Aus dem Englischen
von Peter Torberg
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Lonesome Animals im Verlag Counterpoint, Berkeley.
© Bruce Holbert 2012
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2014
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Marc Müller-Bremer, München
Covermotiv: Scott Stulberg / Trigger Image
Typografie und Satz: Frese Werkstatt, München
Herstellung: Sieveking, München
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-95438-034-3
Für Holly, Natalie, Luke und Jackson
Wir sind einsame Tiere. Unser ganzes Leben mühen wir uns, weniger einsam zu sein. Und eine unserer uralten Methoden dabei ist es, eine Geschichte zu erzählen.
JOHN STEINBECK
Kraft ist ja immer nur ein Gefühl, das sich aus der Schwäche der anderen ergibt.
JOSEPH CONRAD
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
EPILOG
Schon zu Russell Strawls Zeiten gab es den Mythos vom starken, schweigsamen Mann aus dem Westen. Doch das Gegenteil kommt der Wahrheit wohl näher. Die Beschaffenheit der Gegend und die Entfernungen sorgen dafür, dass es dort selbst in ruhigen Zeiten weithin nur wenige Menschen gibt. Gegen die Stille, die solchen Räumen innewohnt, kämpft der Verstand an, indem er seine eigenen Geschichten erzählt. Deren Klang erfüllt die wachen Stunden und drängt sich in alle erinnerten Träume. Die abwesenden Blicke, die zögerliche Reaktion auf jedes an die Menschen dort gerichtete Wort beruhen nicht auf besonderer Nachdenklichkeit oder Ernsthaftigkeit, auf Ruhe, Einsamkeit oder gar Entfremdung ihrer Seele, sondern auf der Erschütterung durch fremde Worte, die im reißenden Strom der eigenen treiben.
In den zehn Jahren vor seiner Heirat leistete Russell Strawl Polizeiarbeit in der Gegend des oberen Okanogan County. In jener Zeit verhaftete er 138 Indianer, 97 Weiße und eine Frau, die ihm fast den Hut vom Kopf schoss, als er versuchte, sie zu überreden, ihm ihre Pistole auszuhändigen. Er tötete elf Männer auf der Flucht, weil es unter den jeweiligen Umständen zu mühsam gewesen wäre, sie lebendig zurückzuschaffen. Drei weitere tötete er bei Schusswechseln, einen schlug er mit einem Schmiedehammer zum Idioten.
Seine Schecks zahlte er direkt bei der Armed Forces Bank ein, was ihn anfangs daran hinderte, das Geld zu versaufen, und nach einem Jahr nahm ihn seine Arbeit ohnehin mehr gefangen, als dies jede Kneipe hätte tun können. Der Herr im Himmel füllte sonntagmorgens die Leere in den Gläubigen aus; bei Strawl tat dies das Gesetz.
Strawl konnte einen Schuldigen riechen – vielleicht, weil ihm der Geruch vertraut war. Er konnte vorhersagen, welche Anhöhe der Gesuchte wohl zum Rückzug wählen würde, denn er hätte sicher dieselbe genommen. Im Gesicht eines Menschen konnte er den Samen der Tat erkennen, bevor der es vielleicht selbst wusste.
Unter den Geschichten, die über ihn erzählt werden, gibt es jene, in denen er einem Verdächtigen, der sich im Unterholz zu verbergen hoffte, zurief: »Du schätzt sicher gerade die Entfernung zwischen dir und dem Gestrüpp ab und überlegst, ob ich dich treffe, bevor du es erreichst. Die Chancen stehen gut für dich, fast fünfzig/fünfzig. Und wenn du erst mal in den Wäldern bist, nun, dann ist das Glück vielleicht noch etwas länger auf deiner Seite. Aber dann werde ich dich eben auch erschießen, nicht verhaften, das ist einfacher für mich, ganz ohne Papierkram oder Gerichtsverfahren. Liegt ganz bei dir. Wenn du eine Waffe hast, kannst du versuchen, mir eine Kugel zu verpassen, obwohl das bisher noch niemand geschafft hat, und wenn du ein Hirn in deinem Schädel hast, dann weißt du, wer ich bin.«
Der Verfolgte wog seine Chancen ab, Strawl öffnete seinen Revolver und drehte die Trommel, um sicherzugehen, dass jede Kugel auch an ihrem Platz war. Vielleicht feuerte er dann ein Mal in das Gelände oberhalb des Mannes und ließ Dreck auf ihn herabregnen. Anschließend wartete er stumm und ging nicht auf die Unterhaltung ein, die sein Verdächtiger vielleicht anstrengte, um Zeit zu gewinnen oder die Langeweile zu vertreiben. In den meisten Fällen dauerte es keine fünf Minuten, und der Mann schleuderte seine Waffe aus dem Gestrüpp. Strawl hantierte dann vorsichtig mit Handschellen und Seil und half ihm dabei, auf sein Pferd zu steigen, wenn er denn eins hatte.
Andere wiederum brauchten Stunden. Strawl aß dann zu Mittag, rauchte und ließ The Governor – sein Pferd – aus dem Kaffeetopf saufen. Wenn es kalt war, schichtete er mit dem harzigsten Brennmaterial, das er finden konnte, eine Feuerstelle auf. Ein paar wenige, die genug Ausdauer hatten, um es bis zur Dämmerung zu schaffen, verfluchten ihn, während das Licht am Horizont verging. Zu Beginn seiner Tätigkeit begegnete er solchen Situationen, indem er den Wind im Rücken behielt und alles, was zwischen ihm und der Beute Feuer fangen konnte, anzündete. Oder er löste, wenn der Boden abschüssig und steinig war, mit einer Brechstange Felsbrocken heraus und ließ sie in Richtung des Flüchtigen rollen. In späteren Jahren fand er die Warterei nicht mehr so unterhaltsam, also beschleunigte er die Sache, wenn ihm nach vielleicht einer Stunde langweilig wurde, indem er Hand- oder Leuchtgranaten aus Armeeüberschüssen warf.
Seine Fähigkeit, Herz und Seele in eine Satteltasche zu packen, und die Unfähigkeit seiner Gegner, dasselbe zu tun, machten den Unterschied zwischen ihnen aus. Sein Geisteszustand hatte dann kaum noch etwas Menschliches. Strawl nahm an, dass ein solcher allen gleich zugänglich war und die zentrale Wahrheit darstellte, um die jeder Mensch sich drehte, doch bedachte er nicht die Möglichkeit, dass der Stern, der ihn mit seiner Schwerkraft festhielt, vielleicht gar kein Stern, sondern nur ein schwarzer Planet war und er lediglich ein unbedeutender Mond, der ihn umkreiste.
In den Augenblicken, in denen Strawl gegen eine Tür donnerte und in den Raum einfiel oder außerhalb des flackernden Scheins eines Feuers im Schatten einer Fichte kniete, stand jede Sekunde erst mal ganz für sich selbst, und was darin geschah, bestimmte entweder, was in der nächsten Sekunde passierte, oder eben nicht. Manche Sekunden schienen sich in einem angenehmen Zufall zu vermischen wie Ölfarben, andere wiederum existierten voneinander getrennt wie die Farben auf der Palette und lagen in nutzlosem Widerstreit.
Das Recht glich inmitten dieses Durcheinanders nur einem Zufall, einem Augenblick, der einfach die Verkleidung der Gerechtigkeit überstreifte, wenn sich der Wirbelsturm gelegt hatte.
Ankläger betonen immer eher die Bösartigkeit des Blitzschlags, Verteidiger dagegen die unausweichlichen Kräfte von Jetstream, Luftdruck, Kondensation und Topografie. Bei richtigen atmosphärischen Bedingungen lauert in jedem ein Tornado; der Unterschied liegt nur in den Umständen.
Soviel Mitleid auch Schmerz und Schaden bei einem Nahestehenden auslösen mochten, die Richter und ihre Hämmer ermutigten damals die einfachen Geschworenen zu strikter Klarsicht. Strawl hatte mehr als einmal miterlebt, wie sie einen Unschuldigen verurteilten, nur um eine kurze Atempause von der moralischen Zweideutigkeit außerhalb der Gerichtsmauern zu erhaschen.
Strawl aber blieb im behaglichen Schutz des Sturms und glaubte, zufrieden zu sein.
Als eine Frau – die einzige, die Strawl jemals über das natürliche Verlangen des Fleisches hinaus begehrte – diesen Lauf der Geschichte für eine Weile durchbrach, schien es ganz so, als hätten Natur, Urteilsvermögen und Glück sich endlich auf Strawls Seite geschlagen. Dabei standen Frauen in seiner Gedankenwelt eigentlich nicht an erster Stelle. Kirchgängerinnen kümmerten sich um die Kasernen, und gelegentlich suchte die Tochter des Gemischtwarenhändlers – Emma Everett lautete ihr Name – Strawls Quartier auf, öffnete die Fenster und schüttelte das Bettzeug aus. Sie hatte eine zarte, gerade Nase, lange, dunkle Haare und besaß wenig von der Förmlichkeit, die ihn an den meisten Frauen so abstieß.
Im September näherte sie sich ihm. Die Luft war schwer von Staub und Herbstspreu, die das Licht einfingen. Sie trug ein langes Kleid, das dünn genug war, um in der niedrig stehenden Sonne den Schatten ihrer Beine sehen zu lassen.
»Wie wär’s mit einem gesunden Spaziergang?« fragte sie ihn.
»Ich laufe schon den ganzen Tag durch die Gegend«, erwiderte er.
Sie legte den Kopf zur Seite, blinzelte ihn an und schob dann wie ein kleines Kind die Unterlippe vor. Sie streckte die Hand aus. Er stand auf, nahm die Hand aber nicht, also hakte sie sich bei ihm unter. Ihr Gesicht lag zur Hälfte im Dunkeln, und im Schatten gefielen ihm ihre Nase, die dünnen Lippen und die Zähne, die, wie die alten Frauen zu sagen pflegten, nach innen gebogen waren, weil sie zu lange an der Brust genuckelt hatte.
Auf einem Felsvorsprung oberhalb des China Bend setzte er sich ins klamme Gras und lauschte den Grillen, die sich über ihre Bäuche kratzten. Emma kniete sich neben ihn. Ihre Schuhe waren in seiner Griffweite. Am liebsten hätte er sich vorgebeugt und sie mit seinem Taschentuch geputzt.
»Ich arbeite im Laden«, erklärte Emma. »Dort sehe ich fast jeden aus dem County, nur dich nie. Würde es dich denn umbringen, ab und zu mal vorbeizuschauen?«
»Der Kommandant macht die Einkäufe«, antwortete Strawl.
Sie runzelte die Stirn.
»Ich hab’s nicht so mit Gesprächen.«
»Weil die Leute dich bei deiner Arbeit anlügen?« wollte Emma wissen.
»Ich hab schon ein paar Klopper zu hören gekriegt«, sagte Strawl lachend. »Wörter verwandeln sich nach einer Weile in Krach. Wenn ein Haus brennt, ist ›Feuer!‹ schon ganz nützlich, aber nicht so nützlich wie ein Eimer Wasser.«
»Na, dann dürften die Bücher auf deinem Nachttisch ganz schön stauben, wenn du sie aufschlägst.« Strawl liebte Bücher. Sie bildeten geschlossene Systeme. Er fragte sich, ob sie sich über ihn lustig machen wollte.
»Warum hast du mich hergeschleppt?« fragte er.
»Weil ich nicht dachte, dass du mitkommen würdest.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn; ihr Gesicht löschte den Himmel aus. Sie schloss die Augen, und ihr Gesicht wurde so leer wie ein Blatt Papier, das auf seine Schrift wartet.
Er hielt ihren Kopf in seiner Hand, erfreute sich an dem Gewicht, dann legte er sein Gesicht an ihres, und ihre Lippen prallten aufeinander. Ein Blutstropfen befleckte Emmas Vorderzahn. Sie küsste ihn erneut, und er schmeckte ihr Blut in seinem Mund. Danach sah er auf den sauberen Scheitel in ihren Haaren hinunter, auf die weiße Haut, ihre Stirn und die Nase. Sie reckte ihm den Kopf entgegen, und er senkte seine Lippen auf ihre. Sie öffnete den Mund, als wollte sie aus einem Bach trinken, und er spürte, wie sein Mund es ihr gleichtat.
Emma nahm seine Hand und verschränkte ihre beiden Hände über ihr. Da packte er sie an den Handgelenken und zog sie an sich, bis sie zum Küssen nah genug war. Schweiß brannte ihm auf dem Schädel. Ihre Nasenflügel zitterten, ihre Lungen füllten sich. Er fand die Knöpfe an ihrem Kleid. Ihre Finger flatterten wie winzige Vögel auf seinen Handrücken. »Oh«, sagte sie. »Oh.«
Er starrte ihre Brüste unter dem Leibchen an. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er.
Sie nahm seine Hand. »Bitte glaub nicht, dass ich es weiß. Was du tun sollst, meine ich.«
»Ich glaube, was immer du willst«, sagte Strawl.
Emma lachte leise. »Unwissenheit, das ist besser als Blumen oder Bänder oder Parfüm.«
Im zweiten Jahr seiner Ehe verfolgte Strawl einen Monat lang ein übles Halbblut. Auf der Spur des Mannes stieß er auf ein Mädchen, kaum älter als vierzehn, das mit einem Ast vergewaltigt worden war, und auf ein weiteres, nicht viel älteres, halb zu Tode geprügelt und dann mit einem zerbrochenen Billardqueue missbraucht. Bei seinem dritten Opfer hatte der Täter eine Brust als Trophäe mitgenommen.
Das erste Mädchen war noch bei Bewusstsein gewesen und hatte eine recht gute Täterbeschreibung abgeben können: braune, kurze Haare mit Stirnfransen, drahtig, stark. Das zweite fügte noch an, er würde zu oft blinzeln. Auch das dritte Mädchen konnte kurz vor seinem Tod noch etwas beisteuern, das blutrote Taschentuch, das ein Mann namens Reynolds – auf den auch der Rest der Beschreibung zutraf – gern bei sich trug. Strawl fand ihn im Red Garter in Coulee Dam, als er sich gerade mit einigen Ranchhelfern, die beim Schneiden der Luzerne eine Pause einlegten, einen Pitcher Bier teilte.
Strawl schoss Reynolds, der auf einem Stuhl saß, die Kniescheiben weg. Die Bauerntrampel krochen unter den Pooltisch. Strawl kam auf Reynolds zu, trat ihm aufs Handgelenk und jagte ihm eine Kugel durch die Hand, dann tat er dasselbe mit der anderen Hand, an der daraufhin nur noch der Ringfinger baumelte. Schließlich schleifte er Reynolds an den Knöcheln hinaus, band ihn an sein Pferd und feuerte in die Luft. Das Pferd raste die steile Straße entlang, Reynolds Kopf knallte bei jedem Schritt auf den Asphalt. Als das Pferd müde wurde, schoss Strawl erneut in die Luft, und das Pferd stürmte auf die Landstraße, wo es einem Laster gerade noch ausweichen konnte. Reynolds selbst hatte kein Glück, sein Kopf zerplatzte unter den Rädern des Studebaker wie eine Melone.
In den folgenden zwei Monaten fanden Strawl und Emma fast jeden Morgen nach dem Aufwachen Blumen vor ihrer Tür, Früchtebrot, eine Schnur mit frisch ausgenommenen Forellen daran oder eine Kalbsleber. Emma schnitt all die Geschenke auf, kochte und lud die Nachbarn zum Essen ein, tischte üppige Mahlzeiten auf, die Strawl in Ruhe genießen konnte, da sie auch noch die Konversation bei Tisch führte. Ab und an zog sie ihn mit schwieliger Hand in die Küche, schloss und verriegelte die Tür, gab ihm einen Zungenkuss und schlug mit ihren Hüften gegen seine, bis sie beide vor Leidenschaft ganz rote Gesichter hatten.
Sieben Wochen später stieß er auf einer Straße in Nespelem auf einen perversen Kerl, der seine Waffe zog, als wäre er Jesse James höchstpersönlich, doch Strawl sprang der Kugel aus dem Weg und verbarg sich hinter einer Ulme. Der Perverse feuerte erneut. Strawl sah die Kugel den Lauf verlassen, sah den Qualm. Er ging in die Knie und hörte die Kugel in den Widerrist einer Appaloosa-Stute eindringen, die am Pferdestall angebunden stand. Das Pferd bäumte sich auf und zerrte den ganzen Vorbau des Stalls auf die Straße. Strawl stützte das rechte Handgelenk auf das linke und drückte ab. Die Kugel riss dem Mann die Hoden vom Penis. Seine Hose wurde feucht vor Blut, als hätte er sich rot eingenässt, und mit beiden Händen hielt er sich den Unterleib, als könnte er so alles wieder richten. Strawl steckte die Pistole des Mannes ein, zog ihm ein Messer und eine Rasierklinge aus der Tasche, dann ging er ins Militärgefängnis und nahm ein spätes Mittagessen ein. Danach schickte er zwei Corporals los, um den Mann einzusammeln; er überlebte, kam vor Gericht und saß dreiundzwanzig Jahre in Walla Walla ab, wo er Granit aus Steinbrüchen schlug, mit dem Farmwege geschottert wurden.
Eins der Mädchen, die dem Mann zum Opfer gefallen waren, kam eine Woche später mit einem Glas Aprikosengelee vorbei. »Ich habe drei Nächte in Folge schlafen können«, berichtete sie. Strawl erwiderte nichts darauf, aber Emma brach in Tränen aus, und in jener Nacht zog sie ihn an sich wie eine hungrige Wölfin und ließ ihn erst wieder los, als der Mond schon den halben Himmel überquert hatte. Strawl kam sich vor wie ein Held.
Emma teilte ihm sechs Wochen später mit, dass sie schwanger sei, und er hatte das Gefühl, eine fremde Gegend erreicht zu haben, zu der er zwar aufgebrochen war, aber ohne jemals damit gerechnet zu haben, auch anzukommen. Jemand lud ihn ein, einer Kirche beizutreten. Emma schloss sich einem eleganten Quilt-Nähkreis an, und der Kommandant schlug vor, Strawl solle doch mehr Zeit am Schreibtisch verbringen. Er steckte seine Ersparnisse in ein Stück Land auf der anderen Seite des Flusses, und Emma zeichnete Pläne für ein Haus.
Seine Tochter kam gesund zur Welt, und sie nannten sie Dorothy, doch daraus wurde schon bald Dot. Emma schnalzte und summte dem Baby Tag und Nacht etwas vor, aber für Strawl entwickelte sich das Kind zu einer Enttäuschung. Er fand keinen Zugang zu dem Säugling, und schon bald war ihm das Kind so fremd wie der Mond.
Zudem ruht die Geschichte nicht in der Routine, wie sie ein Familienleben mit sich bringt, trotz der Tatsache, dass sich in ihr ein Großteil des Lebens abspielt. Strawls Frau wusste, was sich hinter seinem Händeringen und den Blicken aus dem Fenster tatsächlich verbarg: Vorboten einer Flucht vor ihr und der Tochter in seine Arbeit. Für ihn waren sie nicht interessanter als eine Weide. Aber die Beschreibung eines Mannes, die Litanei seiner Verbrechen ergaben immerhin eine Geschichte, die Strawl in jenen Tagen der Rechtschaffenheit zu Ende erzählen und als Argument dafür ansehen konnte, dass sich in der Welt tatsächlich gewisse Verhaltensmuster und Logik fanden, und wenn schon nicht Gerechtigkeit, dann zumindest Vergeltung.
Seine Gewohnheit verlangte, dass er allein war. Die Isolation trieb seinen Verstand zurück in den Schädel wie eine Muschel in die Schale, und in der Isolation kam er auch zu dem Schluss, dass jeder Mensch den Knorpel und das Fleisch seiner Lebenstage, Erfahrungen und Emotionen zu einem Mahl zerstampft, mit dem er sich füttert, um sich nicht leer zu fühlen. Der Wert eines Menschen bemaß sich an seinen Fähigkeiten als Schlachter; manche zerteilten und entbeinten ihre Stunden und Jahre, ohne darauf zu achten, und wunderten sich, warum sie überhaupt auf Blut stießen, während sich andere wiederum bewusst machten, dass sie beides waren, Schlachter und Wurst.
Damit lag er natürlich falsch.
Als Strawl der Auftrag erteilt wurde, der schließlich als das Massaker im Box Canyon bekannt wurde, hatte er seine Unwissenheit und sein Glück allerdings noch nicht verloren.
Box Canyon lag im Norden, und Norden war ebenso sehr eine Richtungsangabe wie Hölle eine Ortsbezeichnung. Grundstückslinien und Grenzen zwischen Countys oder Ländern waren nur Gerüchte. Niemand wusste, wo der Hohe Norden begann und wo er zu Ende ging, doch war man sicher, dass sich dort alles fand, was die Weißen fürchteten, und auch der letzte Rest dessen, was sie nicht verstanden. Jede Art von Störung, die nach einem Monat noch immer ungeklärt war, ließ die Armee in jene Richtung zeigen, und als County und State Police die Pflichten der Armee übernahmen, fanden sie das ebenfalls recht hilfreich. Strawl hatte im Norden schon Männer aufgegriffen, in einer Gegend voller Berge und Bäume und Felsen, wie man sie auch andernorts antraf; der einzige Unterschied lag in einem späteren Frühling und einem früheren Herbst, hinzu kamen ein paar Wölfe und Panther. Die Indianer wussten das, doch die Polizisten des Bureau of Indian Affairs verwiesen alle Verbrechen, an denen sie selbst beteiligt oder die aufzuklären sie zu faul waren, trotzdem in jene Gegend.
Das Massaker im Box Canyon fand weder in irgendeinem Canyon statt, noch handelte es sich um ein Massaker. Eine Methow-Sippe, die nicht dafür bekannt war, Ärger zu machen, hatte das Reservat verlassen, um in den Okanogan Hills Beeren zu sammeln. Ein Rancher namens Doering hielt die magere Gruppe an, die sein Land überquerte. Die Indianer willigten schnell ein, einen Umweg über eine Landstraße zu machen, aber der Rancher, der deutscher Abstammung war, hatte wohl noch ein wenig Hunnenblut in den Adern und schoss dem alten Großvater, der für sie sprach, in die Schulter. Pferde bäumten sich auf, Reiter fielen zu Boden, und in dem ganzen Durcheinander brach sich der Rancher an einem Baumstumpf das Genick, und eine Kugel landete im Oberschenkel seines Vorarbeiters – höchstwahrscheinlich aus Doerings Gewehr, wie sich später herausstellte. Die Witwe Doering bestand jedoch darauf, dass es Mord gewesen sei, und der Superintendent schickte Strawl los, um die Sache zu klären.
Die Methows wussten genug über die Militärjustiz, um zu ahnen, dass sie ihr Heil in den bewaldeten Hochlagen suchen mussten. Sie machten sich auf den Weg in den tiefsten Wald jener Gegend. Nördlich von Aeneas, jenseits des Kettle River, gingen sie in Richtung Curlew und kanadische Grenze. Steil wie ein Kirchturm stieg der Wald an, bis an die Frostgrenze so dicht mit Fichten und Birken, Espen und Tamarack-Lärchen bewachsen, dass selbst gegen Mittag der Weg dunkel und feucht blieb. Dazu kam noch ein Teppich aus Farnen und Unterholz, der sich in solcher Umgebung bildete und für ein langsames Fortkommen sorgte. Strawl brauchte sechs Tage, bis er der Gruppe nahe genug kam, um sie zu hören, und weitere zwei, um sie zu sichten. Sie mühten sich auf einem Pfad um den Chesaw Mountain herum, schleppten ihre Habe auf Rückentragen und einer Stangenschleife. Über und unter ihnen glitzerten blanke Granitklippen wie frisches Wasser.
Strawl arbeitete sich vor bis an den Fuß einer Schuttrutsche. Als sie erneut in Sichtweite kamen, gab er einen Warnschuss in die Felsen über ihnen ab, wie er das immer tat, wenn er einen Verdächtigen stoppen wollte, der bereits Angst hatte. Das Gewehr spuckte Schwefel und Qualm, und der Donner hallte von den Felsen wider. Eine Sekunde verging still, was ihn, im Nachhinein betrachtet, stutzig hätte machen sollen, denn zumindest die Frauen hätten doch überrascht aufschreien müssen. Steine rutschten. Einer polterte durch die Bäume und skalpierte Schösslinge und Sträucher. Eine alte Frau wehklagte. Die Familie, so nahm Strawl an, war wohl vor Angst aufgeschreckt und hatte ein brüchiges Stück Weg gelöst. Er näherte sich der kleinen Gruppe, entdeckte karierte Hemden und Wolldecken zwischen den Felsen, dazu Socken und nicht zusammenpassende Schuhe. Drei Meter unterhalb des Pfades sah er Vater und Sohn halb unter Steinen begraben.
»Was ist passiert?« fragte er.
Die alte Frau bewegte den Zeigefinger, als würde sie auf ihn zielen und abdrücken.
»Ich hab sie nicht erschossen«, beteuerte Strawl.
Die alte Frau schüttelte den Kopf und wies auf die Felsen über ihnen. »Verdammt, das habe ich nicht gewollt!« brüllte Strawl. Die Frau starrte ihn an wie einen Tornado, einen Blitz oder einen mörderischen Froststurm.
Strawl hob die Steine von den Körpern. Der Schädel des Vaters leckte wie ein Kürbis, das Hemd war befleckt von grauer Hirnmasse. Ein Stein hatte dem Jungen die Brust mit einer derartigen Wucht aufgeschlagen, dass Rippen und Brustbein sich geteilt hatten und ein Streifen Fleisch von dreißig mal sechzig Zentimetern herausgerissen worden war. Darunter zogen Herz und Teile der Lunge noch Luft an und flatterten, bis sie ihre Mühen beendeten.
Plötzlich schrie ein Mädchen, halb nackt und voller Beulen, etwas auf Salish und eilte zwischen den Bäumen auf sie zu. Sie rannte über die Steine, stürzte sich auf ein Bündel und riss an den Lederriemen.
Strawl rechnete schon damit, sie würde einen Revolver zücken. Doch sie hielt nur ein Abhäutemesser in der Hand. Erleichtert rief er ihr in ihrer Sprache zu, sie solle das Messer weglegen. Sie blinzelte ihn an, verstand die Worte, aber nicht, wie er sie hatte aussprechen können. Dann zog sie die Klinge über die eigene Kehle. Blut schoss in einem Bogen aus der Arterie, und der rote Schaum färbte ihre Haut und den Felsen unter ihr. Sie ließ sich auf ein Knie nieder. Das Blut floss aus ihr heraus wie aus einem geöffneten Zapfhahn. Als Strawl sie erreichte, war das Blut dick wie Sirup.
Strawl setzte sich auf einen flachen Felsen und sah ihr beim Sterben zu. Zum Sprechen war er zu müde. Er blieb durch die Tageshitze hindurch dort sitzen, bis zum kühlen Abend. Er hatte keinen Kompass, der ihn von diesem Ort wegführen konnte, und kein Herz, das ihm Blut in die Muskeln gepumpt und ihn vorwärtsgedrängt hätte.
Er trug die Leichen in eine Senke, in der die Erde weicher war. Dort hob er drei Gruben aus. Er ließ die alte Frau singen und schloss dann die Gräber. Als er fertig war, war es Nacht. Er bot der Frau an, sie mitzunehmen, aber sie war gewillt zu bleiben, und er konnte keine überzeugenden Argumente vorbringen, nicht in ihrer Sprache, nicht in seiner.
Gerüchte und Ortspresse zementierten Strawls Reputation bei den Kriminellen und in der Öffentlichkeit; zwar gingen die Meinungen ursprünglich weit auseinander, aber im Laufe der Zeit flocht sich daraus ein dichter Zopf.
Zehn Tage später bereitete Strawl gerade das Frühstück zu, wie jeden Morgen, wenn er keine Verdächtigen verfolgte. Die Pfanne war voll mit spritzend heißen Krakauern. Er schlug noch drei Eier hinein. Hinter ihm hantierte Emma herum, ordnete Behälter, deckte den Tisch. Das Kind schlief. Normalerweise wäre das ein schöner Augenblick für die beiden gewesen, doch als er Emma um die Pfeffermühle bat und sie damit herumtrödelte, Servietten und Silberbesteck ordentlich auszurichten, klopfte Strawl mit dem Wender gegen die Pfanne und wiederholte: »Pfeffer.« Emma schaute ihn provokant an und verdrehte die Augen, da hob er die Pfanne und hieb ihr damit seitlich gegen den Kopf. Die Wurst flog auf den Boden, Fett, Blut und Hirnflüssigkeit verklebten Emma das Haar und tropften ihr über das Gesicht.
Sie schwankte, blinzelte ihn an, fiel dann seitlich um und krampfte. Strawl nahm ihren Kopf in die Hände und sah zu, wie ihre Pupillen die haselnussbraune Iris ihrer Augen schwärzten. Das vier Jahre alte Kind rührte sich im Nebenzimmer, fand ein Spielzeug und blieb ruhig, bis eine Nachbarin ihm die Augen zuhielt und es wegbrachte.
Emma atmete noch zwei Tage lang, dann nicht mehr.
Strawl legte bei seinem Kommandanten ein Geständnis ab und bestand auf Gerichtsverfahren und Gefängnis. Der Kommandant beurkundete Emmas Tod als Unfall und befahl, sie ohne Untersuchung zu bestatten. Er beförderte Strawl zum Captain, doch der reichte am folgenden Tag seinen Rücktritt ein, entfernte sich bis zum Ende seiner Militärzeit unerlaubt vom Dienst und nahm Aufträge von Männern der Staatsbehörden und später von Bundesagenten an.
Dot schlief mit in seinem Bett, wo sie unter seinem ausgebreiteten Arm lag, doch er fand keine Ruhe. Am dritten Tag brachte er sie zu den freundlichsten Nachbarn und blieb schon bald ganze Jahreszeiten fort, ausgestattet nur mit Bettzeug und den Bänden von Isaac Stevens. Manchmal ertrug er wochenlang nichts außer Stille, aber nicht die Art von Stille, wie sie viele Männer der jüngeren Generation kannten, die ihre stoischen Fähigkeiten aus Groschenheftchen und Kinofilmen hatten. Strawls Schweigen war keine heroische Wahl. Nichts darin war Selbstsicherheit oder Ruhe, ganz im Gegenteil: Es war eine qualmende, gefrorene Verwirrung oder, wenn sie bis ins Unerträgliche gesteigert war, ein Aufbringen aller Kräfte, so losgelöst von Willen oder Glauben, so sehr nur in dem wurzelnd, was direkt vor ihm lag, selbst wenn er blind dafür war, dass es ihn anwiderte.
Ihm war, als würde er rückwärts leben, als würden ihm die Jahre Weisheit rauben, nicht bringen. Er erkannte, was alle sehen sollten, die bei der Polizei arbeiteten: Noch im tugendhaftesten Leben lag Anarchie verborgen wie eine scharfe Patrone, und jeden Augenblick konnte der Schlagbolzen auf den Zündkopf fallen und das wirbelnde Blei in jede beliebige Richtung rasen lassen.
In diesen Jahren waren die einzigen Worte, die ihn erreichten, jene, die ihn zu einem Verdächtigen brachten oder in die Irre führen sollten. War er auf einem Pferd unterwegs, passte er seinen Atem dem des Tieres an, der einzige Geschmack im Mund war der von den Resten der Mahlzeiten aus den Blechbüchsen der Armee oder von etwas, das er eine Stunde zuvor erlegt hatte. Sein Verstand war leer bis auf das, was ihn umgab, und er suchte darin nichts als Stille. Doch seine Ohren verweigerten ihm diesen kleinen Dienst, denn jene Form von Stille ist keinem Menschen vergönnt.
In jenen Tagen war die Omak Stampede eines von vielen Rodeos und Omak nur eine weitere Holzfällersiedlung. Im Jahr des großen Börsenkrachs im Osten der Staaten drängte die Frau des Sägewerkbesitzers zusammen mit ihrer Frauengruppe ihren Mann und die Stadtväter dazu, eine Verfügung zu erlassen, dass die Bars um 21 Uhr schließen mussten, und der Sheriff wurde angewiesen, Indianer und Viehtreiber wegen Vagabundierens zu belangen, wenn sie weniger als zehn Dollar bei sich hatten.
Im Spätsommer 1932 schlossen zwei Speiselokale und die drei vorhandenen Kneipen ihre Pforten, darunter das Lucky Seven, das auch als Rathaus diente. Die Ranchhelfer suchten sich Arbeit beim Dammbau und am Zahltag ihr Vergnügen im Hurenhaus. Der zweite Luzernenwuchs blieb stehen, da es niemanden mehr gab, der die Mähmaschinen und Ballenpressen bediente, vom Tragen und Aufstapeln der Ballen ganz zu schweigen. Im darauffolgenden Winter stellten die Stadtväter fest, dass die Frauen zwar feine, tüchtige Damen waren und die Glocken der fünf Kirchen an den Sonntagen wirklich schön läuteten, doch dass auch sie sich nicht dazu herabließen, mit Mehl und Zaundraht, Nägeln und Hämmern hausieren zu gehen oder die Arbeitskräfte zu beschaffen, die die Hämmer auch benutzten.
Der Bürgermeister, der das schwarze Los gezogen hatte, fuhr nach Nespelem und versprach dem dortigen Stamm ein Rodeo mit Langhäusern, Slahal-Spielen, Wahluke-Wein und einem Powwow, falls sie zu einem Gemeindefest erscheinen würden. Eine Indianerin namens Pence schlug vor, die Keller Downhill Races auf den Okanogan Sand Hill zu verlegen. Sechs Monate später spülte das erste Omak Stampede Rodeo and Suicide Race genügend abgebrannte Wanderarbeiter und Cowboys in die Stadt, um die Ranches durchs Frühjahr zu bringen.
Strawl hatte einen guten Ruf als Reiter und genoss als Gesetzeshüter weithin Ansehen, auch wenn ein Großteil davon aus übler Nachrede erwachsen war. Mit fast dreiundsechzig Jahren war er eingeladen worden, bei dem Spektakel mitzumachen. Als er ablehnte, bot ihm das Festkomitee an, ihn zum Marshall der Parade zu ernennen, und als er auch dies ablehnte, bat ihn der Stadtrat, wenigstens die Startpistole beim ersten Rennen abzufeuern. Er willigte unter der Bedingung ein, dass es keine öffentliche Ankündigung gab. Grund dafür war wohl kaum Bescheidenheit. Zwar war sein Ruf so groß, dass jeder, der ihm begegnete, ihn auch erkannte, ob er nun auf eine Kanzel stieg oder in einem Cabrio fuhr. Zugleich hatte die Hälfte der Zuschauer aber Grund genug, ihn zu töten oder zu verwunden, also entschied er, es ihnen so schwer wie möglich zu machen.
Kurz vor Sonnenuntergang, eine halbe Stunde vor dem Rennen, fand man ihn in einer Gruppe tattriger Siebzigjähriger, die am Startpunkt des Rennens unter einer riesigen Eiche standen und rauchten. Er war zwar zehn Jahre jünger als sie, aber kaum anders als bei ihnen zogen seine Sichelfüße und seine in sich gekehrte Art die Schultern nach innen und ließen ihn zusammensinken. In seinen Tagen als Gesetzeshüter hatte seine Gestalt ernst und einfach gewirkt, ein Eindruck, den er stets gegen die Lügen der Verdächtigen oder der ihnen Nahestehenden eingesetzt hatte.
Der alte Belsbe musste fürchterlich husten. Er war schon seit zwei Monaten krank, dabei ging gerade nur ein Schnupfen herum. Gut möglich, dass die Männer, die da bei ihm standen, bereits bei seiner Hochzeit dabei gewesen waren, ganz sicher würden sie ihn zu seiner letzten Ruhestätte tragen, doch ohne einen Sohn, der sein Land übernehmen konnte, würde seine Witwe wohl gezwungen sein, die landwirtschaftlichen Geräte versteigern zu lassen. Sie standen in Cowboyhemden und Boloties beisammen, schätzten insgeheim ab, wie viele Tage Belsbe wohl noch hatte, gingen im Geiste ihre eigenen Besitztümer und die der anderen durch.
Land, das war Wahrheit jenseits von Grundbuch und Vertrag, jenseits von Addition, Subtraktion, Algebra oder Analysis, die sie vielleicht in der Schule gelernt hatten, und auch jenseits des Gottes, von dem sie in der Kirche hörten, oder der abgedroschenen Geschichtslektionen, die Politiker einflochten, um Stimmen zu ergattern. Land war eine so unumstößliche Wahrheit, dass dafür keinerlei Glaube nötig war. Land war einfach. Strawl hatte seine eigenen zweihundert Hektar schon lange seinen Kindern überschrieben – ein Fehler, der ihn langsam in den Bankrott trieb, auch wenn es für die Erde und ihre Flora keinen Unterschied machte.
Die Teilnehmer trennten sich langsam von der Menge. Sie standen in einem engen Grüppchen zusammen und reichten Whiskeyflaschen und Laudanum weiter, unten rief der Rodeo-Sprecher die Ergebnisse der letzten Bullenreiter aus und schimpfte auf die Clowns, die auf den Viehgattern hockten. Gelächter, Gemurmel und wiederkehrender Applaus brandeten zusammen mit dem Geruch von Schmalzgebackenem aus den Imbissständen vom Ufer her auf.
Strawl kontrollierte die Patronen in der Starterpistole und besah sich dann den Kurs, der mit einem Sprung auf den 62 Grad steilen Hang begann und sechzig Meter tief bis zum Okanogan River führte. Waren Pferd und Reiter am anderen Ufer, ging es dreißig Meter hoch zum Rodeo-Platz.
Das Rodeo kam langsam zum Ende, und der Sprecher lenkte die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf eine Stelle über und hinter der Nordtribüne. Lichter, die entlang dem Kurs an Stangen befestigt waren, blendeten sie plötzlich. Pferde, so bleich wie der Mond, stellten sich auf die Hinterbeine und drehten sich. Sie schnaubten, als die letzten Reiter ihre Sättel festzurrten. Ein Pferd wieherte und wehrte sich gegen das Zaumzeug. Auch die anderen Tiere reagierten, bis das ganze Rennfeld in Bewegung geriet. Reiter johlten, griffen nach ihren Peitschen und banden sich Lederbeutel voller Schotter an die Sättel, mit denen sie nicht ihre Pferde anfeuern, sondern auf die Konkurrenten eindreschen wollten.
Der Bürgermeister nickte Strawl zu; der hob den Arm und gab einen Schuss ab. Alles sprang über den Rand und stürmte geschlossen den Hügel hinunter, der zu steil war, um Pflanzen oder Saatgut halten zu können. In einem Atemzug legte die Hälfte der Reiter die sechzig Meter bis zum Wasser zurück. Der Rest verbarg sich in dem Nebel aus Mensch und Pferd, der auf den Okanogan River zudriftete. Jene, die noch auf ihren Pferden saßen, mühten sich durchs Wasser, schwammen ein paar Meter und kämpften sich dann auf den Rodeo-Platz hoch, der erneut voller Licht und Lärm war.
Die anderen Reiter verteilten sich über den Hang und das diesseitige Ufer, humpelten auf gebrochenen Knöcheln herum, mit ausgerenkten Schultern, geprellten Rippen und aufgeschlagenen Schädeln. Ihre Pferde standen am Flussufer und tranken, als hätte man sie still und leise auf eine Weide geführt. Drei Tiere probierten, auf gebrochenen Beinen voranzukommen, und waren ganz erstaunt, dass so etwas Festes wie ein Knochen so schnell in Zweifel gezogen werden konnte. Später würde man sie in der Tierkörperverwertung von ihrem Leiden erlösen und zu Schweinefutter verarbeiten.
Die Menge verstummte. Die Temperatur war drückend, Strawls Pflichten als Ehrenmarschall waren erfüllt. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und bewunderte die orangefarbene Glut, die das Papier versengte. Am klaren Himmel erkannte er die Sternbilder. Das war alles, was noch von dem übrig geblieben war, was ihm seine Mutter beigebracht hatte, Sterne am Himmel, die Bilder ergaben, wie sie jemand irgendwann mal festgelegt hatte.
Strawl suchte nach den Rotariern mit seinem Scheck. Die Herren fühlten sich in seiner Gegenwart nicht wohl und würden ihn nicht lang aufhalten. In seinen Polizeitagen, als ihr Ton ihm gegenüber noch zu Überheblichkeit geneigt hatte, war Strawl schon mal mit einem ihrer Kinder im Schlepptau in ihren Geschäften aufgetaucht. Vertraulich übergab er ihnen dann Beweise dafür, dass ihre Töchter irgendwelches Gesindel in ihre Schlüpfer ließen oder ihre Söhne schmutzige Heftchen stahlen, um sich selbst zu beschmutzen. Keine Verbrechen, hatte er gemeint. Nur Unziemliches. Nichts, was ein Mann der Gesellschaft in der Öffentlichkeit wissen wollte.
Die Alten schlenderten zu einem Stand hinüber, der kalte Drinks anbot. Übrig blieb nur ein drahtiger, schlanker Mann. Er strich sich den langen Schnurrbart glatt, und seine blauen Augen blinzelten in der staubigen Luft. Er trug den grauen Hut eines County Sheriffs.
»Tja, ich nehme an, du weißt, warum ich hier bin«, sagte der Mann.
»Entweder du bietest mir einen Job an, Officer Dice. Oder du verhaftest mich.«
»Beide Möglichkeiten sind schon diskutiert worden.«
»Und?«
»Ersteres. Wir möchten dich anheuern.«
»Wozu Zeit und Geld verschwenden? Das Reservat ist doch gleich auf der anderen Flussseite«, meinte Strawl.
Dice sagte nichts.
»Und es liegt nicht in eurem Einzugsbereich.«
»Nein, das tut es nicht.«
»Soll doch die Stammespolizei ihn jagen.«
Dice besah sich seine Hände. »Die Sache ist etwas komplizierter.«
Strawl lachte. Dice war Sheriff im angrenzenden County, verließ aber allenfalls sein Büro, um über die Straße ins Rathaus zu gehen und mit dem Bürgermeister zu Mittag zu essen. Auf sein Drängen hin wurde sein Bild neben der Verbrechensspalte in den Wochenzeitungen abgedruckt, obwohl er noch nichts Gröberes als unerlaubtes Betreten untersucht hatte, seit er Strawl im Amt des Sheriffs nachgefolgt war. Selbst als Jasper Sampson von der Bürgerwehr als Brandstifter festgenommen worden war, nur um dann seine Gefängniszelle in Brand zu stecken und sich dabei selbst zu grillen, hatte Dice sich einen Bundesbeamten für die Drecksarbeit geholt. Nicht, dass er nicht den Mumm gehabt hätte für den Job; er sah nur keinen Gewinn darin. Hiram Evans wollte im kommenden Winter seinen Senatsposten im State House aufgeben. Ein wohlmeinender Nachbar war auch zu Strawl gekommen und hatte ihn gebeten, sich für den Posten zu bewerben. Dice dagegen brauchte dazu keine Aufforderung.
Strawl rief einen vorbeikommenden Jungen zu sich.
»Hol mir was Kaltes zu trinken«, sagte er zu ihm. »Und zwar zügig.« Der Bursche deutete auf sich. Strawl nickte.
»Jawohl, Sir.« Der Junge schaute sich nach dem Getränkestand um.
»Du hast ihm kein Geld gegeben«, stellte Dice fest.
»Es wird ihm ein Vergnügen sein, mir ein Glas zu spendieren.«
Dice sah dem Burschen nach. Das Rodeo unten war zu Ende. Strawl lauschte, wie die Schritte der Zuschauer auf den Holzbohlen der Tribüne klapperten.
»Du hast George Taylor erwischt«, erklärte Dice. Taylor war nach dem Großen Krieg Bankräuber gewesen. Er hatte an ein und demselben Tag zwei Filialen der Old National Bank überfallen. Eine Woche später hatte Strawl seinen verlassenen Wagen bei Leahy Junction entdeckt. Er lieh sich ein Pferd und folgte ihm nordwärts bis zum Columbia River, dann nach Osten durch das Reservat. Schließlich erschoss er Taylor durch ein Hüttenfenster, als er sich gerade an einem Holzofen Speck briet.
Dice schob die Hände in die Taschen.
»Setz doch die Staatsjungs auf den Mistkerl an«, riet ihm Strawl.
»Hab ich schon«, antwortete er.
»Na, dann haben die doch sicher ein, zwei Spuren.«
»Nichts.« Dice hielt inne, zündete sich eine Zigarette an und hielt Strawl die Schachtel hin, doch der lehnte ab, er war mit seiner eigenen Kippe noch nicht fertig.
»Hab gehört, du hast jetzt Hilfe«, sagte Dice. »Angeheuert?«
Strawl schüttelte den Kopf. »Dots Mann.«
»Ach, ich dachte, der wäre gebildet.«
»Schuhsohlen kann der auch nicht essen.«
»Diese Rechtsverdreher im Osten haben uns ganz schön an die Gurgel gekriegt, hm?«
»Ich bekomme meine Mahlzeiten immer noch regelmäßig«, erwiderte Strawl.
Dice zog an seiner Zigarette. Sein zusammengekniffenes Gesicht leuchtete in der Glut rosa auf.
»Und, kommt der Damm?« fragte Strawl.
»Jetzt, wo Roosevelt den Kongress am Kragen gepackt hat.« Roosevelt war ein Lügner, aber ein guter. Er hatte Geld für einen Staudamm in Grand Coulee angefordert, ähnlich wie der von Hoover, aber der Kongress hatte nur genug für eine niedrigere Konstruktion bewilligt. Roosevelt hatte die Ingenieure dennoch beauftragt, mit den ursprünglichen Plänen fortzufahren, und dann dem Kongress überantwortet, das Bauvorhaben entweder fertigzustellen oder zu erklären, warum man fünf Millionen Dollar für einen Damm ausgegeben habe, der kein Wasser aufhalten würde.
»Da sollen sich die Arbeiter tummeln wie in einem Ameisenhaufen, hab ich gehört.«
Dice nickte.
»Alles eingetragene Wähler, nehme ich an.«
»Sobald sie ihre Lohnschecks eingelöst haben.«
Strawl lehnte sich an die Eiche. Die Streifenborke drückte ihm Linien in die Haut seines Arms.
»Würdest du dir wohl mal eine Leiche anschauen?« fragte ihn Dice.
»Wo?«
»Truax’ Kühlraum.«
»Und die Familie hat nichts dagegen, dass ihr die Leiche in einem Kühlraum aufbewahrt?«
»Ihn so aufzubewahren, ist nicht annähernd so grausam wie seine Todesart.«
Strawl hatte sowieso vorgehabt, in der kommenden Woche den Fluss zu überqueren und nach Nespelem zu fahren, um bei Clara’s Mill Sägeblätter schleifen zu lassen. Den Fleischer aufzusuchen, war kein Umweg. »Ich schau mir die Leiche an«, willigte er ein.
Der Junge kam zurück. Er reichte Strawl einen Pappbecher, Strawl nahm ihn und trank.
Dice warf dem Burschen einen Vierteldollar zu. Der Junge schaute ihn an. »Wollen Sie auch was?« fragte er.
Dice schüttelte den Kopf. Der Bursche verschwand.
»Du hast eine Schwäche für Kinder?« fragte Strawl.
»Und ich gebe gern einen aus«, antwortete Dice.
Strawl pustete eine Wolke Zigarettenqualm in seine Richtung und sah ihn blinzeln.
»Hier grenzen drei Countys im Umkreis von fünfzehn Meilen aneinander«, erklärte Dice.
»Na, dann könnt ihr ja alle mal die Köpfe zusammenstecken.«
»Ich will damit sagen, da steckt richtig Geld drin. Könnte ganz nützlich sein.«
Strawl drehte den Becher in der Hand. »Wie geht’s denn deiner Frau?« fragte Strawl.
»Die hat mit der ganzen Geschichte nichts zu tun.«
»Geschichte«, wiederholte Strawl. »Ein Wort, viele Möglichkeiten, oder?« Er drehte den Pappbecher, bis er die Naht fand, dann schob er den Daumennagel unter die Ecke und zog die Beschichtung ab. »Wie lange bist du jetzt Polizist?« fragte Strawl.
»Mit der Zeit als dein Stellvertreter sind es wohl zehn, zwölf Jahre, schätze ich.«
»Und hast du in all der Zeit jemals jemanden erlebt, der mich verarscht hat?«
»Nein«, sagte Dice.
»Oder mich wie ein Weib herumgescheucht hat?«
Dice schüttelte den Kopf.
Strawl spuckte zu Boden und grinste. »Glaubst du vielleicht, dass ich mit dem Abzeichen, das ich in die Schublade gelegt habe, auch alles andere abgelegt habe?«
Dice drückte seine Zigarette am Stiefelabsatz aus und sah Strawl noch einmal an. Dice hatte zu sehr gedrängt und zu wenig gelockt, und Strawl wartete ab, wollte wissen, ob Dice genug Verstand besaß, einen Rückzieher zu machen. Als Dice sich umdrehte und ohne ein Wort zu sagen zu seinem Wagen ging, musste Strawl ihm das zumindest zugestehen. Er sah dem Streifenwagen nach, ein kantiger Chevy, der auf gerader Strecke 130 Sachen fahren konnte, so behaupteten es zumindest die Anzeigen in den Magazinen.
Am folgenden Morgen traf Strawl kurz nach Sonnenaufgang an der Thacker-Fähre ein. Er fuhr seinen Jagdwagen, einen Pickup. Vom Unterboden ragten eiserne Gabeln bis über den Kühlergrill. Sie hielten eine 50-Kilo-Eisenstange, an die Strawl eine Kabelwinsch genietet hatte. Von November bis März ersetzte er sie durch einen Schneepflug.
Der junge Bill Thacker, Wild Goose Bills Sohn, stocherte an Bord der Fähre in seinem Frühstück herum. Bill jr., der stets spät aufstand und den ganzen Tag trank, war ein durchaus bemerkenswerter Junge, konnte aber Wild Goose Bill nicht das Wasser reichen. Der hatte die Fähre einst für die Armee eingerichtet, die die Sippen der Salish durch die Gegend des Big Bend bis in die Okanogans und wieder zurück gejagt hatte, bis die Bundesregierung endlich die Reservatsgrenzen festlegte. Bill hatte gutes Geld dabei verdient, aber er spielte und trank auch mit jedem, dem danach war, was ihn daran hinderte, die Reichtümer anzuhäufen, die er sonst gehabt hätte. Seinen Spitznamen hatte er sich bei einem trinkreichen Jagdausflug zu Thanksgiving geholt, der damit endete, dass er die Lieblingsgans eines Farmers erledigte und dann behauptete, er hätte sie in Richtung Kanada davonwandern sehen. Schließlich war er bei einer Schießerei um eine Frau ums Leben gekommen, die er heiraten wollte, obwohl die Idee bei der Frau selbst und dem anderen jungen Kerl, dem sie eingeflüstert hatte, er wäre ihr Favorit, nicht gut angekommen war. Die Frau bekam von Bill zwei Kugeln in den Arm; der junge Kerl und er wechselten dagegen genug Blei, um sich der Obhut eines Arztes für immer zu entziehen.
Bill jr. wischte sich das Kinn ab und stand auf, dann zog er seinen öligen Staubmantel an und setzte einen breitkrempigen Hut auf, der von Fahrten durch weniger schönes Wetter als an diesem Morgen schwer mitgenommen war. Er löste die Kette am Tor, und Strawl fuhr den Pick-up vorsichtig über die Rampe auf den Kahn. Bill zog an einer Seilrolle, die schwere Rampe hob sich, dann drückte er die Fähre ins Wasser hinaus. Bill machte die Leinen von den Stangen los, die zu beiden Seiten der Fähre im Flussboden steckten. Die Strömung trieb sie in Richtung der Stützpfeiler flussabwärts, doch Bill jr. warf den Dieselmotor an und brachte die Fähre in eine Linie mit dem Kabel, das zum gegenüberliegenden Ufer gespannt war. Er zog an einem Seilstarter, und ein kleiner Motor sprang an, der eine Seilrolle drehte. Als Bill die Kurbel einrasten ließ, packte die Spule das Kabel mit einem Ruck und machte sich daran, sie über den Fluss zu ziehen. Zwei Möwen erhoben sich bei dem Krach, und eine Entenfamilie teilte sich und ließ die Fähre passieren.
Am anderen Ufer schlug Bill sein Hauptbuch auf und setzte die Fahrt auf Strawls Rechnung, dann senkte er die Rampe auf das sandige Ufer. Die Straße führte aus dem Canyon heraus und brachte Strawl erneut in die Okanogans. Auf dieser Flussseite war es erheblich schöner als auf Strawls. Die Hänge zum Fluss waren von Blaubüschel-Weizengras und breitblättrigen Pflanzen wie Balsamwurzel oder Wolfskraut begrünt. Erlen und Pappeln standen hier und da an den Uferwänden und in den Wasserrinnen. Strawl konnte Pollen in der Luft riechen, der mit Fichten- und Tannenharz versetzt Indianermedizin ergab.
Oben auf den flachen Wiesen tauchten ein paar Farmhäuser auf, manche gestrichen, andere verlassen, die Außenwände von Wetter und mangelnder Wartung ganz verzogen. Herabfallende Äste hatten ein, zwei Dächer durchschlagen. Die Indianer hatten die Siedlungen nach einem Jahr der Missernte aufgegeben, oder sie hatten einfach beschlossen, dass die Arbeit auf einer Farm, die sie nie hatten haben wollen und mit der sie Rechnungen bezahlen sollten, für die sie keinerlei Verantwortung zu tragen meinten, keine Option für ein weiteres Jahr wäre.
Auf den Lichtungen dahinter fanden sich weitere Häuser: armselige Hütten und Schuppen, häufig aus rostigem Blech oder mit Motorhauben und abgehackten Autodächern als Wänden. Elch- und Hirschkadaver hingen zum Reifen an ein paar Pappeln und Robinien, die sie beschatteten. Zwei Männer lagen in einem Garten wie schlummernde Liebende, aneinandergeschmiegt wie Löffel. Schmiere hatte ihre karierten Hemden dunkel gefärbt. Der eine hob den Kopf, beschirmte sich die Augen und schaute zu, wie Strawl vorbeifuhr. Ein Doppeldecker tauchte über die Straße und stieg dann in die Höhe, bis die Maschine ein ferner Fleck am Himmel war, den nur noch Strawl hören konnte.
Die Siedlung bestand aus vier Straßen mit passablen Häusern, umgeben von Bruchbuden, so wahllos verteilt wie Spucke auf einem Felsen. Weißen Männern wie Metzger Truax gehörten die Maschinen, der Pferdestall, die Kneipen und der Gemischtwarenladen. Als sie ins Reservat gekommen waren, hatten die meisten von ihnen nichts gehabt außer dem, was sie sich leihen oder was sie stehlen konnten. Schließlich hatten sie sich auch Frauen genommen, doch im Reservat herrschten wirre Vorstellungen über die Institution der Ehe. Die Händler weigerten sich, Stammesbeziehungen anzuerkennen, und die Kirchen verheirateten die Heiden erst, wenn sie den Katechismus lesen konnten. Zeremonien, amtliche Vollmachten, Prediger und Friedensrichter, all das war mühsam, also entledigte man sich dieser Dinge aus blanker Bequemlichkeit. Das Brautwerben bestand darin, dass der Mann die Frau so lange mit Whiskey abfüllte, bis sie seiner Leidenschaft nachgab oder darüber einschlief. Frauen wechselten den Besitzer wie Traktorteile, und nicht selten wurde ein hübsches Mädchen regelrecht dazu gezwungen, wenn seine Familie nicht die Mittel oder die Waffen hatte, um sich zu wehren. Der katholische Priester schalt seine Gemeinde wöchentlich ob solcher Fehltritte, doch die sonntäglichen Vormittage brachten für die örtliche Bevölkerung noch ganz andere Aufgaben und Schwierigkeiten mit sich, und die wenigen, die auf den Kirchenbänken saßen, gehorchten ohnehin bereits den kirchlichen Lehren.
Strawl wartete, während acht gefleckte Rinder vorbeikamen, die von einem Indianerjungen im Overall mit einer Weidenrute geführt wurden. Ein kleiner gelber Köter folgte ihm mit heraushängender Zunge.