Jenseits der Rache
Jenseits der Rache
Umschlagbild «Giessbachfälle»‚ ©Jungfrau Zeitung, Irene Thali
Lektorat: KAISERworte, Esther Kaiser Messerli
Gestaltung: arsnova, Horw
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
© 2014 Buchverlag Lokwort, Bern
Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag
ISBN 978-3-906786-55-1
eISBN 978-3-906786-56-8
www.lokwort.ch
1. Kapitel
«Dies hier», ich machte eine ausladende Geste, «wäre der ideale Schauplatz für einen Mord.»
Interessiert reckte ich den Hals und betrachtete durch die Öffnung in der Seite der ruckelnden historischen Standseilbahn die tosenden Wassermassen, die sich durch die idyllische Waldlandschaft ihren Weg nach unten bahnten, der Schwerkraft folgend und gleichgültig gegenüber allem, was sich in ihren Weg stellte. Dann wandte ich mich um und begegnete drei Augenpaaren, die verschiedene Varianten von Irritation und Verwunderung zeigten.
«Na kommt schon!», rief ich aus. «Schaut mich nicht so an! Es stimmt doch, oder?» Erneut fuchtelte ich in Richtung des Naturschauspiels. «Die Gewalt des Wassers! Die feuchte, urwüchsige Landschaft! Der Lärm, der jeden Schrei übertönen würde!»
Mein Ehemann warf mir einen müden Blick von der Seite her zu. Martin Rychener, der ihm gegenüber sass, lachte mit einer Spur Verbitterung kopfschüttelnd vor sich hin, während Selma Vogt neben ihm verschreckt um sich blickte, als würde hinter den beschaulich grün-gestreiften Vorhängen im Innern der Bahn ein Axtmörder lauern.
Meine Güte. Was für Weicheier.
«Kassandra», meinte Martin schliesslich im Tonfall eines geduldigen, wenn auch resignierten Kleinkinderziehers. «Wir haben es nach zäher Planung endlich geschafft, uns ein ruhiges Wochenende zu viert zu organisieren – was für zwei Psychiater, einen Hausarzt und eine Psychologin eigentlich kaum machbar ist, zumal wir alle beruflich voll ausgelastet sind und Freizeit chronisch Mangelware ist. Das Wetter ist traumhaft, die Anreise war phantastisch, die Szenerie überwältigend, und gleich werden wir unser Hotel erreichen, das uns glückliche Stunden voller Harmonie und Entspannung bescheren wird. Und du redest von Mord?» Anklagend blickte er mich an.
Selma legte ihm begütigend ihre zierliche Hand auf den Arm. «Lass doch das Genörgel sein. Ka hat es lustig gemeint. Nicht wahr?» Sie strahlte mich an. «Ein Witz!»
Marc schnaubte. «Ein Witz? Kann hier jemand darüber lachen? Frau, ich bitte dich!»
Beleidigt wandte ich mich ab.
Selma war es, die die Stille durchbrach und mit heiterem Geplapper die Anspannung zu lösen versuchte. «Wir sind gleich oben. Oh, was für ein wunderbarer Ort das ist! Wie alt wohl das Hotel sein mag?» Fahrig kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Prospekt und schlug ihn auf. «140 Jahre, nicht zu fassen. Belle époque. 1984 wieder eröffnet, im Rahmen einer Rettungsaktion. Gehört zu den ‹Swiss Historic Hotels›. Vier Sterne. Herrliche Ausstattung und gepflegte Küche. Besser kann es nicht kommen.»
«Liebes», meinte Martin amüsiert, «das ist alles sehr interessant. Aber du musst Kassandra nicht aus der Bredouille holen. Lass sie ruhig etwas schmoren. Das ist gut für ihren Charakter.» Er grinste mich frech an, was ich mit einem stählernen Blick parierte.
Zu seinem Glück kam die Standseilbahn in diesem Moment mit einem Ruck zum Stehen, und er konnte sich mit Marc zusammen aus dem Staub machen, unter dem Vorwand, sich galant um das Gepäck zu kümmern.
Selma stieg vor mir aus und trat aus dem kleinen Bahnhof in die Sonne. Ihr langes, glänzendes dunkles Haar schwang über ihre Schulter, als sie den Kopf wandte, um sich nach den Männern umzusehen; ihre perfekt lackierten blassrosa Fingernägel funkelten, als sie ihre schicke Sonnenbrille auf die gerade, kleine Nase setzte, und ihre geschmeidige Gestalt in dem hellen Etuikleid hätte jedem Hochglanz-Werbeprospekt zur Ehre gereicht. Sie wirkte wie die Inkarnation von graziöser Schönheit. Ich hasste sie.
«Ach, Ka!» Sie lächelte mich mit herzerwärmender Freude an und hängte sich impulsiv bei mir ein. «Es ist grossartig, dass wir gemeinsam hier sind. Wir sehen uns viel zu selten. Dieses Kleid steht dir aber hervorragend! Wunderschön siehst du darin aus.»
Na gut, ich hasste sie nicht. Dazu war sie viel zu liebenswürdig.
«Steht uns nicht im Weg rum», verfügte Martin, der von hinten mit einem Rollkoffer die Treppe erklomm. «Weitergehen, bitte!»
Selma hatte Recht gehabt, dachte ich anerkennend, als ich kurz darauf die Fassade des «Grandhotel Giessbach» musterte. Das elegante Gebäude mit seinen dunkelroten Fensterläden und schmuckreichen Balkonen hatte etwas Unwirkliches an sich. In dem konstanten Brausen der Giessbachfälle in meinem Rücken meinte ich das Flüstern vergangener Zeiten zu vernehmen, und ich fühlte mich zeitlos und seltsam berührt. Wirklich ein wunderbarer Ort.
Natürlich gelang es mir nicht, mich der Würde dieser alten Mauern angemessen zu verhalten. Immer wieder schrie ich begeistert auf, wies aufgeregt auf all die zauberhaften Details, auf die Verzierungen an der Eingangstür, auf Kronleuchter und Gemälde und die Brokatsofas im Innenbereich. Als ich mich anschickte, mit meinem Mobiltelefon ein paar Stimmungsbilder zu schiessen, packte mich Marc warnend am Handgelenk und zischte: «Du bist keine Japanerin auf Europareise, verstanden?» Also liess ich es grummelnd bleiben.
Unser Zimmer mit Blick auf die Weiten des Brienzersees, der auch an diesem warmen Samstag Anfang August nicht die Dichte an Booten zeigte, die wir uns vom Thunersee gewohnt waren, wies nostalgischen Charme in Form von angestaubt wirkenden Blumentapeten und dunklen Möbeln auf. Mir gefiel alles, was ich wortreich zum Besten gab, während ich unseren Koffer auspackte. Marc nickte freundlich. Er war entspannt und glücklich.
Wir trafen Martin und Selma wie verabredet eine halbe Stunde später im Aussenrestaurant mit Blick auf den See, wo wir uns eine leichte Mahlzeit genehmigten – es war gerade Mittag vorbei, und die Anfahrt auf dem Seeweg hatte uns hungrig gemacht. Später legten wir uns in bequeme Liegestühle um den hoteleigenen Naturteich, und Marc verbot mir nach fünf Minuten hemmungslosen Schwatzens mit liebenswürdiger Bestimmtheit den Mund.
«Ka, es ist nicht so, dass ich deine Meinung zum Hotel, der Landschaft, den anderen Gästen und der Weltwirtschaftslage nicht zu schätzen wüsste. Aber ich habe eine anstrengende Zeit in der Praxis hinter mir, und der Umstand, dass unsere beiden redseligen Töchter für einmal nicht in unserer Nähe sind, weckt in mir den Wunsch nach erholsamem Schweigen. Lies ein Buch oder lös ein Kreuzworträtsel, aber tu es um Gottes Willen schweigend.»
Also schwieg ich, leicht pikiert zuerst, dann jedoch zunehmend zufrieden. Es war ein herrlicher Tag, nicht zu heiss, was der Tatsache zu verdanken war, dass es die letzten zwei Wochen bei ungewöhnlich tiefen Temperaturen fast andauernd geregnet hatte, aber jetzt war der Himmel strahlend blau, und die Welt um mich herum schimmerte und zeigte sich von ihrer besten Seite. Sonnenstrahlen brachen sich auf dem Wasser des Schwimmteiches, in dem Selma ein paar Runden in makellosem Bruststil zog. Sie hatte ihre Haare beiläufig zu einem Knoten auf ihrem Oberkopf aufgebunden, was bei ihr natürlich nicht beiläufig wirkte, sondern nach Star-Coiffeur. Ich sah, wie Martin, der neben mir sass, ihr mit den Blicken folgte, versonnen und nachdenklich, hin und her, hin und her, im Rhythmus ihres langsamen Schwimmtempos.
Martin Rychener. Mein Vorgesetzter, mein leitender Arzt in der Psychiatrischen Klinik Eschenberg. Mein bester Freund, und, der Gedanke versetzte mir einen kleinen Stich, der einzige Mann, der je meine Gefühle in Aufruhr gebracht hatte, seit ich Marc kennengelernt und später geheiratet hatte. Martin trug eine Piloten-Sonnenbrille, die an jedem Mann ausser ihm peinlich ausgesehen hätte, und in die akkurat geschnittenen mittelblonden Haare mischte sich mehr und mehr diskretes Grau.
Als hätte er meinen Blick gespürt, wandte er sich zu mir um. Er lächelte, dann beugte er sich vor, um Marc neben mir anzusprechen. «Das mit dem Schweigegebot war eine phantastische Idee. Die Stille ist wohltuend. Nur – wie hast du das hingekriegt? Bestechung?»
«Natürliche Autorität», antwortete Marc neben mir selbstzufrieden, den Blick in einen Krimi vertieft. «Ich bin gross und stark und beeindruckend. Natürlich macht dich das neidisch, das wundert mich nicht.»
Martin prustete verächtlich. Dann sprang er auf. «Das wollen wir sehen. Wetten, dass ich dich im Tauchen schlage? Wetten, dass ich länger unten bleiben kann?»
Marc, in seinem sportlichen Ehrgeiz getroffen, warf sein Buch zur Seite und folgte Martin, der eben vom Beckenrand ins Wasser sprang.
Ich schüttelte den Kopf und beobachtete belustigt, wie Marc und Martin im Wasser rangen wie kleine Jungen, den geordneten Tauchwettbewerb zugunsten brutaler Versuche, sich gegenseitig zu ertränken, zurückstellten und dabei eine ältere Dame im Lehnstuhl verärgerten, die eine Menge Spritzer abbekam. Jana und Mia, meine beiden Töchter, hätten sich zweifellos gesitteter benommen.
«Dem habe ich’s gezeigt», meinte Marc triumphierend, als er triefnass zurückkehrte und sich keuchend auf den Stuhl zurückfallen liess. «Kleiner Aufschneider.» Grinsend machte er eine abfällige Geste in Richtung von Martin, der ihm vom Beckenrand aus eine lange Nase drehte.
Ich lehnte mich lächelnd zurück und schloss die Augen. Es war gelungen. Was ich nicht für möglich gehalten hatte, war eingetroffen: Martin Rychener und Marc Bergen waren Freunde geworden.
Es hatte eine Weile gedauert, sicher. Harzige Verhandlungen mit Marc und beklommene erste Treffen waren vorausgegangen, gezwungene Konversation und verletzte Gefühle auf allen Seiten. Aber es war gelungen. Martin und ich waren Freunde, einfach Freunde. Marc und Martin waren Freunde, richtige Freunde. Und Martin und Selma …
Ich öffnete die Augen wieder und beobachtete durch die grossen Gläser meiner Sonnenbrille, wie Martin mit Selma herumtollte, sanfter als zuvor mit Marc, verspielt und liebevoll.
Martin und Selma waren ein Paar, seit einem guten halben Jahr. Selma war Psychologin auf Martins Abteilung, Anfang dreissig, begabt und lebensfroh, und die beiden hatten die Binsenwahrheit bestätigt, welche besagt, dass die meisten Beziehungen am Arbeitsplatz zustande kommen. Ich hatte die ganze aufkeimende Geschichte aus der ersten Reihe mit angesehen, die flüchtigen Blickwechsel im grossen Rapport, die gemeinsamen Gespräche am Mittagstisch, die nervösen ersten Verabredungen und die Heimlichkeiten der ersten gemeinsamen Wochen, die noch nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt waren. Und zu meinem grossen Erstaunen hatte es mir nichts ausgemacht. Ich hatte mich für Martin gefreut, ich hatte mich mit Selma angefreundet, und nun waren wir alle hier, an diesem einzigartigen Ort, und verbrachten unser erstes Wochenende zu viert.
Heiter blickte ich zu Marc hinüber, beobachtete, wie er konzentriert eine Seite seines Taschenbuchs umblätterte und sich kurz an der Nase rieb, und verspürte einen Anflug von Zärtlichkeit.
Alles hatte bestens geklappt. Und ich war verdammt stolz auf mich.
«Das ist absurd steil hier!», keuchte ich protestierend, während ich mühsam hinter Marc den schmalen Kiesweg emporklomm. Marc wandte sich um und hob fragend die Augenbrauen. Verstanden hatte er meine Worte nicht. Kein Wunder bei dem Höllenlärm.
Die Giessbachfälle waren aufgrund der Regenfälle der letzten Wochen zu einem für die Sommermonate ungewöhnlichen Volumen angeschwollen. Gischt spritzte meterweit, und die Baumstämme und Gesteinsbrocken um uns herum waren von saftig grünem Moos überzogen – unheimlich und märchenhaft zugleich.
Ungeschickt stolperte ich über einen der Holzbalken, die als grobe Treppenstufen dienten. Himmel, ich war dermassen unsportlich. Ich für meinen Teil hätte durchaus den ganzen Nachmittag unten am Pool liegen bleiben können. Aber die anderen hatten darauf bestanden, zu den berühmten Wasserfällen zu steigen, und ich war der demokratischen Mehrheit zum Opfer gefallen.
Martin und Selma waren aufreizend leichtfüssig unterwegs und hatten mich abgehängt, und auch Marc wäre mir mühelos davongezogen, wäre er nicht ein so bemerkenswert guter Ehemann. Er streckte die Hand aus und nahm mich am Ellbogen. «Nur Mut», meinte er. «Es ist nicht mehr weit.»
Er hatte Recht. Das Tosen des Wassers nahm zu, die Luft wurde feuchter. Als der Pfad ebener wurde und nach links um eine Ecke bog, sah ich ihn: Den Aussichtspunkt, die durch die herabstürzenden Fluten beinahe verborgene Metallbrücke hinter dem gewaltigen Wasserfall.
Mir stockte der Atem. «Wahnsinn», stiess ich hervor.
Marc lächelte zustimmend und zog mich dann weiter.
Martin und Selma warteten bereits auf uns. Selma, sichtlich beeindruckt und sich umsichtig am Brückengeländer hinter dem brausenden Wasservorhang festklammernd, streckte die linke Hand aus und liess das Wasser auf ihre Handfläche prasseln. Martin blickte durch das Metallgitter nach unten und schien abzuschätzen, wie sich ein Sturz in die felsige Tiefe des Wasserbeckens unter ihm anfühlen würde; er war leicht grün im Gesicht. Ein Anflug von Höhenangst?
Ich trat auf die beiden zu, mit vorsichtigen Schritten über den glitschigen nassen Stein vor der Brücke tastend. Ausrutschen wollte ich hier auf keinen Fall.
«Das ist unglaublich!», brüllte Martin, und Selma lachte mir hell entzückt zu, die Hand noch immer ausgestreckt, und bedeutete mir, es ihr gleichzutun. Vorsichtig hob ich meine Finger. Das kühle Wasser trommelte hart auf meine Haut.
Ich blickte zu Marc auf. Er wirkte beinahe ehrfürchtig.
«Was für eine gewaltige Kraft», schrie er mir ins Ohr. Dann warf er mir einen sarkastischen Blick zu. «Ein idealer Schauplatz für einen Mord, das muss ich dir zugestehen.»
Um halb acht Uhr abends war der strahlende Nachmittag einer milden, kühleren Abendstimmung gewichen. Die glatte Seeoberfläche weit unter uns begann erste Nuancen von Orange und Königsblau anzunehmen, der Himmel spannte sich makellos und samtig über dem Bergpanorama.
Natürlich hatten wir für den Abend einen Tisch im Restaurant reserviert. Den Aperitif nahmen wir draussen ein, auf einem Balkon mit Sicht auf den See. Die Bläschen in meinem Champagnercocktail schraubten sich in anmutigen Spiralen nach oben, und eine leichte Brise bauschte den grauen Chiffon meines Kleides.
Es war perfekt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich in letzter Zeit jemals so wohl gefühlt zu haben.
Ich nahm einen beherzten Schluck aus meinem Glas. Der Alkohol stieg mir zu Kopf, und ich kicherte und strahlte vergnügt in die Runde. Selma kicherte zurück, obwohl sie sich auf Orangensaft beschränkt hatte, Martin lächelte warm, und Marc zwinkerte mir liebevoll zu. Wenig später suchten wir das Parkrestaurant auf. Die verglaste Veranda schloss einen harmonischen Kontrast zwischen draussen und drinnen, bot mit ihrer langen Fensterfront einen spektakulären Blick auf die Giessbachfälle, aber auch Schutz vor der zunehmenden Frische der Abendluft. Wir schritten gemessen über den dunkelrot gemusterten Teppich und liessen uns an einem Vierertisch direkt am Fenster nieder.
Die Menükarte gab Anlass zu den optimistischsten Erwartungen. Rasch überflog ich das Angebot und stellte mir im Geist ein Sechs-Gang-Menu zusammen. Dann, während die Männer noch über der Auswahl passender Weine brüteten, liess ich meinen Blick umherschweifen. Dezent gewandetes Servicepersonal, das fast lautlos durch den Raum huschte und mit gedämpfter Stimme sprach. Geraffte weisse Vorhänge an den Fenstern, helle Möblierung und die laternenartige Deckenbeleuchtung unterstrichen den sommerlich leichten Charakter dieses Raums. Ein Pianist weiter hinten im Raum spielte sich fingerfertig durch ein breites Jazzrepertoire, durchwoben mit Ohrwürmern und klassischen Stücken.
Ich lauschte eben einer feinfühligen Interpretation der «Mondscheinsonate», als ein Paar den Raum betrat. Der Mann schritt voraus und rückte seiner Begleiterin formvollendet den Stuhl zurecht, ehe er sich mit gemessenen Bewegungen setzte. Er wirkte wie die Idealbesetzung eines vermögenden Mannes der guten Gesellschaft, gross, breitschultrig, mit aufrechter Haltung, das dunkle Haar meliert. Alt genug, um Würde und Kompetenz auszustrahlen, und noch jung genug, um attraktiv und dynamisch zu wirken, zog er die Blicke aller Gäste auf sich. Neben ihm erschien die Frau an seiner Seite in ihrer zurückhaltenden aschblonden Blässe und dem schlichten moosgrünen Seidenkleid seltsam leblos. Ich biss mir auf die Lippe – irgendwie kam mir der Neuankömmling bekannt vor. Sein Gesicht war mir vertraut. Woher kannte ich den Mann?
Martin, der neben mir sass und meinen Blick offenbar bemerkt hatte, neigte den Kopf zu mir. «Na, möchtest du deine Bekanntschaft mit unserem Wunderkind nicht auffrischen?»
Verblüfft sah ich zu ihm auf. «Wunderkind? Bekanntschaft auffrischen? Was meinst du?»
«Sag nicht, dass du ihn nicht wiedererkennst. Adrian Wyss. Der berühmte Berner Psychoanalytiker. Psychiater der Reichen und Berühmten. Einer der Protagonisten in der grossen INTPERS-Studie – komm schon, Kassandra. Du hast dir erst vor ein paar Wochen am grossen Klinik-Apéro ein Wortgefecht mit ihm geliefert, erinnerst du dich nicht?»
Schlagartig fiel es mir ein. Natürlich.
«Das ist Adrian Wyss?», zischte ich. «Mir ist der damals einfach nur wie ein aufgeblasener Besserwisser vorgekommen, der sich hämisch über Verhaltenstherapeuten lustig macht. Als seien alle Therapeuten, die nicht Lehranalysen anbieten, inkompetente Nullen!»
Martin wirkte äusserst vergnügt. «Allerdings. Ich erinnere mich gern und lebhaft daran, wie du ihm Kontra gegeben hast. Das Glas Prosecco auf nüchternen Magen hat dabei nichts besser gemacht. Ihr seid nicht als Freunde auseinandergegangen.»
Ich spürte, wie meine Ohren zu glühen begannen. «Ich hatte ja keine Ahnung, dass das Adrian Wyss war. Der hat mit der INTPERS-Studie zu tun?»
Die INTPERS-Studie war das gehätschelte Lieblingskind von Rudolf Blanc, dem Direktor der Klinik Eschenberg, wo ich als Oberärztin arbeitete. Rudolf Blanc hatte sich vorgenommen, das noch recht neue, mittlerweile stark beforschte Gebiet der Internet-Psychotherapie, bei der die Behandlung nicht über direkte Gespräche, sondern via E-Mails oder Chat geführt wurde, um ein paar pikante Details zu bereichern, einerseits dadurch, dass er im Gegensatz zum üblichen Vorgehen nicht auf die modernere, stark strukturierte Verhaltenstherapie, sondern auf eine klassische analytische Psychotherapie setzte, andererseits aber auch, indem er sich auf die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung fokussierte. Und damit hatte er das Interesse der fachspezifischen Öffentlichkeit gewonnen, denn bislang war man sich weitgehend einig gewesen, dass schwerwiegende Störungen wie diese nur via persönlichem Kontakt behandelt werden konnten, dass eine Internet-Therapie, so meinten hitzige Gegner, sogar ein Kunstfehler und fahrlässig sei. Die INTPERS-Studie war also eine brisante Angelegenheit, in vielerlei Hinsicht.
«Aber Kassandra», rügte Martin genüsslich, «Adrian Wyss hat nicht nur mit der Studie zu tun, er ist einer der Studienleiter, und da er weithin berühmt und begehrt ist, ist er eines der prestigeträchtigsten Zugpferde von INTPERS. Er ist ein überaus enger Freund von Rudolf Blanc – das kann dir unmöglich entgangen sein.»
Mist. Ich war einfach zu wenig gut informiert.
«Und jetzt sitzt der ausgerechnet hier. Wie lästig.» Ich schoss einen kurzen Blick auf das Objekt unserer Erwägungen. Adrian Wyss blickte aus dem Fenster. Offenbar hatte er mich nicht bemerkt. Gut so. Ich hob meine Speisekarte und tauchte dahinter ab.
Das Essen war aussergewöhnlich. «Eine Geschmacksexplosion», wie Marc anerkennend fand. Die Kombination der Speisen, die Konsistenzen und Gerüche und Farben, allein schon die Dekoration, alles versetzte mich in Entzücken. Ich genoss den Abend in vollen Zügen. Lebhaft diskutierte ich mit Martin und Selma die neuesten Gerüchte aus der Klinik, und als Marc mit Martin eine ernste Abhandlung über die Stellung der Hausärzte in der Schweiz begann, erörterte ich mit Selma die neuesten Modetrends, die wir beide übereinstimmend läppisch fanden.
Ab und zu warf ich einen heimlichen Blick auf Adrian Wyss. Er unterhielt sich gedämpft mit seiner Begleiterin – den identischen Eheringen nach zu schliessen, musste es sich um seine Ehefrau handeln. Sie sprachen wenig. Streckenweise blickten sie minutenlang aus dem Fenster, ohne dass ihre Blicke sich trafen. Ihr Schweigen wirkte unbehaglich. Wyss war angespannt, ungeachtet seiner selbstbewussten Art und seines weltmännischen Auftretens. Eine unglückliche, zerrüttete Ehe? Ein Streit?
Unvermittelt trafen sich unsere Blicke. Ich bemühte mich um damenhafte Gelassenheit, hätte mir die Attitüde aber sparen können – er hatte mich offenbar nicht erkannt.
«Kein Rotwein für dich, Selma?», riss Marc mich kurz vor dem Hauptgang aus meinen Gedanken. «Du hattest schon keinen Weisswein – trinkst du keinen Alkohol?»
Ich blickte auf. Tatsächlich. Ich hatte gar nichts bemerkt.
«Marc», tadelte ich nachsichtig. «Das ist taktlos. Niemand muss sich erklären, weil er keinen Alkohol trinkt.»
Aber Selma lachte nervös auf. «Schon gut», meinte sie atemlos, und strich sich, plötzlich erhitzt, eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Es ist … Ich …» Sie warf Martin einen strahlenden Blick zu. «Ach, machen wir keine Geheimdienstaffäre daraus. Ich bin schwanger.»
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille.
Dann sagte jemand: «Was? Das gibt es doch nicht! Selma! Was für eine Überraschung! Herzliche Gratulation! Das ist doch kaum zu fassen. Grossartige Sache! Kaum zu glauben. Schwanger! Was du für Sachen machst!»
Ich wunderte mich, von wem das sinnlose Gebrabbel kam. Dann musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass die mechanisch heruntergespulten Worte aus meinem eigenen Mund drangen. Mein Kopf fühlte sich buttrig und leer an, und mein Herz pochte wild. Irgendetwas stimmte nicht mit mir.
«Das ist ja ein Knüller!», warf Marc ein. Impulsiv streckte er die Hand aus und drückte Selmas Rechte. «Das freut mich aber für euch!»
Selma leuchtete. Das Glück über die Enthüllung stand ihr ins Gesicht geschrieben. «Ach, es ist erst die achte Woche. Eigentlich sollte ich noch gar nichts sagen, aber bei euch …»
Anstand. Höflichkeit. Irgendwo mussten diese Programme doch abrufbar sein, verdammt. Ich hatte all das doch einmal gelernt.
«Achte Woche, das ist doch immerhin etwas. Es klappt sicher. Das ist schön für euch!» Gut so, dachte ich, als auch ich Selmas Hände ergriff und drückte, das klingt schon besser.
Ich wandte mich Martin zu. «Martin, mein Lieber. Auf deine alten Tage? Gut gemacht! Freut mich aufrichtig!» Doch, das tönte überzeugend. Warmherzig und anteilnehmend. Genau richtig. Wen kümmerte es, dass ich keine Luft bekam? Sicher nur wegen der Hitze im Raum. Es war ganz schön stickig.
Selma lächelte mit feuchten Augen in die Runde. Marc feixte zufrieden und klopfte Martin jovial auf die Schulter. Martin hingegen warf mir einen dieser Blicke zu, die mich an Röntgen-Strahlen erinnerten. Alles durchdringend. Ich schaute weg.
Irgendetwas war seltsam am Hauptgang, der soeben serviert worden war. Er schmeckte viel weniger gut als die Gänge zuvor. Pampig und eintönig.
Die Diskussion am Tisch bewegte sich in neuen Bahnen. Schwangerschaftsvorsorge, Krabbelgruppen und der Spagat, gleichzeitig Mutter und Berufsfrau zu sein. Ich bemühte mich nach Kräften, mich für das Thema zu begeistern.
Draussen war es dämmerig geworden. Ein aprikosenfarbener Schimmer erleuchtete die Luft. Die waldigen Hänge wirkten dunkler, düsterer als zuvor.
Ein melodischer Klingelton durchdrang die friedliche Stimmung im Raum. Adrian Wyss zuckte zusammen, griff in sein perfekt geschnittenes Jackett und holte ein Mobiltelefon hervor. Stirnrunzelnd blickte er auf das Display.
«Verzeih, Liebling. Ich muss zurückrufen», murmelte er halblaut. «Könnte wichtig sein.» Er erhob sich, zog sein Jackett aus und hängte es an seinen Stuhl, ehe er den Raum verliess, den besorgten Blick auf sein Smartphone gerichtet, ohne seine Frau noch einmal anzusehen.
Ich wunderte mich. Warum zog er sein Jackett aus?
Unser Hauptgang wurde abgeräumt. Es folgte die Käseauswahl, danach wurde das Dessert gebracht. Ich war satt und hatte keine grosse Lust mehr, schob die Hälfte meines Nachtischs zu Marc hinüber.
Die Nacht brach herein. Das Gespräch an unserem Tisch hatte die unvermeidliche Wendung genommen – Sport. Desinteressiert liess ich die fachkundigen Erörterungen zu Tennis, Fussball und Golf über mich ergehen. Selma schien sich auszukennen, sie beteiligte sich engagiert an dem Wortwechsel.
Ich hatte kein Ohr für ihre Fachsimpeleien. Meine Aufmerksamkeit war auf den Tisch gegenüber gerichtet.
Adrian Wyss war nicht zurückgekehrt. Seine Frau, bis vor kurzem entspannt und in Gedanken versunken, liess Zeichen zunehmender Anspannung erkennen. Sie hatte ihr eigenes Mobiltelefon aus ihrer Abendhandtasche geholt und offenbar mehrfach erfolglos Anrufe getätigt. Jetzt blickte sie besorgt um sich, zum Ausgang hin, nach draussen in die Nacht. Dann schien sie einen Entschluss zu fassen. Sie rief den Chef de Service, verlangte die Rechnung, die sie achtlos unterzeichnete, sobald sie ihr gebracht worden war. Dann erhob sie sich rasch, griff nach ihrer Tasche und dem Jackett ihres Mannes und verliess eilends den Raum.
Es war bereits halb elf, und die Nacht war vollkommen dunkel – bis auf den geheimnisvoll beleuchteten Wasserfall, die erleuchteten Hotelfenster und vereinzelte Kugellaternen, die nicht viel gegen die Finsternis ausrichten konnten. Ich stand auf der Terrasse, allein, lauschte dem Tosen des Wassers und hing meinen Gedanken nach. Marc war nach dem Essen nach oben ins Zimmer gegangen, um einen Anruf zu beantworten, Selma war müde gewesen, und Martin hatte sie in ihr Zimmer begleitet.
Es war kühl geworden, aber ich spürte es kaum.
Schritte hinter mir schreckten mich auf, und ich wandte mich um. Es war Martin, der im Zwielicht der Terrasse auftauchte und zwischen den Gruppen von Tischen und Stühlen auf mich zukam, mit zwei Gläsern in der Hand.
«Weisser Portwein?», fragte er und hob das Glas in seiner Rechten.
«Ja bitte.» Ich ergriff es und nahm einen kleinen Schluck, wobei ich angelegentlich seinem Blick auswich.
«Alles in Ordnung, Kassandra?», fragte er sachte.
«Aber sicher. Es war ein schöner Abend. Das Essen war ausgezeichnet.»
Er schwieg eine Weile neben mir, den Blick wie ich auf die erleuchteten Giessbachfälle gerichtet. Es war ein unbehagliches Schweigen. Ich ahnte, was kommen musste.
«Selma ist schon schlafen gegangen. Sie ist immer so müde in letzter Zeit. Nun ja, das ist verständlich, oder?»
«Absolut», bestätigte ich mit neutraler Stimme.
Erneut Schweigen. Dann: «Die Schwangerschaft war nicht geplant. Aber wir haben auch nicht alles darangesetzt, sie zu verhindern. Es war einer dieser Schicksalsentscheide. Wenn es so sein soll, dann passiert es.»
«Es fällt mir schwer zu begreifen, wie man heutzutage Schwangerschaften einfach geschehen lassen kann. Die Möglichkeiten der Antikonzeption sind nahezu perfekt.» Ich klang giftig und bereute meine Worte, sobald sie draussen waren. «Freust du dich?», fragte ich freundlicher.
Er überlegte. «Ja», sagte er dann. «Ich freue mich.» Endlich wandte er sich zu mir um und sah mich an. Seine Augen schimmerten im Widerschein einer erleuchteten Fensterreihe.
Ich drehte mich wieder von ihm weg, starrte auf das ferne Wasser und nippte an meinem Glas. «Es ist schön für dich. Für euch.»
«Kassandra!» Er packte mich an der Schulter. «Schau mich an! Himmel, du bist ganz kalt. Willst du mein Jackett?»
Ich schüttelte den Kopf und beschloss, die Sache hinter mich zu bringen. «Ich habe ungeschickt reagiert, als Selma mit der Sache rausgerückt ist. Es tut mir leid, Martin. Ich war einfach überrascht. Ich freue mich für euch. Du hast es verdient, eine Familie zu haben, und Selma ist die Richtige für dich. Alles Gute.»
Ich sah seine Zähne aufleuchten. «Kassandra, du klingst wie eine mässig begabte Nachrichtensprecherin. Was denkst du wirklich?»
Ich prustete ungeduldig und trat ein paar Schritte von ihm weg. Beherzt kippte ich den Rest meines weissen Portos herunter. «Was ich wirklich denke? Nun gut, bitte sehr. Selma ist ein nettes Mädchen. Sie ist schön und klug und liebenswert. Aber eine Schwangerschaft, nach nur einem halben Jahr Beziehung? Ihr wohnt noch nicht einmal zusammen. Es kommt mir so unreif vor. Und ich bitte dich, Martin. Du bist zweiundvierzig. Jetzt noch ein Kind? Ich bin sechsunddreissig und möchte nicht noch einmal von vorne anfangen. Hast du dir das wirklich überlegt? Oder bist du ein Opfer deiner Hormone?»
Als er keine Antwort gab, machte ich eine ausladende Geste mit meinem leeren Glas. «Du wolltest es wissen, nun beklag dich nicht.»
«Du bist eifersüchtig.» Seine Stimme klang ruhig.
Ich hob sarkastisch die Augenbrauen. «Ach ja?»
«Ja.» Sein Mund verzog sich zu einem seltsamen Lächeln, verzerrt durch die tiefen Schatten in seinem Gesicht. «Dieses Kind besiegelt die Beziehung zwischen Selma und mir. Und das gefällt dir nicht.»
Es gab nichts, was ich dazu sagen konnte. Also schwieg ich.
Hinter uns bewegte sich etwas. Ich wandte mich benommen um und erkannte die Gestalt einer Frau. Eilig ging sie um das Hotel herum. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Asphalt, und im Widerschein der starken Taschenlampe, die sie umklammert hielt, schimmerte moosgrüne Seide. Die Frau von Adrian Wyss.
«Kassandra?»
«Ja?»
«Du wirst dich daran gewöhnen. Ich habe mich auch daran gewöhnt. Es wird mit der Zeit besser. Ein wenig zumindest.»
Sein Tonfall, in gleichem Masse tröstlich und resigniert, brachte mich zum Lächeln.
Das Hotelportal öffnete sich, und eine Gestalt kam die Treppe herunter.
«Donnerwetter nochmal, ist das dunkel da unten. Ka? Bist du das da draussen?»
«Wenn ich es nicht wäre, würde ich dich für einen betrunkenen Verrückten halten», rief ich Marc zu. «Martin ist auch hier. Wir bewundern die Skyline.»
Martin passte sich gewandt der neuen Situation an. «Fertig mit deinem Anruf?», erkundigte er sich höflich.
Marc nickte. «Familienangelegenheiten. Tante im Spital, Pneumonie. Aber der Verlauf ist gut.» Dann veränderte sich seine Stimme. «Und du hast allen Ernstes vor, morgen früh vor dem Frühstück joggen zu gehen? Hier, auf dem Gelände? Komm schon, so verrückt kannst nicht einmal du sein.»
Die beiden kabbelten sich, aber ich hörte nicht hin. Mit gerunzelter Stirn verfolgte ich, wie ein hüpfender Lichtstrahl auf dem ansteigenden Weg zu den Wasserfällen auftauchte, verschwand und von neuem erschien.
«Marc? Martin?»
Die beiden wandten sich mir zu, folgten mit ihren Blicken der Richtung meines ausgestreckten Armes.
«Was ist los?»
«Seht ihr den Lichtfleck da? Dort! Er taucht gerade wieder auf.»
Marc kniff die Augen zusammen. «Ich kann nichts sehen.»
Aber Martin hatte ihn entdeckt. «Wahrscheinlich ein nächtlicher Wanderer. All das Wasser im Dunkeln ist zweifellos eindrücklich.»
Ich schüttelte nachdenklich den Kopf. «Seht ihr, wie der Lichtstrahl hin und her schwenkt? Da sucht jemand etwas.» Ich wandte mich an Martin. «Ich glaube, das ist die Frau von Adrian Wyss. Sie ist vor wenigen Minuten an uns vorbeigegangen, mit einer gewaltigen Taschenlampe in der Hand, aber in Stöckelschuhen.»
Marc schien verwirrt zu sein, aber Martin musterte mich neugierig. «Tatsächlich? Was könnte sie da oben wollen?»
Ich zuckte die Achseln. «Vielleicht sucht sie ihren Mann. Er ist während des Essens verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.»
Marc und Martin wechselten Blicke. Marc wirkte zweifelnd, Martin alarmiert. Der Lichtschein war im waldigen Gelände verschwunden. Ich spürte, wie böse Ahnungen mich beschlichen.
«Es hilft nichts, wir müssen nachsehen», entschied Martin schliesslich. «Kassandra, warte hier. Wir sind gleich wieder zurück.»
«Das könnt ihr vergessen», entgegnete ich energisch, und raffte mein langes Kleid aus schwingendem Seidenchiffon – schwerlich die geeignete Ausrüstung für nächtliches Bergsteigen. «Ich komme mit.»
Der Anstieg war in der drückenden Dunkelheit erheblich beschwerlicher, als er noch am Nachmittag gewesen war, und die glatten Sohlen meiner Abendschuhe waren keine Hilfe. Fluchend schlitterte ich über losen Kies, feuchtes Holz und glitschigen Fels, das Tosen des Falles drohend zu meiner Rechten. Oberhalb der steinernen Brücke lag der Weg fast völlig im Dunkeln. Unisono griffen wir alle drei zu unseren Smartphones, und ich aktivierte die Taschenlampenfunktion, ungeduldig eine Meldung über eingegangene Anrufe und SMS wegdrückend. Der Lichtschein war schmal, aber besser als nichts.
Wir erklommen den steilsten Teil des Pfades, und ich richtete keuchend meinen kümmerlichen Lichtstrahl mal nach links, mal nach rechts in die moosige Umgebung, in der Hoffnung, irgendwo eine Spur der Frau zu entdecken, die wir suchten. Nichts.
Fast oben angelangt, strauchelte ich über eine flache Steinstufe, die ich übersehen hatte. Erschrocken klammerte ich mich an der metallenen Wegumzäunung fest, zog mich hoch. Und entdeckte etwas.
«Da vorne. Der Lichtstrahl!»
Hastig stürmten wir vor. Dort, wo der Weg seine letzte Biegung vor dem Aussichtspunkt machte, irrlichterte ein Lichtstrahl von unten her durch die Nacht. Martin war als Erster am Zaun, blickte nach unten und schrie überrascht auf. Marc folgte, und ich erreichte die Biegung als Letzte.
Zuerst begriff ich nicht, was ich sah. Einige Meter unter uns hing die Frau im grünen Kleid im Steilhang, schreiend, schluchzend, um sich greifend, im aussichtslosen Versuch, durch das Gestrüpp von toten Ästen und jungen Bäumen nach unten zum Wasser zu kommen. Was um alles in der Welt macht sie da, dachte ich verwirrt.
Dann sah ich ihn. Ein weisser Fleck am Rande des steinigen Wasserbeckens in der Tiefe, angeschwemmt, halb auf einem groben Felsen liegend. Ich blinzelte. Erkannte leblose Arme, unwirklich weiss schimmernd im gespenstischen Licht der Scheinwerfer, Beine in dunklen Hosen. Unter der Wasseroberfläche erahnte ich einen Schopf dunklen Haares, der leise in der Strömung trieb.
2. Kapitel
Die Hotelhalle atmete den Charme vergangener Zeiten. Transparente gelbe Vorhänge an hohen Fenstern, mit Brokat bezogene Sessel und Sofas, Kronleuchter, filigrane Tischchen mit geschwungenen Beinen. Das Teeservice, das vor mir auf einem Couchtisch stand, trug das verschnörkelte Monogramm des Grandhotels. Das Einzige, was die nostalgische Atmosphäre störte, war die Anwesenheit der Polizei.
Ich sass auf einem Sofa in einer Nische, vorgebeugt, in eine Decke gehüllt. Martin hatte sie einem Mitarbeiter des Care-Teams der Polizei abgenommen, aber dankend auf psychologischen Beistand verzichtet, mit der Begründung, wir seien diesbezüglich Selbstversorger.
Es war halb ein Uhr nachts. Mir kam es vor, als würden wir schon seit Ewigkeiten hier sitzen, festgeklebt in dieser beschaulichen Sitzecke, vom Hotel unentgeltlich verpflegt mit warmen Getränken und diskreter Aufmerksamkeit. Es schien, als lägen die Szenen am Wasserfall Stunden, sogar Tage zurück. Nur verschwommen trieben mir Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Martin, der mit Marcs Hilfe die widerstrebende, dreckstarrende Frau des Opfers aus dem Hang geholt hatte. Das taube Zittern meiner Finger, als ich die Notrufnummer der Polizei gewählt hatte, meine zusammenhangslose Schilderung der Ereignisse. Die gequälten Schreie der Frau im grünen Kleid. Ihr Flehen, man möge ihren Mann retten. Adrian Wyss, der leise schaukelnd im Wasser getrieben hatte, seltsam friedlich – nur ein rosaroter Schimmer auf seinem ehemals blendend weissen Hemd und die unnatürliche Position seiner Arme und Beine hatte die Verletzungen erahnen lassen, die sein Sturz in die felsige Tiefe nach sich gezogen hatte. Er musste sofort tot gewesen sein. Das hoffte ich zumindest.
Wir waren hier gesessen und hatten beobachtet, wie eine aufgelöste Verwandte der Frau an der Rezeption erschien, mit wirrem Haar und verschrecktem Blick. Sie war ins Zimmer des Verstorbenen verwiesen worden, wo sich das Care-Team bereits um Frau Wyss kümmerte. Zuerst waren uniformierte Polizisten aufgetaucht, wahrscheinlich aus Brienz, und hatten unsere Personalien und eine knappe Schilderung des Geschehenen zu Protokoll genommen, später ein Regionalfahnder in Zivil, der ernst, wichtig und beschäftigt umhereilte.
Die Hotelhalle war für die späte Stunde erstaunlich dicht bevölkert. Ein gutes Dutzend Gäste sass im Raum, locker verteilt auf die Sitzgruppen, Gläser oder Tassen vor sich. Allerdings war keine Sensationslust spürbar, keine Gier nach reisserischen Neuigkeiten. Vielmehr wirkte es, als warteten wir alle auf etwas Bestimmtes, etwas Notwendiges, als wäre das schweigende Ausharren eine Art Tribut, als hielten wir Wache.
Marc, Martin und ich schwiegen meist und hielten uns, wie man angeordnet hatte, zur Verfügung. Die Zeit verrann langsam.
Widerstrebende Gefühle beherrschten mich. Betroffenheit und Schrecken angesichts des an diesem lieblichen Ort brutal einbrechenden Todes. Tiefes Mitgefühl mit der Frau, deren letztes Abendessen mit ihrem Mann so verkrampft und lieblos gewesen war, wie letzte gemeinsame Abendessen und letzte gemeinsame Minuten es niemals sein dürften. Und eine nagende, fast fiebrige Neugier. Was war hier geschehen? Warum hatte Adrian Wyss seinen Tisch so überraschend verlassen? Mit wem hatte er telefoniert? Wie war er zu Tode gekommen? Und warum hatte er dieses Jackett ausgezogen?
Die letzte Frage, obgleich ein lächerliches Detail, beschäftigte mich am meisten. Ich wandte mich an meine zwei Begleiter.
«Warum zieht man sein Jackett aus, wenn man seinen Tisch verlässt, um nach draussen zu gehen?»
Marc hob langsam die Schultern. «Weil einem heiss ist, vermute ich?»
«Aber er hat das Jackett im Restaurant den ganzen Abend anbehalten.»
«Das macht man so», schaltete sich Martin ein. «Man mag über Adrian Wyss denken, was man will, aber er hatte Stil und Klasse. Sein Jackett beim Abendessen auszuziehen, wäre ihm unerhört salopp vorgekommen.»
Ich lächelte matt, in Erinnerung daran, wie Marc seine Anzugsjacke im Restaurant sofort ausgezogen und die verhasste Krawatte gelockert hatte, während Martin stoisch in seiner würdevollen Vollmontur verblieben war. Keine Frage, wer von beiden der Geschliffenere war. Mittlerweile war auch von Martins gepflegter Eleganz nicht mehr viel übrig. Die unverhoffte Kletterpartie hatte seinen Anzug ruiniert, seine Schuhe starrten vor eingetrockneter Erde. Marc sah keinen Deut besser aus.
«Ich denke trotzdem, dass ihm heiss war. Auch ein Mann mit Stil und Klasse überhitzt sich bisweilen», gab Marc leicht angriffig zurück.
Ich überging das. «Er hat einen Anruf bekommen, und dann wurde ihm auf einmal heiss. Ich frage mich wirklich, von wem dieser Anruf kam …»
Marc drehte sich abrupt zu mir um, die Stirn in unheilvolle Falten gelegt, der Blick drohend. «Ka!» Seine Stimme erinnerte an Donnergrollen. «Ich warne dich. Nicht das schon wieder.»
Er richtete seinen Zeigefinger auf mich wie ein Bajonett, ungefähr so, wie er es bei unseren Töchtern tat, wenn sie entschieden zu weit gegangen waren. «Dies hier ist ein bedauerlicher Unglücksfall. Wir werden den Behörden in jeder erdenklichen Weise Unterstützung bieten, indem wir akkurat alles aussagen, was wir wissen. Und dann werden wir unserer Wege gehen. Hast du mich verstanden?» Sein Zeigefinger rückte noch ein Stück näher an meine Nasenspitze, und er sprach betont langsam und überdeutlich. «Das. Geht. Uns. Einen. Feuchten. Kehricht. An.»
Ich nickte vage. Meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch das Erscheinen eines der beiden Uniformierten, eines hageren Mannes mittleren Alters. Er blieb in respektvoller Distanz zum Regionalfahnder stehen, der an der Rezeption ein lebhaftes Telefongespräch führte, aber seine Haltung vermittelte gespannte Dringlichkeit. Dies schien auch dem Fahnder aufzufallen, der ihm einen kurzen Blick zuwarf und sein Gespräch dann rasch beendete.
Ich verstand kein Wort von ihrer leisen Unterhaltung, hörte nicht mehr als undeutliches Gemurmel. Aber ich konnte sehen, wie der Uniformierte seinem Gegenüber ein Blatt Papier reichte, dann ein Klemmbrett. Der Regionalfahnder las erst das eine, anschliessend das andere. Dann blickte er den Uniformierten wortlos an. Der nickte.
Das sah ungeheuer interessant aus. Ich reckte begierig den Hals, zog ihn aber sofort wieder ein, als Marc neben mir sich tadelnd räusperte. Ich hörte Martin an meiner anderen Seite leise in sich hineinlachen.
Nach einem erneuten Wortwechsel setzte sich der Fahnder in Bewegung. Er kam auf uns zu. Ich setzte mich gerade hin.
«Guten Abend. Mein Name ist Riesen.» Mit einem leutseligen Lächeln schüttelte der Mann uns nacheinander die Hand. Er war hellblond, massig und schwitzte ein wenig. «Herr und Frau Bergen und Herr Rychener, richtig? Sie sind die drei Zeugen, die das Opfer und seine Ehefrau oben beim Giessbachfall gefunden haben?»
Seine Fragen waren kurz und sachlich. Wann wir das Opfer zum ersten, wann zum letzten Mal gesehen hätten. Ob uns etwas aufgefallen sei. Aus welchem Grund wir so spät nachts und in Abendgarderobe noch zum Wasserfall hochgestiegen seien.
«Sie haben den Lichtstrahl der Taschenlampe erkennen können?» Er musterte mich scharf. «Auf diese Entfernung?»
Ich zuckte die Achseln. «Nur solange Frau Wyss auf einigermassen offenem Gelände unterwegs war. Danach war das Licht verschwunden. Die Taschenlampe war recht gross, also denke ich, dass der Lichtstrahl entsprechend leuchtstark und damit besser sichtbar gewesen sein muss. Das machte es leichter.»
Er nickte bedächtig. «Sie hat sich die Taschenlampe an der Rezeption ausgeliehen, als sie ihren Mann im Hotel nicht finden konnte. Aber dass Ihnen das aufgefallen ist …»
Irgendetwas an seinem Blick gefiel mir nicht. Ich erwiderte nichts.
«Und wie kam es, dass Sie sich entschlossen, dort hinaufzugehen und nach dem Rechten zu sehen?» Wieder musterte er mich scharf.
Ich holte tief Luft. Warum fühlte ich mich wie eine Verdächtige? «Ich hatte ein ungutes Gefühl.»
«Ein Gefühl, sagen Sie?»
Langsam ging er mir auf die Nerven. «Hören Sie, ich habe beobachtet, wie Adrian Wyss aus dem Restaurant verschwunden und nicht zurückgekehrt ist. Ich habe mitbekommen, wie seine Frau das Lokal sichtlich beunruhigt verlassen hat. Eine halbe Stunde später sehe ich die Frau in Stöckelschuhen und mit einer enormen Taschenlampe bewaffnet hastig den Weg hochgehen. Das sah für mich nicht gerade nach einer entspannten Nachtwanderung aus.»
«Sie waren allein, als Frau Wyss an Ihnen vorbeigegangen ist?»
«Nein. Herr Rychener war auch dabei.»
«Aber zuvor waren Sie allein draussen, wie Sie sagten?»
Ich sah ihn verwundert an. «Ja. Eine Weile.»
«Wie lange genau war diese Weile?»
Ich öffnete verblüfft den Mund. Was hatte das mit der Sache zu tun? «Eine Viertelstunde vielleicht? Zwanzig Minuten?»
«So. Ah.» Er machte sich ein paar Notizen. Dann sah er wieder zu mir auf. «Sie sind Psychiaterin? Wie das Opfer?»
«Allerdings. Und Herr Rychener hier ebenso», entgegnete ich kühl, «um der Vollständigkeit Genüge zu tun.»
Er ignorierte den Einwurf. «Sie kannten das Opfer?» Es klang aggressiv.
Ich hob die Augenbrauen. «Nein. Das heisst, ja, in gewisser Weise. Ich habe einmal an einem Anlass ein paar Worte mit ihm gewechselt.» Martin neben mir hüstelte verhalten. «Aber da wusste ich nicht einmal, wer er war und wie er hiess. Er war für mich ein Unbekannter. Heute Abend habe ich ihn erst wiedererkannt, als Herr Rychener mich auf ihn aufmerksam machte.»
«So», meinte Riesen abermals. Er starrte mich an, durchdringend. Dann schwenkte er um. «Ihr Name ist Kassandra Bergen?»
«Exakt.»
«Kein häufiger Name, oder?»
«Zum Glück nicht», entgegnete ich bissig. Ich mochte meinen Vornamen nicht besonders.
«Wie lautet die Nummer Ihres Mobiltelefons?»
Ich starrte ihn ungläubig an. Was um alles in der Welt sollte das? Ratlos wechselte ich einen Blick mit meinem Mann.
«Frau Bergen, ich habe Sie etwas gefragt. Wie lautet die Nummer Ihres Mobiltelefons?»
Ich nannte sie ihm.
«So», stiess er zum dritten Mal aus. Der Ausdruck grimmiger Befriedigung in seinem Gesicht gefiel mir gar nicht.
«Und nun sagen Sie mir, Frau Bergen», er starrte auf das Blatt Papier, das sein uniformierter Kollege ihm zuvor überreicht hatte, «wie es kommt, dass Adrian Wyss heute Abend um neun Uhr siebenundvierzig erfolglos versucht hat, Sie auf Ihrem Mobiltelefon zu erreichen?»
Mir klappte der Mund auf.
«Was sagen Sie da?», warf Marc neben mir beunruhigt ein.
Riesen wandte den Blick nicht von mir ab. «Sie haben mich verstanden, Frau Bergen. Wir haben die Daten auf Anordnung des zuständigen Staatsanwalts von der Swisscom erhalten. Es gibt keinen Zweifel.»
Ich brachte kein Wort heraus. Langsam, wie in Zeitlupe, griff ich nach der schwarzen Abendhandtasche, die ich achtlos neben mich auf das Sofa geworfen hatte. Holte mein Mobiltelefon heraus. Und starrte auf das Display.
«Nun?», herrschte Riesen mich an.
Ich schüttelte hilflos den Kopf. Statt ihm zu antworten, drehte ich die Anzeige meines Smartphones in seine Richtung. Deutete fragend auf die mir unbekannte Telefonnummer, die in meiner Anrufliste unter «nicht beantwortete Anrufe» aufgeführt war. 21.47 Uhr.
Riesen nickte.
«Ich habe keine Ahnung», stiess ich krächzend hervor. «Woher konnte Adrian Wyss meine Nummer haben? Und warum hat er versucht, mich anzurufen?»
«Ja», entgegnete der Fahnder leise. «Das ist die Frage, nicht wahr?»
3. Kapitel
Ich fühlte mich wie im Innern eines Alptraums.
Regionalfahnder Riesen hatte seiner Profession in dieser Nacht alle Ehre gemacht und mich nach allen Regeln der Kunst in die Mangel genommen. Mein Wissen darum, dass ich nichts zu verbergen hatte, dass mich nicht die geringste Kleinigkeit mit dieser Sache verband, hatte immerhin verhindert, dass ich in hysterische Tränen ausgebrochen war, aber nicht viel mehr. Und auch nachdem Marc meinem Inquisitor nach fast einer Stunde Kreuzverhör polternd angedroht hatte, umgehend ein Arztzeugnis zwecks Bescheinigung meiner reduzierten Urteilsfähigkeit infolge Schlafmangels und Erschöpfung auszustellen, hatte Riesen nicht danach ausgesehen, als ob er seine Hauptverdächtige so leicht von der Angel lassen wollte. Mit stählernem Blick hatte er mir eine eingehende Befragung in den nächsten Tagen in Aussicht gestellt, für die ich mich bitteschön zur Verfügung zu halten hätte, ehe er mich entliess.
Ich hatte in den wenigen Stunden, die von der Nacht noch übriggeblieben waren, kaum geschlafen, mich zittrig und überreizt im Hotelbett hin und her gewälzt, dem Wasserfall gelauscht, dessen Tosen in der Dunkelheit seltsam bedrohlich gewirkt hatte, und erfolglos versucht, meine Panik zu dämpfen. Ich hatte nichts getan. Meine Güte, ich hatte nichts getan! Was konnte mir schon passieren?
Das Frühstücksbuffet am Sonntagmorgen hatte keiner von uns wirklich geniessen können. Ich hatte mich wie ausgehöhlt gefühlt und kaum etwas gegessen, Marc hatte mich besorgt gemustert, und Martin hatte tapfer versucht, mit amüsanter Konversation sowohl die entsetzte Selma zu beruhigen wie auch mich und Marc aufzuheitern. Er war chancenlos gescheitert. Unmittelbar nach dem Frühstück waren wir aufgebrochen, dankbar, dem Schauplatz der Tragödie den Rücken kehren zu können.
Und nun stand ich an der Loge der Psychiatrischen Klinik Eschenberg, und meine Hoffnung, dass die Alltäglichkeit dieses Montagmorgens, die tröstliche Arbeitsroutine mir helfen würden, wieder Boden unter die Füsse zu bekommen, verflüchtigte sich mit dem Anblick zweier Uniformierter, die neben mir auftauchten und mit einem Handzeichen die Aufmerksamkeit der Empfangsdame auf sich zogen.
Ich merkte, wie mein Herzschlag aussetzte. Fahrig griff ich nach meinem Diensthandy, das die Frau am Schalter mir automatisch über die Theke zuschob, während sie gleichzeitig die Polizisten nach ihrem Anliegen fragte.
«Wir möchten gerne den Direktor sprechen.»
«Doktor Blanc ist heute Vormittag abwesend.»
«Und der Chefarzt?»
«Doktor Leutwyler, der ärztliche Direktor? Der ist im Haus. Haben Sie einen Termin?»
«Leider nein. Aber wir kommen in einer dringlichen Angelegenheit. Es geht um einen ungeklärten Todesfall, der möglicherweise mit dieser Klinik in Zusammenhang steht. Wenn es also möglich wäre …»
Die Empfangsdame wirkte erschrocken. Gehorsam setzte sie sich an die Telefonzentrale, um das Sekretariat des Chefs anzuwählen.
Mechanisch setzte ich mich in Bewegung, verliess die Loge, betätigte die Stempeluhr im Gang und rief den Lift zu meinem Büro, als wäre alles in Ordnung. Aber meine Gedanken rasten. Was sollte das?
Ich taumelte in mein Büro, als wäre ich betrunken. Ich war zu nichts zu gebrauchen. Ich stolperte über den Teppichrand, stiess die Teetasse auf meinem Pult um. Diese ging prompt zu Bruch, und ich fügte mir beim hastigen Zusammenwischen der Scherben eine Schnittverletzung am Finger zu. Während ich in meiner Handtasche nach einem Pflaster kramte, war ich den Tränen nah.