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Für Almut Klotz,
für Micha »Cäpt’N Suurbier« Wahler
und Joerg »Zappo« Zboralski
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014
ISBN 78-3-492-9746-4
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Covergestaltung/-illustration: Nurten Zeren, zerendesign.com
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Für Almut Klotz,
für Micha »Cäpt’N Suurbier« Wahler
und Joerg »Zappo« Zboralski
Paul öffnete eine Dose Bier und hob sie langsam zum Mund. Er trank einen großen Schluck und zündete sich dann eine Ernte 23 an. Es war ziemlich kalt draußen, und er hatte sich auf die Tüte mit der Decke gesetzt, damit sein Hintern auf der Bank nicht kalt wurde. Er beobachtete das Wohnhaus. Abwechselnd wanderten die linke Hand mit der Dose und die rechte Hand mit der Kippe zu seinem Mund. Der Rauch vermischte sich mit der kondensierenden Atemluft. Seine Füße froren trotz der schweren Knobelbecher.
Die Arbeiter räumten unterdessen die Wohnung aus. Zu viert trugen sie Stück für Stück auf die Straße, das meiste landete sofort im Container, einige Möbel stellten sie zur Seite. Kleidung, Papier, Fotos, Alltagsutensilien stopften sie in graue Plastiksäcke, die sie in ihren Bus schoben, um sie später zu sortieren.
Paul blickte über sich in den fahlen Nachthimmel der Großstadt. Ein paar Sterne waren zwischen den dunklen Wolken zu sehen, sonst nichts. Er schnippte die Kippe hinter sich ins Gebüsch. Sein Blick war leer, die grauen Haare wellten sich ungewaschen unter der Fellmütze hervor. Er zog die Kochhandschuhe gegen die Kälte wieder an, andere hatte er nicht. Die Arbeiter schmissen Teile des Betts in den Container. Ein verächtliches Lächeln huschte über Pauls Gesicht. »Maschinen ... nichts als Maschinen, ausführende, stumpfe Automaten ...«, flüsterte er. »Von nichts ’ne Ahnung, an nichts Interesse, kein Gefühl, kein gar nichts ... Maschinen ...« Er spuckte vor sich auf die Straße. Durch das Fenster sah er, wie einer der Arbeiter im Wohnzimmer Bilder abhängte und sie hinaustrug. Paul stand auf und näherte sich langsam dem Container. »Hey, Alter, verpiss dich, det is ’n Privatcontainer, nix anfassen, ja?«, schrie ihm ein Arbeiter zu. Paul griff nach einer halb zerbrochenen Zigarrenkiste, die aus dem Gerümpel hervorlugte, er öffnete sie und warf einen Blick auf die Fotos, die darin lagen. Er steckte die Kiste in seinen Seesack, dann griff er nach der schweren Wohnzimmerlampe, die zerbrochen in dem Container lag. Er löste die Metallkugel von ihrem Sockel und wog sie prüfend in den Händen. Er holte aus und schmiss sie mit weitem Schwung in die große Wohnzimmerscheibe, die splitternd und klirrend zerbarst. Die Arbeiter sprangen erschrocken zur Seite, es herrschte einige Sekunden Totenstille.
Als sie schließlich ans Fenster traten, war Paul schon weg.
Er zog seinen schweren Rollkoffer hinter sich her, den Seesack hatte er sich über die Schulter geworfen und die Tüte unter den Arm geklemmt. Um seinen groben Mantel hatte er einen Ledergürtel geschnürt. Langsam trottete er die Straße entlang, unbeirrbar, als hätte er ein festes Ziel im Blick. Ab und zu blieb er stehen, um die Hand am Koffergriff zu wechseln. Er bog in eine Seitengasse ein, lief sie hinunter, beobachtete schweigend die Häuser und Wohnungen, an denen er vorbeikam, die Kneipen und Läden und die überall geparkten Autos. Sein Gesichtsausdruck blieb regungslos. Straße für Straße lief er hinunter und Viertel für Viertel, manchmal setzte er sich für einen Moment auf eine Bank oder eine Mauer, rauchte eine Zigarette und starrte dabei in das Nichts zwischen den Sternen.
Schließlich, nach Stunden, erreichte er den Stadtrand. Die Häuser wurden flacher, es gab kaum noch Geschäfte und Kneipen, nur noch endlose Wohnsiedlungen, von kleinen Straßen und Wegen durchzogen, ab und zu einen Zeitungskiosk, die Außenhaut eines gigantischen Organismus.
Paul kam zu einer Schrebergartensiedlung. Die Nacht war halb vorüber, und es hatte zu nieseln begonnen, langsam zog die feuchte Kälte in seine Kleidung. Er fand eine Hütte, die verlassen aussah, die Parzelle war verwildert, die Gartenpforte hing schief in den Angeln. Vorsichtig betrat er das Grundstück, das von einer hohen Buchsbaumhecke umgeben war, und arbeitete sich zur Eingangstür der Hütte vor. Sie war verschlossen. Paul lehnte sich langsam, aber mit dem ganzen Gewicht seines Körpers dagegen und hielt den Griff gedrückt, irgendwann hörte er ein knackendes Geräusch, das morsche Holz des Türrahmens gab nach, und Paul trat ein. Er leuchtete mit dem Feuerzeug in den Raum. Vor ihm lag ein ziemlich verwahrlostes, kleines, aber komplett eingerichtetes Zimmer. Er schloss die Tür hinter sich und zündete die Kerze an, die auf einem Campingtisch in der Mitte des Raumes stand. Er setzte sich auf das Sofa dahinter und atmete tief durch. Eine Weile beobachtete er den Dunst, den seine Atemluft in der Kälte bildete, dann schlief er ein, und sein Kopf sank auf die Brust.
Ein Knurren weckte Paul. Er schlug die Augen auf. Ein paar Sonnenstrahlen schienen ihm durch das verstaubte Wohnzimmerfenster ins Gesicht. Es knurrte wieder, hell und unangenehm rasselnd. Langsam griff Paul nach dem Messer in seiner Manteltasche, er öffnete die Klinge mit dem Daumen und zog es vorsichtig heraus. Dann beugte er sich vor, um den Raum überblicken zu können. In der Ecke neben dem Kühlschrank hockte ein Tier, er konnte es im Schatten kaum erkennen, vielleicht ein Marder. Langsam erhob sich Paul und griff dabei mit der anderen Hand nach einem schweren gläsernen Aschenbecher vor ihm auf dem Tisch. Der Marder knurrte, bewegte seinen Kopf drohend vor und zurück. Je näher Paul kam, desto nervöser wurde das Tier, langsam hob er die Hand mit dem Aschenbecher, doch plötzlich brach der Marder fauchend aus der Ecke hervor, sprang blitzschnell an ihm hinauf, biss wütend in den Mantel und stürzte quiekend durch den Raum und unter das Sofa. Nervöses Geraschel war zu hören, dann herrschte für einige Sekunden absolute Ruhe. Vorsichtig hob Paul mit der linken Hand das Sofa an, in der anderen hielt er den Aschenbecher. Aber der Marder war verschwunden. Paul durchsuchte die Schränke nach etwas Essbarem, er fand ein paar alte Teebeutel und zwei abgelaufene Konservendosen mit Erbsensuppe, die er sich auf dem Herd aufwärmte. Er sah sich ein bisschen um, entdeckte eine elektrische Heizung und drehte sie auf.
Die Suppe aß er im Stehen. Danach kramte er die Zigarrenkiste aus seinem Seesack. Er setzte sich damit auf einen Stuhl ans Fenster, ließ die Fotos durch seine Finger gleiten und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Es waren vergilbte Bilder aus unterschiedlichen Zeiten und Situationen seines Lebens. Ein Gartenfest, Paul am Grill, betrunkene, lachende Männer um ihn herum. Paul mit einem Schäferhund am Hafen. Ein Haus am Waldrand, davor zwei Frauen in Regenmänteln, lachend. Paul mit einer Frau in Hochzeitskleidung. Er rauchend in einem Cabriolet mit einem Mädchen neben sich. Ein altes Passfoto, auf dem er sehr adrett und frisiert aussah. Ein altes schwarz-weißes Klassenfoto. Paul mit einem Glas Schnaps in der Hand an einen Baum gelehnt, wie er mit einer Pistole auf den Fotografen zielte. Er dachte einen Moment lang nach, dann legte er die Fotos zur Seite, wühlte in seinem Seesack und zog die Pistole hervor. Luger Parabellum. »Si vis pacem para bellum – wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor«, murmelte Paul vor sich hin. Er öffnete das Magazin, die Pistole war mit fünf Patronen geladen. Er lehnte sich zurück an den Küchenschrank und zielte vor sich in den Raum. Dann hielt er die Pistole an seine Schläfe und schloss die Augen. Nach einer Weile lachte er trocken und ließ die Pistole sinken. Er betrachtete ein altes Klassenfoto und entdeckte sich stehend in der letzten Reihe mit merkwürdigem Blick, starr in die Kamera stierend. Was hatte das Leben aus all den anderen gemacht? An die meisten Namen konnte er sich nicht erinnern. Mit einem Kugelschreiber malte er denjenigen, von denen er nicht wusste, was aus ihnen geworden war, ein Fragezeichen ins Gesicht. Alle, von denen er wusste, dass sie bereits gestorben waren, markierte er mit einem Kreuz. Es blieben nicht viele übrig. Zwei Jungen neben ihm, seine damaligen besten Freunde, zu denen er aber seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Halb verdeckt hinter einem dicken Jungen, ganz links außen, stand ein Mädchen, auf das er erst jetzt aufmerksam wurde, sie hatte den Blick gesenkt, legte augenscheinlich keinen Wert darauf, im Bild zu sein. Katharina Himmelfahrt. Aus dem Nichts erschien dieser Name in seinem Kopf, ploppte auf wie eine Luftblase an der Oberfläche eines Sees, dieser Name, den er seit unendlich vielen Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte. Katharina Himmelfahrt. Etwas Beschwingtes durchströmte ihn, wenn er sich ihr Gesicht vorstellte, alte, lang verschüttete, positiv belegte Synapsenverbindungen wurden reaktiviert. Er erinnerte sich an die Aufregung, die er in sich verspürt hatte, wenn er damals mit ihr zusammen gewesen war. Nur in diesem einen langen Sommer, bevor er die Schule verlassen hatte.
Unter den Fotos in der Zigarrenkiste lag auch ein schwarzes Schulheft, auf dessen Etikett ein großes Fragezeichen gemalt war. Paul schlug es auf und las die krakelige Schülerschrift.
Dieses Heft ist privat!
Was darin steht, geht niemanden etwas an!
Wer auch immer es lesen sollte, wird dafür bestraft werden. Hier lagern die Aufzeichnungen eines Unbekannten. Falls sie jemand finden sollte, wird er gebeten, dieses Heft zu verbrennen!
Erst wenn ich tot bin, darf dieses Heft gelesen werden von der Nachwelt. Damit ich nicht vergessen werde.
P. Z.
1966
Ich heiße Paul.
Ich bin siebzehn.
Ich bin ziemlich dünn und groß und habe dunkelbraune lange Haare mit Locken.
Na ja, was heißt lang, länger als die der meisten anderen. Mittellang.
Ich bin schüchtern, glaub ich.
Ich interessiere mich für Beat, für Kunst und für Mädchen. Auch für Politik natürlich.
Ich höre gern Zombies, Kinks, auch Stones. Ich steh auf Mopeds und Sportwagen. Hab aber keinen Führerschein. Schule find ich ekelhaft. Will mich nicht verstopfen lassen.
Meistens langweile ich mich.
Manchmal fühl ich Angst.
Manchmal Wut.
Oft Traurigkeit.
Das bin ich.
Klingt nicht so spannend.
Warum auch? Bin nichts Besonderes.
6. 4. 1966
Seit einem halben Jahr verändert sich nichts. Die Tage sind ewig gleich. Schule maximal trist. Wie wenig mich das interessiert. Wozu soll ich das alles lernen und behalten, ich brauch es doch nie wieder in meinem Leben, das weiß ich jetzt schon. Ich brauche etwas anderes, aber ich weiß nicht genau, was. Ich suche, aber ich weiß nicht, wonach. Ich möchte mich entscheiden, aber ich weiß nicht, wofür. Ich muss anders werden als der Alte. Ich will auf keinen Fall das werden, was andere sich für mich ausdenken oder erhoffen. Weil dann wäre ich ja nur das Resultat von fremden Wünschen. Ich will etwas ganz Neues werden. Etwas, das noch nie da gewesen ist. Das ist mein Traum. Daran werde ich arbeiten. Nur was kann das sein?
7. 4. 1966
Haben heute neues Mädchen in die Klasse bekommen. Komische Person. Sitzt in der letzten Reihe und sagt kein Wort. Sieht auch nicht besonders gut aus. Trägt keine guten Klamotten und schminkt sich nicht. Wenn man nicht hinschaut, ist es so, als wenn sie gar nicht da wäre. Vielleicht ist sie ein Geist. Würde zum Namen passen: Katharina Himmelfahrt. Ich vermute, dass sie eine Spießerin ist. Wir werden sehen. Eine weitere Nichtgestalt in einer Klasse voller Nichtgestalten. Inklusive mir selbst.
10. 4. 1966
Bergmann hat mich auf dem Kieker, ich glaube, er will mich nicht in seiner Klasse, ich passe ihm nicht, egal, was ich anstelle – immer schlechte Zensuren, immer Einträge ins Klassenbuch.
Ich würde am liebsten aufhören, aber was dann? Vielleicht sollte ich für immer abhauen! Geld klauen und abhauen!
Björn Z. schreibt in allen Fächern Einsen. Und ist auch noch gut in Sport. Wie geht das? Er ist eine Maschine. Sie alle sind Maschinen – um mich zu testen?
Die Neue kriegt gute Zensuren, auch im Sport ist sie gut, springt besser als die meisten Jungs! Aber keiner mag sie, weil sie nie redet. Sie ist immer alleine. Das finde ich an ihr ganz gut – dass sie keinen Schwachsinn redet, anders als die meisten Mädchen. Ich finde auch gut, dass sie sich nicht schminkt, ich hasse dieses Schminken, das ist doch alles verlogen, diese ganzen bescheuerten Rollenspiele. Das ist alles Maskerade! Und dieses ganze Wer-mit-wem-Zusammen und so, vollkommen albern. Ich hoffe, dass ich immer allein bleiben kann, einsam und unverstanden.
Die meisten anderen verhalten sich alle genau gleich, und sie wollen auch das Gleiche! Sie wollen einen Beruf, Familie, Geld, Karriere und dann Rente. Und einen schönen Grabstein. Ich nicht! Ich möchte etwas machen, was noch keiner gemacht hat. Aber was? In welchem Bereich? Musik? Kunst? Entdeckungen? Erfindungen?
Alle Berge sind bestiegen, alle Meere sind durchschwommen, alle Lieder sind gesungen, alle Schlachten sind geschlagen. Hab ich irgendwo gelesen. Gibt es noch etwas zu entdecken in dieser Welt? Und wer werde ich sein, wenn ich endlich weiß, wer ich bin?
Ich bin so gespannt auf das Ergebnis!
15. 4. 1966
Bin heute mit Benno W. zum Theaterkurs von Frau Zucker gegangen. Benno wollte erst nicht mit, er findet Theater irgendwie schwach, aber dann hab ich ihn überredet. Allein wegen Frau Zucker, sie sieht zum Ablecken aus! Sie hat so einen schicken Pony, und man kann im Gegenlicht vor dem Fenster durch ihre Bluse gucken. Benno fand den Kurs auf einmal auch richtig gut. Sie hat uns die ganze Geschichte des Theaters erzählt, von Griechenland an, ich fand’s interessant, aber vor allem wegen ihr. Auf die Geschichten konnte ich mich eher schlecht konzentrieren. Benno hat mir immer ins Bein geboxt, er war ganz rot im Gesicht.
Dann wollte Frau Zucker mit uns ein Stück einproben: »Die Leiden des jungen Werther« von Goethe. Sie sagte, es wäre die tollste Erzählung über jugendliche Liebe, über Eifersucht und Selbstmord. Und als das Buch damals rauskam, hätten sich nach dem Lesen viele junge Menschen umgebracht. Aber wir sollten das bitte nicht so machen. Und man könnte an dem Stück erkennen, warum Selbstmord keine Lösung wäre.
Sie hat uns dann die ganze Geschichte erzählt. Dass der Hauptdarsteller Werther sich bei einer Landfahrt in das Mädchen Lotte verliebt, das mit ihm in der Kutsche fährt. Dass sie sich sehr nahekommen. Dass er dann hört, dass sie eigentlich schon verlobt ist mit einem Edelmann namens Albert. Und dass diese Dreierverbindung schließlich in eine Katastrophe führt, weil Lotte sich aus Anstandsgründen für Albert entscheidet und Werther so eifersüchtig ist, dass er sich am Ende umbringt. Eine krasse Geschichte.
Und dann wollte Frau Zucker gerne wissen, wer welche Rolle spielen möchte. Und auf einmal meldet sich Katharina Himmelfahrt für die weibliche Hauptrolle der Lotte! Benno war auch ganz erstaunt. Wieso meint gerade die, dass sie schauspielern könnte, die kann ja noch nicht mal reden. Ein Typ namens Franz Keil hat die Rolle von Werther übernommen, der ist schon älter und kennt sich angeblich mit Theater aus. Ich mag ihn irgendwie nicht, er tut so groß. Aber er sieht cool aus, das muss ich zugeben. Ein bisschen wie Alain Delon, bloß in Blond, mit ganz akkurat kurz geschnittenem Haar und immer in perfektem Anzug und so. Der trägt sogar in der Schule Schlips. Die meisten Mädchen fahren ziemlich auf ihn ab. Er hat auch schon ein Auto, einen schwarzen Opel Kadett B. Und man sieht ihn immer nur alleine.
Ich hab mich für die kleine Rolle beworben, die von Lottes Mann Albert. Einfach so. Da hab ich erstens nicht viel zu sagen, und zweitens hab ich mit Frau Zucker zu tun. Es gab noch einige andere Rollen, aber Benno, der Idiot, wollte nicht. Selbst schuld.
Frau Zucker hat mich angelächelt. Das war wie Licht. Ich würde trotzdem nie etwas von ihr wollen. Man muss den Trieben widerstehen, um anders zu werden!
Aber am Ende stand sie wieder vor dem Fenster, und ich habe kaum noch Luft gekriegt, und Benno hatte Tränen in den Augen.
16. 4. 1966 – abends
Ich bin nichts wert. Ich bin nichts. Ich hab nichts. Ich kann nichts.
Ich wohne in einem dreckigen alten Haus am Ende einer Einfamilienhaussiedlung. Meine Mutter ist weg. Ins Ausland gezogen. Nach Spanien. Mit einem fremden Mann. Ich hab ihn noch nie gesehen. Will ich auch nicht.
Mein Vater säuft Apfelwein.
Ich hab nichts zu erwarten.
Ich denke immer wieder daran, mich umzubringen, dann würden alle schon sehen, wie es wäre, wenn ich weg wäre.
Aber vielleicht würden sie es auch gar nicht bemerken, weil ihnen ja sowieso alles egal ist. Der Gesellschaft ist alles egal, das merkt man ja ständig!
Ob einer lebt oder stirbt – wen interessiert das schon?
Also mach ich es erst mal nicht.
Aber wenn, dann werde ich mir den besten Moment und Ort dafür aussuchen. Zum Beispiel auf dem größten Platz von Berlin. Damit das alle sehen. Zuerst würde ich dastehen und sagen: Okay Leute, ich spiel euch jetzt mal einen neuen Song vor, und alle würden sich um mich drängen, und dann würde ich einen tollen Song spielen, und alle wären ganz berührt, und auf dem Höhepunkt würde ich in eine schwarze Schachtel greifen, die ich mir vorher hingestellt hätte, und alle würden denken, was kommt denn jetzt für ein Showtrick? Und in der Kiste wäre eine goldene Pistole, ich würde sie an den Kopf setzen, und alle würden lachen, weil sie denken würden, das is ’n Showtrick. Aber ich würde abdrücken und tot zusammenbrechen. Und dann würden alle endlich erkennen, wie unaufmerksam sie waren und dass sie überhaupt nicht bemerkt haben, wie es mir geht und wie weit ich schon bin. Nur, dann wäre es zu spät!
Ich denke, ich mach es erst mal nicht. Ich gebe der Welt noch eine Chance.
18. 4. 1966