sein? Sie müssen Sokrates’ Schüler gewesen sein.
Sokrates, ein gelernter Steinmetz, hatte vielleicht die Inschrift, auf die Paulus sich berief, sogar im wörtlichen Sinne in Stein gemeißelt. Sicher ist auf jeden Fall, dass dieser »unbekannte Gott« Sokrates’ Gott war. Genau genommen war Sokrates ein Märtyrer für die Wahrheit dieses Gottes. Das geht aus der Apologie klar hervor, Sokrates’ berühmtester Rede zur Verteidigung seines Lebens und seiner Berufung zur Philosophie, »der Liebe zur Weisheit« (eine Berufung, deren Ursprung er immer »dem Gott« zugeschrieb), als Athen ihm und seiner Berufung zur Philosophie den Prozess machte. Wäre Sokrates in der Lage gewesen, in diesem Prozess den Namen irgendeines einzelnen Gottes, den die Athener anerkannten, wahrhaftig und aufrichtig zu bekennen, so wäre er nicht wegen Gottlosigkeit hingerichtet worden. Aber er konnte es nicht. Er wusste nicht, wer der wahre Gott war. Er wusste nur, wer der wahre Gott nicht war. Und Sokrates konnte die Wahrheit genauso wenig verraten, wie ein christlicher Heiliger Christus verraten könnte. Er war sich nur über etwas ganz sicher: Wer auch immer der wahre Gott ist, er ist der Gott der Wahrheit.
Vier Jahrhunderte nach Sokrates’ Tod lebte ein Mann, der den Anspruch erhob, dieser wahre menschgewordene Gott zu sein, der Schöpfer wurde Geschöpf, der eingeborene Sohn des Vaters, das ewige Wort (Logos, Geist, Vernunft) Gottes. Dieser Mensch, der behauptete, selbst die Wahrheit zu sein (vgl. Joh 14,6), versprach, dass alle, die suchen, auch finden werden (vgl. Mt 7,8; Lk 11,10). Es ist offensichtlich, dass er nicht über das Finden von Macht, Geld und weltlichem Erfolg sprach. Diese Ziele verfolgten diejenigen, die ihn nicht als ihren Messias und Erlöser anerkannten, weil er sie nicht vor den Feinden oder vor den Römern schützte. Als er sagte, dass alle, die suchen, auch finden werden, sprach er von der Wahrheit. Denn er versprach: »Die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8,32). Gleichzeitig redete er auch von sich selbst, denn er sagte: »Wenn der Sohn euch frei macht, dann werdet ihr wirklich frei sein« (Joh 8,36). Wenn Jesus die Wahrheit ist und wenn Sokrates die Wahrheit aus ganzem Herzen suchte (was natürlich nur Gott wissen kann), und wenn die Wahrheit nicht täuschen kann und Jesus versprochen hat, dass alle, die ihn suchen, ihn finden werden, dann gibt es gute Gründe zu hoffen, dass Sokrates ihn gefunden hat. Bei Sokrates können wir nicht sicher sein, bei Christus sehr wohl.
Sokrates fand Christus jedoch nicht in diesem Leben, nicht in dieser Welt. Und uns ist das Gespräch zwischen Sokrates und Jesus in der zukünftigen Welt nicht bekannt. Könnten wir es uns vorstellen? Falls nicht, könnten wir uns vielleicht etwas Ähnliches hier auf Erden vorstellen?
Weil Dummköpfe und Philosophen sich Dinge zutrauen, die selbst Engeln nicht geheuer sind, deshalb versuchte ich, mir ein solches himmlisches Gespräch vorzustellen und begann, einen fiktiven Dialog zu schreiben. Aber ich konnte es einfach nicht. Dorothy Sayers schrieb, dass es für menschliche Autoren unmöglich sei, Christus angemessen als literarischen Charakter darzustellen. Ich kenne in der Literatur nur zwei Versuche, die man als beinahe gelungen bezeichnen könnte: Einer davon ist Dostojewskis Legende Der Großinquisitor, in der Christus kein einziges Wort spricht und nur eine einzige Handlung vollzieht (indem er dem Inquisitor einen Kuss gibt, ähnlich dem, den Judas ihm am Ölberg gab). Der andere ist C. S. Lewis’ Aslan, der große Löwe in den Chroniken von Narnia. Aber dieser Versuch war nur durch den Kunstgriff einer doppelten Verfremdung erfolgreich: von Christus als Mensch zu Christus als einem Löwen und von der Erde zum fiktiven Land Narnia. Lewis schlich sich damit geschickt an den beiden »wachsamen Drachen« Vertraulichkeit und Pflicht vorbei, die unsere Seele davon abhalten, mit derselben natürlichen Ehrfurcht und Bewunderung zu reagieren, die alle Zeitgenossen Christi in dessen Gegenwart verspürten. Deshalb spürt das Kind – und das Kind in uns – in Bezug auf Aslan dasselbe, was es in Bezug auf Christus spüren sollte, nämlich: Aslan ist kein zahmer Löwe.
Ein bloßer Philosoph und zweitklassiger Science-Fiction-Autor kann jedoch nicht auf ein solches Gelingen hoffen. Ein fiktiver Dialog zwischen Sokrates und Jesus, ob im Himmel oder auf Erden, ein Sokrates-trifft-Jesus-Buch im wörtlichen Sinne übersteigt meine Fähigkeiten.
Doch die Apostelgeschichte, Kapitel 17, gab mir einen Anhaltspunkt. Wenn der heilige Paulus, der Jünger Christi, auf dem Mars-Hügel in Athen, dem Zentrum des weltweiten Götzendienstes, Jahrhunderte später die noch lebendige Tradition des Sokrates bei verwirrten Philosophen vorgefunden hatte, warum sollte dann nicht Sokrates ein paar Jahrhunderte später ein paar verwirrte Jünger Christi an der Have It Divinity School2 treffen können, in der Stadt, die sich selbst »das Athen Amerikas« nennt, im Zentrum der weltweiten Heterodoxie? Die Epikuräer und Stoiker, die Paulus in der Apostelgeschichte, Kapitel 17, erwähnt, hielten sich selbst für Schüler von Sokrates. (Die Epikuräer waren abtrünnige Sokratiker, während die Stoiker nur heterodoxe Sokratiker waren.) An der Have It3 halten sich die Theologen selbst für Jünger Christi. Die schlechten Theologen sind abtrünnige Christen, die guten sind heterodoxe Christen. Es wäre eine Ironie, aber nicht unmöglich, wenn Sokrates den wahren Gott hier am ungeeignetsten Ort der Welt finden würde, denn auch Paulus fand wahre Gottsucher auf dem Mars-Hügel, dem hierfür ungeeignetsten Ort der Welt. So wie Sokrates es bereits bei den alten Athenern getan hatte, so würde er vermutlich auch unsere Trugschlüsse, Fantastereien, Marotten und Torheiten, unser akademisches Gerede, unsere Feigenblätter, Pfauenfedern und unseren Unsinn durchschauen – und schlussendlich vielleicht doch die Wahrheit finden.
Wenn der heilige Paulus in diesem weltweiten Zentrum der Götzenverehrung wahre Gottsucher fand, dann, so dachte ich, sollte es nicht weniger möglich sein, dass auch Sokrates den wahren Gott im Zentrum der Häresie finden könnte. Sokrates gleicht dem kleinen Jungen in dem Märchen Des Kaisers neue Kleider. Denn das Drama dieses Buches besteht darin, zu zeigen, wie Sokrates nicht nur die Verwirrungen der Studenten und Professoren aufgreift und aufzulösen versucht, sondern diese Verwirrungen geradezu als Hinweise auf den wahren Gott verwendet – und ihn findet und sich bekehrt. Aber nur ein leidenschaftlicher Gottsucher würde seine Suche angesichts solcher unsicheren und beeinträchtigten Hinweise auch durchhalten; und nur jemand, der tatsächlich nach der Wahrheit hungert, würde es auf sich nehmen, den modisch-glitzernden Müll, der an der Have It verbreitet wird, zu durchstöbern, in der Hoffnung, doch noch etwas Nützliches zu finden.
Würde ich heute das Buch neu schreiben, müsste ich nicht viel hinzufügen. Denn Häresien sind beinahe genauso ausdauernd wie die Wahrheit. Ein Sokrates, der die Anmaßungen der Sophisten aufdeckte, würde sicherlich jedes gleichermaßen anmaßende »Jesus-Seminar« oder betreffenden »Bibelcode« durchschauen.
Aber hätte sich Sokrates bis an das Christentum herandenken können? Ist die menschliche Vernunft so stark? Natürlich nicht. Das Christentum ist nicht die Schlussfolgerung einer philosophischen Debatte, sondern das Ergebnis eines unglaublichen und völlig unerwarteten göttlichen Wunders. Und dennoch könnte für diesen Gottesdetektiv der Nachhall dieses Wunders, auch wenn er noch so verhalten und entstellt ist, ein ausreichend deutlicher Fingerzeig sein, um den wahren Gott zu entdecken.
Immerhin ist die menschliche Vernunft – obgleich gefallen – von Gott angelegt worden. Am Schwert der Vernunft ist nichts auszusetzen, nur an unserem Umgang mit ihm. Denn dieses Schwert wurde im Himmel geschmiedet, nicht an der Have It. Um es weniger poetisch zu sagen: Gott sandte zu seinem auserwählten Volk nicht nur einige außergewöhnliche Propheten wie Moses, sondern er sandte auch den universalen inneren Propheten der Vernunft und des Gewissens zu allen Völkern. Im Mittelalter sprach man gerne von zwei Schriften Gottes: der Natur und der Heiligen Schrift. Und weil Gott der Autor beider Bücher ist und weil sich dieser Lehrer nie widerspricht, deshalb widersprechen sich auch die beiden Bücher nie. Und weil dieser Gott, der sich nie widerspricht, uns mit zwei Wahrheitsdetektoren ausstattete – Glauben und Vernunft –, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sich Glaube und Vernunft, sofern sie richtig angewandt werden, nie widersprechen. Umgekehrt widersprechen folglich alle Häresien der Vernunft. Zwar kann die Vernunft nicht alle Glaubenswahrheiten beweisen, aber alle Argumente gegen die Wahrheit des Glaubens können durch die Vernunft widerlegt werden.
Deshalb ist es nicht unmöglich, dass Sokrates, der die natürliche Vernunft in ihrer reinsten Form repräsentiert, die vielen irrationalen und inkonsistenten Punkte der modernen Häresien gegen eine Religion, die er nie gekannt hat, durchschauen und sich so seinen Weg zur wahren Religion bahnen könnte, wenn er die Heilige Schrift läse – allerdings ohne die »Unterstützung« durch Schutzimpfungen, die christophobe Professoren gerne gegen die schreckliche Krankheit eines echten Christentums verabreichen.
Sokrates hatte außer dem universalen Propheten der Vernunft keine Propheten als Führer. Aber die Christen wissen, dass die Vernunft kein rein menschliches Vermögen ist, sondern ein Lichtstrahl des Sohnes Gottes, des »wahren Lichts, das jeden Menschen erleuchtet« (Joh 1,9), des Logos, der Logik Gottes. Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und der Logos war Gott. Sokrates hatte nur die Logik, aber die Logik ist kein Bündel selbstgemachter Regeln für ein Spiel mit Begriffen, als wären sie Pokerchips; die Logik ist die Wissenschaft von der göttlichen Natur. Das Identitätsgesetz gründet auf der realen göttlichen Identität und Unveränderlichkeit. Das Nichtwiderspruchsprinzip gründet auf der Einheit der göttlichen Natur, auf der Tatsache, dass Gott sich nie selbst widerspricht. Das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten gründet auf der Tatsache, dass alle Entweder-oder in dem einen Gott gründen: entweder Gott oder kein Gott, Wahrheit oder Falschheit, Licht oder Dunkelheit, Wirklichkeit oder Unwirklichkeit. Das Prinzip vom zureichenden Grund gründet auf der Tatsache, dass Gott der zureichende Grund selbst ist, unendliche Intelligenz.
Die Geschichte dieses Buches ist altbekannt. Sie beinhaltet drei Abschnitte: Die Suche der Vernunft nach Wahrheit; die überraschende Entdeckung der Vernunft, dass die letzte Wahrheit Glauben erfordert; und die glückliche Entdeckung der Vernunft, dass der Glaube rationaler ist als alles Übrige, was die Vernunft bislang entdeckt hat. Das ist das Grundmuster der Bekehrungsgeschichten aller großen christlichen Liebhaber der Weisheit: Justin der Märtyrer, der heilige Augustinus, Blaise Pascal, Søren Kierkegaard, John Henry Kardinal Newman, G. K. Chesterton, C. S. Lewis. Konnte Sokrates hier weit entfernt sein?
Natürlich war er nur ein Heide. Aber Gott sorgte überall großzügig für Hinweise: in der Natur, im Menschen, in der Geschichte. Die menschliche Seele, nach Gottes Ebenbild gestaltet und geschaffen, verfügt über drei Fähigkeiten, die sie mit keinem anderen Lebewesen teilt: Intellekt, sittlichen Willen und Vorstellungskraft. In ihnen hat Gott jede Menge Anhaltspunkte hinterlassen. Zum Willen sprach er durch das universale Gewissen und durch die Propheten, zur Vorstellungskraft durch die (allerdings sehr fehlbaren, aber oft wunderbaren) Mythen in jeder Kultur und zum Intellekt durch die (ebenfalls fehlbaren) griechischen Philosophen. Sokrates war der erste wahre Philosoph, der Urvater aller Philosophen. Alle drei Hinweise sind Fingerzeige; alle weisen auf Christus hin. Deshalb erfüllt Sokrates in diesem Buch nur, wofür Gott die Vernunft im Letzten bestimmt hat.
1. Kapitel:
Vom Schierlingsbecher zur Have It University
Im Jahr 1987 liegt Sokrates, mit seinem griechischen Alltagsgewand (Philosophenrobe) angekleidet und mit einem Bettlaken vollständig bedeckt, auf einer Stein- oder Marmorplatte mit unbestimmtem Verwendungszweck in einem großen Kellerraum der Broadener Library4 an der Have It University, einem berühmten Studienzentrum in Camp Rich, Massachusetts. Das Betttuch bewegt sich. Langsam, zögernd hebt Sokrates einen Zipfel, späht hervor, blinzelt mit fragendem Blick.
Sokrates: Phaidon! Phaidon! Bist du noch da? Ich glaube, der Schierling hat nicht so gewirkt, wie er sollte. (Er bewegt seine Beine, blickt auf sie, richtet sich vorsichtig auf, streckt seine Arme.) Tatsächlich, ich fühle mich lebendiger denn je. (Er wirft das Betttuch weg.) Oder … könnte es sein, dass ich … (schaut erwartungsvoll umher). Wo bin ich? Kriton? Phaidon? Simmias? Cebes? Meine Freunde, meine Freunde. (Er hält inne und blickt auf.) Apollon? (Längere Pause. Verharrt regungslos. Blickt abwärts auf sein Herz, zittert.) Namenloser?
Flanagan: (stürzt mit einem Besen herein) Hier, da! Was ist das für ein Rummel und Gequassel? (sieht Sokrates) Ach! Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich hab’ nicht gewusst, dass der Theaterclub hier probt. Wer sind Sie eigentlich?
Sokrates: Diese Frage zu lösen, war zeitlebens mein Bemühen.
Flanagan: Hä? War? Haben Sie den Verstand verloren? Denken Sie, dass Sie tot waren?
Sokrates: (ausnahmsweise in Verlegenheit) Ich … um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht recht. (Besinnt sich wieder.) Ich habe immer gedacht und gelehrt, das wahre Selbst sei die Seele, und die Seele sei unsterblich, und daher sei das Ich – das wahre Ich – unsterblich. Aber ich dachte, mein Leib sei gerade hingerichtet worden. Ich trank den ganzen Schierlingsbecher. Der Gefängniswärter wollte mich nicht einmal einen Tropfen als Gabe für die Götter opfern lassen. Er sagte, es sei alles genauestens abgemessen.
Flanagan: Unter uns gesagt, Sie spielen Ihre Rolle ziemlich gut. Ist das die Generalprobe?
Sokrates: Hmmm … Als eines der letzten Dinge, bevor ich das Gift nahm, lehrte ich meine Freunde, dass für einen wahren Philosophen das Leben die Generalprobe für den Tod sei. »Die Philosophie richtig zu betreiben bedeutet, das Sterben zu üben«, sagte ich zu ihnen. Aber ich dachte, meine Premiere sei bereits vorüber. Doch da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher. Die bekannte Geschichte – ich erfahre wieder einmal, dass meine sicherste Sicherheit darin besteht, zu lernen, dass ich nicht sicher bin. Scheinbar lernen wir die Lektion Nummer eins nie. Aber … wo bin ich eigentlich? Es sieht hier nicht nach der Insel der Seligen aus, zumindest nicht so, wie ich es erwartet hatte. Allerdings ich habe ja gelernt, gegenüber allen Erwartungen und Vorurteilen, vor allem meinen eigenen, misstrauisch zu sein und Überraschungen willkommen zu heißen, das Unerwartete zu erwarten. (Er schaut durch die offene Tür.) Was sehe ich da? Bücher?
Flanagan: Natürlich. Hier gibt es fünfhunderttausend davon.
Sokrates: (blickt ungläubig umher) Fünfhunderttausend Bücher? Oh … vielleicht ist hier doch die Insel der Seligen. Aber wo sind ihre Autoren? Mit einem Buch kann ich mich ja nicht unterhalten. Es gibt immer die gleiche Antwort, egal was man es fragt. Einige der Autoren haben doch sicher auch die Inseln der Seligen erreicht. Ist Homer hier? Seit Jahren habe ich mich drauf gefreut, ihm ein paar Hundert kleine Fragen zu stellen wegen seiner Götter …
Flanagan: Aha, ich verstehe. Sie spielen immer noch Ihre Rolle. In Ordnung, mein Freund, ich spiele mit. Haben Sie ein paar Zeilen für mich zum Mitlesen? Oder ist es ad libitum, wie man hier sagt?
Sokrates: Jetzt bin ich doppelt verwirrt – erstens, weil ich Ihre Frage nicht verstehe, und zweitens, weil ich Ihre barbarische Sprache sehr wohl verstehe, obwohl sie nicht meine attische Muttersprache ist und ich sie nie gelernt habe. Vielleicht ist das ja die Anamnese. Ich hatte ja gelehrt, Lernen sei in Wirklichkeit ein Erinnern, aber ich hatte nicht gedacht, dass auch Fremdsprachen mit eingeschlossen seien, sondern nur zeitlose universale Wahrheiten. Hmmm … (Er denkt zehn Sekunden lang nach, schüttelt verwirrt seinen Kopf, wendet sich wieder an Flanagan.) Und Sie? Sie sehen auch nicht wie ein Gott aus oder wie ein seliger Geist. Aber nochmals, ich muss lernen, überrascht zu sein. Wie heißen Sie? Und noch wichtiger, zu welcher Spezies gehören Sie?
Flanagan: Ich heiße Flanagan und ich bin hier der Hausmeister. Und ich bin weder ein Gott noch ein Geist, außer wenn ein heißblütiger Iro-Schotte zu den seligen Geistern gehört – dann sogar doppelt selig. Aber Sie sind doch das Rätsel, Mann, nicht ich. Für einen Studenten sehen Sie zu alt aus, außer wenn die Leute in der Maske ein Meisterwerk vollbracht hätten.
Sokrates: Oh, nein. Man ist nie zu alt, um Student zu sein.
Flanagan: Sind Sie also hier immatrikuliert?
Sokrates: Hier? Bitte, was heißt hier?
Flanagan: Wie? Hier ist die Have It natürlich.
Sokrates: Have was? Wollen Sie mir etwas anbieten?
Flanagan: Nein, nein. Hier ist die Have It University in Camp Rich, Massachusetts, das Herz der akademischen Welt.
Sokrates: Akademische Welt! Mein Schüler Platon hatte grandiose Pläne für etwas, das er seine »Akademie« nannte, im Garten des Akademos. Und das ist daraus geworden? Diese … (macht eine große Geste)?
Flanagan: Ja, so könnte man es nennen.
Sokrates: Was geht hier vor? Ist hier das Zentrum des idealen Staates?
Flanagan: Nein! Hier ist nur die Broadener Library. Die Bücher sind dafür vorgesehen, euren Horizont zu erweitern. Obwohl ich immer sage, dass dieses ganze Lernen aus kleinen Verrückten große Verrückte macht. Aber wissen Sie wirklich nicht, wo Sie sind? Leiden Sie unter Gedächtnisschwund?
Sokrates: Nur in dem Sinne, wie wir alle darunter leiden: Vergesslichkeit, tatsächlich das Vergessen darüber, wer wir wirklich sind.
Flanagan: Aha, verstehe. Sie gehören hierher, alles klar. Zu all diesen Verrückten. Ein Philosoph, richtig?
Sokrates: Ja, das bin ich. Ein Liebhaber der Weisheit.
Flanagan: Sie spielen eben jetzt Ihre Rolle, oder?
Sokrates: Ich meine es ganz ernst. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, bevor ich an diesem Ort hier aufwachte, war der Gifttrank und das Warten auf den Tod. Aber Sie sind nicht der Tod, oder doch?
Flanagan: Ist der Tod ein Hausmeister?
Sokrates: Viele meiner Mitmenschen dachten, er sei ein Fährmann.
Flanagan: Aber warum haben Sie Gift getrunken?
Sokrates: Oh, ich versichere Ihnen, es war kein Selbstmord. Ich wurde hingerichtet.
Flanagan: Jetzt hingerichtet! Und von wem denn, bitte?
Sokrates: Natürlich vom Rat der Fünfhundert. Die Hand des Gefängniswärters, die mir den Becher gab, war nicht blutrünstiger als meine eigene. Beide haben dem Volkswillen entsprochen. Diese dämlichen Demokraten glaubten, dass »die Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei«. Ich hoffe sehr, dass ihr diesen Aberglauben hier inzwischen überwunden habt, wo auch immer wir hier sind.
Flanagan: Ich hab’ Ihnen eben erklärt, wo wir hier sind. Und fangen Sie nun nicht an, über die Demokraten herzuziehen. Nach Ihren Kleidern zu schließen sehen Sie nicht so reich aus, um ein Republikaner zu sein.
Sokrates: Ich verstehe das Ganze nicht. Dieser Ort ist keine Gefängniszelle und Sie sind kein Athener. Wurde ich in der letzten Minute doch von meinen Freunden ins Exil weggezaubert? Ich habe doch Kriton dringend gebeten, dies nicht zu tun. Welches fremde Land ist Cabbage5 Massachusetts?
Flanagan: Wenn Sie das wirklich ernst meinen, müssen Sie einen Albtraum gehabt haben und jetzt sind Sie mit einem Gedächtnisverlust aufgewacht.
Sokrates: (ratlos, nachdenklich) Ich habe mir oft überlegt, das Leben mit einem Traum zu vergleichen, weil der Tod mir immer als ein Erwachen erschien. Aber das Leben schien mir immer wirklicher als jeder Traum. Und genauso geht es mir auch jetzt.
Flanagan: Kennen Sie wenigstens noch Ihren Namen?
Sokrates: Natürlich. Ich heiße Sokrates.
Flanagan: Ja, ganz klar. Und ich heiße Einstein.
Sokrates: Das verstehe ich nicht. Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie würden Flanagan heißen?
Flanagan: (zur Seite) Verdammt, ich glaube, der Kerl ist wirklich verrückt! … (zu Sokrates) Lassen Sie uns versuchen, die Sache irgendwie zu Ende zu bringen. Haben Sie einen Ausweis bei sich?
Sokrates: In Athen war mein Gesicht Ausweis genug für jeden.
Flanagan: Ha, ich weiß warum, Mann, bei so einem Froschgesicht!
Sokrates: So wurde damals darüber gesprochen. Und ich dachte, ich hätte tatsächlich gequakt – wie die Leute es behaupteten. Aber jetzt … (macht sich an seiner Robe zu schaffen, zieht ein rosa Immatrikulationsformular hervor). Es scheint, dass ich ein Stück Papier habe. Farbiges Papier! Wie seltsam. Wie eine Rose. Was bedeutet das? (Liest, schüttelt den Kopf, gibt es Flanagan.) Können Sie mir das übersetzen? Ich verstehe zwar die Worte, aber nicht den Sinn. Das scheinen alles Substantive zu sein. Ich sehe keinen einzigen Satz. Was für eine seltsame barbarische Grammatik! Wie kann ein Substantiv ein anderes näher bestimmen?
Flanagan: Lassen Sie sehen. (Blickt finster drein, liest, Stimmung hellt sich auf.) Oh. Have It Divinity School. Ja, das ist die Divinity School. Und das ist Ihr Immatrikulationsformular. Verdammt, sogar Ihr Name steht drauf. Sie sind immatrikuliert unter dem Namen Sokrates. Der Computer hat wirklich einen Sinn für Humor. Auf jeden Fall sind Sie Student an der Have It Divinity School.
Sokrates: Divinity School6? Dann ist das hier doch der Himmel? Lerne ich hier, wie man gottbegnadet wird?
Flanagan: Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mann?
Sokrates: Nein, Einstein.
Flanagan: Hören Sie auf damit. Nennen Sie mich nicht Einstein!
Sokrates: Wie Sie wollen, Flanagan. Sind sie der Hausmeister der Götter?
Flanagan: Oh Gott, Sie sind vollkommen verrückt.
Sokrates: Sie schwören bei Gott und nicht bei den Göttern! Nur wenige in meiner Stadt kannten dieses große Geheimnis. Tatsächlich, hier muss die Insel der Seligen sein!
Flanagan: Oh Mann, hören Sie auf damit. Niemand redet heute mehr von Göttern.
Sokrates: Wurde ich sowohl in der Zeit als auch an einen anderen Ort versetzt?
Flanagan: Nun, wenn Sie wirklich Sokrates sind, dann ja. Mindestens ein paar Tausend Jahre, glaube ich. (Ein plötzplicher Gedanke.) He? Läuft hier gerade Schwarze Magie? Mit solchem Teufelszeug möchte ich nichts zu tun haben. Wenn Sie lügen, spiele ich gerne mit. Und wenn Sie krank sind, werde ich Ihnen helfen. Aber wenn Sie etwas mit Schwarzer Magie zu tun haben, sind Sie zu krank, als dass ich Ihnen helfen könnte.
Sokrates: Wie ich Ihnen schon sagte, Flanagan, ich habe keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Aber für Schwarze Magie fühlt es sich zu gut und für den Himmel fühlt es sich nicht gut genug an. Obwohl ich Gefühlen gegenüber an sich misstrauisch bin, habe ich derzeit nichts anderes, wonach ich mich orientieren könnte. Solange es also keine anderen Hinweise gibt, gehe ich davon aus, dass ich einfach immer noch auf der Erde bin.
Flanagan: Mann, natürlich sind Sie noch auf der Erde! Hier spüren Sie Ihre Knochen. Das ist sicher kein Geist.
Sokrates: Die wichtige Frage ist aber nicht, wo ich bin – die Materie –, sondern warum ich hier bin – das Geistige, der Plan. Haben Sie eine Ahnung, warum man mich hierher versetzt hat?
Flanagan: Nicht die leiseste Spur. Außer Sie sind hier, um mir beim Putzen dieses Saustalls zu helfen. Die Jungen werfen ihren Müll überall hin und der alte Hausmeister muss jeden Tag so viel Müll wie von zwei Tagen aufräumen. Aber ich nehme an, Sie müssen andere Dinge erledigen, zum Beispiel die Divinity School.
Sokrates: Ja, das scheint der richtige Platz für mich zu sein. Erstens bin ich Student auf Lebenszeit und zweitens scheint mir dieses Immatrikulationsformular einen Wink zu geben, dem ich folgen sollte. Ich habe immer geglaubt, dass alle Dinge, auch die seltsamsten, von einem perfekten göttlichen Plan gelenkt werden und dass einem guten Menschen nichts Schlechtes zustoßen kann, weder in diesem Leben noch im nächsten. Deshalb werde ich das Abenteuer annehmen, das Gott mir geschickt hat, was immer es auch bringen mag. (Will aufbrechen, blickt auf seine Kleidung, dann auf die von Flanagan.) Ich fürchte, wenn hier alle so gekleidet sind wie Sie, dann werde ich hier wie ein Fremdkörper aussehen.
Flanagan: Oh, machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt kein Gesetz, das das Tragen einer Toga verbietet. Hier gibt es alles: Anhänger der Moon-Sekte, Homos, sogar Fundamentalisten.
Sokrates: Irgendwann muss ich diese seltsamen Geschöpfe erforschen. Es gibt so viele Fragen, die ich stellen möchte …
Flanagan: Sagen Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht, darf ich Ihnen einen kleinen Tipp geben? Wenn Sie keine Schwierigkeiten bekommen wollen, dann stellen Sie nicht zu viele Fragen, vor allem nicht die falschen.
Sokrates: Ach, die Warnung klingt mir nur zu vertraut! (Pause) Jetzt weiß ich sicher, dass ich nicht im Himmel bin. Denn wie ich in meiner letzten Rede ausgeführt habe, glaube ich nicht, dass Philosophen im Himmel wegen ihrer Fragen in Schwierigkeiten geraten, so wie es mir in Athen erging. Hmmm. Anscheinend haben wir hier ein weiteres Athen. Die Divinity School ist also keine Schule für angehende Götter?
Flanagan: Oho, das ist ein guter Scherz! Ja, manche Typen verhalten sich hier, als wären sie angehende Götter und vielleicht nicht einmal nur angehende.
Sokrates: Ich glaube, ich muss aus denselben Gründen hierher gesandt worden sein, wie ich nach Athen gesandt wurde, und vom gleichen Gott: Um den Menschen zu helfen, sich daran zu erinnern, wer sie wirklich sind.
Flanagan: Sehen Sie, ich wünschte mir, ich könnte mit Ihnen mitkommen. Bei Ihren Vorlieben sehe ich einen ganzen Berg von Problemen voraus und niemand soll über die Prophezeiungen eines alten Iren lachen. Aber es ist mein Job, diese Schweinerei hier aufzuräumen, und es scheint Ihr Job zu sein, eine andere Art von Chaos zu beseitigen oder zumindest, es zu versuchen … Immerhin sind sich beide Jobs irgendwie ähnlich. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, wie ich das meine. Wissen Sie, wenn der Prophet eine Anwandlung hat, dann tickt er aus.
Sokrates: Ich glaube, ich verstehe Sie, mein Freund. Und ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Rat. Ich glaube, ich sollte zu Ihnen zurückkommen – wenn es Sie nicht stört –, nachdem ich das Abenteuer mit der Divinity School gewagt und überstanden habe. Sie scheinen der Halt auf meiner Reise zu sein, ein Anker auf festem Grund und mit gesundem Menschenverstand, während ich mich in die Gefilde der Philosophie wage. Können wir uns später nochmals unterhalten?
Flanagan: Natürlich. Mann, ich glaube, das ist so vorbestimmt. Gehen Sie nun. Ich werde da sein, wenn Sie mich brauchen. Ich bin ständig hier unterwegs. Manchmal sehen Sie mich und manchmal nicht.
Sokrates: Danke, Flanagan. Gott sei mit Ihnen. (Geht hinaus.)
Flanagan: Oh, er ist es, er ist es. (Schaut Sokrates nach, der sich entfernt.) Also, ich frage mich, was zum Teufel sie sich gedacht haben, ihn hierher zu schicken?
2. Kapitel:
Ein Schritt über den Fortschritt hinaus
Sokrates steht an der Straßenecke des Have It-Platzes in Camp Rich, Massachusetts, und sieht ziemlich überwältigt aus. Er starrt auf den Verkehr – sowohl auf die Fahrzeuge als auch auf die Menschen – mit einem Gefühl zwischen Vergnügen und Verwunderung, zuerst fasziniert, dann nachdenklich, zuletzt mitfühlend; erst verblüfft, dann gedankenvoll, dann mitleidsvoll. Es dauert eine Weile, bis sich diese drei Stimmungen in seinem Gesicht nacheinander widerspiegeln, gleich Ebbe und Flut. Als die dritte Stimmung abebbt, entdeckt ihn Bertha Broadmind, Studentin an der Have It Divinity School, und beobachtet ihn genau. Auch sie ist erst verblüfft, dann nachdenklich und schließlich voll Mitleid. Als sich Sokrates, der vergeblich nach einem vertrauten Orientierungspunkt Ausschau hält, in eine Richtung mittreiben lässt, eilt Bertha zu ihm.
Bertha: Sokrates! Bist du es wirklich?
Sokrates: (überrascht und erfreut) Ja, warum? Wie hast du mich erkannt? Wurdest du geschickt, um mich abzuholen? Ich habe einen Gesandten der Götter erwartet und – entschuldige – du siehst nicht gerade wie ein solcher aus.
Bertha: Oh, Sokrates. Du bist so … so sokratisch! Du bist es wirklich, nicht wahr?
Sokrates: Natürlich, ich bin ich – es sei denn, hier wäre das Nichtwiderspruchsprinzip abgeschafft worden. Aber wo ist eigentlich hier?
Bertha: Sokrates, du bist im Zentrum des akademischen Lebens, im Mittelpunkt der intellektuellen Welt, an der Have It University: das Resultat der Erfindung deines großen Schülers Platon. Es ist der Ort, an dem viele unserer Philosophenkönige ausgebildet werden. Tatsächlich – lass mal sehen –, die Karte, die du in der Hand hältst, sieht wie ein Immatrikulationsformular für die Have It Divinity School aus. Ja, es ist eines! Wow, du wirst in einigen von meinen Kursen sein. Fantastisch! Komm, ich helfe dir bei der Immatrikulation.
Sokrates: Es scheint, als müsste ich von dir geführt werden. Kannst du mir unterwegs ein paar der merkwürdigen Dinge erklären, die meine alten Augen sehen? Für manche Dinge kann ich in meiner Erinnerung nichts finden, an das ich mich halten kann.
Bertha: Sehr gerne, Sokrates. Was für ein Privileg für mich, dir etwas beizubringen: – über den ganzen Fortschritt, den die Welt seit damals gemacht hat. Es muss für dich wundervoll sein, an einem einzigen Tag den Fortschritt von zweitausend Jahren zu sehen!
Sokrates: (stoppt mitten auf der Straße) Hast du zweitausend Jahre gesagt?
Bertha: (zerrt ihn zurück) Pass auf, wohin du gehst, Sokrates! Für Philosophen halten Taxis hier nicht an.
Sokrates: Flanagan? Das ist nun aber seltsam. Ich dachte, ich sähe … Egal. Dieses – dieses Ding da war ein »Taxi«?
Bertha: Heutzutage gehen die Leute keine weiten Strecken mehr. Sie fahren in Autos. Ja, diese Dinger da sind alle Autos. Möchtest du gerne mal mit einem Auto fahren?
Sokrates: Ich glaube, ich gehe lieber zu Fuß.
Bertha: Hast du Angst?
Sokrates: Nein, aber ich gehe sehr gerne zu Fuß. Mögen die Menschen nicht mehr gerne zu Fuß gehen? Diese Autos scheinen da zu sein, um das Gehen zu vermeiden, oder nicht?
Bertha: