Dietlinde Faber
Unsere Kindheit war anders
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Teil I, Kap.1 Berliner Jahre 1938 - 1943
Teil I, Kap.2 Moschen 1943 - 1944
Teil I, Kap.3 Eferding 1945 (ca. 4 Monate Aufenthalt)
Teil II, Kap.1 Linden 1945 - 1949
Teil II, Kap.2 Reichenbach 1949 – 1953
Ausblick
Zur Autorin
Impressum neobooks
Hofstetten, den 1.2. 2014
Meine Jugenderinnerungen habe ich aufgeschrieben für unsere Kinder Friederike, Christof, Burkhard und für ihre Partner. Ich habe sie auch für unsere Enkelkinder, inzwischen sieben an der Zahl, zu Papier gebracht, und schließlich für die Urenkel, deren Reihe bereits William anführt.
Die Vergangenheit, die zumindest für die Enkel bereits Geschichte ist, soll ein Stück näher rücken, soll ein persönliches Gesicht erhalten und dazu beitragen, Mutter, Groß- und Urgroßmutter in ihren Eigenschaften und Eigenheiten vielleicht besser zu verstehen.
Ob damals alles wirklich so geschah? Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, so wie ich sie damals erlebt habe, aber auch dieses Geschehen hat sich mit der Zeit, in der Erinnerung verändert. Tröstlich ist, dass das Schreckliche an dem Geschehen zwar aus der Erinnerung nicht zu löschen ist, dass jedoch inzwischen auch manches anders gesehen werden kann, dass sich die Komik bestimmter Szenen jetzt ebenfalls zu Wort meldet. Dankbar bin ich letztendlich heute dafür, dass mir dieser brutale Einbruch in ein einst so behütetes Kinderleben die positive Lebenseinstellung nicht zerstören konnte, sondern, im Gegenteil die Dankbarkeit für die so anders ablaufende Gegenwart wachsen ließ.
Die Kindheitserinnerungen sind eng verbunden mit den Personen, die auf dem Einband abgebildet sind: mit Mutter, meinem Vater, meinem Bruder Rüdiger und natürlich mit mir.
Von diesen Personen starb als Erster mein Vater, ihm folgte 1993 meine Mutter, 2003 schließlich mein Bruder. Ich bin die letzte Überlebende.
Ohne die Anteilnahme und Hilfe meines Mannes und in besonderem Maße unseres Sohnes Christof, der sich mit viel Geduld all der technischen Probleme annahm, die sich beim Schreiben einstellten, wären meine Aufzeichnungen in der vorliegenden Form wohl nie fertig geworden; ihnen gilt mein Dank.
Dietlinde Faber
Denke ich an meine Kinderjahre zurück, so sehe ich mich als Achtjährige. An mein Aus-sehen vor diesem Zeitpunkt kann ich mich nicht erinnern. Die wenigen Kinderbilder, die aus einer früheren Zeit stammen, zeigen ein Kind mit runden Backen und wachen Augen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich dieses Kind bin, ich bin das andere, das mit auffallend weißblonden Haaren, geflochten in zwei starr abstehende Zöpfe, die verhassten Sommersprossen auf der Nase. Und so erbarmungswürdig dünn unter den wohlgenährten fränkischen Bauernkindern, denn zu dieser Zeit ist der Krieg schon zu Ende und wir sind nicht mehr in Berlin. Gleich vier Spitznamen trug mir dieses Aussehen ein: „Steckelesfuß“, der dürren Beine wegen, „Weiße“ (das ist in Franken der Name für Kühe mit hellem Fell), „Flickerpuppsche“, diesen Namen behielt sich mein Lehrer vor, angeregt dazu durch meine schnellen Bewegungen, und schließlich „Bachstelze“, für mich der erträglichste Name, der auf meine dünnen Beine anspielte, die ich gerne unter Trainingshosen versteckte, wenn es die Jahreszeit nur einigermaßen zuließ.
Kindheit, das ist in erster Linie der nur kurze Aufenthalt in diesem fränkischen Dorf Linden, abgeschnitten von allem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte, für mich aber zum ersten und einzigen Male „Heimat“, Ort der ersten Liebe und vieler Träume vom späteren Leben und seinen Möglichkeiten.
Aber zurück zum Anfang. Meine Geburt muss unter dramatischen Umständen stattgefunden haben, diese Geburt hat meine arme Mutter fast das Leben gekostet. Oft und ausführlich wurde mir alles geschildert, meine arme blutende Mama, mit 32 Jahren damals bereits eine Spätgebärende, umringt von nicht weniger als vier Ärzten, an der Tür händeringend die Reimann-Großmutter, die wir Kinder später ihres Umfanges wegen auch „Kugeloma“ nannten. Nur mein Vater erscheint in dieser Szene nicht, ich weiß nicht, ob er abwesend war oder ob man ihn in dieser Erzählung einfach für nicht erwähnenswert hielt. Ich selbst erscheine auch nicht, wurde wohl irgendwo erst einmal abgelegt. Vielleicht hat die Distanz, die ich ein Leben lang zwischen meiner Mutter und mir fühlte, auch etwas mit diesen Geburtsumständen zu tun und nicht nur damit, dass wir uns so wenig ähnelten in unseren Wesenszügen.
Mama erholte sich und die Freude über die Erstgeborene wird sich sicher bald eingestellt haben. Noch herrschte Frieden in Deutschland, und Berlin muss für meine Eltern eine Stadt voller Chancen und Abenteuer gewesen sein. Aber da fällt mir noch ein anderes Ereignis ein. Vier Wochen nach meiner Geburt fand meine Taufe unter nicht alltäglichen Umständen statt. Auch das hat man mir so oft erzählt, dass ich es mir genau ausmalen konnte, den grauen Aprilmorgen, die Sandsteinkirche, in der ich heimlich, gegen den Willen des Vaters, getauft wurde. Dieser fröhliche, aufbruchbereite Vater trug mit Enthusiasmus die Ideen der neuen Zeit mit: ein neues Deutschland aufzubauen, mit neuen Menschen und neuen Zielen . In diesen Plan passte eine erzkonservative Taufe nicht.
Welche Konflikte mag meine arme Mutter durchlitten haben, denn eigentlich war sie ja auch für diese neue Zeit, aber schließlich drohte ihrem armen ungetauften Kinde nach den Lehren der katholischen Kirche bei einem plötzlichen Dahinscheiden zwar nicht gerade die ewige Verdammnis, aber die Pforten des Himmels würden ihm verschlossen bleiben und damit die Trennung von ihr, meiner lieben Mama.
Vergilbte Fotos zeigen sie, wie sie damals aussah, ein elegante Frau im Fohlenpelzmantel, auf dem Kopf einen Hut, zierlich von Statur, die winzigen Füße in kleinen Knopfstiefelchen. Wie stolz war sie immer auf diese kleine Schuhgröße, wenngleich sie dadurch oft gezwungen war, in der Kinderabteilung nach Schuhen zu suchen. Trotz augenscheinlicher Zartheit wusste sie sich durchzusetzen, und wenn es mit Hilfe von Launen war, die sie fast immer an das Ziel ihrer Wünsche brachten.
Und mein ideenreicher, sonniger, immer fröhlicher, unrastiger Vater fand es sicher nicht wert, wegen einer heimlich durchgeführten Taufe einen Aufstand zu erheben.
Berlin l938, welcher Brennpunkt des Lebens für ein jungverheiratetes Paar, das endlich der Enge und Perspektivlosigkeit einer schlesischen Kleinstadt entflohen war. Unglaubliche Zukunftspläne bekamen die Menschen von einem Führer ausgemalt, der sich berufen glaubte, ein Volk, das deutsche, über alle anderen Völker der Erde zu erheben. Mein Vater, in die Partei eingetreten, war als Elektroingenieur bei der Organisation Todt beschäftigt.
(Diese Organisation baute die Reichsautobahn, war am Bau des Westwalls und ab 1940 am Bau der U-Boot -Stützpunkte beteiligt. Ab 1943 wurden unter ihrer Anleitung die Abschussbasen im nordfranzösischem Raum und die Luftschutzräume im deutschen Gebiet gebaut. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren der O.T. unterstellt, auch KZ-Häftlinge wurden zum Arbeitseinsatz herangezogen. Ende 1944 zählte die O.T. 1.360.000 Arbeitskräfte, davon 22.000 KZ-Häftlinge. Sie waren brutalsten Behandlungen ausgesetzt. Die O.T. operierte eng mit der Gestapo und der SS.)
1939, im November, wird Rüdiger, mein Bruder, geboren. Es ist bereits Krieg. Aber noch spüren wir nichts davon, leben behaglich in einem gewissen Wohlstand. Nur Bananen gibt es nicht mehr, damit ärgere ich später meinen Bruder, indem ich mit einigem Hochmut sage: „Ich weiß, wie Bananen schmecken. Ich bin ein Friedenskind.“ Was sollte er dem entgegensetzen? Übrigens war ich über die Ankunft dieses Bruders, der wohl auch für meine Eltern etwas zu rasch auf die erste Geburt folgte, nicht begeistert, versuchte ihn sogar, nach Berichten der Familienangehörigen, einmal in der Wiege mit dicken Kissen endgültig zuzudecken. Die tiefe Vertrautheit, die uns heute verbindet, stellte sich erst später ein. Zwanzig Monate trennen uns nur, ein Grund, dass Trulle, das Kindermädchen aus Schlesien, in unsere Familie kam. Sie war ein gesundes, siebzehnjähriges Mädchen, das nichts so schnell aus der Ruhe brachte. Eigentlich hieß sie Gertrud, aber diesen Namen konnte sie nicht ausstehen, sobald wir sie später so nannten, war die Antwort stets: „Gertrud heißt mein Unterrock,“ dann drehte sie sich um, und es war nichts bei ihr zu erreichen. Meine hübsche, elegante Ziegler-Großmutter hatte dafür gesorgt, dass sie nach Berlin kam, und schon bald trug sie das schwarze Haar nach der Berliner Mode, lebte sich auch sonst so gut ein, dass sie keine Ferien mehr zu Hause in Schlesien verbringen wollte.
Denke ich heute zurück an Berlin, so fällt mir die große Wohnung ein , mit hohen Räumen, Stuck an den Decken, schwarze , schwere Möbel, wo jeder Kratzer laute Klagen bei der Mutter auslöste, eine Wohnung mit einer hellen Küche, wo wir beide, mein Bruder und ich, ewig essunlustig am Tisch saßen und von Trulle gefüttert wurden, zuerst geduldig, später gereizt, zum Essen gezwungen. Ich hatte sehr rasch rausgefunden, dass ich durch heftiges Würgen diese Fütterung abbrechen konnte, weil Trulle um den Erfolg aller Bemühungen bangte, während mein pausbackiger, liebenswerter Bruder alles in sich hineinstopfen ließ, das scheußliche Zuckerei eingeschlossen, das aus geschlagenem Eigelb und Traubenzucker bestand, übertroffen in seiner Scheußlichkeit nur von dem abendlichen Löffel Lebertran, damals noch echt und unverfälscht. In dieser Berliner Küche begegnete mir auch für Sekunden in der Vorweihnachtszeit das Christkind, so hell und deutlich zu erkennen, verschwand es gleich wieder hinter dem großen, weißlackierten Küchenschrank, nur die bunten Gardinchen vor den Schrankfenstern waren danach noch zu sehen. Niemand konnte mir dieses Erlebnis später ausreden. Es waren nur Sekunden, bis man mich von der Küchentür wegzog, die wegen der Weihnachtsvorbereitungen vor uns Kindern in dieser Zeit verschlossen blieb. Aber die Existenz einer anderen Welt war für mich zur Wirklichkeit geworden.
Berlin, das ist auch der Balkon mit dem Jugendstilgeländer, auf das mein kleiner Bruder einmal kletterte, als er unbewacht war. Hoch oben, im vierten Stock, wollte er ein Stückchen mehr von der Welt sehen.
Er löste damit den Ohnmachtsanfall Trulles aus. Erstaunlich in solchen Momenten die Reaktion meiner Mutter, die erst das Kind rettete und sich erst dann ebenfalls einer Ohnmacht überließ. Berlin, ich erinnere mich der Spaziergänge in Parks mit Trulle, rausgeputzt wir Kinder in Matrosenkleid und Matrosenanzug, mein Bruder mit der dunkelblauen Schiffchenmütze auf dem Kopf. Und die Unart von uns wohlerzogenen Kindern erschöpfte sich darin, dass Rüdel ab und zu sein Schiffchen vom Kopf riss und in die Büsche warf. Strafen erfolgten auf solche „Untaten" keine.
Von l938 bis 1943 dauerten diese Kindertage, das Bild der Mutter bleibt schemenhaft, keine Erinnerungen an Spiele oder Gespräche mit ihr, erst später wieder im Luftschutzkeller. Aber da saß Rüdel auf ihrem Schoß, ich immer daneben, so scheint es mir. Der Vater eigentlich immer unterwegs, als Ausbilder und Verwaltungsinspektor mit geheimzuhaltenden Aufträgen, ständig irgendwo. Ab und zu ein kurzer Besuch, ein Mann in Uniform, der die Wohnung mit Frohsinn, Leben und viel Unruhe füllte, der mit uns wilde Spiele spielte, sodass ich einmal dabei über die Schwelle im Schlafzimmer stürzte und mir einen Vorderzahn so beschädigte, dass er schwarz wurde und ich diesen Makel bis zum Zahnwechsel ertragen musste.
War Vaters Bleibe länger als drei Tage, fing er an die Wohnung umzuräumen, zum großen Ärgernis meiner Mutter, die nichts so liebte wie Ruhe und die alte Ordnung in allen Dingen. Auch begeisterte meinen Vater das gesellschaftliche Leben in Berlin, Theater- und Opernbesuche; aber jeder Besuch, jedes Unternehmen, die nicht lange vorher angekündigt wurde, steigerten sich für meine Mutter zum Problem, und nicht selten musste Trulle an ihrer Statt, sogar manchmal in einem ihrer eleganten Kleider, mit meinem Vater ausgehen, weil sich meine Mutter nicht dazu durchringen konnte. Später, als mein Vater schon tot war, pflegte meine Mutter zu sagen, dass ihre Ehe nur deshalb so glücklich verlief, weil unser Vater von 13 Ehejahren insgesamt nur 4 zu Hause war.
Berlin bedeutet jedoch auch die erste Erfahrung von Angst und Lebensbedrohung, schlimmer als in späteren Jahren, denn als Kind konnte ich mir ja über meine Gefühle nicht klar werden, ich konnte zur Bewältigung meiner Ängste noch nicht den Kopf zur Hilfe nehmen, etwas, was ich erst viel später lernte. Es war auch niemand da, der mir Erklärungen lieferte, was da geschah, mit Bomben und Fliegern, mit der Dunkelheit, die plötzlich im Keller herrschte, wenn der Strom ausfiel und das tiefe Brummen der Bomber die Luft erfüllte. Was war das, das mir schon bei den ersten Heultönen des Fliegeralarms die Luft abstellte, das mich später auf der Kellerbank vor Zittern regelrecht hüpfen ließ? Alle freundlich angebotenen Süßigkeiten der Hausbewohner trösteten nicht und lenkten nicht ab. Der Krieg hatte uns eingeholt, die vertraute Welt der Kindheit in eine bedrohte Welt verwandelt.
Später, als längst Erwachsene, konnte ich noch viele Jahre keine Sirenen hören, ohne in Tränen auszubrechen.
So ganz anders erlebte mein Bruder diese Zeit. Als Nachsatz zum allabendlichen Gebet fügte er oft hinzu: „Und, lieber Gott, lass heute Nacht die lieben Engländer wieder kommen!" Für ihn hatte der Krieg den Vorteil, dass es nachts Pralinen und Zuckerstangen gab. Krieg bedeutete Zuwendung von Seiten der Mutter und die Freundlichkeit der Hausbewohner. Wie sehr habe ich ihn damals schon um diese Sichtweise beneidet und auch um die Art, wie er sich die Herzen der Menschen eroberte. Ein Kinderbild aus dieser Zeit fällt mir ein, das ihn in einer kleinen weißen Spielschürze zeigt, mit dicken Backen, dunklem Haar und strahlenden Augen, einfach liebenswert. Ich stehe auf diesem Bild neben ihm, das Gesicht zu ihm gewendet, die Haare zur Tolle um einen Kamm gewickelt, wie Kinder das eben damals so trugen, ernst und wenig kindlich aussehend.
Während wir die Fliegerangriffe im Keller abwarteten, hielt Trulle mit anderen Hausbewohnern das Dach nass, um den Brandbomben „der lieben Engländer" eine Chance weniger zu bieten.
Mit den Erinnerungen an Berlin ist auch die Erfahrung verbunden, dass Menschen sterblich sind. Wir Geschwister, die wir keine anderen Kinder zu Spielkameraden hatten, wohl auch aus diesem Grunde eine so enge Vertrautheit miteinander entwickelten, dass noch unsere späteren Ehepartner damit ihre Probleme bekamen, uns begegnete doch ab und zu im Treppenhaus ein kleines Mädchen. Dieses Kind erkrankte eines Tages an Diphterie, einer gefürchteten Krankheit, und starb auch daran. In Erinnerung ist mir die schreckliche Angst meiner Mutter geblieben. Jeden Tag wurden wir nach unserem Ausflug in den Park gewissermaßen in Sagrotan gebadet, durften weder Türklinken noch das Treppengeländer berühren. Wir erkrankten nicht. Insgesamt, so scheint mir, waren wir doch trotz aller Zartheit recht gesunde Kinder, wurden vom Vater auch zu regelmäßigen Arzt- und Zahnarztbesuchen angehalten, denen sich auch unsere Mutter fügen musste.
Noch litt niemand wirklich Not, noch gab es fast alles zu kaufen, und die Lebensmittel, die es nicht mehr gab, vermissten wir nicht. Noch versprach die Politik eine glänzende Zukunft, noch war man üöäü