Cover

NICHOLAS
SPARKS

The Choice
Bis zum letzten Tag



Roman

Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel



Inhaltsverzeichnis

Widmung
Prolog - FEBRUAR 2007
TEIL 1
Kapitel 1 - MAI 1996
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel II
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
TEIL 2
Kapitel 15 - FEBRUAR 2007
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog - JUNI 2007
Dank
Copyright

Dank

Okay, ich will ehrlich sein. Manchmal fällt es mir schwer, eine Danksagung zu schreiben – und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Mein Leben als Schriftsteller zeichnet sich durch eine Stabilität aus, die heutzutage wohl ziemlich selten ist. Wenn ich in meinen bisher veröffentlichten Romanen blättere, lese ich zum Beispiel in der Danksagung von Weit wie das Meer oder Das Schweigen des Glücks die Namen von Menschen, mit denen ich auch heute noch zusammenarbeite. Seit den ersten professionellen Schritten habe ich dieselbe Literaturagentin, und ich werde von denselben Pressefrauen, derselben Filmagentin, demselben Anwalt, derselben Grafikerin und demselben Verkaufsteam begleitet. Und für drei der vier Verfilmungen zeichnet ein und dieselbe Produzentin verantwortlich. Das ist fantastisch, aber wenn ich mich bei allen bedanke, komme ich mir immer vor wie eine kaputte Schallplatte. Dabei hat jede und jeder Einzelne meinen aufrichtigen Dank verdient.

Selbstverständlich beginne ich, wie immer, mit meiner Frau Cat. Wir sind schon achtzehn Jahre verheiratet, und unser gemeinsames Leben ist seit jeher ziemlich turbulent: fünf Kinder, acht Hunde (allerdings nicht alle gleichzeitig), sechs verschiedene Wohnorte in drei verschiedenen Staaten, drei sehr schmerzliche Todesfälle in meiner Familie. Zwölf Romane, ein Sachbuch. Das Leben – ein Wirbelsturm. Das war von Anfang an so, und ich kann mir das alles nur mit einer einzigen Frau vorstellen, mit Cat.

Meine Kinder – Miles, Ryan, Landon, Lexie und Savannah – werden immer größer. Ich liebe sie von ganzem Herzen und bin auf jedes von ihnen maßlos stolz.

Theresa Park, meine Agentin bei der Park Literary Group, ist nicht nur eine meiner besten Freundinnen, sondern überhaupt ein wunderbarer Mensch. Sie ist intelligent, charmant, großzügig – ein absoluter Glückstreffer in meinem Leben. Ich möchte mich bei ihr für alles, was sie getan hat, herzlich bedanken.

Auch Jamie Raab, meiner Lektorin bei Grand Central Publishing, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Mit ihrem spitzen Bleistift gibt sie meinen Texten den letzten Schliff, und ich bin froh und dankbar, dass sie mir ihre Klugheit beim Umgang mit Romanen zur Verfügung stellt. Außerdem freut es mich sehr, dass ich sie als Freundin bezeichnen darf.

Denise DiNovi, die fabelhafte Produzentin von Zeit im Wind, Weit wie das Meer und Das Lächeln der Sterne, ist meine beste Freundin in Hollywood, und ich freue mich immer auf die Tage am Filmset – schon allein deswegen, weil wir uns dann sehen.

David Young, der neue Geschäftsführer von Grand Central Publishing (na ja, so neu ist er inzwischen auch nicht mehr, oder?), ist längst ein guter Freund geworden, und auch ihm danke ich von Herzen – ganz besonders, weil ich die schlechte Angewohnheit habe, meine Manuskripte immer in letzter Minute abzugeben. Dafür möchte ich mich hier noch einmal in aller Form entschuldigen!

Jennifer Romanello und Edna Farley sind nicht nur meine Pressefrauen, wir sind auch befreundet, und ich arbeite unglaublich gern mit ihnen zusammen – seit 1996 Wie ein einziger Tag veröffentlicht wurde. Vielen Dank für alles!

Bei Harvey-Jane Kowal und Sona Vogel, die immer das Schlusslektorat machen, bedanke ich mich vor allem auch dafür, dass sie die »kleinen Fehler« aufspüren, die sich unvermeidlich in meine Romane einschleichen.

Howie Sanders und Keya Khayatian bei UTA verdienen meinen Dank – ich hatte bei den Verfilmungen meiner Bücher enormes Glück und weiß eure Arbeit sehr zu schätzen.

Scott Schwimer passt immer gut auf alles auf, und auch ihn betrachte ich längst als Freund. Danke, Scott!

Außerdem geht mein Dank an Marty Bowen, der als Produzent für die Verfilmung von Das Leuchten der Stille verantwortlich ist. Ich kann das Ergebnis kaum erwarten!

Vielen Dank auch an Flag für das schöne Cover der amerikanischen Ausgabe!

Und schließlich möchte ich noch Shannon O’Keefe, Abby Koons, Sharon Krassney, David Park, Lynn Harris und Mark Johnson danken.

Epilog

JUNI 2007

Die gedämpften Farben der Winterlandschaft waren dem üppigen Grün des Frühsommers gewichen. Travis saß auf der hinteren Veranda und hörte die Vögel singen, Dutzende, vielleicht sogar Hunderte zwitscherten und gurrten in den Bäumen, und immer wieder stieg ein Starenschwarm auf und überquerte in einer so geordneter Flugformation den Himmel, dass es aussah wie einstudiert.

Es war Samstagnachmittag. Christine und Lisa spielten mit der Autoreifenschaukel, die Travis letzte Woche für sie aufgehängt hatte. Weil sie in einem langen, niedrigen Bogen schaukeln sollten – anders als bei den üblichen Schaukeln –, hatte er ein paar der niedrigen Zweige abgesägt, bevor er das Seil so hoch wie möglich im Baum befestigt hatte. Vorhin hatte er mehr als eine Stunde damit verbracht, die Mädchen anzustoßen und ihrem vergnügten Lachen zuzuhören. Sein T-Shirt war am Rücken nass geschwitzt gewesen, aber seine Töchter konnten einfach nicht genug bekommen.

»Euer Daddy muss sich mal ein paar Minuten ausruhen«, hatte er schließlich geächzt. »Ich bin müde. Ihr könnt euch jetzt auch gegenseitig anstoßen.«

Man sah ihnen ihre Enttäuschung an, sie zogen einen Flunsch und ließen die Schultern hängen, aber es dauerte nicht lange, da quietschten und kicherten sie wieder fröhlich. Ein Lächeln spielte um Travis Lippen, während er ihnen zuschaute. Er liebte den harmonischen Klang ihrer Stimmen, und ihm wurde warm ums Herz, wenn er sah, wie schön sie miteinander spielten. Hoffentlich blieben sie einander immer so nahe. Wenn er und Stephanie in irgendeiner Weise als Vorbild dienten, dann würden sie, wenn sie älter waren, sogar noch besser miteinander auskommen. Doch solche Dinge wusste niemand im Voraus, man konnte nur hoffen. Hoffnung, das hatte er gelernt, war manchmal das Einzige, was einem Menschen noch blieb. Vor allem in den vergangenen vier Monaten war ihm das noch einmal bewusst geworden.

Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, war das Leben langsam zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Jedenfalls äußerlich. Gemeinsam mit Stephanie hatte er verschiedene Pflegeheime besichtigt, bestimmt ein halbes Dutzend. Vor dieser Aktion hatte er ziemliche Vorurteile gehabt: Pflegeheime waren alle schlecht beleuchtet, die Zimmer schmutzig, verwirrte Patienten wanderten klagend durch die Flure, sogar mitten in der Nacht, und sie wurden von Pflegern bewacht, die ziemlich bedrohlich aussahen. Das traf aber alles nicht zu. Jedenfalls nicht auf die Heime, die er und Stephanie besuchten.

Die meisten waren hell und luftig und wurden von gewissenhaften, klugen, gut gekleideten Männern und Frauen mittleren Alters geleitet, die größten Wert darauf legten, zu beweisen, dass ihre Einrichtung noch hygienischer als die meisten anderen war und dass ihr Personal höflich, einfühlsam und professionell arbeitete. Während sich Travis bei den Besichtigungstouren vor allem überlegte, ob es Gabby hier gefallen würde und ob sie die jüngste Patientin wäre, stellte Stephanie die zentralen Fragen. Sie erkundigte sich, wie die Mitarbeiter ausgewählt wurden, welche Notfallmaßnahmen eingeplant waren; sie überlegte laut, wie schnell auf Beschwerden reagiert wurde, und beim Gang durch die Korridore gab sie zu verstehen, dass sie die gesetzlichen Vorschriften bis ins Detail kannte. Sie entwickelte hypothetische Situationen und fragte, wie die Beschäftigten und die Leitung sich in einem entsprechenden Fall verhalten würden, und sie wollte wissen, wie häufig man Gabby drehen würde, um zu verhindern, dass sie sich wund lag. Manchmal kam sie Travis vor wie eine Staatsanwältin, die einen Verbrecher überführen will, und wenn sie auch den einen oder anderen Heimleiter sicher etwas nervte, war Travis froh darüber, dass sie so gut aufpasste. In seiner Verfassung schaffte er es kaum, einigermaßen zu funktionieren.

Schließlich wurde Gabby mit dem Krankenwagen in ein Heim transportiert, das nur zwei Straßen vom Krankenhaus entfernt lag und von einem Mann namens Elliot Harris geleitet wurde. Harris hatte sowohl auf Travis als auch auf Stephanie einen ausgezeichneten Eindruck gemacht. Stephanie füllte die Formulare aus und deutete dabei an, dass sie Leute im Justizministerium kannte. Ob das stimmte, vermochte Travis nicht zu sagen, aber mit ihrer Beharrlichkeit sorgte sie dafür, dass Gabby ein wunderschönes Einzelzimmer bekam, das auf den Innenhof hinausging. Wenn Travis sie besuchte, rollte er immer als Erstes ihr Bett ans Fenster und schüttelte die Kissen auf. Er stellte sich vor, dass sie sich über die Geräusche im Innenhof freute, wo sich Patienten mit Freunden und Familienmitgliedern aufhielten und plauderten. Und dass ihr das Sonnenlicht guttat. Das hatte sie ihm nämlich einmal gesagt, als er die gymnastischen Übungen mit ihr machte. Außerdem hatte sie ihm eröffnet, dass sie seine Entscheidung nachvollziehen konnte – und froh darüber war. Jedenfalls hatte ihre imaginäre Stimme ihm das mitgeteilt.

Nachdem sie in das Heim verlegt worden war, verbrachte Travis noch eine knappe Woche lang den ganzen Tag bei ihr, damit sie sich gemeinsam an die neue Umgebung gewöhnen konnten. Danach begann er wieder in der Praxis zu arbeiten. Er befolgte Stephanies Rat und blieb anfangs an vier Tagen nur bis ein Uhr, danach löste sein Vater ihn ab. Ihm war nicht klar gewesen, wie sehr ihm der Kontakt zu anderen Menschen gefehlt hatte, und wenn er sich nun mit seinem Vater zum Mittagessen verabredete, hatte er wieder mehr Appetit. Dadurch, dass er regelmäßig arbeitete, musste er seine Besuche bei Gabby entsprechend organisieren. Zuerst brachte er die Mädchen zum Schulbus, anschließend ging er eine Stunde ins Pflegeheim zu Gabby. Nach der Arbeit saß er wieder etwa eine Stunde bei ihr, ehe die Mädchen von der Schule nach Hause kamen. Freitags war er fast die ganze Zeit bei ihr und auch am Wochenende meistens mehrere Stunden. Das hing zum Teil von den Plänen seiner Töchter ab. Gabby hätte darauf bestanden, dass er sich nach ihnen richtete, davon war er überzeugt. Manchmal wollten sie am Wochenende mit zu ihrer Mutter gehen, aber meistens hatten sie keine große Lust, oder sie hatten andere Pläne – Fußballspiele, Kindergeburtstage, Rollschuh laufen. Weil er jetzt nicht mehr mit der Entscheidung konfrontiert war, ob Gabby leben oder sterben sollte, störte es ihn weniger als früher, dass die Mädchen sich immer weiter von ihr entfernten. Seine Töchter taten das, was sie tun mussten, damit ihre Wunden heilten und sie weiterleben konnten. Genau wie er selbst. Er war alt genug, um zu wissen, dass jeder Mensch seine Trauer anders verarbeitete. Nach und nach schienen sie alle ihr neues Leben zu akzeptieren. Und dann, neun Wochen, nachdem Gabby ins Pflegeheim gekommen war, erschien eines Nachmittags die Taube an ihrem Fenster.

Zuerst konnte Travis es nicht glauben. Natürlich wusste er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob es tatsächlich derselbe Vogel war. Woran hätte er das auch feststellen sollen? Grau und weiß und schwarz, mit glänzenden Augen, die aussahen wie kleine Perlen – irgendwie sahen Tauben alle gleich aus, und meistens waren sie ziemlich lästig. Und trotzdem … Instinktiv wusste er, dass es dieselbe war, die auch im Krankenhaus immer an Gabbys Fenster gesessen hatte. Es konnte gar nicht anders sein. Die Taube spazierte auf dem Sims hin und her und erschrak überhaupt nicht, wenn Travis ans Fenster trat. Und auch ihr Gurren klang … vertraut. Eine Million Menschen hätten ihn sofort für verrückt erklärt, und ein Teil von ihm hätte ihnen sogar zugestimmt, und doch …

Es war dieselbe Taube, auch wenn es noch so übergeschnappt klang.

Travis beobachtete sie voller Staunen und Verwunderung. Am nächsten Tag brachte er ein paar Scheiben helles Toastbrot mit, und zerkrümelte es auf dem Fenstersims. Immer wieder hielt er nach der Taube Ausschau, aber sie kam nicht. An den folgenden Tagen war er richtig deprimiert, weil sie sich nicht mehr blicken ließ. Er redete sich ein, sie habe nur vorbeigeschaut, um sich zu versichern, dass Travis immer noch auf Gabby aufpasste. Entweder das – oder sie war gekommen, weil sie ihm sagen wollte, er dürfe die Hoffnung nicht aufgeben und seine Entscheidung sei die richtige gewesen.

Während er jetzt auf der hinteren Veranda saß und an diese Begegnung mit der Taube dachte, erschien es ihm plötzlich ganz seltsam, dass er tatsächlich hier war, seinen spielenden Töchtern zuschaute – und so glücklich sein konnte. Er hatte dieses Gefühl fast vergessen, diese innere Sicherheit, dass alles auf der Welt in Ordnung war. Hatte das Erscheinen der Taube die Veränderungen angekündigt, die sich in seinem Leben anbahnten? Über solche Phänomene nachzudenken, war sicher sehr menschlich, und Travis wusste, dass er den Rest der Geschichte immer und immer wieder erzählen würde – bis an sein Lebensende.

Was war passiert? Es geschah mitten am Vormittag, sechs Tage, nachdem die Taube wieder aufgetaucht war. Travis arbeitete gerade in der Praxis. In einem der Behandlungszimmer wartete eine kranke Katze, im zweiten ein junger Dobermann, der geimpft werden musste. Travis befand sich im dritten Raum und war dabei, einen verletzten kleinen Mischling, halb Labrador, halb Golden Retriever, zu nähen. Er hatte sich eine tiefe Wunde gerissen, als er unter einem Stacheldraht durchkrabbeln wollte. Travis machte den letzten Stich, verknotete den Faden und wollte dem Besitzer erklären, worauf er achten musste, damit sich die Wunde nicht entzündete, als eine Helferin ohne anzuklopfen ins Zimmer gestürmt kam. Verwundert drehte sich Travis um.

»Es ist Elliot Harris«, verkündete die Helferin. »Er möchte Sie unbedingt sprechen.«

»Können Sie nicht seine Nachricht entgegennehmen? «, fragte Travis mit einem Blick auf den Hund und seinen Herrn.

»Aber er sagt, es ist dringend.«

Travis entschuldigte sich bei dem Hundebesitzer und bat die Helferin, kurz im Raum zu bleiben. Dann ging er in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Das Telefon blinkte, um zu signalisieren, dass Harris in der Leitung wartete.

Rückblickend wusste Travis nicht mehr, was er eigentlich gedacht hatte. Aber ihn beschlich ein sehr eigenartiges Gefühl, als er zum Hörer griff. Es war das erste – und einzige – Mal, dass Elliot Harris ihn bei der Arbeit anrief. Er atmete einmal tief durch und drückte die Taste.

»Hier ist Travis Parker.«

»Doktor Parker, hier spricht Elliot Harris«, sagte der Leiter des Pflegeheims. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht. »Ich glaube, Sie sollten so schnell wie möglich herkommen.«

In der kurzen Stille, die nun folgte, schossen Travis Hunderttausend Gedanken durch den Kopf: Gabby atmete nicht mehr, ihr Zustand hatte sich verschlechtert, es bestand keine Hoffnung mehr. Er umklammerte den Hörer, als könnte er so das Unglück abwehren.

»Ist etwas mit meiner Frau?«, fragte er mit erstickter Stimme.

Wieder schwiegen sie beide. Vermutlich waren es nur ein, zwei Sekunden – ein Lidschlag, der ein halbes Jahrhundert dauerte, so beschrieb er es später. Und als er die drei Wörter hörte, fiel ihm der Hörer aus der Hand.

 

Er war merkwürdig gefasst, als er sein Büro verließ. Jedenfalls erzählten ihm seine Mitarbeiterinnen das später. Man habe ihm überhaupt nichts angemerkt, sagten sie. Er sei an der Anmeldung vorbeigegangen, ohne jemanden zu beachten. Alle in der Praxis, auch die Besitzer mit ihren Tieren, wussten, dass seine Frau in einem Pflegeheim lag. Madeline, ein achtzehnjähriges Mädchen, das in der Anmeldung arbeitete, starrte ihn mit großen Augen an, als er sich noch einmal umdrehte und auf sie zukam. Inzwischen hatten alle Anwesenden erfahren, dass der Leiter des Pflegeheims angerufen hatte. Auch hier verbreitete sich jede Neuigkeit wie ein Lauffeuer.

»Würden Sie bitte meinen Vater anrufen und ihn fragen, ob er in die Praxis kommen kann?«, sagte Travis zu Madeline. »Ich muss ins Pflegeheim.«

»Ja, selbstverständlich, gern«, sagte sie und fügte schüchtern hinzu: »Ist alles okay?«

»Könnten Sie mich vielleicht hinfahren? Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn ich mich ans Steuer setze.«

»Natürlich.« Sie musterte ihn ängstlich. »Ich rufe nur noch schnell Ihren Vater an.«

Während sie die Nummer wählte, stand Travis wie gelähmt neben ihr. Im Wartezimmer war alles mucksmäuschenstill; selbst die Tiere schienen die Spannung in der Luft zu spüren. Wie aus weiter Ferne hörte Travis, dass Madeline mit seinem Vater sprach. Er registrierte gar nicht, wo er eigentlich war. Erst als Madeline auflegte und ihm mitteilte, sein Vater werde gleich da sein, schien er seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Er sah die Angst in Madelines Augen. Vielleicht, weil sie noch so jung war und nicht viel Ahnung hatte, sprach sie die Frage aus, die alle anderen nicht zu stellen wagten.

»Was ist passiert?«

Travis sah die Anteilnahme auf den Gesichtern der anderen. Die meisten kannten ihn seit Jahren, manche sogar schon seit seiner Kindheit. Einige hatten auch Gabby kennengelernt und waren nach dem Unfall tief betroffen gewesen. Eigentlich ging sein Schicksal niemanden etwas an, und doch betraf es auch die anderen, weil hier seine Wurzeln waren. Sie lebten alle in Beaufort, das Städtchen war ihr Zuhause, und als er sich umschaute, wurde ihm klar, dass ihre Neugier eigentlich so etwas war wie Familienliebe. Trotzdem brachte er kein Wort über die Lippen. Tausendmal hatte er sich diesen Tag vorgestellt, aber jetzt war sein Kopf plötzlich ganz leer. Seine Gedanken waren weit weg, er bekam sie nicht zu greifen, und in Worte fassen konnte er sie erst recht nicht. Er wusste nicht, was er denken sollte. Hatte er Harris überhaupt richtig verstanden – oder war alles nur ein Traum? Er wollte die Wirklichkeit hinter den Worten verstehen, doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte keinen Satz zu Ende zu denken. Der Schreck verhinderte, dass er irgendetwas fühlte. Später sollte er die Situation so beschreiben, dass er sich vorkam wie auf einer Wippe – am einen Ende befand sich das höchste Glück und am anderen unendliches Leid, und er stand in der Mitte, gelähmt von der Angst, durch eine einzige falsche Bewegung in den Abgrund zu stürzen.

Er legte die Hand auf die Anmeldungstheke, um Halt zu finden. Madeline kam mit ihrem Autoschlüssel. Travis sah sich um, warf einen Blick ins Wartezimmer, schaute Madeline an und dann zu Boden. Und als er wieder aufblickte, schaffte er es endlich, die drei Wörter zu wiederholen, die er gerade am Telefon gehört hatte.

»Sie ist aufgewacht.«

 

Zwölf Minuten später, nachdem sie dreißigmal die Spur gewechselt und drei Ampeln bei Gelb – wenn nicht sogar bei Rot – überquert hatten, hielt Madeline vor dem Eingang des Pflegeheims. Travis hatte während der Fahrt kein Wort gesagt, aber er lächelte ihr beim Aussteigen dankbar zu.

Die Fahrt hatte nichts geholfen, er war noch genauso verwirrt wie vorher. Er hatte die Hoffnung nie aufgegeben, obwohl sie längst grundlos zu sein schien. Und nun konnte er innerlich kaum an sich halten vor Freude – aber gleichzeitig war er nicht fähig, die Angst abzuschütteln. Hatte er etwas missverstanden? Vielleicht war sie nur einen Augenblick lang aufgewacht und sofort wieder ins Koma gefallen, vielleicht hatte jemand falsche Informationen weitergegeben. Und es konnte doch auch sein, dass Harris nur einen obskuren medizinischen Zustand gemeint hatte, bei dem sich die Gehirnfunktion verbessert, sonst nichts. In Travis’ Kopf drehte sich alles, mit rasender Geschwindigkeit wechselten sich Bilder der Zuversicht und der Verzweiflung ab. Er betrat das Gebäude.

Elliot Harris erwartete ihn bereits und wirkte sehr gelassen – Travis konnte sich nicht vorstellen, selbst je wieder so ruhig zu sein.

»Ich habe den Arzt und die Neurologin bereits angerufen. Die beiden müssten auch in ein paar Minuten hier sein«, sagte er. »Aber Sie können gern schon mal nach oben gehen.«

»Heißt das – sie ist wirklich wach?«

Harris, der ihn kaum kannte, legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter und sagte: »Gehen Sie zu ihr. Sie hat nach Ihnen gefragt.«

Jemand hielt ihm die Tür auf – er konnte sich später beim besten Willen nicht daran erinnern, ob es ein Mann oder eine Frau war –, und er betrat den Patiententrakt. Gleich rechts war die Treppe, er rannte die Stufen hinauf, merkte aber unterwegs, wie seine Kräfte nachließen. Im ersten Stock riss er die Tür zur Station auf und sah eine Krankenschwester und einen Pfleger da stehen, als würden sie auf ihn warten. Sie lächelten beide. Sicher wollten sie ihm alle Details mitteilen, aber Travis lief einfach weiter, und sie hielten ihn auch nicht auf. Kurz vor Gabbys Zimmer hatte er das Gefühl, als würden seine Knie nachgeben. Er musste sich einen Moment lang an die Wand lehnen und tief durchatmen.

Es war die zweite Tür links. Sie stand offen, und er hörte Stimmen. Wieder zögerte er. Wenn ich mir doch wenigstens die Haare frisiert hätte, dachte er – obwohl er genau wusste, dass das jetzt wirklich keine Rolle spielte. Er trat ein und sah Gretchens strahlendes Gesicht.

»Ich war im Krankenhaus und stand zufällig gerade neben dem Arzt, als der Anruf kam, und da bin ich sofort losgelaufen …«

Travis hörte kaum, was sie sagte. Er hatte nur Augen für Gabby, für seine Frau, die aufrecht in ihrem Bett saß, die Kissen im Rücken. Sie wirkte etwas schwach und desorientiert, aber ihr glückliches Lächeln sagte ihm alles, was er wissen musste.

»Ich denke, ihr zwei habt euch bestimmt viel zu erzählen«, murmelte Gretchen und zog sich zurück.

»Gabby?«, flüsterte Travis tonlos.

»Travis«, krächzte sie. Ihre Stimme klang anders als früher, kratzig und heiser, weil sie so lange geschwiegen hatte, aber trotzdem war es eindeutig Gabbys Stimme. Mit langsamen Schritten ging Travis auf ihr Bett zu, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde die Augen von ihr zu nehmen. Dass Gretchen auf Zehenspitzen das Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich schloss, registrierte er gar nicht.

»Gabby?«, wiederholte er ungläubig. Und wie im Traum – es erschien ihm immer noch wie ein Traum – sah er, dass sie die Hand hob und sie dann erschöpft auf ihren Bauch sinken ließ, als würde ihre Kraft nicht weiter reichen.

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

»Wo warst du?«, fragte sie. Sie sprach etwas schleppend, aber voller Liebe, voller Leben. Sie war wach! »Ich wusste gar nicht, wo du bist.«

»Jetzt bin ich hier«, antwortete Travis, und dann brach es aus ihm heraus, er schluchzte hemmungslos, beugte sich zu Gabby – ach, wie lange hatte er sich danach gesehnt, dass sie ihn umarmen würde, und als er ihre Hand auf seinem Rücken fühlte, weinte er noch heftiger. Es war kein Traum. Gabby hielt ihn in ihren Armen, sie wusste, wer er war und wie viel sie ihm bedeutete. Es ist wahr, dachte er nur, dieses Mal ist es wahr

 

Weil Travis nicht von Gabbys Seite weichen wollte, übernahm sein Vater während der nächsten Tage erneut die Vertretung in der Praxis. Erst vor Kurzem hatte Travis wieder begonnen, fast Vollzeit zu arbeiten, und an Wochenenden wie jetzt – die Mädchen tobten lachend und vergnügt im Garten herum, Gabby war in der Küche – passierte es ihm immer wieder, dass er versuchte, die Einzelheiten der vergangenen Monate zu rekonstruieren. Seine Erinnerung an die Tage, die er im Krankenhaus verbracht hatte, war ganz verschwommen, wie im Nebel, als wäre er fast genauso bewusstlos gewesen wie Gabby.

Gabby war natürlich nicht ohne Nachwirkungen aus dem Koma erwacht. Sie hatte stark abgenommen, sie litt an Muskelschwund, und ihre rechte Körperhälfte war wie taub. Es dauerte mehrere Tage, bis sie ohne Hilfe aufrecht stehen konnte. Die Behandlung war langwierig, und auch heute noch verbrachte sie zwei Stunden am Tag bei einem Physiotherapeuten. Am Anfang war sie oft frustriert gewesen, weil sie nicht einmal die einfachsten Dinge tun konnte, die ihr früher absolut selbstverständlich erschienen waren. Sie ärgerte sich darüber, dass sie so abgemagert war, und sagte öfter, sie sehe fünfzehn Jahre älter aus. In solchen Augenblicken versicherte Travis ihr immer, sie sei wunderschön, und er meinte es ehrlich.

Christine und Lisa brauchten eine Weile, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. An jenem Nachmittag, an dem Gabby aufwachte, bat Travis den Heimleiter, seine Mutter anzurufen, damit sie die Mädchen von der Schule abholte. Eine Stunde später war die ganze Familie vereint, aber weder Lisa noch Christine trauten sich, auf ihre Mom zuzugehen. Stattdessen klammerten sie sich an Travis, und auf alles, was Gabby sie fragte, antworteten sie nur sehr einsilbig. Es dauerte eine halbe Stunde, bis Lisa schließlich zu ihrer Mutter aufs Bett krabbelte. Christine öffnete sich erst am nächsten Tag, und selbst da behielt sie ihre Gefühle noch für sich. Es war fast so, als würde sie Gabby das erste Mal sehen. Abends wurde Gabby zu weiteren Untersuchungen wieder ins Krankenhaus gebracht, und als Travis mit den Mädchen nach Hause kam, fragte Christine: »Ist Mommy wirklich wieder da, oder schläft sie wieder ein?« Zwar konnten die Ärzte mit großer Sicherheit sagen, dass Gabby nicht erneut ins Koma fallen werde, aber ganz ausschließen mochten sie es nicht, jedenfalls noch nicht. Christines Ängste spiegelten Travis’ eigene Befürchtungen wider, und jedes Mal, wenn er Gabby nach einer anstrengenden Behandlung schlafend oder auch nur ruhend antraf, krampfte sich sein Magen zusammen. Er bekam dann kaum noch Luft und stieß seine Frau vorsichtig an. Wenn sie nicht sofort die Augen öffnete, geriet er in Panik. Und wenn sie ihn dann endlich anschaute, konnte er seine Erleichterung und Dankbarkeit nicht verbergen. Zuerst akzeptierte Gabby diese Ängste – sie gab zu, dass sie selbst auch oft solche Gedanken hatte –, aber nach einer Weile fand sie seine Besorgnis eher lästig. Letzte Woche hatte es zum Beispiel folgende Situation gegeben: Der Mond stand hoch am Himmel, die Grillen zirpten, und Travis begann, während sie neben ihm schlief, unruhig ihren Arm zu streicheln. Sie wachte auf und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach drei Uhr morgens. Verärgert richtete sie sich auf.

»Du musst aufhören mit dem Quatsch! Ich brauche meinen Schlaf. Ich möchte endlich mal wieder ungestört durchschlafen wie alle Menschen auf der Welt. Ich bin erschöpft, verstehst du das denn nicht? Und ich habe keine Lust, von jetzt an damit leben zu müssen, dass du mich nachts jede Stunde aufweckst!«

Mehr sagte sie nicht. Im Grund konnte man nicht einmal von einem Streit sprechen, weil Travis gar nicht genug Zeit blieb, um etwas zu erwidern – sie drehte ihm einfach den Rücken zu, brummelte noch ein bisschen vor sich hin und schlief wieder ein. Aber dieses Verhalten erschien Travis so typisch für seine Frau, so … Gabby-mäßig, dass er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Wenn sie nicht mehr befürchtete, sie könnte wieder ins Koma fallen – und sie schwor inzwischen, dass sie davor keine Angst mehr hatte –, dann gab es für ihn auch keinen Grund mehr, sich dauernd Sorgen zu machen. Zumindest sollte er sie schlafen lassen. Ob seine Ängste jemals wieder ganz verschwinden würden, wusste er, ehrlich gesagt, nicht. Was sollte er also tun, mitten in der Nacht? Er horchte er auf ihren Atem, und wenn er merkte, dass sich der Rhythmus leicht veränderte – was nie vorgekommen war, als sie im Koma lag –, konnte auch er wieder schlafen.

Sie mussten sich alle in der Situation zurechtfinden, und Travis war klar, dass das eine Weile dauern würde. Ziemlich lange sogar. Irgendwann würden sie auch darüber sprechen müssen, dass er sich nicht an ihre Verfügung gehalten hatte. Oder würde dieses Gespräch vielleicht nie stattfinden? Er wollte Gabby auch von den imaginären Unterhaltungen erzählen, die sie im Krankenhaus mit ihm geführt hatte. Über das Koma selbst wusste sie wenig zu sagen. Sie konnte sich an nichts erinnern, weder an irgendwelche Gerüche noch an das Geräusch des Fernsehers, auch nicht an seine Berührungen. »Es ist, als wäre die Zeit einfach … verschwunden

Aber das war okay. Alles war so, wie es sein sollte. Jetzt hörte er, wie sich hinter ihm quietschend die Fliegengittertür öffnete. In der Ferne sah er Molly im hohen Gras liegen, seitlich vom Haus, und Moby, der alte Knabe, döste in der Ecke. Travis schmunzelte stillvergnügt, während Gabby einen prüfenden Blick auf ihre Töchter warf. Wie zufrieden sie aussah! Gerade stieß Christine ihre Schwester auf der Schaukel an, und die beiden kicherten pausenlos. Gabby setzte sich in den Schaukelstuhl neben Travis.

»Das Mittagessen ist fertig«, sagte sie. »Aber ich glaube, ich lasse die Mädchen noch ein bisschen spielen. Es macht ihnen solchen Spaß.«

»Das stimmt. Vorhin haben sie mich völlig geschafft. «

»Ob wir, wenn Stephanie nachher kommt, ins Aquarium fahren können? Und anschließend essen wir irgendwo Pizza – was meinst du? Ich habe solche Lust auf Pizza.«

Er lächelte und dachte, dass er am liebsten immer hier sitzen würde. »Klingt gut. Dabei fällt mir ein – deine Mutter hat angerufen, als du unter der Dusche warst.«

»Ich rufe sie später zurück. Und ich muss auch noch wegen der Heizungspumpe telefonieren, im Zimmer der Mädchen ist es gestern Abend einfach nicht kühl geworden.«

»Vielleicht kann ich das ja reparieren.«

»Glaube ich eher nicht. Bei deinem letzten Reparaturversuch mussten wir anschließend das ganze System auswechseln, erinnerst du dich?«

»Ich erinnere mich vor allem daran, dass du mir nicht genug Zeit gelassen hast.«

»Ja, klar, daran lag’s!« Sie zwinkerte ihm zu. »Möchtest du hier draußen essen oder lieber im Haus?«

Er tat so, als würde er über die Frage nachdenken. Dabei war es ihm völlig egal – Hauptsache, sie saßen alle gemeinsam am Tisch. Er war mit seiner Frau und seinen Töchtern zusammen, mit den Menschen, die er liebte. Brauchte man mehr im Leben? Was sonst konnte man sich wünschen? Die Sonne schien, die Blumen blühten, und die Stunden vergingen sorglos und unbeschwert – wovon er im vergangenen Winter nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Es war ein ganz normaler Tag, ein Tag wie jeder andere. Vor allem aber war es ein Tag, an dem alles genau so war, wie es sein sollte.