Roman
Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel The Rage bei Harvill Secker.
Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2014
© Polar Verlag GmbH Hamburg 2014
© 2011 Gene Kerrigan
Umschlaggestaltung: Detlef Kellermann, Robert Neth
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
Print ISBN: 978-3-945133-06-4
E-Book ISBN: 978-3-945133-07-1
www.polar-verlag.de
Für Pat Brannen und Evelyn Bracken
Teil 1 Der Rauchergarten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Teil 2 Das Ding
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Teil 3 Die Ruhe
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Teil 4 Der Sturm
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Danksagungen
Über den Autor
Zum Buch
The law was something to be manipulated for power and profit. The streets were dark with something more than night.
Das Gesetz war etwas, das es für Macht und Profit zu missbrauchen galt. Mehr als nur Nacht verdunkelte die Straßen.
Raymond Chandler,
Trouble Is My Business
Seine Finger umklammerten das dicke Holzgeländer, beide Hände so sehr darum gekrampft, dass es sich anfühlte, als könne das Holz zersplittern.
Sein Atem ging flach. Er sog die Luft ein und stieß sie in kurzen Zügen wieder aus; sie schien kaum bis hinunter zu den Lungen zu reichen. Seine Brust und Schultern waren mit einem Mal schweißbedeckt. Ihm kam der Gedanke, dass dies ernst sein könnte, mehr als eine Panikattacke. Er war ein großer Mann und gut in Form, aber Raucher, und mit siebenundvierzig lebte er mit den Folgen einiger missglückter Neujahrsvorsätze. Da war Angst, und da war zugleich Erleichterung. Sollte sich doch ein anderer – oder niemand – darum kümmern; er würde keine andere Wahl haben, als loszulassen. Die Anspannung der letzten Tage würde hinweggefegt, während sein Körper dichtmachte und alles sich in einem erstickenden Ansturm von Endlichkeit auflöste.
Falls das geschah, würde Holly den Schmerz spüren und sein Fehlen dann als eine weitere Tatsache des Lebens akzeptieren. Wie die Fältchen um ihre Augen, bedauerlich, aber unvermeidbar – und am Ende alles halb so wild. Und Grace und Dylan würde der Verlust schockieren, aber sie waren beide bereits dabei, ihre eigenen Leben zu gestalten. Das war der Lauf der Dinge.
Und ohne seinen Schutz würde Maura Coady sterben. Früher oder später würde der Irre aus dem Schatten treten und sich ein paar Minuten nehmen, um das bisschen Leben, das noch in ihr war, herauszuquetschen.
Es war gegen Ende eines warmen Aprilabends, ein Vorgeschmack auf den Sommer. Detective Sergeant Bob Tidey stand am Nordufer der Liffey auf den Planken der über das schwarze Wasser ragenden Uferpromenade. Flussaufwärts, zu seiner Rechten, hinterließ die Sonne ein goldenes Glühen auf den Wolken über dem Phoenix Park. Hinter ihm, auf den Uferstraßen Richtung Stadtzentrum, die Geräusche und Gerüche des Verkehrs.
Eine Stadt, die sich um ihre Angelegenheiten kümmerte, bereit, den Tag ausklingen zu lassen. Selbstzufrieden und selbstvergessen.
Bob Tidey war hier geboren, aufgewachsen und hatte eine Familie gegründet. Er kannte die Stadt, liebte sie und diente ihr und hasste die Art und Weise, wie sie es vermochte, die Augen zu verschließen.
Er hatte das Geländer so fest gepackt, dass seine Finger wehtaten. Seine Arme und Schultern zerrten und zogen an der hölzernen Brüstung, als wolle er an ihr rütteln, als wolle er die ganze Promenade, ja die ganze Scheißstadt wachrütteln. Er stieß sich vom Geländer weg.
So wie die Dinge gelaufen waren, gab es keinen guten Ausweg, nichts, was moralisch richtig wäre. Der Mord an dem Banker, die Sache mit Maura Coady – Tideys letztes Gespräch mit den Lamettaträgern hatte die Möglichkeiten, auf Nummer sicher zu gehen, zunichte gemacht.
Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte, das Zittern in seinen Händen zu lindern. Er nahm einen tiefen Zug, atmete den Rauch langsam aus, dann begann er, die Uferpromenade entlang hinauf Richtung O’Connell Bridge zu gehen.
Nichts, was moralisch richtig wäre. Aber etwas musste getan werden.
Emmet Sweetman lag auf dem Rücken und öffnete die Augen.
Alles war vertraut, aber nichts stimmte.
Ein dunkler Regentropfen –
der von der Decke fällt …
Er lag auf dem Boden seines weiten Eingangsflures, den kalten, harten Marmor unter sich. Um ihn herum die vertrauten dunkelgrünen Wände, die von dem cremefarbenen Fries unter der hohen weißen Decke gekrönt waren; links von ihm der antike Walnusstisch, auf den er abends, wenn er nach Hause kam, seine Schlüssel warf. Noch nie hatte er den Tisch so gesehen, von unten. Dort, im Schatten kaum auszumachen, war mit rosa Kreide hingekritzelt worden: VK 21.
Das hatte jemand vom Auktionshaus getan, in dem Colette ihn gekauft hatte. Wahrscheinlich.
Langsam fällt von der Decke ein dunkler Regentropfen –
Nichts stimmt …
Er verspürte das verzweifelte Verlangen nach Gewissheiten. Nach Zeit, Ort, anderen Menschen und wo er war im Verhältnis zu all dem.
Dunkel draußen –
Spät, jetzt –
Zu Mittag gegessen mit –
Dann …
Blitzartig entfaltete sich der Tag in seinem Kopf, Augenblicke um Augenblicke gingen auseinander hervor, langes Meeting – fetter Typ von der Steuerbehörde, dann noch mehr verdammte Anwälte –
Abend, spät zu Hause, müde, das Geräusch der Autoschlüssel, die auf den Walnusstisch fallen.
Colette –
Da war –
Auf der Treppe, auf dem Weg zu ihr nach oben –
Die Klingel –
»Ich gehe.«
Als er jetzt den dunklen Regeltropfen beobachtete, wie er so langsam nach unten fiel, dass er noch die Hälfte der Strecke bis zum Fußboden vor sich hatte, spürte er, wie eine Kälte seinen Körper durchflutete. Es fühlte sich an, als wäre seine Haut plötzlich mit dem Marmor unter ihm verschmolzen. Seine Gedanken reckten sich nach etwas, was er nicht erkannte, was er nicht begriff –
Sich auf den Stufen herumdrehen, wieder herunterkommen –
Zwei Männer auf der Türschwelle –
Der linke hatte einen Kapuzenpullover an und einen Schal über dem unteren Teil seines Gesichts. Der rechte, dessen Gesicht im Schatten einer Baseballmütze lag, hielt eine Doppelflinte im Zwergenformat, und alles passierte gleichzeitig.
Der Blitz.
Der unfassbar laute Knall.
Die unglaublich schnelle Bewegung.
Emmet Sweetman lag auf dem Rücken und öffnete die Augen.
Der dunkle Regentropfen, er fällt –
Vom Schädel bis zu den Zehen war sein Körper eiskalt.
Oh mein Gott –
Der eine im Kapuzenpulli –
Mein Gott, nein –
Lehnte sich vor, hockte sich hin. Er sah Emmet Sweetman in die Augen.
Große schwarze Pistole.
Nein –
Der dunkle Regentropfen –
Fällt immer noch von der Decke –
Bitte nicht –
Das Gericht öffnete – Bob Tidey schaute kurz auf die Uhr – in fünfzehn Minuten.
Viel Zeit für einen Raucher. Auf der zweiten Etage des Strafgerichts stieg er aus dem Fahrstuhl, ging durch die Cafeteria und hinaus in den Rauchergarten. Vier oder fünf andere griffen ein paar letzte Züge ab.
Bob Tidey gab dem alten Four Courts den Vorzug, wo die Raucher gezwungen waren, in den Hof hinauszugehen, um ihrem Laster zu frönen. Das neue Gebäude war eine hemmungslose Zurschaustellung von Wohlstand, und es hatte etwas Unanständiges an sich, so großzügig in die Tasche zu greifen, um einer schlechten Angewohnheit Raum zu geben. Im Rauchergarten standen mehrere geschmackvoll designte Holzbänke, auf denen man sitzen, eine quarzen und einen Kaffee trinken konnte. Pflanzen und junge Bäume zierten ihn, und jemand hatte sich viele Gedanken über die Form der Behälter zum Zigarettenausdrücken gemacht. Trotz allem zeigte der Bereich an den Ecken schon erste Abnutzungserscheinungen – stehengelassene Cola-Dosen und Papp-Kaffeebecher, nachlässig weggeworfene Zigarettenstummel.
Bob Tideys Einwegfeuerzeug hätte schon vor zwei Tagen im Müll landen sollen. Er musste es mehrere Male versuchen, bevor er ein winziges Flämmchen erhielt. Er beugte sich vor, die Hände schützend vor der Silk Cut, als sein Handy klingelte.
Tidey ließ das Flämmchen erlöschen.
»Ja?«
Die Stimme war kratzig, unverkennbar.
»Die Sache, über die wir gesprochen hatte, Mr Tidey – Sie sagten, Sie wissen schon, wir könnten uns mal unterhalten. Schauen, ob da was zu machen ist.«
»Kommt drauf an, Trixie. Der Junge muss reden, nur mit mir, geht auch nicht in die Akte. Sagen Sie ihm –«
»Hab ich schon. Ich denke, das geht klar.«
»Gut.«
»Wir müssen reden, Mr Tidey.«
»Hören Sie, ich bin gerade in einem Meeting. Ich komme vorbei, sobald ich kann.«
»Das wäre spitze.«
»Ich verspreche nichts, o. k.?«
»Wie Sie meinen – ist Ihre Ansage, Mr Tidey.«
Es brauchte mehrere Anläufe, das Feuerzeug in Gang zu kriegen. Tidey nahm einen tiefen Zug und saugte wie verrückt an der Silk Cut. Leichte Zigaretten waren seiner Meinung nach Beschiss – es bedeutete nur, dass er doppelt so viele rauchte. Er sollte wieder zu den Rothmans zurückkehren.
Das Gericht hatte über die vergangenen fünfundzwanzig Jahre einen erheblichen Teil von Bob Tideys Arbeitsleben verschlungen, und normalerweise war die Routine im Gerichtssaal etwas, das er begrüßte und genoss. Normale Bürger näherten sich dem Gericht nur ungern, als Angeklagte, Prozessierende oder Zeugen. Für die Polizei war das Gericht das Ziel, dem Monate harter Arbeit gewidmet waren – und der Ort, an dem man seinen Fall in den Siegerring führen oder ihn den Bach runtergehen sehen musste. Bob Tidey fühlte sich hier zu Hause.
Dem glänzenden, neuen Strafgericht fehlte das historische Gewicht des alten Four Courts, dessen Kraut-und-Rüben-Grundriss und die unzähligen Ecken und Winkel, in denen stille Übereinkünfte getroffen wurden. Stattdessen bot es Licht und Raum, Technologie und Komfort, all den Schnickschnack, den sich die Rechtsgemeinschaft einer stolzen und wohlhabenden kleinen Nation nur wünschen konnte. Das Gebäude war erdacht worden in jenen üppigen Zeiten, als Geld im Überfluss vorhanden war. Es hatte so viel von dem Zeug gegeben, dass die richtigen Leute große Boni verdienten, indem sie den ganzen Tag dasaßen und sich neue Dinge ausdachten, für die man es ausgeben könnte. Die Tische der Golden Circles, der exklusiven Kreise, bogen sich unter dem Gewicht des Fests. Ihre Verehrer drängten in das Glücksspiel mit Immobilien, und es fiel genügend für die Mindestlohnebene ab, um alle bei Laune zu halten. Jeder wusste, das Geldkarussell würde so lange rundlaufen, solange nicht zwei, drei Dinge auf einmal schiefgingen – und dann gingen gleich vier oder fünf Dinge zugleich schief.
Zu der Zeit, als das glänzende, neue Strafgericht seine Pforten öffnete, war klar, dass die Geldschwemme Einbildung gewesen war. Zuerst sah es fast wie ein technischer Defekt aus, so, als müsste jemand eine kleine kniffelige Rechenaufgabe lösen. Dann brachen die Immobilienpreise ein, Jobs verschwanden, Fabriken und Unternehmen, die es Jahrzehnte gegeben hatte, machten über Nacht dicht. Hunderttausende Häuser und Wohnungen standen leer, Hunderte nicht fertiggestellte Anwesen, in denen niemand lebte oder jemals würde leben wollen, alle gebaut mit geborgtem Geld, um die Steuererleichterungen zu nutzen. Das Wissen, dass all das Schulterklopfen und die Arroganz der letzten zehn Jahre auf Bullshit fußten, ließ das Land erröten wie einen Teenager, der beim Posieren vor einem Spiegel erwischt worden war.
Bob Tideys Geschäft waren Recht und Ordnung, und was auch immer sonst noch so baden ging, es würde immer harte Männer und windige Typen geben und das Bedürfnis nach jemandem, der ihnen Manieren beibrachte. Er hatte Gehaltskürzungen hingenommen, aber mit ihnen konnte er leben. Im Moment brauchte er nicht viel.
Zuerst hatte er die Atmosphäre des Four Courts vermisst, wo man mit wenig ausgekommen war und in dem heutzutage ausschließlich die lukrativen Zivilrechtsstreitigkeiten verhandelt wurden. Aber egal wo die juristischen Wettkämpfe ausgetragen wurden, Tidey war mit den komplizierten Vorbereitungen der Fälle vertraut, mit der Anspannung, dem Absturz nach dem Prozess. Machte man seine Sache richtig, geschah es nicht oft, dass die Schurken es schafften, ihren Hals aus der Schlinge zu ziehen. Und wenn es ihnen doch einmal gelang, was selten vorkam, konnte er warten. Die Sache mit Straftätern ist, dass sie einem für gewöhnlich eine Revanche geben.
Heute jedoch war es das erste Mal, dass er in einer anderen Rolle als der eines Ermittlers ins Gericht kam. In ein paar Minuten würde er in einem Gerichtssaal im vierten Stock sein und sich darauf vorbereiten, einen Meineid zu leisten.
Scheiß drauf.
Wie man sich bettet, so liegt man. Beschweren gilt nicht.
Hat man nach einer angeblich begangenen Straftat einmal eine Zeugenaussage gemacht, gibt’s kein Zurück mehr. Wenn man dann in den Zeugenstand tritt und vom geschriebenen Wort abweicht, wird der Verteidiger die nächste halbe Stunde darauf verwenden, auf einem herumzuhacken.
Sagen Sie, Detective Sergeant, haben Sie damals gelogen oder lügen Sie jetzt?
Er hatte die Fragen zu jenem Abend in Brerton’s Pub, nachdem sich der Tumult gelegt hatte, so einfach wie möglich beantwortet.
»Ich habe nichts gesehen.«
»Wir nehmen die Aussage für alle Fälle auf, nur fürs Protokoll.«
»Kein Problem.«
Ich hörte, wie es irgendwo hinter mir unruhig wurde, und habe versucht, es zu ignorieren. Ich dachte, es wäre einfach nur jemand laut geworden, so wie es in Pubs eben manchmal ist. Als ich mich schließlich umdrehte, was alles schon vorbei.
Ende Gelände.
Nichts, was der einen oder anderen Partei helfen oder schaden konnte.
Als er sich an jenem Abend im Brerton’s auf seinem Sitz an der Bar herumdrehte, waren die Schlagstöcke schon in vollem Schwung. Zwei Maulaffen landeten in Handschellen und dann, nach einem kleinen Ausflug in die Beaumont-Notaufnahme, für eine Nacht in den Zellen der Turner’s Lane.
Die hatten’s nicht anders gewollt.
Die Klugscheißer, sechzehn, siebzehn, vielleicht zwanzig Jahre alt oder so, der Alkohol machte sie mutig. Laut, die großen Macker, die mit gar nicht lustigen, beleidigenden Bemerkungen im Pub um sich warfen, dann lachten und die Stammgäste herausfordernd anstierten, bis diese wegsahen. Einem ängstlichen jungen Barmann, der sie bat runterzukommen, empfahlen sie, sich zu verpissen. Die Klugscheißer lachten so sehr, dass sie ihre Augen zusammenkniffen und sich auf ihren Stühlen hin und her wiegten.
Nach einem langen Tag ohne Mittagessen und zurück von einer ergebnislosen Reise zu einem potenziellen Zeugen in einem Versicherungsbetrug hatte Bob Tidey nur schnell einen Happen zu sich nehmen wollen. Als die beiden Uniformierten das Brerton’s betraten, angefressen, als hätten sie ihre Pause unterbrechen müssen, wurden die Maulhelden ganz fix wieder nüchtern. Genau das, was einem gerade noch gefehlt hat, wenn es Dutzende Leute gibt, die sogar Minijobs hinterherjagen: ein Termin vor Gericht und eine Verurteilung wegen Rowdytums in der eigenen Akte. Plötzlich sahen die zwei wie die dämlichen kleinen Jungs aus, die sie waren. So hätte es enden sollen, mit einer Verwarnung und einem Pubverweis. Doch gerade als die Klugscheißer Richtung Ausgang stolzierten, als wollten sie allen weismachen, dass sie ohnehin vorgehabt hatten zu gehen, winkte einer der beiden Beamten sie mit gekrümmtem Finger zurück und rief ihnen hinter her: »Entschuldigt euch mal bei den Gästen, Jungs. Und zwar so, dass wir’s glauben.«
Die zwei Maulaffen standen unbeholfen da, ihre Gesichter eine Mischung aus Verlegenheit, Angst und Wut.
»Es ist vorbei«, sagte einer der beiden.
Der Garda zog eine Augenbraue hoch. »Ich höre nichts, was nach Reue klingt.«
Das andere Großmaul konnte die Wut nicht aufhalten, die sich ihren Weg durch die Angst hindurchbahnte. »Fick dich.«
Das war wie ein Startschuss, und die beiden Polizisten und die beiden Klugscheißer gingen aufeinander los. Vier junge Männer taten das, wonach sich eine bestimmte Sorte junger Männer immer sehnt – Hörner zeigen.
Bob Tidey hatte einen Schluck vom wässrigen Pubkaffee genommen. Er hörte das Geräusch von Schlagstöcken, die auf weiches Gewebe trafen. Er schaute auf und sah einen Strahl Blut horizontal vom Mund des größeren der beiden Klugscheißer wegfliegen. Er sah, wie der andere sich hinhockte, die Hand schützend vor das Gesicht gestreckt, dann hörte er einen Schrei und den Schlagstock, der die Hand wegschlug, dann einen Rückhandschlag mit dem gleichen Gummiknüppel, der auf die eine Gesichtshälfte des Großmauls klatschte.
Das Ganze dauerte zwanzig Sekunden, höchstens. Tidey schluckte den Rest seines Kaffees herunter, kaute auf, was von seinem Schinken-Käse-Sandwich übrig war, und ging.
»Bob?«
Der Anruf kam vier Stunden später, als Tidey zu Hause war und sich die Höhepunkte eines Champions-League-Spiels ansah, in dem es keine gab.
»Derek Ferry, Turner’s Lane.«
»Derek, ist ja ewig her.«
Sie hatten ungefähr zur gleichen Zeit bei der Garda angefangen, hatten einige Monate auf dem gleichen Review gearbeitet.
»Die Sache ist die, Bob, zwei unserer Jungs haben heute Abend unten in Brerton’s ein Paar Suffköppe wegen ungebührlichen Benehmens aufgegriffen. Einer der Jungs hat dich erkannt, ist zurückgegangen, um mit dir zu reden, aber du warst weg.«
»Hatte mein Sandwich aufgegessen, gab keinen Grund, länger zu bleiben.«
»Was ich gehofft hatte – die beiden Besoffenen – es hat sich herausgestellt, dass einer von denen der Sohn eines Beraters des Handelsministers ist.«
»Das ist Pech.«
»Die Eltern machen einen Riesenaufstand, haben einen Fotografen vorbeigeschickt, damit er Aufnahmen der blauen Flecken macht. Unsere Jungs klagen die zwei Idioten wegen Angriff auf einen Garda an. Wahrscheinlich das Beste, was man machen kann, unter diesen Umständen.«
Wohl wahr. Verpasst man dem Sohn eines Typen mit Beziehungen eine Abreibung, sorgt das für Wirbel. Das Beste ist, man legt ihm irgendetwas Glaubwürdiges zur Last, und schon sind die Eltern und ihre Rechtsbeistände in der Defensive. Höchstwahrscheinlich einigen sich alle daraufhin zurückzurudern, und es ist, als wäre nichts geschehen.
»Ich habe nichts gesehen«, erklärte Tidey.
»Die Jungs haben sich nur gefragt, ob –«
»Tut mir leid, Derek, ich hab mit dem Rücken zum Geschehen gesessen.«
Ferry hatte nur kurz gezögert, und als er sprach, gelang es ihm, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Wir nehmen die Aussage für alle Fälle auf, nur fürs Protokoll.«
»Kein Problem.«
Sollte diese Sache vor Gericht landen, war Tidey nicht gewillt, ein Zeuge der Anklage zu sein. Ihn verlangte wenig danach, zwei besoffenen Halbstarken einen Schuldspruch anzuhängen, die das Pech gehabt hatten, auf zwei Bullen zu treffen, die genauso begierig gewesen waren, alles in Sichtweite mit ihremTestosteron zu besprühen. Andererseits war es der sichere Weg in die berufliche Isolation, wenn er den Dilettantismus zweier Uniformierter bezeugte. Unter bestimmten Umständen wäre es das Richtige – aber es lag ihm nichts daran, seine Karriere auf dem Altar der Gerechtigkeit für zwei besoffene Deppen zu opfern.
Es ist eine Regel des Lebens: Wenn Trottel – in Uniform oder ohne – eine hirnrissige Schlägerei anfangen, lass sie machen. Und als zwei Halbstarke eine Anklage wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens traf, hätte sie mit einer schnellen Geldstrafe aus der Welt geräumt werden sollen, Ende der Durchsage.
Aber die Eltern dieser Halbstarken holten ein Team von juristischen Schwergewichten ins Boot, und jeder hatte Angst nachzugeben, sodass Monate später Zeit im Gerichtssaal verschwendet wurde.
Tideys Aussage war so nichtssagend, dass sein Name nicht auf der ursprünglichen Zeugenliste gestanden hatte. Dann, am Abend zuvor, hatte er den Anruf erhalten, der ihn zum Strafgericht bestellte.
Am besten blieb er bei seiner Geschichte in der Aussage. Rein in den Zeugenstand, raus aus dem Zeugenstand und raus aus der ganzen Sache.
Er zerdrückte den Stummel der Silk Cut, warf ein Tic Tac ein und ging wieder rein.
»Sergeant Tidey?«
Der großgewachsene Anwalt mit dem faltigen Gesicht wartete schon, als Bob Tidey in der vierten Etage aus dem Fahrstuhl trat. Sein Vorname war Richard und sein beständig mürrischer Gesichtsausdruck hatte ihm den Spitznamen Depri Dick verschafft. Er vertrat die Anklage in dem Fall, in dem Tidey Zeuge war. »Auf ein Wort, wenn Sie gestatten?«, bat er. In der einen Hand hielt er einen Stapel Papiere.
Tidey nickte. Depri Dick führte sie zu der gläsernen Begrenzung mit Blick auf den riesigen, kreisförmigen Lichthof, um den herum das Gebäude konzipiert worden war. Er nahm seine Perücke ab, strich sich über das dünne, graue Haar und setzte die Perücke wieder auf. Er verbrachte einige Sekunden damit, sie vorsichtig zu justieren, während er auf die kleinen Figuren blickte, die im Erdgeschoss in der Lobby herumwuselten. Er blickte zu Tidey auf wie ein Arzt zu einem Patienten, dessen Befunde uneindeutig sind.
»Wir haben da ein Problem. Oder, um genau zu sein, Sie haben da ein Problem.«
Besser geht’ s nicht.
Mit federndem Schritt die Henry Street hinunter, die warme Vormittagssonne über sich und einen freien Tag vor sich.
Fühlt sich gut an.
Stolz schwang in Vincent Naylors Gang mit. Zehn Tage war es her, seit er aus dem Gefängnis entlassen worden war.
In der Fußgängerzone war heute Morgen nicht viel los. Er fing einen bewundernden Blick ein von einer Frau mit blonden Haaren und Hängeohrringen, die halb so groß waren wie ihr Gesicht.
Und sieht gut aus.
Vincent hatte dunkle, lockige Haare. Alles an ihm zierte seine hochgewachsene, schlanke Gestalt, angefangenen bei seiner Tag-Heuer-Sonnenbrille bis hinunter zu seinen schwarzen Converse-Sneakers, die er sich gleich in den ersten Tagen, nachdem er aus dem Joy – kurz für Mountjoy Prison – rausgekommen war, gekauft hatte. Er hatte sich einen neuen Stil gegönnt – blaugestreiftes Hemd von Thomas Pink, graue Jacke von Pull and Bear, Sean-John-Jeans.
Er bog links zu HMV ein.
Zurück zum Ort des Geschehens.
Er nahm seine Sonnenbrille ab, steckte sie sich ans V seines Hemdes und lief die Stufen, zwei auf einmal, hoch zur DVD-Abteilung. Dann scharf nach rechts …
Halb in Erwartung, auf den Freak zu treffen.
Kleiner Pisser.
Morgens war er meist früh wach und unterwegs, fuhr runter an den Strand nach Clontarf zum Joggen – die Mischung aus Freiheit, frischer Luft und Strecken von Muskeln und Sehnen versetzte ihn in einen Rausch. Der Körper, erklärte Vincent oft seinem Bruder Noel, ist der Tempel der Seele.
Heute hatte er das Laufen ausfallen lassen. Vincent war im HMV auf der Suche nach einer Tommy-Tiernan-DVD. Noel hatte sie ihm empfohlen. »Der ist zum Brüllen«, hatte er gesagt. Vincent würde heute Abend einige seiner Kumpels in Noels Haus in Coolock empfangen. Ein paar Bierchen zischen, einen Happen essen, eine DVD schauen und abfeiern. Die Wiedersehenspartys waren Teil des Funs, aus dem Gefängnis zu kommen.
»Verzeihung, aber –«, hatte der Freak mit seinem zierlichen Stimmchen gesagt.
An jenem Nachmittag vor vierzehn Monaten war Vincent Naylor gerade im HMV angekommen, an den neuen CDs und DVDs vorbei in Richtung Treppe gelaufen, auf der Suche nach einer Columbo-Box. Er hatte sie da oben einige Tage zuvor gesehen, zu ’nem Spottpreis. Seine Oma vergötterte Peter Falk. Sie hatte die meisten der Columbo-Episoden gesehen, aber das machte nichts. Bekam sie die DVDs erst einmal in die Finger, würde man eine Brechstange brauchen, um sie von der Glotze zu eisen.
»Links halten«, erklärte der Freak. »So lautet die Regel.«
Welche verdammte Regel?
Freak – es stand ihm auf der Stirn geschrieben. Kragenloses Hemd, schwarze Weste und Jeans, er trug ein kleines Pete-Doherty-Hütchen und eine Sonnenbrille, und – ohne Mist – die Sonnenbrille saß auf dem Rand des Huts, was ihm cool vorgekommen sein muss, als er sich am Morgen im Spiegel betrachtet hatte.
Sie trafen sich auf halber Treppe, kurz bevor Vincent die scharfe Rechtskurve erreicht hatte, und hätte der Freak seine dumme Klappe gehalten, wäre alles gut gewesen. Vincent stand rechts, seine Finger strichen über den Handlauf aus Metall. Er hatte den kleinen Pisser gar nicht gesehen, und wenn dieser keinen Aufstand gemacht hätte, wäre Vincent vielleicht sogar um ihn herumgegangen – vorausgesetzt, er hätte keinen anderen Ärger gemacht – obwohl – wahrscheinlich nicht.
»Hast du ein Problem?«, hatte er den Freak gefragt.
Der Freak stand nur da, auf der Innenseite der Treppe, mit seinem kleinen überheblichen Gesicht, schaute auf Vincent herab, warf dem Security-Typen einen Blick zu, wohlwissend, dass ihm nichts passieren würde, solange er im Sichtfeld des Türstehers war. Sein Gesicht aber verriet ihn. Kleine rote Schatten krochen über seine Wangen.
Vincent Naylor brachte ihn dazu, den Blick abzuwenden, neigte seinen Kopf zur Seite, schaute dem Freak direkt in die Augen und brachte sein Gesicht näher – nicht mehr als fünf, zehn Zentimeter. Der Freak blinzelte. Er seufzte abschätzig, trat vom Geländer weg, lief um Vincent herum, und Vincent drehte sich um und beobachtete, wie er ging. Er wusste, dass der kleine Pisser zurückschauen würde, also legte er ein Lächeln auf und wartete, und als sich der Freak herumdrehte und zurückblickte und Vincent dort stehen sah, musste es dieses verächtliche Lächeln gewesen sein, das dem Freak eine Ladung seiner eigenen Dämlichkeit verpasste. Sein Gesicht ging in Schamesröte auf und er steuerte dem Ausgang zu.
Wahrscheinlich fühlte er sich sicher genug, denn der Freak drehte sich noch einmal um und rief laut genug, dass es alle im Erdgeschoss hören konnten, sogar über das Dröhnen eines blöden Hip-Hop-Songs hinweg: »Penner! Assi!«
Vincent war mit einem Sprung unten. Plötzlich kam der Freak in Gang, beschleunigte zur Tür hinaus, auf die Straße, nach rechts und in Richtung The Spire, dem spitzen Wahrzeichen Dublins.
Der Security-Typ hielt eine Hand beschwichtigend hoch und meinte: »Immer mit der Ruhe«, aber Vincent war schon an ihm vorbei, nach vorne gebeugt, Adrenalin in den Beinen.
Der Freak war knapp zwanzig Meter vor ihm. Er rannte wie auf Blumenstängeln durch die lose Schar Kaufwilliger. Vincent war sich sicher, dass dem Freak sein schäbiges kleines Herz bis zu seinem dürren Hälschen schlug und sein dämliches kleines Hirn wie ein Spatz im Schatten eines Habichts flatterte. Vincents Wut verflog, und er grinste. Er legte noch einen Zahn zu und genoss die Leichtigkeit, mit der er die Lücke zwischen ihnen beiden schließen konnte. Der Freak hatte mit Müh und Not die Kreuzung zur Moore Street hinter sich gelassen.
Als Vincent ihn einholte, schubste er ihn ein wenig an der Schulter, und der Freak stolperte nach vorn, seine Knie schlugen auf den Boden, dann seine Hände, dann sein Gesicht; als seine HMV-Tasche auf das Kopfsteinpflaster traf, gab es ein Geräusch, als würde im Inneren etwas zerbrechen. Das Pete-Doherty-Hütchen lag auf dem Boden, und Vincent juchzte kurz auf, als er auf dessen Sonnenbrille trat.
»Wieso so eilig, Klugscheißer?«
Er trat dem kleinen Pisser in die Rippen. Dieser rollte sich auf die Seite und stützte sich mit einer Hand auf, um sich auf ein Knie zu stemmen. Er kreischte wie ein Mädchen, als Vincent sich auf seine Finger stellte. Der nächster Tritt brach dem Freak die Nase, und das war der Moment, in dem ein Kaugummi kauender Security-Typ von irgendeinem der Läden Vincent zur Seite stieß und anordnete: »Das reicht.« Ein zweiter Wachmann erschien auf der Linken, hob eine Hand und meinte: »Verschwinde.«
Vincent nickte und antwortete: »Klar doch«, zog seinen Fuß zurück und trat dem Freak noch ein letztes Mal so richtig in die Rippen. Dann drehte er sich um, bereit zu verduften, da entdeckte er einen Bullen, keine zwei Meter entfernt, der rasch näher kam. Jemand streckte einen Fuß aus, und als Vincent kehrtmachte und losrannte, strauchelte er und ging zu Boden.
Er sah zu dem Garda auf, und das Arschloch hob plötzlich – wie einer, der mit einem Zaubertrick angibt – einen Schlagstock. »Gib mir ’nen Grund«, forderte ihn der Garda auf.
Sechs Monate später legte Vincents Anwalt den Füller nieder, lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück und erklärte: »Am besten du sagst, seine Bemerkungen haben dich provoziert, du hattest das Gefühl, dass du und deine Familie zutiefst beleidigt worden seien, und du weißt nicht, was in dich gefahren ist.«
»Ich werde mich nicht schuldig bekennen«, entgegnete Vincent und der Anwalt schüttelte den Kopf.
»Zwölf Monate«, hatte der Richter verkündet, als der Fall vor Gericht kam, und Vincent war nach acht draußen.
Jetzt, oben im HMV, schaute sich Vincent die Columbo-Box an. Billig wie noch nie. Aber kein Grund mehr, sie zu kaufen: Seine Oma war in die Kiste gestiegen, drei Monate, bevor Vincent entlassen wurde. Als es passierte, hatte Vincent Haftaussetzung aus familiären Gründen beantragt, aber es war absolut zwecklos angesichts der Tatsache, dass es gerade mal zwei Tage her war, dass er einem Schließer, der es nicht anders gewollt hatte, ins Gesicht gespuckt hatte.
Er durchforstete die Komödien und besah sich die Tommy-Tiernan-DVD. Schien o. k. zu sein. Er ertappte sich dabei, wie er ganz beiläufig den Laden kurz mal abcheckte. Nur ein pickeliger Loser an der Kasse. Vincent hatte eine breite, tiefe Tasche in seiner Jacke.
Dämlich.
Er ging zur Kasse und zahlte.
Nur Versager gehen das Risiko Schwedischer Gardinen für eine DVD ein.
Früher oder später, das wusste Vincent, würde er wieder im Gefängnis landen. So waren die Spielregeln.
Du kennst die Risiken und meistens, wenn du gut genug bist, kommst du ungeschoren und mit einem Gewinn davon. Früher oder später ist die Glückssträhne zu Ende, und das ist das Lehrgeld, das du zahlst. Aber die Sache mit dem Freak – nicht noch mal so ’nen Mist. Das bringt keine Punkte. Die Monate im Joy hatten ihn runterkommen lassen, hatten ihm Zeit gegeben, über alles nachzudenken.
Sich den Freak vorzuknöpfen hatte Spaß gemacht, aber der Lohn war das Risiko nicht wert. Keinen emotionalen Scheiß mehr, von jetzt an nur noch reines Business. Vincent Naylor war sich sicher, dass er es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht würde verhindern können, dass ihn eines Tages das Glück verließ. Doch bis es soweit war, würde er es clever anstellen. Keine Krümelkacke, keine waghalsigen Schachzüge. Reines Business. Business ist Business und Spaß ist Spaß. Und stellt man das Erste richtig an, hat man genügend Zeit fürs Zweite.
Dem Schließer ins Gesicht zu spucken – das war so ein Rückfall. Vincent hatte sich ein, zwei Tage lang verflucht, aber drauf geschissen, er war kein Heiliger.
So wie Vincent es sah, gab es zwei Arten von Arbeit. Die Routinejobs – die sind gut für das nötige Kleingeld. Ein paar Hundert hier, ein paar Hundert da – Jobs, die sicher und einfach sind. Dann gab es noch das große Geschäft – vielleicht nicht mehr als zwei Dinger pro Jahr. Der Vorteil ist, die bringen so viel Geld, dass es eine Weile dauert, bis man es ausgegeben hat, und das lohnt das höhere Risiko, ’ne Weile im Joy einzusitzen. Das nächste Mal, wenn Vincent Naylor ins Gefängnis ginge, würde es für etwas sein, das es wert war.
Der Verteidiger schaute Bob Tidey über den Brillenrand hinweg an. »Das sind Sie, nicht wahr, Detective Sergeant?« Er zeigte auf einen riesigen Flachbildschirm, einen von mehreren, die der Richter, die Geschworenen und der Zeuge sehen konnten. Der Film war angehalten worden, das Bild von schlechter Qualität.
»Scheint so«, antwortete Tidey.
»Und in diesem Bild schauen Sie wohin?«
»Was wir hier sehen«, führte Tidey aus, »ist nur ein Schnappschuss, ein kurzer Augenblick eines Vorfalls, der sehr schnell ablief.«
»Ganz im Gegenteil, Detective Sergeant«, sagte der Verteidiger. »Es handelt sich um ein Video, keinen Schnappschuss, und es führt Ihre eidliche Aussage ad absurdum, oder etwa nicht?« Er hob eine kleine Fernbedienung. »Schauen wir es uns doch noch einmal an.«
Draußen vor dem Gerichtssaal hatte Depri Dick darauf verzichtet, die bittere Pille zu versüßen. »Die haben ein Video – nur ein paar Sekunden – von dem Vorfall im Brerton’s. Jemand hat es mit dem Handy aufgenommen.« Erneut hatte er die Perücke abgenommen, sie über seine Hand drapiert, den Kopf geschüttelt. »Es ist sehr wenig zu sehen – zwei Schlagstöcke in Aktion. Normalerweise würde das unserem Fall weder helfen noch schaden.«
»Aber?«
»Die Kamera bewegt sich ein bisschen und für ein, zwei Sekunden sind Sie im Bild, an der Bar sitzend, den Blick zum Geschehen gewandt. Dann schwenkt sie zurück und es ist deutlich zu sehen, wie die beiden Polizisten die Angeklagten schlagen.«
Er hielt ein Blatt Papier hoch.
»›Ich hörte, wie es irgendwo hinter mir unruhig wurde‹, – das ist, was Sie zu Protokoll gegeben haben. ›Als ich mich schließlich umdrehte, war alles schon vorbei.‹«
Bob Tidey drücke mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe herum. »Wieso ist das jetzt ein Problem?«
»Die hatten zunächst nicht vorgehabt, Sie vorzuladen. Es schien keinen Sinn zu machen – Sie hatten den Vorfall nicht gesehen – laut Ihrer Aussage. Gestern hat einer der Verteidiger sich auf das Video vorbereitet. Das Ganze dauert ungefähr zwölf Sekunden, die Aufnahme mit Ihnen eins Komma sieben Sekunden; einer seiner Kollegen sah es und hat Sie erkannt.«
»Das beweist nichts.«
»Ihre Aussage behauptet etwas, von dem das Gericht weiß, dass es nicht wahr ist – in Wirklichkeit haben Sie gesehen, was passiert ist.«
»Beweist trotzdem noch nichts, so oder so.«
Depri Dick schniefte. »Es geht nicht immer darum, was man beweisen kann.«
Sie gingen in den Gerichtssaal, und eine Minute, nachdem Bob Tidey in den Zeugenstand getreten war, las der Verteidiger Tideys kurze Aussage laut vor.
»Sind das Ihre Worte, Detective Sergeant, gegenüber den Ermittlungsbeamten, Ihren Kollegen?«
»Ja.«
»Sie waren der ranghöchste Beamte, der anwesend war?«
»Ich war nicht im Dienst, ich war in einem Pub, um etwas zu essen.«
»Waren Sie der Senior Garda, der anwesend war?«
»Ja.«
Der Verteidiger nickte übertrieben mit dem Kopf. Er schaute sich im Gericht um, holte tief Luft und hielt ein einzelnes Blatt Papier hoch. Die Theatralik signalisierte den Geschworenen, dass etwas von Bedeutung folgen würde.
»Und sagen Sie mir, wenn Sie so freundlich wären, Detective Sergeant Tidey – hier, vor diesem Gericht, nach feierlichem Eid –, stehen Sie zu Ihrer Aussage?«
»Ich habe den Ermittlungsbeamten erzählt, woran ich mich erinnerte, und dazu stehe ich.«
Der Verteidiger schaute zur Richterbank hoch. »Ich denke, Herr Richter, jetzt wäre ein geeigneter Zeitpunkt.« Der Saaldiener machte den Fernseher an und reichte dem Anwalt die Fernbedienung.
Nachdem das kurze Video ein zweites und dann noch ein drittes Mal gezeigt worden war, immer mit dem Standbild an der richtigen Stelle, verkündete der Verteidiger: »Was das hier beweist, Detective Sergeant, ist, dass Sie die Ereignisse, die Gegenstand dieses Falles sind, eindeutig mitbekommen haben. Auch wenn der Videoausschnitt kurz ist, zeigt er doch, dass Sie dem Geschehen zugewandt waren.«
»Dieser Abend war –«
»Und ich möchte behaupten, dass wir hieraus schließen können, dass Sie sich – aus irgendeinem Grund – sehr bemüht haben, nicht wahrheitsgemäß auszusagen, was Sie gesehen haben. Also haben Sie gelogen und gesagt, Sie hätten nichts gesehen. Stimmt das?«
»Das stimmt nicht.«
»Und das Erste, was Sie taten, als Sie heute in den Zeugenstand getreten sind, war zu behaupten – unter einem feierlichen Eid –, dass die Aussage, die Sie darüber gemacht hatten, nichts gesehen zu haben, die Wahrheit wäre, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«
»Das Ganze –«
»Was verheimlichen Sie, Detective Sergeant?«
»Das Ganze war eine Sache von Sekunden – ich habe nicht die Zeit gestoppt und ich habe mir auch nicht aufgeschrieben, wann genau ich mich herumgedreht habe –«
»Entweder haben Sie gesehen, was passiert ist, oder nicht. Was haben Ihre beiden Kollegen denn getrieben, was so … so kriminell, vielleicht, gewesen ist, dass Sie unter Eid gelogen haben, um es zu vertuschen?«
»Ich habe nichts gesehen und das habe ich auch gesagt.«
»Was mich interessiert, ist, ob Sie sich mit den anderen Beamten zusammengetan haben – Beamte, die ihre Schlagstöcke in einer solch offenkundig unverantwortlichen Art und Weise einsetzen –, um das Gericht über den wahren Hergang zu täuschen.«
»Ich habe mit niemandem gemeinsame Sache gemacht.«
»Wenn der ranghöchste Beamte, der vor Ort gewesen ist, unter Eid lügt, folgt daraus, dass eine gewissenhafte Jury begründeten Zweifel haben muss an allen und jedem Aspekt dieses Polizeifalls.«
»Meine Aussage –«
»Ich danke Ihnen, Detective Sergeant.«
Der Verteidiger setzte sich.
Depri Dick erhob sich und stellte Bob Tidey ein paar Fragen, die darauf ausgerichtet waren, die Bedeutungslosigkeit seiner Rolle in dem Fall zu unterstreichen.
Er schien nicht mit dem Herzen dabei zu sein.
Raus aus HMV und froh, wieder in der warmen Sonne zu sein, setzte Vincent seine Sonnenbrille auf und wanderte die Henry Street hinauf Richtung The Spire. Er dachte an Noels Riesen-Ding, zum hundertsten Mal ging er es in Gedanken durch, erwog es von jeder Warte, grenzte die Chance von allem, was schiefgehen konnte, immer weiter ein. Vincent hatte schon einige große Dinger gedreht, aber immer als Teil einer Crew. Das hier war das erste große, bei dem er das Sagen hatte, eigene Leute, für die der Lohn mehr als nur das Geld war.
»Du verarschst mich doch«, hatte er Noel entgegnet, als sein Bruder ihm die Geschichte kurz vor seiner Entlassung brühwarm ins Joy brachte.
»Stockbesoffen und sprudelte wie so ’n Wasserfall auf’m Rücksitz.«
Noels Freund Tommo hatte einen Fahrgast am Taxistand an der oberen Grafton Street aufgesammelt. Die Gaga-Ecke. Drei Uhr am Morgen, der Typ hackedicht und labert über seinen Job – Fahrer eines Geldtransporters. »Das ganze Geld da hinten drin«, erzählte Tommo Noel. »Jedes Mal, wenn der auf Arbeit geht, weiß er nicht, ob ihm nicht der Schädel eingeschlagen wird. Und was bekommt er dafür am Ende des Monats? Peanuts. Und damit nicht genug – jetzt hat er auch noch eine Gehaltskürzung bekommen; er zahlt die verschissenen Steuern, mit denen die Regierung die Banken wieder raushaut. Und da ist er dann, vielleicht noch drei Stunden Schlaf vor sich, dann wieder raus, um eine weitere Ladung Bares von einem Haufen reicher Arschlöcher zum anderen zu karren.«
Tommo hatte immer nur gesagt: »Du hast recht, Mann, was ’ne Scheiße.« Und sich alle Details gemerkt, und als der Fahrgast in sein Haus schwankte – draußen in Ballybrack –, hatte sich Tommo die Adresse notiert.
»Tommo will ’n paar Tausend, aber nichts mit der Sache selbst zu tun haben.«
Als Vincent rauskam, war alles schon klar, Ziel und Vorgehensweise. Alles, was Vincent jetzt noch zu tun hatte, war, ein wenig zu optimieren. Manchmal vergaß Noel das, was auf der Hand lag, wie die heißen Untersätze abzufackeln, damit die Polizei keine Fingerabdrücke oder Spuren hat, die sie unters Mikroskop legen kann.
An der Moore Street blieb Vincent stehen. Eigentlich hatte er vorgehabt, ein paar Steaks von FX Buckleys zu kaufen, etwas Gutes für die Jungs zu kochen, aber an diesem warmen Tag war ihm eher nach einem Spaziergang. Das Essen würde er später besorgen.
Während er die Henry Street weiter hinauflief, dachte er wieder an den Freak. Es war irgendwo hier oben gewesen, wo das kleine Arschloch zu Boden gegangen war. Er erinnerte sich, wie der seine Zeugenaussage vor Gericht gemacht hatte, mit einer Nase in bleibender Schieflage an der Stelle, an der sie mit Vincents Stiefel in Berührung gekommen war.
Als Vincent in die O’Connell Street einbog, wurde er von der Sonne geblendet, die sich in einem vorbeifahrenden Bus spiegelte. Er hielt inne und stand einfach da, atmete tief. Die Sonne ließ alles in der Stadt sauberer erscheinen, frischer. So verdammt gut, draußen zu sein, und was für ein Wahnsinnsmorgen. Ein Morgen wie gemacht für einen ganz relaxten Spaziergang.
Man weiß nie, was sich so ergibt.
Ursprünglich sollte die Pressekonferenz im Garda-Präsidium abgehalten werden, aber den Medien hatte das nicht gefallen. »Keinen Schnickschnack«, hatte ein Gerichtsreporter Assistant Commissioner Colin O’Keefe erklärt. »Wir brauchen mehr vor der Linse als ein paar hohe Bullen hinter einem Tisch.«
O’Keefe – obwohl allein im Büro und am Telefon – war sehr bemüht, sich seine Verärgerung nicht ansehen zu lassen. Diese Wichser konnten deine Laune hundert Meilen gegen den Wind riechen. Das hier war einer der Fälle, in denen es von Nutzen war, mit den Medien zusammenzuarbeiten, und wenn dies bedeutete, dass er ihnen in den Arsch kriechen musste, dann bitteschön.
»Wie wär’s, wenn wir das Ganze am Schauplatz des Mordes machen?« Der Schmierfink klang eher hoffnungsfroh als fordernd.
O’Keefe überlegte nur kurz, dann antwortete er: »Gute Idee. Ich bereite alles für heute Nachmittag vor.«
»Heute Vormittag wäre besser«, meinte der Schmierfink.
Der Wichser musste unbedingt das letzte Wort haben. »Ist gut«, erklärte O’Keefe gelassen.
Jeder Zentimeter des Schauplatzes, an dem Emmet Sweetman ermordet worden war, war bereits untersucht und freigegeben worden, aber O’Keefe ließ die Beamten einige Meter Absperrband hindrapieren, um dem Bereich jene CSI-Atmosphäre zu verleihen, die dazu beitrug, dass sich die Schmierfinken besonders wichtig vorkamen. Er hatte eine Handvoll Uniformierte besorgt, die herumstehen und wichtig tun sollten. Im Gegenzug für ein vertrauenerweckendes Image der Polizei bei der Arbeit erhielten die Schmierfinken Gelegenheit, sich an einem Tatort herumzutreiben und ihre Lieblingstheorien zum Fall zu testen. Detective Chief Superintendent Malachy Hogg vom National Bureau of Criminal Investigations, der das operative Geschehen der Untersuchung leitete, war auch da, um dem Ganzen Gewicht zu verleihen.
Es gab einige Minuten informelles Frage-und-Antwort-Spiel, wobei O’Keefe und Hogg meist Fragen von Möchtegern-Detektiven beantworteten und positive Dinge über die Untersuchung verlauten ließen, ohne auch nur ein Detail preiszugeben. Ziel der Übung war es, ein Foto in die Zeitung zu bekommen und die Meldung, die Ermittlungen schritten gut voran.
»Assistant Commissioner?« Der Reporter war von der Irish Times, hatte ein aufgedunsenes Gesicht und war von einer Aura der Langeweile umgeben. »Kennen Sie den wissenschaftlichen Bericht, der belegt, dass in Irland derzeit Tötungsdelikte mit Schusswaffen –«
»Ganz ehrlich, ich bin zu sehr beschäftigt, in Kriminalfällen zu ermitteln, um mich negativem wissenschaftlichen Gelaber darüber hinzugeben.« O’Keefe setzte sein süßestes Lächeln auf.
»Forscher an der Universität von Aberdeen –«
»Nächste Frage.«
»Proportional gesehen zeigen die Zahlen, dass Mord durch Schusswaffen in Irland fünfmal häufiger vorkommt als in England und Wales.«
»Nächste Frage.«
Ein weiterer Schmierfink tat, wie ihm geheißen. »Assistant Commissioner, würden Sie sagen, dass die Polizei in dieser Ermittlung keinen Stein auf dem anderen lässt?«
Einen Moment lang dachte O’Keefe, der Schmierfink wolle ihn auf den Arm nehmen, aber der Rindvieh-Ausdruck war zu echt, um aufgesetzt zu sein.
»Keinen Stein auf dem anderen«, bestätigte er.
Als den Zeilenschindern keine weiteren Fragen mehr einfielen, stellten sich O’Keefe und Hogg vor die Tür des Sweetman-Hauses und unterhielten sich, während die Knipser ihre Fotos machten. Es hatte einen Hauch von Drama – die Ermittler an der gleichen Stelle, an der die Killer gestanden hatten, als Emmet Sweetman ein letztes Mal die Tür öffnete.
»Woanders wartet noch echte Arbeit auf mich«, erklärte Hogg.
»Sieh es als Sühne für deine Sünden an.«
»Macht der Minister Druck?«
»Alle paar Stunden, Anrufe von der Sekretärin mit Fragen nach Updates. Der Scheiß hier dauert nur ein paar Minuten und hilft dabei, dass nicht der Eindruck entsteht, die Jagdsaison auf reiche Arschlöcher hätte begonnen.«
Seit dem Mord an Sweetman waren ein Ziegelstein durch die Scheibe einer Bank geflogen und zwei Molotowcocktails vor ihrer Tür gelandet. In voneinander unabhängigen Vorfällen waren drei mittlere Banker von Bürgern angegriffen und der Sohn eines Gesellschafters eines führenden Bauträgers bewusstlos getreten worden, als er aus einem Nachtclub kam. Am beängstigendsten war, dass ein ehemaliger Geschäftsführer einer anderen Bank von einer Geschäftsreise aus Chicago zurückkehrte, um zwei Einschusslöcher im Wohnzimmerfenster seiner Villa vorzufinden. Die Medien waren einer Bitte der Polizei nachgekommen, diese Vorfälle herunterzuspielen. Wenn Banker und Planer zu verprügeln in Mode kam, konnten die Dinge in einem Umfeld voller potenzieller Ziele schnell außer Kontrolle geraten. Mit der heutigen Fotosession hatten sie die Medien sicher auf ihrer Seite. Zudem würde es die Runde machen, dass die Polizei den Mord an Sweetman immerhin so ernst nahm, dass zwei ranghohe Beamte hinter ihren Tischen hervor- und höchstpersönlich an den Ort des Verbrechens kamen.
»Wenn wir das das nächste Mal machen«, murmelte Hogg mit Blick auf die Schmierfinken in dreißig Meter Entfernung, hinter der blau-weißen Absperrung, »darf ich nicht vergessen, meine Lupe mitzubringen und auf allen Vieren nach Spuren am Boden zu suchen.«
Einer der Schreiberlinge rief: »Können wir vielleicht ’nen Blick hineinwerfen?«
O’Keefe legte eine Miene des Bedauerns auf: »Ich fürchte nicht, Jungs – verfahrenstechnische Gründe.« Er wandte sich wieder an Hogg. »Ergebnisse aus der Ballistik?«
»Da staut es sich, aber ich nehme an, sie werden bald da sein.«
Zwei Minuten später, nach getaner Pflicht, stieg O’Keefe in seinen Wagen. Ein junger Reporter, den er nicht kannte, kam herübergeeilt, fest entschlossen, ein paar exklusive Zeilen zu ergattern – ein kleiner Typ im Anzug und mit hypergegeltem Haar. Er sah aus wie jemand, der sich viel Zeit nahm, sein Äußeres aufzupolieren, jedoch nicht besonders gut darin war.
»Anthony Prendergast, Daily Record.«
»Wie kann ich Ihnen helfen, Anthony?«
»Mit einem ausführlichen Interview, egal wann, egal wo.«
»Warum sollte ich Ihre Kollegen verärgern?«
»Ich schreibe es auf, gebe es Ihnen, sodass Sie sichergehen können, dass alle Angaben korrekt sind, dann –«
»Keine Chance.«
Anthony lächelte. »Fragen kostet ja nichts – wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
»Das ist allerdings wahr, mein Junge.«
Während O’Keefe behutsam mit seinem Wagen losfuhr, winkte er der Medienmeute zu. Normalerweise würde er auf der Rückbank eines offiziellen Gefährts sitzen und sich chauffieren lassen. Aber in den heutigen Zeiten der Kürzungen im öffentlichen Dienst und der Erhebung von Abgaben empfahl es sich, die Privilegien eines höheren Dienstgrades nicht zur Schau zu stellen.
Oh, na jetzt wird’ s interessant.
Vincent Naylor unterbrach seinen Gang nicht, glotzte nicht in den Schuhladen hinein, sondern ging einfach weiter. Heutzutage kannst du dir nicht einmal die Eier kratzen, ohne dass eine Überwachungskamera das einfängt.
Um die würde er sich schon kümmern, kein Ding.
In einem Laden für Campingzubehör fand Vincent eine Regenjacke aus Plastik, quadratisch-praktisch eingetütet in eine Plastiktasche – knallrot. Genau das Richtige.
Zweiundzwanzig verdammte Euro. Eine Plastikregenjacke in einer herzallerliebsten Plastiktasche – ihr wollt mich wohl verdammt noch mal verarschen.
Von wegen die Preise gehen in den Keller – so ein Quatsch …
Platz für den Regelmantel war da, hinten in die Jeans reingestopft, unter seiner Jacke – Vincent zog es einen Moment lang in Erwägung.
Ist das Risiko nicht wert.
An der Kasse, die Sonnenbrille aufs Haar geschoben, bezahlte Vincent bei dem Vollbart hinter der Theke und sagte: »Bisschen teuer für ’n Plastikmäntelchen. Da hat wohl der keltische Tiger zugeschlagen, wie?«
»Das ist ein erstklassiges Produkt, Sir, und ich –«
»Abzocker.«