Conrad H. von Sengbusch
Schiffselektriker – Werft, Schiffe, Seeleute, Funkbuden – Jahrgang 1936
Band 14 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
Vorwort des Verfassers
Herkunft – Kindheit zu Beginn der „goldenen“ 1950er Jahre
Schulzeit in der DDR, Zeulenroda/Thüringen, 1950
Der Neubeginn in Westdeutschland, 1950-1953
Berufsfindung und Stellensuche, 1953
Berufsstart als Praktikant, 1953
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, 1. Lehrjahr, 1953/1954
Die Gesellen und ihre Eigenarten
Heiligabend 1953 auf der Werft
In der Lehrwerkstatt
2. Lehrjahr, 1954/1955
3. und 4. Lehrjahr, 1955/56
Cuxhaven in den Jahren 1950-1956
Amateurfunk-Hobby
Urlaubszeit und Ferienreisen, 1954/1956
Studium in Kiel, 1956/1959
1. bis 3. Semester, ein harter Einstieg!
In der Buntmetallgießerei, 1957
Kartoffelernte
Ein netter Ausblick
Arbeiter zur Aushilfe im Eiswerk, 1957
3. Semester
Nach dem „Bergfest“ das 4. und 5. Semester
Als Werkstudent im Schwarzwald, 1958
Hilfsarbeiter beim Straßenbau
Hilfsarbeiter beim Fliesenleger
Das 5. Semester und Exkursionen, 1958
Auf Exkursion in Westdeutschland, 1958
5. Semester und Staatsexamen, 1958/1959
Auf Stellensuche in der Industrie, 1959
Laboringenieur in Hamburg, 1959
Rundfunkgeräte-Entwickler in Osterode/Harz, 1960
Seefahrtgeschichte: Vom „KFK 142“ zum Angelkutter „Hela“
Glossar
Weitere Informationen
Die maritime gelbe Buchreihe
Impressum neobooks
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.
Insgesamt brachte ich bisher über 3.500 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch. Die Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben.
Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
Daneben gab ich weitere nicht maritime Bände mit Berichten von Zeitzeugen heraus, etwa „Deutsche Schicksale um 1945“.
Die Jugenderinnerungen des Conrad H. von Sengbusch, der selber gerne zur See gefahren wäre, sich jedoch lieber für Frau und Familie entschied, sind als zeitgeschichtliches Zeugnis auch für maritim interessierte Leser aufschlussreich, hatte er doch als Lehrling auf einer Werft in Cuxhaven einen tiefen Einblick in die maritime Welt der frühen fünfziger Jahre. Seine detaillierten Schilderungen der Lebensbedingungen in den Aufbaujahren im geteilten Nachkriegs-Deutschland sind sicher nicht nur für die älteren Leser interessant, die damals Ähnliches erlebten, sondern bilden eine authentische Informationsquelle für geschichtlich Interessierte der nachgeborenen Generationen.
Hamburg, im August 2004 / 2014 Jürgen Ruszkowski
Die Kriegsjahre sind meinem Jahrgang noch gut in der Erinnerung geblieben, und jeder hat sich auf seine Art damit auseinandergesetzt. Je nach Naturell wurde verdrängt oder vergessen, einige machten sich auch Notizen, führten Tagebuch oder gingen in die Literatur ein.
Unsere Eltern sind nicht mehr unter uns, und die Zeitzeugen, die wirklich noch etwas zur Geschichte beitragen könnten, werden langsam rar. Die geschichtliche Aufbereitung erfolgt heute von Journalisten und Historikern, die als Nachgeborene auf Zweitquellen angewiesen sind, so dass ihre Einschätzung der Ereignisse vermutlich nicht immer optimal sein kann.
Mein Jahrgang 1936 hat die Geschichte noch persönlich miterlebt, und da wir nun bald an der Schwelle zum siebten Jahrzehnt stehen, ist es an der Zeit, aus der Sicht der Lebenserfahrung einige Begebenheiten aufzuschreiben. Aber wer soll das machen? Auch in meiner Generation gibt es Leute, die sagen „mach mal“, „man könnte, sollte, müsste“ und nur wenige, die es tun!
Es ist eine Eigenart der heutigen Generation, dass sie sich für die eigene Familiengeschichte kaum interessiert. „Schnee von gestern“ sei das alles. Auf der anderen Seite ist die Familienforschung zu einem großen Thema geworden, besonders in Amerika, so dass man schon im „Internet“ nachlesen kann, wann die Altvorderen Europa den Rücken kehrten, um an neue Ufer aufzubrechen. Hier in Hamburg wird z. Z. eine alte Auswanderer-Schlafhalle und ein Informationszentrum wieder hergerichtet. Man erwartet einen Ansturm von Besuchern aus Übersee und hat auch schon weltweit Sponsoren gefunden, die das Projekt mit finanzieren wollen.
Meine Aufzeichnungen schließen direkt an die Notizen meines Vaters an und schreiben unsere Familiengeschichte fort. Vielleicht interessieren sie einmal in einer stillen Stunde der Einkehr unsere Enkel oder auch heute noch Gefährten, die einen ähnlichen, steinigen Weg gegangen sind.
Der vorliegende Band befasst sich mit meinen Jugendjahren, die zwischen 1949 und 1960 liegen. In diesen Jahren wurden die Weichen für meinen Lebensweg gestellt. Waren es wirklich Weichen, die zu einem Ziel führten? Eher war es ein vorgegebener Pfad, dem zu folgen war. Die heutige jüngere Elterngeneration hatte da ganz andere Möglichkeiten. Aber die Einsicht kommt mit dem Älterwerden.
Die geschilderten Erlebnisse haben einen wahren Hintergrund und sind größtenteils aus dem Gedächtnis nach bestem Wissen und Gewissen niedergeschrieben. Eine Hilfe waren mir meine alten Schulsachen, Berichtshefte und Kollegs, die ich über Jahrzehnte bewahrt habe. Wo es dem Autor wichtig erschien, wurden alle Namen der beteiligten Personen geändert. Meine Freunde und Weggefährten von einst entschieden sich für die verkürzte Wiedergabe ihres Namens. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt. Um eine objektive Darstellung aus meiner Sicht war ich stets bemüht.
Hamburg, im August 2004 Conrad H. von Sengbusch
Jahrgang ’36
Ich wurde 1936 in Riga geboren und entstamme einer alten baltischen Familie von Großkaufleuten, Reedern und Fabrikanten, die schon zu Zeiten von „Katharina der Großen“ mit Alexander Gottschalk von Sengbusch das Stadthaupt von Riga stellte.
Ehemaliges Wohn- und Geschäftshaus der Familie von Sengbusch in Riga – Foto1992
1939 wurde die Familie nach Konitz in Westpreußen umgesiedelt. 1945 erfolgte die Flucht nach Zeulenroda in Thüringen in das mütterliche Elternhaus.
In den Jahren 1947 bis 1949 wuchs ich bei meinem Vater in Geesthacht an der Elbe auf.
Der Autor mit seinem Vater, aufgenommen 1947 in Hamburg.
Er bekam keine Dänen-Schulspeisung, da 1 kg Übergewicht!
Ein Tag von „48 Stunden“
Natürlich gibt es keinen Tag von 48 Stunden, aber es gibt Tage, die einem so lang erscheinen und schlagartig das ganze Leben verändern. Was ich vorher alles erlebt hatte, das waren Kindheitserlebnisse, hier aber war ich an der Schwelle zu den entscheidenden Jugendjahren und damals gerade 13 Jahre!
Es war im Juni 1949, eine Woche vor Pfingsten. Was lag hinter mir? Zwei Jahre zusammen mit meinem Vater, einer mehr oder weniger strengen Wirtschafterin, neu gewonnenen und auf einen Schlag wieder verlorenen Schulfreunden und der abrupte Abschied von dieser Zeit, die von Hunger, Kälte, Spannungen, Sorgen und der Hoffnung geprägt war, endlich einmal wieder in einer intakten Familie zu leben. Schließlich vermisste ich auch meine Mutter, die ich zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Jahre zu dritt - mein Vater, meine ältere Schwester und ich in einer kleinen unbeheizten Mansarde im Heuweg in Geesthacht – ging nun zu Ende.
Unsere Eltern hatten sich entschlossen, die Kinderschar in den damaligen unruhigen Zeiten aufzuteilen. Mein Vater lebte bereits seit 1946 in Westdeutschland und hatte hier einen kleinen, bescheidenen Handwerksbetrieb aufgebaut. Und weil meine Schwester und ich aus dem Baltikum gebürtig waren, empfanden es die Eltern als sicherer, uns nach Westdeutschland geben.
Unser Domizil in Geesthacht – Wohnhaus in Geesthacht-Düneberg, Heuweg. Unser „Zuhause“ (Schlafstelle) war von 1947-49 ein Mansardenzimmer, in dem wir auch im Winter 1947 ohne Heizung „lebten“!
Als sich die Verhältnisse in Ost und West wieder stabilisierten und die Wirtschafterin die Mitteilung bekam, dass ihr als „gefallen“ gemeldeter Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehre, entschloss sich meine Mutter, uns wieder nach Zeulenroda in ihr großbürgerliches Elternhaus zurückzuholen.
Ganz plötzlich war sie angereist, und wir Kinder saßen zwischen „Baum und Borke“, sollten sofort packen, und so kam es dann auch. Wir wurden gar nicht gefragt, sondern erlebten das Spannungsfeld zwischen meinen Eltern hautnah mit. Aber es kam noch viel besser:
Mit dem Zug ging es gleich am nächsten Morgen zu der Verwandtschaft in die Rhön. Diese Familie hatte nichts verloren und lebte in einem Forsthaus inmitten des Reviers Wasserkuppe. Es gab hier alles, was man bei wohlhabenden Leuten erwartete: Ein eigenes Jagd- und Fischrevier, Reitpferde, Zugpferde, etwas Landwirtschaft und ergebenes Gesinde. Dennoch und trotz alles Reichtums habe ich diese Familie nie glücklich erlebt. Hass, Zwietracht und Verachtung für die angeheiratete und „verarmte Verwandtschaft aus dem Osten“, waren hier die Grundeinstellung des Denkens und Handelns. Das große Anwesen wurde von Tante M. straff geführt. Sie war das Abbild einer Tante, wie sie nicht sein soll und vor der sich Kinder fürchten: Ein schmales, blasses, blutleeres Gesicht, eine lange, dünne Nase, ein verbissener, kleiner Mund – wie ein Strich – und eine äußert „spitze Zunge“. Ein falsches Wort zur unrechten Zeit, und die Tante explodierte. Die Sprache wandelte sich dann von eintönig in einen Tonfall, bei dem kurze, herausgestoßene sarkastische Worte in ein Stakkato übergingen und in herausgeschleuderten Hasstiraden endeten. Selbst die Frisur hatte nichts Weibliches: Solange ich die Dame kannte, trug sie einen äußerst knappen Herrenschnitt, den ich damals als sehr herb empfand, der aber, die heutige Damenwelt möge es mir verzeihen, z. Z. durchaus „im Trend“ ist. Aber heute ist eh alles anders, deshalb weiter im Gestern. Tante M. war die „Fleischwerdung eines Grabes der Gefühle“, wenn es so etwas gibt. Zur Familie gehörte auch Onkel P., ein rühriger, menschlicher, gebildeter, humorvoller hoher Staatsbeamter, eine Seele von Mensch, bei dem ich im Krieg an seinem Dienstort in Westpreußen sehr schöne Ferien verbracht hatte. Ein Wunder, wie solche Charaktere zusammenfinden und auch noch eine Großfamilie mit drei Kindern gründen können.
Wir saßen im dämmerigen Salon, dessen Interieur von Jagdtrophäen aller Art geprägt wurde, wie man das auch in einem Forsthaus erwartet. Hirschgeweihe, Rehbockgehörn, Spießergehörne, ein paar ausgestopfte Tiere. Vernehmlich laut tickte die Standuhr und erhöhte die unerträgliche Spannung, denn es wollte an diesem Tag nicht so recht hell werden. Die Stunde unseres Aufbruchs rückte näher und näher. Wir mussten „schwarz“ über die „Grüne Grenze“, wie man damals sagte. Nur ab und zu wurde leise gesprochen. Meine Schwester Monika, damals 15 und ich, 13 Jahre alt, hatten zu schweigen, wie es sich für Kinder gehörte. Ich hörte Gesprächsfetzen, wie „Führer“, „Offizier“, „ehrenhaft“, „Ritterkreuzträger“, „verlässlicher Mensch“, „40 Mark West pro Person“ und machte mir daraus ein Bild einer generalstabsmäßig geplanten Vorbereitung unseres Vorhabens. Die Ehrfurcht vor Chargierten steckte noch in den Knochen der Älteren, und auch wir waren davon nicht unbeeindruckt. Es war ja auch erst ein paar Jahre her, dass wir mit Uniformen um uns aufgewachsen waren. Einige Ritterkreuzträger kannte ich von meiner Postkartensammlung, die ich als Kind hatte und die wöchentlich ergänzt wurde. Unser „Führer“, ein professioneller Grenzgänger, ehemaliger höherer Offizier und Ritterkreuzträger, verlässlich, erprobt und erfahren, war bereits ausgesucht und bezahlt, blieb aber namentlich anonym. Ihm hatten wir uns bedingungslos anzuvertrauen. Das Unternehmen konnte starten.
Im alten Vorkriegs-OPEL-Kadett von Onkel P. den natürlich Tante M. chauffierte, näherten wir uns dem Grenzort Tann. Während der Fahrt eisiges Schweigen, das ab und zu von kurzen Vorhaltungen unterbrochen wurde, die sich aufschaukelten und in Keifen übergingen, weil sich Onkel P. mit Kommentaren zurückhielt. Das war für uns als Unbeteiligte natürlich keine angenehme Situation. Wir saßen zusammengekauert im Fond und schwiegen betreten. Mehrfach erging nun die Aufforderung an Onkel P., das Fahrzeug sofort auf freier Strecke zu verlassen, was er natürlich nicht tat. Auf thüringisch hörte sich das so an: „Baul, naus!“ oder auf hochdeutsch „Paul, hinaus!“ Als nach Jahrzehnten die Nachricht kam, Onkel P. sei inmitten seines geliebten Reviers plötzlich tot umgefallen, muss es für ihn eine Erlösung gewesen sein.
Wir erreichten Tann im strömenden Regen. Kalte Windböen und Regenschauer peitschten übers Land, dazu eine schnell hereinbrechende Finsternis, wie ich sie noch nicht erlebt hatte. Ich keuchte jetzt schon unter der Last meines 40 Pfund schweren grauen Luftwaffenrucksacks voller Fischdosen, die die sandige, rosarote Masse aus zerriebenem Muschelfleisch, genannt Fischpasta, enthielten. Die Dosen hatte ich wohl nicht richtig gepackt, denn sie drückten gewaltig im Kreuz. Mein Mantel, den mir die Wirtschafterin aus einer hellgrauen dünnen Wehrmachtsdecke genäht hatte, war schon voll Wasser gesogen und hing schwer an mir. Die ererbten pluderigen, verschossenen und jetzt hellvioletten Trainingshosen waren unten schon ganz nass und legten sich wie kalte Prießnitz-Wickel um die Waden.
Jemand wies uns den Weg zum Sammelplatz am Waldrand. Nach und nach fanden sich weitere, schwer bepackte West-Ost-Grenzgänger ein. Wir waren die einzigen Kinder. Nun erahnte ich zum ersten Mal die Statur unseres „Führers“. Groß, stattlich und wortkarg habe ich ihn in Erinnerung. In seiner Feldjacke mit Kapuze konnte ich sein Gesicht nicht klar erkennen, doch war die Stimme vertrauenserweckend. Er gab der Gruppe Verhaltensregeln für den Notfall, wie sicher ein paar Jahre zuvor seinem Trupp: Nicht rauchen, nicht sprechen, ruhiges Verhalten, Orientierung am Vordermann, Gänsemarsch.
Los ging es. Die Nacht wurde stockdunkel, so dass man wirklich nicht die Hand vor den Augen sah, und doch wusste der Anführer, wo der Pfad nach Osten führte. Mein Platz in der Aufstellung war gleich hinter dem „Führer“ und meine einzige Orientierung war eine nasse, kalte Lederschlaufe an dessen prallgefülltem Rucksack. Die Militärrucksäcke hatten damals Lederschlaufen für Dinge wie das Kochgeschirr, das damals aber nicht mehr benötigt wurde. Und an diesen Zipfel der Sicherheit klammerte ich mich. Keinesfalls wollte ich den Anschluss verlieren, denn an mir orientierten sich ja auch die anderen. Stundenlang und ohne Rast ging es unerbittlich voran. Kein trockener Fetzen war mehr am Leib, und allein die Bewegung hielt warm. In der Ferne bellten Hunde, drangen unverständliche Rufe an unser Ohr. War etwa eine andere Gruppe entdeckt worden? Meine Gedanken waren erfüllt von Bangen und Hoffnung, und mein Körper am Rande der physischen Erschöpfung.
Es dämmerte bereits der Morgen, ich hatte mich vom Vordermann etwas gelöst, strauchelte und fiel in eine Wildschweinsuhle. Der schwere Rucksack knallte mir ins malträtierte Kreuz. Verdreckt und klitschnass rappelte ich mich hoch, niemand nahm davon Notiz, denn jeder war sich selbst der Nächste. Weiter ging es, immer weiter. Fahl begann der Morgen, der von dräuenden, schweren, dahin ziehenden Regenwolken verhangen war. Gegen das Morgenlicht gewahrten wir sich scharf abzeichnende Konturen von ein paar Panzern. Ein neuer Schreck durchfuhr mich. Waren wir in ein russisches Biwak geraten? Der „Führer“ hatte die Situation längst erfasst und kannte sie offenbar: Wortlos deutete er auf einen etwas abseits stehenden Tank, und wir erkannten ein geborstenes Geschützrohr. Hier im Niemandsland stand der Rest einer Kampfgruppe der ehemals „Großdeutschen Wehrmacht“, an den sich die allgegenwärtigen Schrotthändler offenbar noch nicht herangetraut hatten.
So wortlos, wie die Tour begann, so endete sie auch, als die ersten Häuser von Kaltennordheim in Sicht kamen. Kleine Grüppchen sonderten sich nach und nach ab und verschwanden grußlos hinter der nächsten Gartenhecke. Auch der „Führer“ ging seines Weges. So standen wir plötzlich alleine im Dorf, das gerade erwachte. Einzelne Straßenlaternen beleuchteten gespenstisch die noch leeren Dorfstraßen, und unsere nächste Sorge war, möglichst nicht von einer Streife der KVP (Kasernierte Volkspolizei) aufgegriffen zu werden. Es galt also, möglichst ungesehen zum Bahnhof zu kommen. Natürlich durften wir niemanden nach dem Weg zum Bahnhof fragen, mussten aber auf jeden Fall mit dem ersten Frühzug den Ort in Richtung Eisenach verlassen. Für diesen Fall hatten meine Eltern vorgesorgt. So waren wir schon „Weltbürger“ im Kleinen. Meine Mutter hatte uns in der DDR nicht abgemeldet, so dass wir noch die Kennkarte hatten. Zusätzlich waren wir mit meinem Vater schon 1947 nach Lübeck-Pöppendorf gefahren, um uns registrieren zu lassen. Anderenfalls hätte es keine Zuzugsgenehmigung nach Schleswig-Holstein und keine Lebensmittelkarten gegeben. So hatten wir auch als Westbürger eine Legimitation. Pässe waren aber auch in der DDR lebenswichtig, sonst bekam man an den Grenzbahnhöfen keine Fahrkarten.
Wir fanden schließlich den Bahnhof, indem wir den typischen Rangier-, Anfahr- und Anlege-Geräuschen der Dampflok nachgingen. Der Morgenzug war schon bereitgestellt. Er bestand aus einer alten Dampf-Tenderlok und alten preußischen Abteilwagen, die ich aus der Kriegszeit nur als 3.-Klasse-Wagen in Erinnerung habe. Das war die Bauart mit den harten Holzbänken, Gasbeleuchtung, gestricktem Gepäcknetz, in dem notfalls auch Kinder schlafen konnten, Fenstern mit Lederriemen, die nach dem Krieg aber oft abgeschnitten und zu Schuhsohlen verarbeitet wurden und weiter dadurch gekennzeichnet, dass jedes Abteil eine Tür und wohl jedes dritte oder vierte einen Abort hatte. Als wir erschöpft, durchnässt und fröstelnd auf den harten Holzbänken Platz genommen hatten, setzte sich der Zug ächzend und quietschend in Bewegung. Das Schlimmste schien überstanden zu sein. In der Tat sollte die Fahrt aber schon an der nächsten Station, es könnte Fischbach gewesen sein, abrupt enden.
Ungewöhnlich lange warteten wir hier und glaubten an eine Betriebsstörung, bis wir laute Kommandorufe, das Murmeln der Reisenden und vereinzelt Schreie hörten. „Vopos“ hatten den Zug umstellt und suchten nun systematisch Abteil für Abteil nach Grenzgängern ab. Natürlich versuchte meine Mutter alles, um uns nicht als Grenzgänger, sondern als schlichte Reisende darzustellen. Sie wies uns als DDR-Bürger aus und appellierte an das Gewissen der Volkspolizisten, allein, es half nicht. Grinsend deutete ein Vopo auf meine neuen, ursprünglich chromgelben Lederschnürstiefel, die, wie mein Mantel, völlig verdreckt waren und uns verraten hatten. Schnell wurde auch unser Gepäck gefunden und durchsucht. Die „Westwaren“ entlarvten uns endgültig. Wir mussten den Zug verlassen und trafen auf dem Bahnsteig auf weitere, etwa dreißig Personen, die die Situation je nach Temperament gelassen, stoisch, neugierig, verzweifelt oder verängstigt ertrugen. Ab ging die Tour, diesmal ins Ungewisse. Wir vornweg, wie das bei Gefangenen so üblich ist und etwa zehn Vopos, mit der Maschinenpistole im Anschlag, hinterher. Zum ersten Mal im Leben erlebte ich das Gefühl, wehrlos, gefangen und ausgeliefert zu sein. Meiner Mutter gelang es noch, sich unterwegs unserer Westpässe zu entledigen, wohl in der Hoffnung, uns doch noch als DDR-Bürger freizubekommen.
„Burg“ Katzenstein
Unser Weg führte eine baumbestandene Landstraße entlang, dann bergauf, und über einen Feldweg zur „Burg“ Katzenstein. Die „Burg“, wie ich sie nenne, war aus meiner Sicht ein festungsähnliches Gebäude mit mächtigem Natursteinmauerwerk, das bis zum ersten Stock reichte.
In solchen Trutzburgen waren im „Großdeutschen Reich“ Bannführerschulen, Napolas oder ähnliche Institutionen untergebracht, und ich bin sicher, dass auch dieses Gebäude einst eine solche Vergangenheit hatte. Der Zeitgeist schwebte noch über dem Gemäuer.
Die Einlieferung war kurz und schmerzlos. Keine Registratur, keine Fragen, man ließ sich Zeit. Unser Gepäck wurde abgenommen und sichergestellt. Wir wurden nun in den Keller verbracht. Lange, hallende Gänge nahmen uns auf. Hinter vielen mächtigen eisenbeschlagenen Holztüren, die mit tellergroßen runden Vorhängeschlössern und schweren eisernen Riegeln gesichert waren, vernahmen wir das Gemurmel von Menschen. Eine dieser Türen wurde nun aufgeschlossen, und wir blickten auf eine dicht an dicht stehende Menschenmasse, die von uns kaum Notiz nahm und uns den Rücken zukehrte. Einige der Unglücklichen drehten sich dann doch um. Sie musterten uns misstrauisch und scheinbar uninteressiert. Wer war schon Freund, wer Feind und wer vielleicht ein Spitzel? Hier galt es, nicht zu viel von sich preiszugeben und wenig zu sagen, um nur nicht aufzufallen. Die Luft war zum Schneiden: Die Ausdünstungen ungewaschener Menschen, der Geruch nach Schweiß, Kot, Urin, Erbrochenem, Mensis und die Gase, die Menschen nach dem Verzehr von Hülsenfrüchten, Kohl oder Schwarzbrot abgaben, vermischten sich zu einem unbeschreiblichen Gestank.
Wie nun hinein in dieses Verlies, wo doch alles besetzt war? Es wurde da nicht gefragt. Zehn oder zwölf Personen aus unserer Gruppe wurden gegen die Menschenmauer geschoben. Dann drückten mehrere Vopos hinter uns mit Gewalt die Tür zu und schlossen uns ein. Die Falle war zugeschnappt und wir darin. Spärliches Tageslicht aus einem vergitterten, kleinen Kellerfenster erhellte zwar etwas den Raum, ein Blick nach draußen war aber nicht möglich.
Und hier mache ich bewusst mal einen „Schnitt“, denn hier begannen meine „entscheidenden 11 Jahre“, denen dieses Buch gewidmet ist. In wenigen Stunden wurde ich zum aufgeklärten Erwachsenen und erlebte das unterschiedliche Verhalten von Menschen in fast auswegslosen Situationen direkt „aus der Hefe des Volkes“: Verängstigte Menschen, auch gebildete, reagieren in einer solchen Situation sehr unterschiedlich: Da wurde laut gebetet, andere schrieen „Schnauze“, „Maul“, „Gusche“, einige fluchten zum Gotterbarmen, wieder andere unkten. Es gab Leute, die Gerüchte erfanden und sich an der Furcht der anderen weideten, wieder andere sahen uns schon in Sibirien. Schließlich gab es noch die Erzähler von rüden Witzen und nicht zu vergessen Männer, die ihren sexuellen Phantasien freien Lauf ließen und Frauen, die sie lautstark darin unterstützten. So ging es stundenlang. Menschen in der Masse und in äußerster Not werden zu Hyänen, sind lenkbar, steuerbar, willig oder unwillig, ein reiches Feld für Verhaltensforscher. Da wir uns nicht hinsetzen konnten, hatten wir als Kinder den wahrlich schlechtesten Standort, bekamen wir die Ausdünstungen der Vorderleute doch aus erster Quelle. Eine Frischluftzufuhr gab es nicht. „Erstunken ist noch keiner, erfroren schon viele“, tönte es irgendwoher im alten Landserjargon. Ein reines Chaos. Stundenlanges Stehen nach der strapaziösen Nacht zuvor, kein Essen, kein Trinken und zunächst keine Möglichkeit zum Austreten. Die Menschen sanken als trauriges Bündel dahin, wo sie standen. Auf dem Boden Erbrochenes, Urin und Kot. Vieles kann man „zurückhalten“, die große Notdurft aber kaum. Als die Not zu groß wurde und Schreie, Flüche, Rufen und Kreischen, dazu verzweifeltes Schlagen gegen die Tür für die Wachen nicht mehr zu überhören waren, gab es endlich eine Möglichkeit zum Austreten. Alle fünf Stunden durften wir nun unter Bewachung den Raum verlassen, um die Notdurft zu verrichten. Und das in Klosettzellen mit halbhohen, abgesägten Türen unter ständiger Aufsicht der Vopos. Besonders die Frauen schämten sich bei dieser entwürdigenden Prozedur. Dann zurück in das Kellerverlies. Noch in der Nacht wurden mehrfach verängstigte Mitgefangene einzeln oder in Gruppen zum Verhör geholt. Einige kamen nicht wieder, und schon flammten Gerüchte auf. Andere Zellengenossen wurden verlegt, und gleich wusste einer, dass sie isoliert würden, was die Stimmung noch mehr aufheizte. Wieder andere kamen zurück, wortkarg, sagten kein Wort und blieben stumm, so sehr sie einzelne Mitgefangene auch zum Erzählen animieren wollten. Jeder dachte, ein anderer könne ein Spitzel sein, was durch Neuzugänge auch sicher provoziert wurde.
Schließlich wurden wir am Morgen mit unserer Mutter abgeholt und verhört. Gefragt wurde nach dem Woher, Wohin, Weshalb, Warum. Meine Mutter appellierte an den Ermessensspielraum des vernehmenden Vopo-Offiziers und wies nach, dass sie als „Freischaffende Bildhauerin“ zu den „Intelligenzlern“ der DDR gehöre und die Kinder von Westdeutschland in die DDR zurückgebracht hätte, was ja auch stimmte. Letztlich hatten wir uns in einer Zeit dominierender Ost-West-Wanderungen in der Gegenrichtung bewegt. Die Nacht im Keller war zwar unerträglich, aber es nutzte nichts, wir mussten wieder zurück zu unseren Leidensgenossen. An Schlafen war nicht zu denken.
Schon lange meldete sich knurrend der Magen und verlangte nach Essbarem. Wir mussten aber noch bis zum Morgen warten, ehe etwas Verpflegung ausgegeben wurde. Der Tag vor Pfingsten begann mit strahlendem Sonnenschein und weckte zugleich neue Lebensgeister. Ungewiss über unser weiteres Schicksal wurden wir schon früh am Morgen mit einer heißen dünnen Suppe verpflegt. Dann ging es in den Burghof, wo wir unter strengster Bewachung einige Runden drehen mussten. Sprechen war streng erboten, und Vopos mit angeschlagener MP kontrollierten von Fenstern im oberen Stockwerk die Szene. Sie hatten von dort einen guten Überblick, und natürlich wollte keiner auffallen. Die Freiheit kam, zumindest für uns, nun sehr schnell. Zu Pfingsten wollten wohl auch einige unserer Bewacher zu Hause sein. Es sei hier ausdrücklich vermerkt, dass wir unser komplettes Gepäck kommentarlos zurück erhielten und todmüde, geläutert und mit neuer Lebenserfahrung den Bahnhof und am späten Nachmittag das Haus unserer Großmutter in Zeulenroda erreichten.
Happyend zum Schluss: Unsere Eltern arrangierten sich wieder zum Wohle der Kinder. Wir verließen 1950 endgültig die DDR und wählten diesmal den weniger gefährlichen Weg über Berlin-Friedrichstraße in die Westsektoren. Mit der PANAM flogen wir von Tempelhof in die BRD.
Über das letzte Jahr in der DDR und die Fortsetzung meiner „Elf entscheidenden Jahre“ in Westdeutschland berichten die nächsten Kapitel.
Nachsatz:
Unsere Tochter P. studierte das letzte Semester in Fulda. Ich bat sie, einmal nachzusehen, was vom „Katzenstein“ noch übrig geblieben sei. Sie tat mir den Gefallen und, so können Sie sich selbst ein Bild von dem „festen Haus“ machen, das heute ein nobles Hotel ist und dessen Besitzer ich natürlich eine schöne Zukunft wünsche. Käme ich im Leben noch einmal an diesen Ort, ich schriebe dem Hotelier ins Gästebuch:
„Burg“ Katzenstein – 1949/2004
Nur schemenhaft lebt dieser Ort in meinem Inn´ren weiter,
als kleiner Bub´ war ich schon hier, die Zeiten gar nicht heiter.
Als „Gast“ der Burg, da kehrt´ ich ein und das noch mit Eskorte!
Ich vorneweg, die hintendrein´, so ging es durch die Pforte!
Nur 18 Stunden war ich hier, die klärten auf für´s Leben,
die Freiheit, der ich nachgeweint´, ward wieder mir gegeben.
Heut´ ist das alles schöner hier, fest stehen noch die Mauern,
die tragen nun das neue Haus, was soll ich da bedauern?
Als Gast lebt´s sich nun prächtig hier, die Wirtsleut´, die sind nett,
im Stehen schläft man auch nicht mehr und hat sein eig´nes Bett!
Drum Wand´rer kehrst Du einst hier ein, vertrau´ auf dieses Haus,
als „Gast“, da wies man einst mich ein, als „Mensch“ ging ich hinaus!
Conrad H. von Sengbusch
Wie das bei ehrgeizigen Eltern so ist, sollte ich natürlich das Abitur machen, aber die Nachkriegsumstände standen getreu dem Motto „erstens kommt es, zweitens anders und drittens als man denkt“ dagegen. Die Amerikaner, die unseren Wohnort in Thüringen besetzt hatten, ließen sich in den wenigen Wochen, die sie blieben, Zeit mit der „reeducation“ oder Umerziehung. Und da wir nach dem Morgenthau-Plan eh ein Bauernvolk werden sollten, passte zu viel Bildung auch nicht ins Konzept. So wurden erst einmal alle Schulen geschlossen und die ideologisch belasteten Lehrer entlassen. Das wiederum hinderte meine Eltern nicht, uns umgehend bei ebendiesen geschassten Lehrern zum Privatunterricht anzumelden. Die Amerikaner blieben bis Anfang Juli, dann räumten sie Thüringen und überließen es gegen eine Präsenz in Berlin den Russen. Als wir dann ab Juli 1945 zur „SBZ“, der „Sowjetischen Besatzungszone“ gehörten, begann sofort der Schulbetrieb. Da es an ausgebildetem Lehrpersonal mangelte, traten nun in aller Eile ausgebildete „Neulehrer“ an ihre Stelle. Wie sich aber bald zeigte, waren diese jungen Lehrkräfte zu schnell auf neue Ideologien eingeschworen worden.
Ehemalige Villa der Familie Eckardt in Zeulenroda/Thüringen
Mit ihren 17 oder 18 Jahren mangelte es ihnen einfach an Erfahrung, um uns zu unterrichten oder gar umzuerziehen, waren wir doch noch wenige Wochen vorher nach rein nationalsozialistischem Gedankengut erzogen worden. „Die Partei hatte zwar immer recht“, wie es im neuen Sprachgebrauch hieß, aber wir waren damals noch „kritische Schüler“, die unsere Junglehrer einfach nicht ernst nahmen, wenn sie da in ihrer abgetakelten HJ-Uniform vor uns standen. Wenige Monate zuvor waren sie noch stramme HJ-Führer oder Volkssturmmänner, nun aber erklärte Antifaschisten, die das Chaos schon immer vorausgesehen hätten und natürlich passiv schon immer gegen das verflossene Regime gewesen waren.
Wir lebten damals in Zeulenroda in Thüringen im Elternhaus meiner Mutter, wohin uns das Schicksal nach der Flucht aus Westpreußen verschlagen hatte.
Die kleine Kreisstadt mit etwa 17.000 Einwohnern hatte eine bedeutende Industrie. Es gab allein 15 Möbelfabriken im Ort und dazu Werkzeugmaschinen-, metallverarbeitende Betriebe, Gummi- und Wirkwarenfabriken und viele mehr. Wir erlebten täglich, wie viele dieser Firmen demontiert wurden, waren sie doch alle in das Rüstungsprogramm des „Dritten Reiches“ eingebunden gewesen. Die Firmeninhaber „gingen in den Westen“, wenn sie es noch schafften, einige aber auch in Gefangenschaft in die Sowjetunion. Alle diese Umstände, natürlich auch die Verhaftungen innerhalb unserer weiteren Familie, erlebten wir hautnah mit. So erlaubten wir uns gegenüber unseren Lehrern manch kritische Bemerkung, worin denn nun die Freundschaft mit den Sowjetmenschen begründet sei. So etwas war 1945 tatsächlich noch ohne Folgen möglich.
Als dann 1949 der „Erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ gegründet wurde, gab es nur noch die „achtklassige Einheitsschule der DDR“, die grundsätzlich alle Schüler zu durchlaufen hatten. Erst nach dem Absolvieren dieser Einrichtung und der Erfüllung zusätzlicher Auflagen konnte die weiterführende Schule besucht werden. Grundsätzlich war diese Schulform eine sehr moderne Einrichtung, die vom Konzept her mit Teilen der heutigen Gesamtschule zu vergleichen ist. Der Klassenverband blieb aber erhalten, und die Aufteilung in Leistungskurse war nicht vorgesehen. Jeder Schüler, gleich welcher Herkunft und egal ob nun Arbeiter-, Bauern- oder Intelligenzlerkind, und selbst die Nachkommen der verhassten Barone und Landjunker, hatte diese Schule zu durchlaufen, die nach der 8. Klasse mit einer mehrtägigen Abschlussprüfung endete. Die Benotung mit „gut“ oder besser war eine der Auflagen, die zu erfüllen waren für einen anschließenden vierjährigen Besuch der Oberschule bis zum Abitur. Eine Mittelschule gab es zumindest bis 1950 noch nicht, sie wurde aber mit vielen alternativen weiterführenden Schulzweigen später in der DDR eingeführt.
Konfirmation, 1950
Sicher sah es die Partei nicht gerne, aber die Konfirmation war damals noch ein symbolischer und wichtiger Übergang von der Schulzeit in das Berufsleben. Die Jugendweihe, wie sie später wieder in der DDR eingeführt wurde, war mit dem Ende des „Großdeutschen Reiches“ aus der Mode gekommen. So gingen wir dann regelmäßig zum Konfirmandenunterricht und lernten geschichtliche Hintergründe aus dem Neuen Testament. Der eingeübte Stoff wurde am Sonntag vor der Konfirmation in der Kirche öffentlich abgefragt, wobei niemand vergessen wurde, so dass man tunlichst die wichtigsten Antworten einübte. Heutzutage werden die Konfirmanden teilweise vor der Konfirmation noch schnell getauft. Wie sich die Zeiten doch ändern! Eigentlich vermisste ich meine Eltern bei der Konfirmation sehr, die mich doch innerlich bewegte, aber meine Mutter hatte sich aus irgendwelchen Beweggründen kurz vorher entschlossen, „schwarz“ über die Grenze zu gehen, um meinen Vater in Geesthacht zu besuchen.
Konfirmation, dass hieß, „der Junge braucht einen Anzug“. So bekam ich auf Bezugschein meinen ersten Anzug zugeteilt. Aber wie das in der Planwirtschaft so ist, wurde meine Größe in dem Quartal gerade nicht gefertigt. Da aber der Termin näher rückte, ging ich mit meiner Großmutter zum örtlichen Konfektionär, dem einst berühmten Haus KELLNER & TÜRK, und wir fanden einen braunrot gesprenkelten glencheckähnlichen Zellwollanzug, der mir aber viel zu groß war. Was nun? Der Anzug wurde genommen, und nach meinen Maßen abgeändert. Am nächsten Tag wurde er im letzten Moment bei uns angeliefert. Ich stellte fest, dass da wohl irgendjemand die Maße verwechselt haben musste, jedenfalls waren die Hosen so kurz abgeschnitten worden, dass sie mehr einer Knickerbockerhose ähnelten, die damals schon unmodern war. Es half nichts, auf Reservekleidung konnte ich nicht zurückgreifen. Also, im Geschwindschritt und im Glauben, noch rechtzeitig anzukommen, die Ernst-Thälmann-Allee hochgehechtet, die Schopperstraße herunter bis zum Markt und dann hoch zur evangelisch-lutherischen Dreieinigkeits-Kirche. Mein Vater hatte mir seine goldene Armbanduhr geschenkt, mir aber nicht gesagt, dass diese Uhr niemals genau gegangen war. Also erreichte ich die Kirche, als die Konfirmanden schon in einem langen Zug in Zweierreihen vom Pfarrhaus kommend über die Straße zur Kirche gingen und konnte mich gerade noch als Letzter einreihen. Meine beiden Großmütter waren bereits in der Kirche, so dass ich doch nicht so ganz alleine diesen wichtigen Schritt erleben musste. Zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag am 2. April 1950 bekam ich meinen Spruch mit auf den Lebensweg: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark“, wie es im 1. Brief an die Korinther, 16, 13, steht.
Zuhause angekommen war dann alles sehr festlich angerichtet. Meine Großmutter mütterlicherseits bewohnte eine stattliche Villa, in der wir damals nach der Flucht aus Westpreußen untergekommen waren. Im Hause wohnte auch noch die Familie des Prokuristen, der in der Brauerei meines Großvaters, Paul Eckardt, der leider schon 1940 verstarb, arbeitete.
Das Familienunternehmen W. & P. Eckardt bestand als Treuhandbetrieb noch Anfang der 1970er Jahre, bis es dann 1972 endgültig erlosch.
Die Familie war alteingesessen, was für mich eine ungeahnte Flut von Geschenken bedeutete, ein „warmer Regen“, den ich gerne annahm, der aber auch seine Tücken hatte. Fein wurde da differenziert zwischen Glückwunschkarten, die ebenso mit Dankeskarten handschriftlich beantwortet wurden und Karten mit Geschenk-Gebinden, wo man die Absender persönlich aufsuchen und sich bedanken musste. Das waren eingefahrene Rituale und niemand in der Geschäftswelt wagte, daran zu rütteln.
Mein „Kleiderschrank“ sah damals erbärmlich aus und bekam durch die Konfirmationsgeschenke eine neue Ausstattung: Vorher trug ich die abgelegten getragenen Sachen meiner Vettern am Ort, die schon mit den abziehenden Amerikanern in den Westen gegangen waren. So sah meine Garderobe damals aus: Grauer, dünner Hemdenstoff wurde aus gummierten Gasplanen gewonnen, die im Wasser längere Zeit gekocht wurden, bis man dann die Gummierung vom Stoffträgermaterial abziehen konnte. Zu Ende des Krieges wurden diese Planen aber auch schon aus imprägniertem starken Packpapier gefertigt, das sich nur als Verpackungsmaterial eignete. Im Sommer trug ich eine selbst genähte Windjacke aus Tarnzeltplanenstoff, der ballenweise eine Zeit lang angeboten wurde. Die Knöpfe zur Jacke holte ich in einem kleinen Kurzwarengeschäft im vier Kilometer entfernten Triebes. Dort waren die braunen Bakelitknöpfe oder Blechknöpfe, wie sie einst für die Zeltbahnen gebraucht wurden, noch zu bekommen, wie es sich schnell herumsprach. Dann hatte ich noch eine abgelegte, speckige und im Bereich der unteren Hosenklappe recht morsche Lederhose, einen verblichenen maigrünen BLEYLE-Strickanzug mit kurzer Hose und etlichen geflickten Mottenlöchern, einen Regenmantel von der Gummiwarenfabrik KLEEBERG & MEYER am Ort, ein Luftwaffenkoppel, das ich mir in der Schule gegen ein Reklame-Taschenmesser aus dem Schreibtisch meines Großvaters eingetauscht hatte und als Unterwäsche luftige Netzunterhemden und ebensolche Hosen, die meine Mutter aus Spinnstoffresten, die sie erworben hatte, angefertigt hatte. Das Netzmaterial war dunkelgrün und ursprünglich für den Afrika-Einsatz des Militärs als Moskitonetz gedacht gewesen.
Im Sommer trugen wir „Klappern“, also Sandalen mit Gelenk und Holzsohlen und Halbschuhe aus „Igelit“. Das waren aus einem Stück gegossene Schuhe. Ohne Strümpfe hatte man in diesen Schuhen im Sommer immer nasse, übelriechende Füße... Im Herbst und im Winter trug ich eine verschossene, ererbte, pluderige Trainingshose, einen grauen Mantel aus einer billigen Militärwolldecke, vielfarbige Pullover mit Phantasiemustern, für die meine Mutter das Garn aus aufgerebbelten alten Wollsachen gewonnen hatte. Wenn es im Winter sehr kalt war, trug ich grüne „Schießhandschuhe“ mit Kaninchenfellfütterung, die gewöhnungsbedürftig waren, weil der Zeigefinger abgespreizt in einem „Fingerhandschuh“ steckte und die restlichen Finger nebst Daumen zu einem Fausthandschuh gehörten. Die Kopfbedeckung im Winter waren gestrickte graue Stirnbänder von der ehemaligen Wehrmacht, und wenn es sehr kalt wurde, auch kaninchenpelzgefütterte Pelzmützen des Militärs, die den russischen Kopfbedeckungen nachempfunden waren. Das Material außen war aber feldgrauer Uniformstoff. Unser Winterschuhwerk waren Stiefel mit Holzsohle und einem Obermaterial aus Leder. Bei Pappschnee bildeten sich leicht Eisklumpen unter den Schuhen, die dann festklebten und die Fortbewegung erschwerten. Wir nagelten uns die fünfeckigen „Soldatennägel“ darunter, um schneller voranzukommen. Unvorstellbar, wie bescheiden wir damals noch waren, aber den meisten anderen ging es ebenso, und so fielen wir gar nicht auf. Der Konfirmationsanzug war jedenfalls unsere erste, anständige Kleidung und wurde natürlich auch noch für die Prüfungen und die spätere Abschlussfeier der Schule gebraucht.
Schulabschlussprüfungen, 1950
Die Prüfung zum Ende der Einheitsschule wurde mit viel Aufwand organisiert, eine Übung, die im sozialistischen Vaterland zur damaligen Zeit im Jahre 1950 perfekt beherrscht wurde. Sie dauerte vom 29.6.1950 bis 14.7.1950 und erfasste alle Fächer. Zum Ritual gehörte als Mittelpunkt die allzeit präsente Prüfungskommission, zusammengesetzt aus einem Vertreter des Staates, einigen jüngeren Neulehrern und noch ein paar älteren Kollegen des Lehrkörpers oder soll ich sagen „Lehrkaders“? Alle Herren hatten sich der Würde des Tages entsprechend gekleidet und Orden und Ehrenzeichen angelegt. Einige „harte Marschierer“ hatten auch schon das Parteiabzeichen der SED am Revers. Die Herren hatten es sich am Kopfende des Klassenzimmers bequem gemacht und saßen mitten in einem Arrangement von transportablen Buchsbäumen und wirkungsvoll platzierten Fahnen der Stadt und der Republik. Natürlich wurde das Ereignis auch mit einem Beitrag der großen Sowjetunion gewürdigt: Das blutrote Transparent, das sonst das Portal unserer Schule schmückte, wurde in den Raumschmuck mit einbezogen und verkündete in großen, weißen Lettern: „LERNEN, LERNEN UND NOCHMALS LERNEN“, ein Ausspruch von Lenin, wie in kleiner Schrift darunter stand... Nun, denn!
Selbst unser Klassenlehrer hatte sich fein gemacht: Eigentlich kannten wir ihn jahraus, jahrein, nur in seiner taubenblaugrauen, entmilitarisierten Fliegeroffiziersuniform. Dazu gehörten die scharfen Breecheshosen und im Sommer Halbschuhe, im Herbst die Langschäfter aus feinem, weichen Leder und im Winter die, wie er uns erzählte, einst beheizbaren Fellstiefel. Das zackige Auftreten war geblieben, da hatte er in der Bewältigung der Vergangenheit wohl noch etwas Nachholbedarf. Zur Prüfung erschien er dann in ungewohnter ziviler Kleidung im damals hellgrauen Nadelstreifenanzug aus Zellwolle. Wer jemals diese Kreationen getragen hat, das einzige Tuch, das es damals auf Bezugschein gab, wird sich erinnern, dass das gute Stück nicht nass werden durfte. Dann geriet es völlig aus der Facon, und aus dem Sonntagsanzug wurde ein ausgebeulter Trainingsanzug. Nicht zu vergessen, zu dem Anzug gehörten auch Strümpfe aus Zellwolle, die mit Sockenhaltern getragen wurden... Das war auch nötig, denn diese Fußbekleidungen passten nur beim ersten Anziehen, dann wurden sie immer weiter und weiter, bis sie bei uns schließlich gerollt auf den Knöcheln lagen... Jedenfalls setzte sich unser Lehrer F. „in Szene“. Er stand der Kommission vor, hatte er doch einst gelernt, sich in solchen Situationen zu bewegen. Er genoss sichtlich die ihm zugeteilte Rolle.
„Pisa“ hätte von uns damals noch lernen können: Wie es heute noch in Frankreich gang und gäbe ist, hatte man erkannt, dass „Gleiches nur mit Gleichem zu vergleichen war“. Es gab in der DDR keinen Föderalismus wie in Westdeutschland. Berlin war die Zentrale, und hier wurde für das Volk vorgedacht, entschieden, und delegiert!
Die Prüfungsaufgaben galten für alle Schulen der DDR und kamen in großen, versiegelten A-4-Kuverts. Vor unser aller Augen präsentierte F. die Kuverts und ließ sich die Unversehrtheit der Siegel vom staatlichen Beisitzer schriftlich bestätigen. Dann gab es eine kleine, der Würde des Moments nicht entsprechende Pause, denn weder eine Schere noch ein Taschenmesser hatte die Kommission zur Hand, um die Umschläge stilvoll zu öffnen. Ein Aufreißen wäre in diesem Moment unfein gewesen, das wurde schnell erkannt. Ein Schüler konnte aushelfen und stellte sein Taschenmesser unter dem Grinsen der Prüflinge für die Prozedur zur Verfügung. Vor unseren Augen und überwacht vom Kollegium wurden nun die Siegel erbrochen, das Kuvert geöffnet und die Prüfungsaufgaben an die Tafel geschrieben. Es standen mehrere Themen zur Auswahl, so dass das Pensum in der vorgegeben Zeit für alle Fächer zu schaffen war.
So nahm dann die Prüfung über mehrere Tage ihren Lauf. Glück hatte ich in Russisch, denn ich war ja von 1947 bis 1949 in einer westdeutschen Schule und hatte dort keinen Russischunterricht gehabt. Es hatte sich aber in der Zwischenzeit nichts Wesentliches getan, wie ich zu meiner Freude feststellen konnte. Wir waren nämlich trotz vieler Anläufe immer nur bis auf Seite 18 unseres Standardwerks „Mein russisches Lehrbuch“ gekommen. Wohl gemerkt, das war das Lehrbuch für das fünfte (!) Schuljahr, und wir waren doch die 8. Abschlussklasse! Der Grund war, dass die 1945 eilig ausgebildeten Neulehrer auch nur bis Seite 18 gekommen waren und nur über ein minimales Grundwissen im Russischen verfügten. Dann gingen sie, wie es die Planwirtschaft vorsah, zu weiterbildenden Kursen oder stellten fest, dass ihre Schwerpunkte wo anders lagen. Neue Junglehrer wurden ausgebildet, und die fingen dann auch wieder ganz von vorne an, bis auch sie bei Seite 18 ankamen. Planwirtschaft in Reinkultur! Schließlich lernten wir zur Abwechslung mal ein russisches Gedicht und natürlich den Text des Liedes „Kalinka“. Bei der Prüfung brauchte ich nur eine kurze Textstelle vorzulesen, ebendieses Gedicht aufzusagen und den Text von „Kalinka“ vorzutragen. Es reichte in der Benotung gerade noch für ein „ausreichend“. In anderen Schulen der DDR mag es anders gewesen sein. Schließlich erkannte man auch in Berlin, dass es im Russischen mancherorts noch Defizite gab und sich der Plan so nicht umsetzen ließ. Man kam dann auf den glorreichen Gedanken, die Baltendeutschen, die als Flüchtlinge auf dem Gebiet der DDR lebten, mit in das Bildungswesen einzubeziehen. Immerhin waren diese Menschen meistens noch im zaristischen Russland zweisprachig aufgewachsen. So kam meine Tante, Anni B., noch zu Ehren, als Russischlehrerin eingesetzt zu werden. Bei der gymnasialen Bildung an den ostdeutschen Schulen war Russisch die erste Fremdsprache, gefolgt von Französisch und Englisch. Latein gehörte auch noch dazu, ja, den Schülern wurde damals einiges mehr als heute abverlangt.
Alles hat einmal ein Ende, auch die Prüfungen. Im größten Ballsaal der Stadt, „Pohland´s Lokal“, aus dem später das Kulturhaus der Stadt wurde, wurde die Zeugnisübergabe nochmals zum gesellschaftlichen Ereignis, zu dem auch die Familie eingeladen wurde. Mein Vater war nicht dabei, hatte er sich als Reichsdeutscher aus dem Baltikum doch schon 1946 nach Westdeutschland abgesetzt, was nicht ohne Konsequenzen für meinen späteren Lebensweg bleiben sollte... Mein Name wirkte damals auf manche Lehrer wie ein rotes Tuch, zumal ein kleines Prädikat vor dem Namen mich schon einer Kaste zuwies, unter der die Arbeiter und Bauern Jahrtausende gelitten hatten. In der Schule hieß ich dann folgerichtig bei den Mitschülern auch immer nur „Der Oodl“. So schrieb dann auch mein Lehrer noch den kleinen Nachsatz in mein Zeugnis vom 22. Juli 1950: „Conrad gibt sich Mühe, er könnte jedoch mehr leisten.“
Die nächste Entscheidung stand schon an: Oberschule oder Beruf? Arbeit gab es damals in der DDR genug. Und so kamen die Genossen der Berufsberatung schon zu Beginn der Abschlussklasse in die Schule, um die Berufswünsche der 13- oder 14-jährigen Schüler zu notieren und zu registrieren, um sie dann umgehend in das System der Sozialistischen Planwirtschaft integrieren zu können. Ich meldete die Absicht, später einmal zur Oberschule gehen zu wollen. Selbst als Angehöriger einer ehemals privilegierten Schicht hätte ich da unter Umständen noch eine Chance gehabt. Aber auch im Land der Arbeiter und Bauern ging nichts ohne Gegenleistung. Der alte lateinische Spruch oder besser die deutsche Übersetzung „Ich gebe, damit Du gibst“, war auch bei den Funktionären bekannt. Die wussten natürlich, dass mein Vater einst Inhaber einer Mechanischen Seilerei und Netzfabrik und von Beruf Textilingenieur war. Auch sein Fachwissen auf dem Gebiet der Monofile oder Kunstfasern schien in der DDR bekannt zu sein. Genau solche Leute wurden damals im „Zellwollwerk Schwarza“ benötigt. „Ja, käme Dein Vater in die DDR zurück, könntest Du zur Oberschule gehen“, sagte man mir. Mein Vater tat mir den Gefallen aber nicht, waren seine Brüder doch gerade erst aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Es gab eben zu viele Beispiele, wo Angehörige auch unserer Familie in die Sowjetunion verschleppt worden waren und niemals oder erst nach 1950 wieder zurückkamen.
Da ich von 1947 bis 1949 bei meinem Vater in Geesthacht lebte und direkt an der Elbe aufwuchs, interessierte ich mich sehr für den Schiffbau. Vielleicht spielten da auch die Gene mit, denn meine Vorfahren im Baltikum waren erfolgreiche Großkaufleute und Reeder gewesen. Also notierten die allwissenden Berufsfindungsfunktionäre: Conrad H. von S., Schiffbauer, Warnowwerft Warnemünde, Lehrlingsheim mit Internat. Alles war damals in der DDR bis ins Detail geregelt. Selbst eine Kontrollkarte wurde gleich angelegt, so dass nach der Schule kaum Zeit verging, um in den Arbeitsprozess und in die Reihen der Werktätigen aufgenommen zu werden.
Irgendwann erkannten wohl auch meine Eltern, dass es für das Wohl der vier Kinder nicht förderlich war, nun schon mehr als vier Jahre getrennt zu leben und hatten sich entschlossen, die Familie wieder zusammenzufüßü