Kate Hoffmann, Karen Foley, Samantha Hunter
TIFFANY SEXY BAND 95
IMPRESSUM
TIFFANY SEXY erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH
Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
Geschäftsführung: | Thomas Beckmann |
Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) |
Produktion: | Christel Borges |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEXY
Band 95 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
© 2013 by Peggy A. Hoffmann
Originaltitel: „The Mighty Quinns: Rourke“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Almuth Strote
© 2014 by Karen Foley
Originaltitel: „Make Me Melt“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Charlotte Kesper
© 2012 by Samantha Hunter
Originaltitel: „Yours For The Night“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Ulrike Peters-Karnia
Abbildungen: Unlisted Images / Corbis, binbox / Thinkstock, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733752002
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Ein Sturm braut sich über Cape Breton zusammen, und Rourke Quinn muss sich entscheiden: auf der Insel bleiben oder die letzte Fähre zum Festland nehmen? Der geheimnisvollen Annie aus dem Weg gehen – oder die Affäre mit der wilden Schönheit fortführen, egal, wohin sie das beide führt? Viel Zeit bleibt Rourke nicht. Der Sturm und Annie kommen immer näher …
Nackt überraschte Caroline ihn damals im Bett. Jason sollte der Erste sein, mit dem sie die Liebe erleben wollte. Doch er sagte Nein und brach ihr Herz … Jetzt sucht er sie in San Francisco auf. Der US-Marshal hat eine Nachricht für sie: Nach einem Anschlag auf ihren Vater schwebt Caroline in Gefahr! Jason wird sie beschützen. Tagsüber – und vor allem nachts …
Für die Hochzeit eines Freundes fliegt Bodyguard Garrett nach San Francisco. Liebe steht nicht auf seinem Plan – bis er der temperamentvollen Tiffany begegnet. Stürmisch küsst sie ihn wach, und eine lustvolle Nacht ist der Beginn einer heißen Affäre. Die zu einem gefährlichen Abenteuer wird, als das Juweliergeschäft von Tiffanys Eltern überfallen wird …
„Ich verliere langsam die Hoffnung, dass wir sie je alle finden werden.“
Aileen Quinn ließ den Blick aus ihrem Bürofenster in den grauen Himmel wandern. Der Herbst ging bereits merklich in den Winter über und sie fürchtete sich vor der feuchten Kälte, die sich bald in ihre Knochen schleichen würde. Als sie noch jung gewesen war, hatte sie sich vor den kalten irischen Wintern oft nach Südfrankreich gerettet und sich an der Mittelmeerküste von der Sonne verwöhnen lassen. Doch inzwischen war sie schon seit Jahren nicht mehr gereist. Sie fühlte sich in ihrer vertrauten Umgebung einfach am wohlsten.
„Ich habe eine Spur zu Ihrem Bruder Diarmuid, die ich noch nicht ganz aufgeben möchte“, sagte Ian, während er seine Notizen durchging. „Aber was Lochlan betrifft, muss ich leider zugeben, dass ich auf fünf Kontinenten keine Spur von ihm finden kann. Als hätte es ihn nie gegeben.“
Aileen hatte Ian Stephens vor einigen Monaten engagiert, um mehr über ihre Eltern und den Teil ihrer Vergangenheit herauszufinden, der ihr bis heute ein Rätsel war. Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen und hatte viele Jahre gedacht, dass sie das einzige Kind einer mittellosen Witwe sei, die an Schwindsucht gestorben war – nachdem ihr Ehemann beim Osteraufstand 1916 ums Leben gekommen war. Doch Ians Recherchen hatten gezeigt, dass sie vier ältere Brüder gehabt haben musste – Geschwister, die sie nie gekannt hatte und die es nach dem Tod ihrer Mutter in alle Winde verschlagen hatte.
„Schon wieder bin ich ein Jahr älter geworden“, sagte Aileen und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich hatte nie vorgehabt, meinen siebenundneunzigsten Geburtstag zu erleben – Himmel, ich bin wirklich schon viel zu lange auf der Welt.“
„Sie sind die jüngste Siebenundneunzigjährige, die mir je begegnet ist“, sagte Ian lächelnd. „Sehen Sie sich doch an – wie Sie immer noch schreiben, immer noch aktiv ihr Leben bestimmen.“
„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber dieser alte Körper fühlt sich durch ihre Worte keine Minute jünger an.“ Aileen lächelte sanft. „In meinem Kopf bin ich immer noch eine junge Frau und wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne ich mich manchmal beinahe selbst nicht. Ich wünschte, ich könnte diese Jahre noch mal erleben.“
„Sie haben doch ein wunderbar ausgefülltes Leben gehabt, Miss Quinn. Ein bedeutendes Leben. Ihre Bücher bedeuten so vielen Menschen so viel – Sie sind eine der beliebtesten Schriftstellerinnen Irlands.“
„Und dennoch suche ich die ganze Welt nach einer Familie ab, die mir endlich Wurzeln geben würde – Wurzeln abseits meiner Bücher. Denn wenn ich meine Arbeit nicht immer in den Vordergrund gestellt hätte, hätte ich vielleicht sogar eine eigene Familie gründen können.“
Ian hatte die Nachfahren zweier ihrer Brüder ausfindig machen können – Tomas’ Familie bei Brisbane in Australien und Conals Familie in Chicago in den Staaten. Aber das war inzwischen auch schon fünf Monate her. Aileen hatte für die Feiertage ein riesiges Familientreffen geplant und dafür das komplette Ballyseede Castle mit seinen zweiundzwanzig Zimmern angemietet. Und diese Zimmer galt es nun zu füllen.
„Was wissen Sie denn über Diarmuid?“, fragte Aileen.
„In einer kanadischen Volkszählung von 1945 sind wir über ihn gestolpert. Die Daten wie Alter und Geburtsort Irland passen. Er ist als Dermont registriert, aber das ist einfach die verenglischte Form vom gälischen Diarmuid.“
Aileen lehnte sich in ihrem Sessel nach vorn. „Das klingt doch gut.“
„Und wenn Dermont unser Mann ist, hat er sich als Fischer in Cape Breton niedergelassen und drei Söhne gehabt. Der älteste, Alistair, starb im zweiten Weltkrieg. Der nächste, Brian – genannt Buddy –, starb vor fünf Monaten, er war Junggeselle. Und dann gibt es noch Paul, der vor circa acht Jahren gestorben ist. Dessen Sohn Rourke ist der einzige Erbe.“
„Rourke?“
„Das ist wohl der Mädchenname seiner Mutter. Sie ist sehr viel jünger als sein Vater gewesen und inzwischen wohl wieder verheiratet.“
„Und wann können Sie mit Sicherheit sagen, dass Dermont Diarmuid ist?“
„Das ist nicht so leicht, aber wir kommen der Wahrheit immer näher. Ich habe da einen sehr guten Ahnenforscher in Halifax zur Hand, der nach Cape Breton fahren und die Akten genauer untersuchen wird.“
Es klopfte leise und Sally betrat das Büro. „Das Essen steht im Speisesaal bereit, wenn Sie hungrig sind.“
„Vielen Dank, Sally“, antwortete Aileen. „Wir kommen sofort.“ Sie sah Ian an. „Ich hoffe, dass Sie noch einen Moment bleiben – ich wollte Ihnen noch von meinen Plänen für die Weihnachtsferien erzählen, ich habe nämlich das gesamte Ballyseede Castle gemietet.“
Ian blinzelte überrascht. „Dieses Riesending? Nun, dann kann ich mir wohl keine weitere Unterbrechung leisten – auch kein Mittagessen mit Ihnen. Ich habe in den kommenden Wochen viel zu tun, wenn bis Weihnachten die Familie wiedervereint sein soll.“
„Natürlich wünsche ich, dass Sie an dem großen Familienfest auch teilnehmen“, sagte Aileen. „Sie sollen meine ganz private Autobiographie schreiben und dieses Fest soll das letzte, das finale Kapitel sein.“
„Ein perfektes Ende.“
„Und so viel schöner als eine schnöde Beerdigung – oder was meinen Sie?“, sagte Aileen und ihre Augen funkelten amüsiert. „Kommen Sie“, sagte sie und stand etwas mühsam auf. „Wollen wir doch mal sehen, was Sally für uns vorbereitet hat.“
Ian kam schnell zu ihr und stützte sie am Arm. „Habe ich Ihnen eigentlich erzählt, dass sich dieser Fernsehsender an mich gewendet hat, als die von meinen Nachforschungen erfahren haben?“, fragte er. „Eine amerikanische Produktionsfirma möchte eine Doku über Ihr Leben machen.“
„Stellen Sie sich das einmal vor“, sagte Aileen erstaunt. „Das interessiert doch niemanden.“
„Da möchte ich widersprechen“, sagte Ian. „Es wäre ein wunderbares Projekt – und das habe ich der Produzentin auch gesagt, als sie mich angerufen hat.“
„Ach, ich weiß nicht. Nun habe ich es so viele Jahre lang geschafft, mein Privatleben für mich zu behalten. Wäre so eine Dokumentation nicht vielleicht … irgendwie unziemlich?“
„Ich denke, dass Ihre Leser unheimlich gern mehr über die Frau hinter den Büchern wissen würden.“
„Ich muss darüber nachdenken“, sagte Aileen. „Vielleicht können Sie mich beim Essen ja davon überzeugen.“ Sie gingen zum Speisesaal. „Außerdem können wir noch mehr Forscher einstellen, um doch noch etwas über Lochlan herauszufinden. Heutzutage verschwindet doch niemand einfach so, irgendetwas bleibt immer übrig, irgendeinen Hinweis werden wir finden. Und vielleicht weiß ja auch Diarmuids Zweig der Familie mehr über Lochlan.“
„Keine Sorge, wir werden alle zweiundzwanzig Zimmer in Ballyseede Castle gefüllt bekommen“, sagte Ian. „Das können Sie mir glauben.“
Im Baumarkt war die Hölle los, als Rourke Quinn den Laden betrat. Die Anwohner bereiteten sich auf den angekündigten Sturm vor und besorgten noch schnell alles, was man im Notfall zu Hause benötigen konnte, wenn einen Wind und Regen erst mal ans Haus fesselten.
„Hey Rourke! Bleibst du etwa noch hier? Das soll der stärkste Sturm der letzten zehn Jahre werden – sagen zumindest die Experten.“
Rourke wandte sich zur Ladenbesitzerin um und warf Betty Gillies ein Lächeln zu. „Nein, ich bin schon so gut wie weg. Wenn der Sturm kommt, will ich längst auf dem Festland sein. Ich brauche nur noch ein paar Batterien für meine Kamera, weil ich gern noch ein paar Bilder von der Küste schießen würde, bevor ich die Insel verlasse.“
„Wir werden dich hier ziemlich vermissen“, sagte sie. „Verdammt, ich werde dich vermissen – du hast meiner Kasse immer so gut getan“
Rourke lachte in sich hinein. „Das glaube ich sofort.“
Er war jetzt seit ungefähr drei Monaten an der Ostküste von Cape Breton, um hier den Nachlass seines Onkels zu regeln. Die Familie seines Vaters hatte beinahe hundert Jahre lang auf dieser Insel gelebt und als Fischer den Atlantik durchkämmt. Aber irgendwann war nur noch Onkel Buddy übrig gewesen und nach seinem Tod galt es nun, sein Cottage zu verkaufen.
Rourke war in den USA zur Welt gekommen, seine Mutter war Amerikanerin, sein Vater Kanadier. Dadurch hatte er sich immer ein wenig zerrissen gefühlt zwischen dem kanadischen Teil seiner Familie und der ländlichen Cape-Breton-Kultur und seinem lauten Großstadtleben in New York, wo er aufgewachsen war. Sein Onkel hatte das gewusst und Rourke nahm an, dass er ihm deshalb sein Cottage hinterlassen hatte – damit er irgendwann wieder „nach Hause“ kommen könnte.
Früher hatte Rourke jedes Jahr die Sommerferien damit verbracht, seinem Onkel beim Fischen zur Hand zu gehen. Sein Vater Paul unterstützte es, dass Rourke das Leben eines Arbeiters kennenlernte. Doch als Rourke älter wurde, zog es ihn immer stärker zum Unternehmen seines Vaters hin – bis er die Sommerferien lieber dort verbrachte und in den Ferien quasi Bauingenieurswesen studierte. Seine Zeit mit Onkel Buddy wurde dadurch tiefer und tiefer in die letzten Augustwochen verdrängt.
Wie immer fühlte Rourke sich ein wenig schuldig, als er sich daran erinnerte – aber diesen Gedanken schob er schnell beiseite. Er hatte die letzten drei Monate damit verbracht, Buddys Zuhause zu renovieren und es perfekt für eine moderne Familie einzurichten. Er hatte auch schon mit ein paar Immobilienmaklern gesprochen, aber das Cottage noch nicht auf den Markt gebracht – vielleicht war es doch klüger, das Haus erst mal nur zu vermieten?
„Eine einzige Entscheidung kann dein ganzes Leben verändern“, sagte er leise zu sich selbst. Buddy hatte immer solche kurzen Weisheiten parat gehabt und dieser Satz war einer seiner liebsten.
Als Rourke noch jünger gewesen war, hatte er seinen Onkel mit seinen Sprüchen gerne etwas aufgezogen. Klar, das sticke ich mir sofort auf mein Kissen, hatte er zum Beispiel oft gesagt. Doch heute begann er zu verstehen, wie wahr viele Sätze seines Onkels waren – und wie sehr sie häufig auf sein eigenes Leben passten.
Nach der Highschool war er der Firma seines Vaters beigetreten. Nachts und am Wochenende verdingte er sich als Bauzeichner in Pauls Büro, tagsüber studierte er Ingenieurswesen. Auch wenn sein Vater es hatte geheimhalten wollen, wusste Rourke schnell, dass das Geschäft nicht besonders gut lief und sein Vater jede Hilfe gebrauchen konnte. Und mit jedem Jahr, das verging, fraß der Stress Paul mehr und mehr einfach auf.
Rourke hatte auch nach dem plötzlichen Herzinfarkt seines Vaters weiter im Unternehmen gearbeitet und gehofft, die Firma und das Erbe seines Vaters wieder in Gang zu bekommen. Doch ohne die Unterstützung der zwei anderen Gesellschafter, die abgesprungen waren, war es aussichtslos gewesen. Also hatte Rourke einen Tag, nachdem er von Buddys Tod erfahren hatte, gekündigt.
„Du willst das Cottage also verkaufen, stimmt’s?“, fragte Betty.
„Das habe ich noch nicht entschieden“, antwortete Rourke und nahm die Packung Batterien aus dem Regal vor sich. „Ich möchte nichts überstürzen.“
„Das wär’s?“, fragte sie und zeigte auf die Batterien.
Rourke nickte und fischte sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Doch während er das Geld herausnahm, wurden alle um ihn herum plötzlich ganz still. Betty starrte auf etwas hinter ihm und Rourke drehte sich langsam um.
Jeder im Ort kannte Annie Macintosh. Ihre Familie lebte genauso lang an der Ostküste der Insel wie die Quinns. Ihr Urgroßvater hatte den Leuchtturm bei Freer’s Point gebaut und geführt, doch dann war das Unglück über ihre Familie gekommen.
Annies Eltern waren gestorben, als sie noch sehr klein gewesen war, beide ertranken unter mysteriösen Umständen. Danach war sie zu ihrer Großmutter gekommen und in dem hübschen Leuchtturmwärter-Häuschen aufgewachsen, von dem aus man einen so unglaublichen Blick über den Atlantik hatte.
Als Kind war sie ein beliebtes Ziel für diverse Hänseleien gewesen. Die Angriffe der anderen Kinder zielten auf ihr Stottern und ihre Klamotten, die nie zueinander zu passen schienen, und häufig auch auf ihre ungezähmte rotbraune Mähne, die umso mehr auffiel, weil sie einen sehr hellen Teint hatte. Warum war damals eigentlich nie jemand für sie eingetreten, fragte Rourke sich manchmal. Er hatte es selbst einmal versucht, was jedoch darin geendet hatte, dass er von sechs Dorfjungs übel verprügelt worden war.
Er sah sie immer noch vor sich, wie sie umringt von sechs großen Typen wütend ihre Meinung verteidigte und ihr Stottern dabei zu ignorieren versuchte – was die Jungs nur zu noch mehr Hänseleien provoziert hatte. Das war das Mutigste, was er damals in seinem Leben gesehen hatte, und es war einer dieser Augenblicke gewesen, die Buddy gemeint haben musste. An diesem Tag hatte er erkannt, dass er sich sein Leben nie von anderen vorschreiben lassen würde und dass er ein Entscheider war, kein Mitläufer.
Annie ging ruhig zum hinteren Kühlschrank, in dem sich alles fürs Sportfischen befand. Als sie wieder nach vorn kam, hatte sie zwei große Boxen tiefgefrorene Heringe dabei.
Rourke lächelte ihr zu.
Sie lächelte zurück und für einen kurzen Moment verschlug es ihm den Atem – aus dem kleinen, etwas wilden Mädchen war eine regelrechte Schönheit geworden. Ihre Augen, die schon immer unergründlich blau, beinahe dunkelgrün und von langen schwarzen Wimpern umrahmt gewesen waren, übten plötzlich eine völlig unerwartete Wirkung auf ihn aus. Und obwohl ihr Haar vom Wind zerzaust war, fiel es ihr zugleich in vollen, weichen Wellen über die Schultern. Sie trug einfache Kleidung, eine Jeans, die ihre langen Beine versteckte, ein ausgewaschenes T-Shirt und eine leichte Leinenjacke.
Er schaffte es nicht, den Blick von ihrem herzförmigen Gesicht zu nehmen – er saugte alle Details auf, die er sich einprägen konnte, bis sie ihren Einkauf beendet hatte. Auf dem Weg zur Tür trat er einen Schritt beiseite und ließ sie durch. Sie drehte sich mit ihren Heringen unterm Arm noch mal kurz zu ihm um. „Danke“, murmelte sie leise, als ihre Blicke sich trafen und beide für einen Moment alles um sich herum vergaßen. Ihre Mundwinkel umtanzte ein weiteres, etwas zögerliches Lächeln.
Irgendwie spürte er, dass sie sich nicht für das Vorbeilassen bedankte, sondern für die Geschichte damals, vor vielen Jahren, als er verprügelt worden war. Mit zwei Schritten hatte er sie eingeholt. „Kann ich dir tragen helfen?“, fragte er und griff nach den Boxen unter ihrem Arm.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich um seine ausgestreckten Arme herumzuwinden. Dabei entglitten ihr die Boxen jedoch und schlitterten über den Holzboden des Ladens davon.
Rourke sprang vor, um sie aufzuhalten – doch Annie hatte den gleichen Gedanken und als sie sich nach unten beugten, stießen sie mit den Köpfen aneinander und fielen zu Boden. Schnell griff er ihre Einkäufe und half ihr auf. „Wo parkst du?“, fragte er sie.
Doch sie nahm ihm leise fluchend die Kisten ab und huschte hinaus, ohne ihm noch einen weiteren Blick zuzuwerfen. Rourke starrte ihr sprachlos hinterher und fragte sich, was ihr seltsames Verhalten bedeuten konnte. Und allen anderen Kunden schien es genauso zu gehen.
Er atmete tief durch, ging zur Kasse zurück und zahlte endlich seine Batterien. „Das war seltsam“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
„Das kannst du wohl laut sagen“, antwortete Betty.
„Was hat sie wohl mit den ganzen Heringen vor?“
„Das meine ich nicht – eben habe ich sie wohl das allererste Mal reden gehört!“
Rourke runzelte die Stirn. „Im Ernst? Ich weiß, dass sie früher sehr ruhig war, aber ich hätte nicht gedacht, dass das immer noch so ist.“
„Sie spricht mit niemandem. Die macht nur ihren eigenen Kram. Dass sie gar nicht einsam ist, wie sie so alleine da draußen lebt.“Betty machte mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung neben ihrer Schläfe. „Manche denken, dass sie dadurch ein wenig durchgeknallt ist.“
„Ich war seit Jahren nicht mehr am Freer’s Point“, sagte Rourke. „Keine Ahnung, ob ich den Weg noch finden würde.“
„Du musst einfach bei der großen Reklametafel an der Küstenstraße abbiegen“, sagte Betty und sah ihn fragend an. „Willst du etwa da raus fahren?“
Rourke zuckte mit den Schultern, steckte die Batterien ein und verabschiedete sich. Obwohl er die Stadt eigentlich noch vor Ausbruch des Sturms hatte verlassen wollen, kreisten seine Gedanken plötzlich nur noch um Annie Macintosh. Während im Ort alle gemeinsam ihre Häuser wetterfest machten – wer dachte da an sie? Wer half ihr? Hatte sie überhaupt irgendwelche Freunde auf der Insel?
Bevor er verschwand, würde er noch einmal nach ihr sehen, nahm er sich vor. Ein paar weitere Stunden auf der Insel würden nicht schaden, der Sturm sollte die Küste nicht vor Mitternacht erreichen und es war erst drei Uhr nachmittags.
Unterwegs tankte er den Wagen voll und besorgte noch ein paar Snacks, dann fuhr er zur Küste und bog auf die kurvige Straße zum Leuchtturm ein, den er bald vor sich aufragen sah. Rourke hielt am Straßenrand und lehnte sich auf das Lenkrad. Was hatte er eigentlich vor?
Er fragte sich, ob dies wieder einer dieser Momente war. Ging es ihm wirklich einfach nur darum, ein guter Nachbar zu sein? Oder ging es vielmehr um diese seltsame Anziehungskraft, die Annie Macintosh auf ihn ausübte? Für einen Moment wäre er am liebsten wieder umgekehrt und abgehauen. Er war ja schließlich alles andere als ein Ritter in strahlender Rüstung, gekommen, um sie zu retten. „Komm schon, Buddy, gib mir ein Zeichen“, flüsterte er.
Genau in diesem Augenblick landete eine Schwalbe auf seiner Kühlerhaube. Eine Böe musste sie zur Landung gezwungen haben. Der Vogel sah ihm durch die Windschutzscheibe direkt in die Augen, Rourke hielt die Luft an. Nach einem letzten Blick flog das Tier fort.
Er fluchte leise und fuhr weiter auf den Leuchtturm zu. Es war so viel Zeit vergangen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Ob sie sich wirklich noch an ihn erinnerte? Oder hatte er sich dieses Blitzen in ihren Augen nur eingebildet?
Er fuhr ein ganzes Stück weiter die unebene Straße entlang, bis das Haus des Leuchtturmwärters zu erkennen war. Erneut hielt er an und betrachtete den Freer’s Point.
Das Cottage hatte schon bessere Tage gesehen. Die Veranda war zur einen Seite leicht abgesackt, der Schornstein schien in sich zusammenzufallen und die Fensterläden, die das Haus vor dem herannahenden Sturm hätten schützen sollen, fielen aus den Angeln.
Als er das Haus erreichte, schob er seine Zweifel beiseite und stieg aus dem Truck. „Hallo!“, rief er laut.
In der Ferne bellte ein Hund, während er über die maroden Stufen zur Veranda hinaufstieg. Rourke klopfte an die Tür und wartete. „Hallo, jemand zu Hause?“, fragte er vorsichtig und nur einen kurzen Augenblick später kam ein Bordercollie um die Ecke geschossen und raste auf ihn zu. Rourke fragte sich einen Sekundenbruchteil lang, ob er es bis zu seinem Auto schaffen könnte, bevor der Hund ihn anfiel.
Doch direkt vor seinen Füßen stoppte der Hund abrupt, drehte sich um und lief wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Ein paar Meter weiter stoppte er erneut und sah Rourke direkt an. Er schien ihn dazu aufzufordern, ihm zu folgen. Als der Hund wieder auf ihn zukam, streckte Rourke die Hand aus und das Tier stupste ihn aufgeregt an.
„Weißt du, wo sie steckt?“
Der Hund lief davon und Rourke folgte ihm auf einem kleinen Pfad in Richtung Küste. Der starke Seewind, der seit ewigen Zeiten die Küste bearbeitete, hatte keinen Strauch stehen und keinen einzigen Baum auf diesem Stück Land je in die Höhe wachsen lassen. So gab es nichts, was den Leuchtturm und das Wärterhäuschen vor den Böen schützte, die selbst bei ruhigem Wetter sehr stark waren.
Die Wellen peitschten die Küste entlang und kündigten einen kraftvollen Sturm an. Rourke suchte den Horizont nach einem Zeichen von Annie ab und fand sie. Sie stand auf einer schmalen Felszunge, die ins Wasser ragte.
Die Gischt spritzte um sie herum in die Höhe. Sie musste völlig durchnässt sein, doch davon schien sie überhaupt nichts mitzubekommen. Sie starrte völlig regungslos auf das dunkelgraue Wasser hinaus. Der Wind ließ ihre Haare flattern und das aufgelöste Bellen des Hundes schien sie nicht ansatzweise wahrzunehmen.
Eine weitere Welle brach sich an den Felsen, auf denen sie stand, und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. „Was zur Hölle tust du da?“, murmelte er und rannte in ihre Richtung, laut ihren Namen rufend.
Zu seiner Erleichterung hatte sie ihn endlich gehört, doch gerade als sie sich zu ihm umdrehte, rollte eine riesige Welle über ihren Vorsprung und riss sie mit sich. Rourke konnte nicht erkennen, ob sie ins Wasser gefallen war, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Innerhalb von Sekunden hatte er die Felszunge erreicht und kletterte hinaus, den Blick immer auf den braunen Fleck gerichtet, der ihre Jacke sein musste. Als er Annie erreichte, lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und er beugte sich tief über sie, um zu spüren, ob sie noch atmete. Als er sah, wie ihre Brust sich hob und senkte, hob er sie auf und trug sie zur sicheren Küste zurück. Er legte sie ins hohe Gras und prüfte, ob sie sich verletzt hatte. Tatsächlich hatte sie eine Platzwunde am Hinterkopf, aus der sie stark blutete. Der Hund umkreiste sie jaulend und stupste sein Frauchen immer wieder an.
Annie seufzte auf und öffnete die Augen, mit flatternden Lidern starrte sie Rourke eine ganze Weile lang einfach nur an. Sie stöhnte leise und schloss die Augen wieder.
Er legte seine Arme erneut um sie und versuchte, sie so vorsichtig wie möglich zum Haus zurückzutragen. Als er die hintere Veranda erreichte, trat er die Tür mit dem Fuß auf, die sich ohne Widerstand öffnete.
Der riesige Raum, in dem sie direkt standen, schien einmal die Küche gewesen zu sein. Eine Wand wurde von einem Kamin dominiert, direkt daneben stand ein alter Schaukelstuhl an einem kleinen Tisch, auf dem eine Öllampe stand. Auf der anderen Seite war ein altes, großes Bett in eine Nische hineingeschoben worden. Auf dem Holzboden des Raums lag ein geflochtener Teppich, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.
Rourke legte Annie auf ihr Bett, beugte sich über sie und rieb ihre Hände in seinen. Himmel, selbst in diesem Zustand war sie wunderschön. Ihre Lippen waren perfekt geschwungen und ihre Haut war so makellos und sah so weich aus … er konnte dem Impuls nicht widerstehen und strich ihr sanft mit der Hand über die Wange.
Als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, öffnete sie die Augen und sah zu ihm auf. „Warum bist du hier?“, murmelte sie.
Ihr Stottern war verschwunden und der Klang ihrer Stimme ließ ihn erzittern. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen, dachte er. Als sie sprach, spürte er, wie sich alles, was ihn bisher ausgemacht hatte, um 180 Grad drehte. Und er wusste mit einem Mal so sicher wie nichts anderes, dass sein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor.
Annies Kopf schmerzte und ihr war so kalt, dass sie nicht klar denken konnte. Sie griff sich an den Hinterkopf und betrachtete ihre Finger. „Ich blute.“
„Du hast dir den Kopf an den Felsen aufgeschlagen.“ Er ging zum Spülbecken, nahm ein Geschirrtuch und befeuchtete es, dann kam er zurück und drückte es sanft auf ihre Wunde. „Halt es fest.“
Sie kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Er war immer noch da. Es war kein Traum oder eine alte Erinnerung. Er saß an ihrem Bett und starrte sie an. Seine schönen Gesichtszüge waren voller Sorge. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und sie zitterte mit einem Mal.
„Ist dir schwindelig? Siehst du verschwommen? Kippst du mir hier gleich um?“
Sie sah ihn nur an und schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
„Komm, ich helfe dir aus deinen nassen Sachen. Hast du etwas Warmes zum Anziehen?“
Annie zeigte auf den Fleece-Pulli und ihre Flanell-Pyjamahosen, die über einem Hocker am Fußende lagen.
Er half ihr vorsichtig auf und zog ihr die nasse Jacke aus. Sie schloss die Augen, denn plötzlich wurde ihr doch ein wenig schwindelig. Und als er nach dem unteren Ende ihres T-Shirts griff, begann ihr Herz zu rasen.
Sie sog tief die Luft ein und hob die Arme über den Kopf. Unter dem T-Shirt war sie nackt und sofort, als sie die kalte Luft auf ihrer feuchten Haut spürte, verschränkte sie die Arme vor ihren Brüsten.
Er gab ihr den Pullover und sie schlüpfte hinein. Sie zog den Reißverschluss bis zum Kinn. Langsam hob sie den Kopf und blickte ihm in die Augen. Und obwohl er sich nichts anmerken lassen wollte, sah sie ein Funkeln, das seltsam vielversprechend war. Sein Blick fiel auf ihre Lippen und für einen kurzen Moment dachte sie, dass er sie gleich küssen würde. Dann stand er plötzlich auf.
„Den Rest schaffst du alleine, denke ich“, murmelte er. „Ich besorge etwas Holz für den Kamin.“
„Das musst du nicht“, sagte Annie. „Du musst nicht bleiben, es geht mir gut.“
„Ist schon okay“, erwiderte er. „Das macht mir nichts.“ Er zeigte auf ihren Kopf. „Du musst das Tuch fest draufpressen.“
Annie nickte. Es war seltsam, wie dieser Fremde einfach in ihrem Haus stand und ihr sagte, was sie tun sollte. Und was noch viel seltsamer war: Sie ließ es einfach geschehen. „Wie bin ich nach Hause gekommen?“
„Ich habe dich getragen“, sagte er. „Dein Hund hat mich zum Wasser geführt. Was hattest du dort vor? Du weißt doch genau, wie gefährlich die Wellen kurz vor einem Sturm sein können.“ Er zitterte. „Ist es hier immer so kalt?“
„Ich habe keine Heizung, nur den Holzofen und den Kamin.“
Als er die Tür öffnete, wehte es kalt zu ihnen herein. „Rourke“, rief sie. „Du heißt doch Rourke, oder?“
Er drehte sich lächelnd zu ihr um. „Rourke Quinn.“ Dann war er schon verschwunden.
Annie setzte sich auf und nahm die Beine vom Bett. Ihr Kopf pochte noch immer, aber ihr war nicht mehr schwindelig. Naja, ein wenig vielleicht, aber das lag eher an dem gutaussehenden Mann als an der Wunde an ihrem Hinterkopf. Sie zog ihre Schuhe und Socken aus und stand auf, um die nasse Hose auszuziehen.
Zitternd schlüpfte sie in ihre Pyjamahosen und stieg wieder ins Bett. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Ich lebe sehr einsam, dachte sie. Aber diese Entscheidung hatte sie nie bereut – bis jetzt.
Es war das einzige Zuhause, das sie je gekannt hatte. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte ihre Großmutter sie zu sich genommen. Und von da an hatte sie das völlig freie Leben eines echten Wildfangs gelebt. Sie konnte tun, was sie wollte, es gab keine Regeln, keine Erwartungen. Sie aß, wenn sie hungrig war, schlief, wenn sie müde war, und dazwischen erkundete sie jeden Grashalm und jeden Felsen, der ihr Zuhause umgab.
Für ein junges Mädchen, das sich mit zwischenmenschlicher Kommunikation schwer tat, war so ein Leben perfekt. Ihre Freunde waren die Tiere in der Umgebung, Wolken, Bäume und die wunderbare Natur, die sie umgab. Ihnen war es egal, ob ihr die Worte klar und in ganzen Sätzen aus dem Mund kamen. Sie hatte in ihrer Fantasiewelt gelebt, in der sie schön und klug war und in der sie nicht stotterte.
Und eines Tages würde sie jemand aus ihrer Einsamkeit retten, hatte sie sich vorgestellt. Ihr fiel ein, dass dieser Jemand in ihrer Fantasie schon immer wie Rourke Quinn ausgesehen hatte. Ja, eigentlich war er seit dem Tag, an dem er sie vor den anderen Kindern verteidigt hatte, ihr strahlender Ritter gewesen. Und jetzt hatte ihr Held sie schon wieder gerettet. Nur war sie kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau.
Im Laufe der Jahre waren ihre Fantasien der Realität gewichen. Sie war allein und niemand würde kommen, um sie aus dieser Einsamkeit zu retten. Sie hatte das akzeptiert und gelernt, dennoch glücklich zu sein.
Vielleicht wunderten sich die anderen Inselbewohner über sie, aber sie genoss ihr Leben, liebte es sogar. Sie hatte ihre Malerei und ihre Gedichte und viel Zeit, um ihre Gedanken schweifen zu lassen. Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie sich über Gesellschaft freute, vor allem in Anbetracht des nahenden Sturms.
Das lag nicht nur daran, dass Rourke gutaussehend oder sexy oder vielleicht sogar ein wenig gefährlich war. Annie hatte schon in der Vergangenheit Stürme überstanden, doch immer hatten sie sie unglücklich, verwirrt und voller schlimmer Erinnerungen an den Tod ihrer Eltern zurückgelassen. Vielleicht würde sie diesmal, wenn jemand bei ihr war, nicht ganz so schlimm daran denken müssen.
Die Tür schwang auf und Rourke kam zurück, die Arme voller Feuerholz. Er schichtete es neben dem Kamin auf und steckte ein paar Äste in die glimmende Glut. Es dauerte nicht lange und ein knackendes Feuer loderte in die Höhe.
Er lehnte sich zurück und starrte in die Flammen. „Wie geht es dir?“, fragte er.
„Besser“, antwortete sie. „Danke, dass du mich gerettet hast.“
Er wandte sich zu ihr um und sie betrachtete seine Züge eingehend. Es lag eine Wärme in seinem Blick, die ihr das Herz schwer werden ließ. „Du solltest jetzt gehen. Nicht, dass du unterwegs vom Sturm erwischt wirst.“
„Ich habe etwas Werkzeug im Wagen“, sagte er. „Ich werde mir mal die Fensterläden ansehen, damit dein Haus überhaupt eine Chance gegen den Wind hat. Dann verschwinde ich.“
„Du musst das nicht …“
„Nein, ich glaube, ich kann dich hier so nicht zurücklassen.“
„Dieses Haus hat sich in hundert Jahren noch jedem Sturm gestellt. Ich bin mir sicher, dass es einen weiteren auch noch schafft.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete Rourke. „Diesmal soll es wirklich schlimm werden.“
Annie zuckte mit den Schultern. „Ich kann den Sturm ja nicht aufhalten, und mir den Kopf über mögliche Folgen zu zerbrechen hat auch noch nie geholfen. Was immer passiert, passiert halt.“
Er sah sie mit gerunzelter Stirn an. „Was macht dein Kopf? Bist du doch etwas verwirrt?“
Annie legte das Tuch beiseite. „Es hat aufgehört zu bluten, glaube ich.“
„Bleib einfach, wo du bist“, sagte er. „Lehn dich zurück und ruh dich aus. Soll ich den Ofen anheizen? Ich könnte dir einen Tee machen?“
„Nein, schon gut.“ Sie machte eine Pause. „Warum tust du das, Rourke Quinn?“
„Weil sich sonst niemand um dich zu sorgen scheint“, antwortete er. Er ging zur Tür und trat hinaus.
Wie lange hatte sie schon nicht mehr an ihn gedacht? Wann hatte sie ihre Fantasien so tief in ihr begraben? Annie war bis jetzt nicht klar gewesen, wie sehr sie ihn vermisst hatte – und ihre Fantasien auch. Doch etwas hatte sich verändert: Die Fantasien, die ihr plötzlich in lebhaften Farben wieder vor Augen kamen, waren nun sehr viel erotischer.
Sie ließ sich in ihre Kissen zurücksinken, starrte an die Decke und musste lächeln. Da er nun schon mal da war, was würde sie wohl alles mit ihm anstellen können?
In den letzten Jahren hatte sie ja nicht komplett isoliert gelebt. Es hatte immer wieder mal Männer gegeben, die in ihrem Leben ein- und ausgegangen waren. Meistens während der Sommermonate, wenn die Insel voller Touristen war. Einmal war ein Maler gekommen, um Studien vom Leuchtturm zu machen. Er war bis zum ersten Frost geblieben. Und dann war da der Typ von der Küstenwache, der alle paar Monate das Licht des Leuchtturms checkte. Ab und zu hatten sie nach ein paar Gläsern Wein leidenschaftliche Nächte miteinander verbracht.
Ob sie Rourke dazu bringen könnte, die Nacht bei ihr zu verbringen? Ob er leicht zu verführen wäre? Annie stöhnte leise. Sie hatte gelernt, dass die meisten Männer sehr leicht zu kriegen waren, vor allem, wenn sie nichts weiter wollte als Unverbindlichkeit. Doch bisher hatte sich kaum einer von ihnen darauf verstanden, ihren Vorstellungen zu entsprechen.
Ja, sie hatte schon immer ein einfaches Leben gelebt. Sie kam ohne Telefon, Elektrizität, Fernsehen und Computer zurecht. Annie wusste genau, was sie zum Leben brauchte. Sie ernährte sich von Fisch und Krabben, manchmal Austern, die sie selbst fing, und hatte Kontakt zu einem Bauern in der Nähe, der sie mit frischen Eiern versorgte. Ihre Kleidung war nicht nach optischen Maßstäben ausgewählt, sie kleidete sich primär funktional. Und so war es für sie auch mit den Männern. Denn Sex und die Intimität, die damit einherging, gehörten für sie ebenfalls ganz essentiell zu ihrem Sein. Wie Wasser … oder Sauerstoff … oder Wärme.
Sie nahm das Buch von ihrem Nachttisch und versuchte, ein wenig zu lesen. Doch das war unmöglich. Sie konnte nur an Rourke denken. Sie lauschte, wie er sich von Fenster zu Fenster vorarbeitete, bei einem nach dem anderen die Läden schloss und sie fest verschraubte. Als beinahe kein Licht mehr von außen hereinkam, stand sie auf und entzündete die Petroleumlampen, die im ganzen Raum verteilt waren.
Die beiden Fenster zur hinteren Veranda ließ er offen, vielleicht wollte er abwarten, ob der Sturm wirklich so schlimm werden würde. Plötzlich hörte sie, dass der Motor seines Wagens anging. Sie erstarrte kurz. Schnell stand sie auf und lief zur Tür – ob er einfach so verschwinden würde? Aber kurz bevor sie sie erreichte, öffnete sich die Tür und schlug ihr beinahe ins Gesicht. Kit, ihr Hund, kam noch vor ihm wieder in ihr Haus.
„Warum liegst du denn nicht im Bett?“, fragte Rourke und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das vom Wind ganz zerzaust war.
„Ich … ich dachte, du wärst gegangen. Ich wollte mich noch verabschieden und bedanken.“
„Ich gehe nirgendwohin“, sagte er. „Ich habe meinen Wagen nur näher am Haus geparkt. Brauchst du noch etwas?“
„Mir geht es gut.“
Er betrachtete sie einen Moment lang eindringlich. Als er schließlich wieder wegsah, spürte Annie regelrecht Milliarden von Schmetterlingen im Bauch. Er fand sie offensichtlich attraktiv und versuchte nicht mal ansatzweise, das zu verheimlichen.
„Tee“, sagte er entschieden. „Ich koche erst mal Tee.“ Er schlüpfte aus seiner Jacke und ging zur Spüle. Sie beobachtete ihn dabei, wie er den Wasserhahn suchte.
„Du wirst zur Wasserpumpe vor dem Haus gehen müssen“, sagte sie. „Ich habe hier drin keine Wasserleitung.“
„Keine …“ Er drehte sich mit ungläubigem Blick zu ihr um. „Du hast keine Dusche? Keine Toilette?“
„Doch, klar, die läuft aber mit Regenwasser. Das habe ich vor ungefähr fünf Jahren so eingerichtet. Im Leuchtturm ist auch eine Dusche mit Boiler, hier im Haus habe ich aber nur eine große Wanne. Wenn ich baden will, koche ich Wasser auf dem Ofen auf, das ich vorher von draußen reingeholt habe.“
„Und keine Elektrizität?“
Annie schüttelte den Kopf. „Brauche ich nicht. Wofür denn?“
„Kein Fernseher, kein Computer?“
„Ich habe ein Handy, das ich immer mal im Leuchtturm auflade. Dort steht auch ein kleiner Kühlschrank, den nutze ich aber kaum. So ungewöhnlich ist das doch gar nicht, einige Menschen leben so.“
„Und woher bekommst du dein Feuerholz?“
„Sam Decker bringt mir welches“, sagte sie. „Abgesehen von Lebensmitteln und Steuern habe ich sonst keine Ausgaben.“
Sam Decker gehörte früher zu den Kindern, die sie gehänselt und gemobbt hatten. Irgendwann hatte es ihm leidgetan und er war eines Tages nach dem Tod ihrer Großmutter bei ihr aufgetaucht, mit einer Menge Brennholz, und hatte sie um Entschuldigung gebeten.
Seitdem brachte er ihr jeden Monat frisches Holz und half ihr bei der ein oder anderen anfallenden Reparaturarbeit. Doch auch wenn sie heute beide erwachsen waren und auch wenn sie sich sehr freundlich begegneten, waren die Narben ihrer früheren Qual immer noch tief. Das Stottern ihrer Kindheit hatte sie zwar überwunden, aber das hieß nicht, dass sie Sam heute wirklich vertrauen konnte. Und so hielt sie eine gewisse Distanz zwischen ihnen aufrecht.
Zugleich wusste sie genau, dass Sam etwas für sie empfand und wie sehr er hoffte, dass irgendwann mehr zwischen ihnen sein könnte. Aber sie fühlte sich in keiner Weise zu ihm hingezogen. Denn wenn da auch nur ansatzweise etwas wäre, würde sie es sofort spüren. So wie jetzt mit Rourke.
Sie betrachtete ihn dabei, wie er den Ofen anfeuerte. Ihr Blick wanderte seinen breiten Rücken hinab zu seinem Hintern, der sich in den ausgewaschenen Jeans vorzüglich abzeichnete. Als das Feuer brannte, schloss er die Luke und machte sich daran, die große gusseiserne Kanne mit Wasser zu füllen.
Annie ging zum Küchenschrank, der über der Spüle hing, und holte zwei Teedosen heraus. „Ich habe grünen und schwarzen Tee. Welchen möchtest du?“
„Schwarz.“
Sie holte eine alte Porzellan-Teekanne und zwei Tassen aus dem Küchenbuffet und befüllte die Kanne mit Tee. „Ich habe keine Sahne oder Milch, nur Milchpulver.“
„Zucker reicht völlig.“
Rourke war sich nicht ganz sicher, was er von alldem halten sollte. Ihm war schon klar, dass es auf der Welt Menschen gab, die völlig ohne moderne Technik auskamen. Er hatte nur noch nie so einen Menschen getroffen, schon gar keine Frau.
„Was denkst du?“, fragte sie und betrachtete ihn genau.
„Ich bin nur … ich weiß nicht. Überrascht? Vielleicht auch etwas verwirrt.“
„Über meine Lebensweise?“
Er nickte. „Und anderes.“
„Ich habe mir dieses Leben nicht direkt ausgesucht“, sagte sie. „Ich denke, es hat sich eher mich ausgesucht. Ich habe nicht viel Geld, also achte ich auf meine Ausgaben. Du würdest dich wundern, mit wie wenig man zurechtkommen kann.“
„Das kann ich mir denken.“
„Ich finde, dass jeder zumindest darüber nachdenken sollte, seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern. Es ist einfach gesünder. Für die Umwelt und auch für einen selbst.“
„Was ist mit einem Auto?“
„Habe ich nicht. Ich mache alles mit dem Rad, im Winter gehe ich zu Fuß. Das hält mich fit.“
Jemand wie sie war ihm wirklich noch nie begegnet. Und inzwischen hatte er einige Menschen, vor allem einige Frauen, kennengelernt. Irgendetwas hatte ihm immer an ihnen gefehlt. Und hier war nun eine Frau, die stark und unabhängig für sich selbst sorgte. Sie war mutig, wusste, was sie wollte, und ruhte auf eine sehr anziehende Art und Weise in sich.
Sie machte ihn neugierig. Wie war aus dem beinahe schmerzhaft schüchternen Mädchen von damals eine solche Frau geworden? „Du hast dich an meinen Namen erinnert.“
Annie nickte. „Du warst einmal sehr gut zu mir.“
„Du hast dich verändert. Sehr.“
„Ich bin erwachsen geworden.“ Sie machte eine Pause. „Du meinst vielleicht mein Stottern? Das hörte auf, sobald ich die Schule abgeschlossen hatte. Ich wollte nicht mein ganzes Leben lang Angst vor den anderen haben und irgendwann habe ich wohl einen Punkt erreicht, an dem ich aufgehört habe, zu kämpfen. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Ich fand eine innere Ruhe und seitdem können die Worte irgendwie auch mit meinen Gedanken schritthalten.“
„Du wirkst glücklich“, sagte Rourke.
„Das bin ich.“
„Du hast aber nicht wirklich viele Freunde hier auf der Insel.“
„Ich brauche nicht viele Freunde. Die, die ich habe, sind mir wichtig, sie tun mir gut. Außerdem sind die meisten Menschen, denen man begegnet, doch eher gute Bekannte als wirkliche Freunde. Oder wie viele echte Freunde hast du?“
Er zuckte mit den Schultern. Sie hatte recht, seine wirklich guten Freunde konnte er an einer Hand abzählen. Das Pfeifen des Teekessels durchbrach die Stille zwischen ihnen und Rourke stand auf, um den Tee aufzugießen.
„Über der Spüle hängt ein Teesieb.“
Er legte das Sieb auf ein Tablett, stellte Teekanne und Tassen dazu und trug alles vorsichtig zum Kamin. „Bist du nie einsam?“
„Immer“, sagte sie. „Aber das kann ich nicht ändern. Würde ich die Insel verlassen, würde es mir einen Teil meines Herzens herausreißen.“
„Hast du die Insel denn überhaupt schon mal verlassen?“, fragte er erstaunt.
Sie musste lachen. „Klar, das mache ich dauernd.“
Er erkannte an ihrem Blick, dass sie log. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sie darauf anzusprechen. „Ich lebe in New York.“
„Das ist schön für dich. Dort zu leben kommt mir aber genauso kompliziert vor wie für dich mein Leben hier.“
Annie stieg aus dem Bett und setzte sich neben ihn vor den Kamin. Rourke spürte, wie sein Puls schneller wurde, und umklammerte seine Teetasse fest mit beiden Händen, weil er sonst Annie mit ihnen hätte berühren müssen. Doch sie schien ähnliche Gedanken zu haben. Sie streckte die Hand aus und legte sie sanft auf seine Wange. Ihr Blick ruhte in seinem. Sie beugte sich vor und küsste ihn behutsam.
Ihre Berührung jagte wie ein Blitz durch seinen Körper. Wie ein warmer, wundervoller Blitz. Er setzte seine Teetasse ab und fuhr mit der Hand durch ihr Haar, zog sie näher zu sich heran und küsste sie erneut – doch dieser Kuss war tiefer, sehnsuchtsvoller.
Rourke wusste nicht, wie ihm geschah, aber um nichts in der Welt wollte er, dass es aufhörte. Schon seit er sie im Baumarkt gesehen hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher. Er hätte nur nie damit gerechnet, das es passieren würde.
Er fuhr mit den Fingern durch ihr feuchtes Haar und plötzlich zuckte sie zusammen – sofort ließ er sie los. Ihre Wunde hatte er völlig vergessen. „Lass mal sehen“, sagte er.
„Es ist schon viel besser“, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Die Sonne war längst untergegangen, die Petroleumlampen erhellten die Hütte mit ihrem warmen Licht. Vorsichtig sah er sich ihre Platzwunde an. Sie hatte eine ordentliche Beule, aber es blutete nicht mehr.
„Das muss nicht genäht werden, denke ich.“
„Gut“, sagte sie. „Ich hasse es, zum Arzt gehen zu müssen.“
„Was zur Hölle hast du da draußen eigentlich gemacht?“, fragte Rourke. „Du lebst hier schon so lang, du weißt doch, wie gefährlich es an der Küste werden kann.“ Er hielt inne. „Und was hat es eigentlich mit den Unmengen Heringen auf sich, die du vorhin gekauft hast? Wer macht so etwas kurz vor einem Sturm?“
„Bist du hungrig? Ich kann uns etwas kochen.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagte er. „Was hast du da draußen gemacht?“
„Ich habe mit dem Meer gesprochen“, sagte sie. „Wenn es stürmt, kommt es mir manchmal so vor, als hörte ich Stimmen im Wind. Wenn ich nur genau genug hinhöre, kann ich vielleicht hören, was sie sagen.“
„Stimmen? Was für Stimmen?“
„Die meiner Eltern“, sagte sie leise. Er sah, dass sie rot wurde. „Das ist dumm, ich weiß.“
„Nein. Nein, ist es nicht.“ Er wollte sie fragen, was passiert war. Was man sich auf der Insel so erzählte, war nicht besonders aussagekräftig. Er wusste, dass sie beide ertrunken waren, aber er wusste nicht, wie es dazu gekommen war. Niemand hier hatte je eine Erklärung dafür parat gehabt und bis heute hatte es ihn auch nie interessiert.
„Ich sollte wirklich damit aufhören. Diesmal hätte es mich fast umgebracht.“
„Du hattest wohl Glück, dass ich in der Nähe war“, sagte er.
Sie nickte. „Das hatte ich wohl.“ Annie zog ihre Beine zu sich und umschlang sie mit den Armen. „Bist du sicher, dass du nicht irgendwo anders sein solltest?“
„Ich war tatsächlich eigentlich schon auf dem Weg zurück nach New York, ich hatte gehofft, vor dem Sturm ein gutes Stück der Strecke geschafft zu haben. Ich kann auch hierbleiben.“
„Vielleicht solltest du deine Sachen reinholen, bevor das Wetter zu schlimm wird. Ich fange schon mal an zu kochen.“
Rourke nickte. Er stand auf, griff nach seiner Jacke und zog sie an. „Wie heißt dein Hund?“
„Kit.“
Rourke klopfte dem neben dem Feuer schlafenden Tier auf die Seite. „Komm schon, alter Junge.“
Der Bordercollie rappelte sich auf, streckte sich mit einem kräfigen Gähnen und drängelte sich noch vor Rourke durch die Tür nach draußen. Vor dem Haus war es inzwischen noch kälter geworden und der Wind hatte an Kraft gewonnen. Wenn es noch kälter würde, könnte es sogar schneien.
Er ließ den Blick über das Meer streifen, das beinahe die gleiche Farbe hatte wie der Himmel. Die Grenze am Horizont war kaum mehr auszumachen. Der Wind wehte so stark, dass er sich regelrecht dagegenstemmen musste. Seine Finger waren schon taub vor Kälte.
Kit saß neben ihm. Ganz allein war sie ja doch nicht, dachte er. Vielleicht wäre sie ohne ihn wirklich genauso gut zurechtgekommen, aber Rourke bedauerte es nicht, dem Impuls nachgegeben zu haben und zu ihr gefahren zu sein.
Immerhin hatte sie ihn geküsst. Und er war von keiner Frau mehr geküsst – oder berührt