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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
TEIL EINS
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
TEIL ZWEI
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
TEIL DREI
Kapitel Dreißig
Kapitel Einunddreißig
Kapitel Zweiunddreißig
Kapitel Dreiunddreißig
Kapitel Vierunddreißig
Copyright

Der Autor

Der schottische Autor Gary Gibson arbeitete als Redakteur, Buchhändler und Grafikdesigner, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. »Lichtkrieg« war auf Anhieb ein großer Erfolg bei Publikum und Presse. Der Autor lebt und arbeitet in Glasgow.

Kapitel Eins

Konsortium-Standardzeit: 03.06.2538
25 Kilometer südlich von Port Gabriel, Kolonie Redstone
Port-Gabriel-Zwischenfall +45 Minuten

 

Es war, als wache man auf und stelle fest, dass man soeben durch die Pforte zur Hölle geschlafwandelt war.

Dakota sog scharf den Atem ein und fühlte sich, als habe ihre Existenz gerade erst begonnen. Ein paar Sekunden lang stand sie stocksteif da, während der Eisregen schmerzhaft auf ihre Haut prasselte.

Sie versuchte, die Situation zu begreifen.

Rings um sie herum lagen Leichen unter einem schiefergrauen Himmel, von dem immer wieder kurze, heftige Schneeschauer herabwirbelten. Die meisten Menschen waren niedergemäht worden, als sie davongerannt waren, um sich in Sicherheit zu bringen. Es war das Bild eines grauenhaften Gemetzels.

Mit erschreckender Deutlichkeit erinnerte sie sich daran, was sie empfunden hatte, als sie all diese Leute getötet hatte.

Ihre Hände baumelten schlaff an ihrer Seite herunter; in einer Faust hielt sie noch die aus dem Arsenal des Konsortiums stammende Sturmpistole. Hoch über ihrem Kopf dröhnten unförmige Konsortium-Transporter, die aus dem Orbit herabstießen, um nachzuforschen, ob es nach diesem Desaster noch etwas gäbe, das sich zu bergen lohnte.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass sie sich an so vieles erinnern konnte – an jeden einzelnen Moment, an jeden Schrei, an jeden Toten. Damit würde sie bis ans Ende ihrer Tage leben müssen. Deshalb fiel ihr der Entschluss so leicht, sich selbst umzubringen.

Dakota entfernte sich von dem Transporter und den toten Flüchtlingen der Freistaatler-Gemeinschaft, die er befördert hatte; während sie am Rand des Highways entlangmarschierte, sah sie die Leichen in dem mit Schnee gefüllten Graben, der parallel zur Trasse verlief.

Ein Frauenleichnam steckte im Dickicht der robusten Wurzeln und Blätter eines Kannenstrauchs. Dakota zerrte sie heraus, ohne auf die scharfen Dornen zu achten, die ihre Haut und den Überlebensanzug zerkratzten. Sie legte die Tote an den Straßenrand und betrachtete ihr Gesicht. Mittleres Alter, ein mütterlich wirkender Typ, das schwarze Haar von ein paar grauen Strähnen durchzogen.

Dakota drückte ihr die starren Augen zu und kniete ungefähr eine Minute lang vor dem Leichnam.

Schließlich stand sie auf und spähte in die Runde; sie lauschte den rasselnden Geräuschen, die entstanden, wenn die eiskalte Luft durch die Filtersysteme ihrer Atemmaske strömte, und sie spürte, wie sich aus ihren Lungen ein Schrei entlud, der gar nicht mehr enden wollte.

Nach einer Weile begann ihre Brust von der Anstrengung des Schreiens zu schmerzen, und sie verstummte.

Sie setzte ihren Weg fort, während sie im Gehen ihren Überlebensanzug nach und nach abstreifte. Den Anzug warf sie in den Straßengraben, danach entledigte sie sich der restlichen Bekleidung, die sie gegen die klirrende Kälte schützte, bis sie splitternackt unter dem Morgenhimmel von Redstone stand.

In der eisigen Luft wurde ihr Körper sofort taub; doch die Atemmaske behielt sie an, weil ihr ein schneller Tod durch Ersticken in dieser fremden Atmosphäre viel zu gnädig vorgekommen wäre. Vereinzelte Schneeflocken tanzten über das weiche, blasse Fleisch ihrer bloßen Schultern und sammelten sich auf ihren kurz geschorenen Haaren.

Dakota schaffte es, noch ein paar Schritte weiterzustolpern; ihr Blick verschwamm, als sie auf die Lastwagen, Busse und Ferntransporter starrte, die die Flüchtlinge in Sicherheit gebracht hatten. Einige der Fahrzeuge brannten, und ölige Rauchsäulen beschmutzten den Himmel von Redstone.

Sie brach neben der Statue von Belle Trevois zusammen, der uchidanischen kindlichen Märtyrerin, die, am Saum der Straße stehend, ewige Wache hielt, die Arme hoch in die Luft gereckt in einer Geste, die an einem derart einsamen und trostlosen Ort umso verzweifelter wirkte. Der Sockel war über und über mit hässlichen Freiweltler-Graffiti beschmiert.

Dakota spürte, dass sie nun selbst dem Tode nahe war, und setzte sich zu Füßen der Statue in die Hocke. Aus dieser Perspektive blickte sie zu deren ausdruckslosem Gesicht hinauf.

In ihrem Kopf hörte sie immer noch, wie Menschen um ihr Leben liefen, in ihren Gedanken hallten die Schreie der Flüchtlinge nach, die bei lebendigem Leib verbrannten.

Dann vernahm sie andere Stimmen – Soldaten, die sich mit Zurufen verständigten und rasch näher kamen.

Um sie zu retten.

Kapitel Zwei

Erkinning City, Kolonie Bellhaven
Konsortium-Standardzeit: 03.02.2536
Zwei Jahre vor dem Port-Gabriel-Zwischenfall

 

Dakotas Blick schweifte über die in der Ferne liegenden Dächer der Baracken, die sich hinter die abweisend wirkende Stadtmauer duckten. Die sieben Abendsterne schienen auf sie hinabzusehen, und ihr mildes Licht wirkte tröstlich wie der Segen eines Ältesten.

Im selben Moment, in dem sie zum Nachthimmel emporblickte, aktivierten sich ihre neuen Ghost-Schaltkreise – die frisch in ihren Schädel implantiert waren – und schwemmten eine Flut zumeist nutzloser Informationen in ihre Gedanken; ohne sich im mindesten anzustrengen, wusste sie sofort, in welcher Entfernung sich jeder einzelne Stern befand, kannte seine Deklination in Bezug zum galaktischen Äquator sowie die jeweilige Anzahl der Planeten und dunklen Begleiter, von denen sie umkreist wurden.

Eine unglaubliche Fülle ähnlicher Details hinsichtlich Tausender weiterer Sterne, die alle in einem Umkreis von mehreren hundert Lichtjahren rings um Bellhaven verstreut lagen, lauerte am Rande ihres Bewusstseins. Sie stellte sich vor, sie sei eine Spinne im Zentrum eines riesigen kybernetischen Netzes, während ihre Implantate winzigen, tausendfach aufgefächerten Gliedmaßen glichen, die sich ausstrecken und Sonnen oder Monde vom Himmel pflücken konnten, wenn sie Lust verspürte, damit zu spielen.

Sie riss sich vom Anblick der Sterne los und ließ den Blick wieder nach unten wandern; in der kalten Nachtluft gefror ihr Atem, wenn er durch den Schal drang, den sie sich fest um Hals und Mund gewickelt hatte. Ein eisiger Winterwind peitschte über jene Teile ihres frisch geschorenen Schädels, die nicht von der dicken Lederkappe, die sie über den Kopf und die Ohren gezogen hatte, geschützt wurden. Sie blickte kurz hinter sich und entdeckte Tutor Langley, der ganz in ihrer Nähe stand.

Ein Spitzbart zierte Langleys dunkles Gesicht, und sein langer schwarzer Mantel erinnerte an das Gewand eines Priesters aus einem längst vergangenen Jahrhundert; der kurze Stehkragen zwängte seinen Hals ein, während die weiten Mantelschöße um seine Stiefel flatterten. Diese Uniform sollte eine ständige Mahnung an die Bürger darstellen, ja nicht zu vergessen, dass die Ältesten der Stadt, die die religiöse Oligarchie verkörperten, an den Schalthebeln der Macht saßen.

Dakota bemerkte seinen Gesichtsausdruck und grinste ihn breit an. Es störte sie nicht, dass ihr kahl geschorener Schädel von den chirurgischen Eingriffen immer noch arg lädiert aussah.

In den Gassen tief unter der Garnisonsfestung, auf deren Dach sie stand, sah sie Menschen, die sich um Imbissbuden drängten; die Garküchen säumten eine belebte Straßenkreuzung, an der sie selbst schon mindestens tausend Mal vorbeigeschlendert war. Wo der Schein der spärlichen Beleuchtung hinfiel, konnte sie gerade noch die Gesichter der Leute ausmachen. Gesprächsfetzen drangen zu ihr hinauf, zusammen mit Kochdünsten, die ihren Appetit anregten.

Plötzlich vergegenwärtigte sich Dakota, wie leicht sich diese Gerüche in spezifische Kategorien aufspalten ließen. Worte wie Hydrolyse, Ester und karamellisierter Zucker schoben sich in ihr Gehirn, begleitet von prozentualen Angaben, die sich mit jedem Windstoß veränderten. Weit drunten suchten die Menschen unter Blechmarkisen Schutz vor der winterlichen Kälte und dem Regen, oder sie wärmten sich an den kommunalen Fusionsöfen, die an jeder Ecke der Kreuzung aufgestellt waren.

Jesus, Uchida, Buddha; diese und ein Dutzend mehr Abbilder glühten in strahlenden, halluzinatorischen Farben aus allen möglichen Nischen, wie in vielen anderen Bereichen der Stadt auch. Sie verteilten ihren leuchtenden Segen über die uralten Schichten aus Plakaten und öffentlichen Bekanntmachungen, mit denen jede verfügbare Fläche immer wieder von Neuem zugekleistert wurde.

In diesem Moment merkte sie, dass Marlie sich zu ihr an das Geländer gestellt hatte; der Mund unter ihren dunklen Augen war zu einem breiten Grinsen verzogen.

»Hast du schon das Neueste von Banville gehört? Jetzt heißt es, er sei zu den Uchidanern übergelaufen und hätte seine Familie so mir nichts, dir nichts im Stich gelassen.«

»Ach, wirklich?«, erwiderte Dakota. »Zuletzt wurde doch behauptet, er sei verschleppt worden.«

Das waren in der Tat interessante Neuigkeiten. Banville war der Erfinder, der einen großen Teil jener fortschrittlichen Ghost-Technologie entwickelt hatte, auf die sich Bellhavens wissenschaftlicher Ruf nun schon seit Langem stützte. Nicht nur Marlie und Dakota, sondern auch jede andere Person mit Ghost-Implantaten trug ein Stück von Banvilles Lebenswerk in sich.

Marlie zuckte unbekümmert mit den Schultern. Ihre Art, dauernd zu lächeln, egal, was sie sagte, ging Dakota mächtig auf die Nerven; es deutete auf eine Oberflächlichkeit hin, die sie von klein auf kultiviert haben musste. »Ehe ich hierherkam, habe ich mir die letzte Ausgabe des City Bulletin besorgt. Anscheinend ist er doch freiwillig abgehauen, und die Ältesten kochen vor Wut.«

Dakota nickte. Die Nachricht von Banvilles Verschwinden hatte in den Grover-Gemeinden, wie die Ältesten sich auszudrücken beliebten, bereits zu Aufständen geführt. Doch der Ausdruck Barackenslums hätte besser gepasst; seit nunmehr drei Jahren wucherten sie vor den Stadtmauern, zum Bersten vollgestopft mit Flüchtlingen, die von der gescheiterten Grover-Kolonie tausend Meilen weiter nördlich herbeiströmten.

Rasch durchlief Dakota die visuellen Routinen, die ihr Unterbewusstsein öffneten, damit sie einen Strom von Daten und Nachrichten aus dem örtlichen Tach-Netz empfangen konnte. Vor Schreck weiteten sich ihre Augen, als sich ein Schwall neuer Informationen in ihren Kopf ergoss: Banville war seit knapp einem Tag verschwunden, doch just vor ein paar Minuten war eine aufgezeichnete Botschaft aufgetaucht, in der er behauptete, er habe sich aus freien Stücken zum Oratorium, der Lehre von Uchida, bekannt und Bellhaven für immer verlassen.

Sie warf einen Blick auf Marlie und wusste sofort, dass sie exakt dieselben Auskünfte erhielt.

»Das ist schlecht«, kommentierte Dakota unnötigerweise.

Marlie nickte. »Allerdings, Dakota, das ist sogar sehr schlecht.«

 

Es gab Berichte, denen zufolge über den ganzen Globus verteilt ein Dutzend weitere Aufstände ausbrachen, sobald sich die schockierende Enthüllung von Banvilles Überlaufen verbreitete. Dakota beobachtete, wie von zwei unterschiedlichen Sektoren der Grover-Camps Rauchsäulen aufstiegen, während sie auf dem flachen Dach des Turms im Ostquadranten stand, dessen Rand von einer altertümlichen Brustwehr umgeben war. Gestelle aus Stahl und Keramik für die Montage von Impulswaffen, mit denen man im Ersten Bürgerkrieg Erkinning verteidigt hatte, lagen nach anderthalb Jahrhunderten der Vernachlässigung verrostet und von Löchern zerfressen herum.

In Anbetracht der derzeitigen Umstände fielen die Feierlichkeiten, die Dakotas Graduierung begleiteten, eher gedämpft aus. Trotzdem hatte Langley spät in der Nacht sein Teleskop wie versprochen auf selbigem Dach aufgebaut, damit alle einen Blick auf die neue Supernova werfen konnten, die sich kurz vor dem Morgengrauen dem Horizont näherte.

Dakota fand, dass das Teleskop geradezu mittelalterlich aussah, ein dicker Tubus aus glänzendem Kupfer und Messing, der auf einen drehbaren Äquatorialfuß montiert war. Das Ding wirkte wie ein Wesen, das aus Gefilden jenseits des bekannten Universums zu stammen schien, ein Hybrid aus Spinne und Maschine, der in diese Welt eingedrungen war und nun über die Dächer der Stadt stakste.

»Haben Sie etwas gesagt, Dakota?« Langley fasste sie argwöhnisch ins Auge.

Mit dem Kinn deutete sie nach oben in Richtung der Supernova. »Ich sagte, eines Tages möchte ich mich an einen Ort wie diesen begeben und mich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie ein sterbender Stern aus der Nähe aussieht.«

Ihr Blick begegnete dem von Aiden, und sie geriet ins Stocken; ihre helle Haut lief rot an, als sie sich an ihre unbeholfenen Intimitäten im Schlafsaal erinnerte.

»Das soll wohl ein Witz sein, oder?«, meinte Aiden, der dem Alkohol kräftig zugesprochen hatte. »Du willst losziehen und eine Supernova besuchen?« Er lachte, und die Studenten, die noch wach waren und nicht irgendwo ihren Rausch ausschliefen, fingen nervös an zu kichern. Marlie hockte ungeachtet der feuchten Kacheln im Schneidersitz auf dem Boden und richtete ihre volle Aufmerksamkeit auf Langley, der über ihre unerwiderten Sehnsüchte voll im Bilde war. Martens’ eulenhafte Züge ließen erkennen, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing und sich von der Außenwelt abgeschottet hatte. Otterich und Spezo machten einen gelangweilten und müden Eindruck, und der Rest hatte sich entschuldigt und für die Nacht zurückgezogen. Manche Studenten interessierten sich nicht besonders für explodierende Sterne.

Langley selbst warf Aiden einen warnenden Blick zu. Dann wandte er sich an Dakota, offensichtlich zufrieden mit den minimalen Justierungen, die er am Teleskop vorgenommen hatte. »Ich teile Ihren Wunsch, aber die Große Magellan’sche Wolke liegt ein bisschen weiter weg, als die Shoal bereit wären, Sie oder sonst jemanden zu befördern.«

»Jawohl, wie groß ist noch mal die Entfernung?«, spottete Aiden. »Einhundertundsechzigtausend Lichtjahre, nicht wahr?« Er gönnte Dakota ein Grinsen, das sie mit einem hasserfüllten Blick quittierte. »Wir beobachten also ein Ereignis, das ungefähr zu der Zeit stattfand, als die Shoal anfingen, die überlichtschnelle Technologie zu entwickeln. Das liegt wirklich sehr weit zurück.«

Die erste Supernova war vor ungefähr sechs Jahren bemerkt worden, im Frühherbst und nur wenige Tage nach Dakotas sechzehntem Geburtstag. Sie war aufgeblüht wie ein kaltes Feuer und stellte für eine kurze Weile eines der hellsten Elemente am Nachthimmel dar, bis sie im Lauf der folgenden Wochen allmählich verblasste.

Danach erschienen binnen weniger Jahre Dutzende weiterer Supernovae; in unregelmäßigen Abständen flammten sie auf und überzogen ein paar Wochen lang das nächtliche Firmament mit einem grellen Glast, um dann wieder in die stellare Anonymität zurückzusinken. Und all das spielte sich in einem relativ winzigen Sektor einer benachbarten Galaxie ab.

»Was Sie alle vergessen«, warf Langley mit seiner sanften Stimme ein, »ist die Tatsache, dass diese Novae immer noch ein Geheimnis darstellen. Und nichts lieben die Menschen mehr als ein Mysterium. Das liegt in unserer Natur.«

Er rückte ein Stück von dem Teleskop ab und legte eine Hand leicht auf das schimmernde Rohr. »Martens, Sie haben doch die Novae studiert. Ich schlage vor, Sie frischen unser Wissen auf, indem Sie uns ein paar grundlegende Details erzählen. Was ist denn so bemerkenswert und außergewöhnlich an diesen Novae?«

Martens war auch nicht mehr ganz nüchtern; er blinzelte und fing an zu stottern, völlig überrumpelt von der potenziell gefährlichen Frage des Tutors. »Äh, Sir, bis jetzt glaubten wir, dass die meisten Sterne, die sich zu einer Nova entwickeln, zu einem Doppelsternsystem gehören.« Mit dem Fuß stieß er eine noch nicht leere Bierflasche um, die vergessen vor ihm auf dem Boden stand. Er bückte sich bereits, um sie aufzuheben, besann sich jedoch im letzten Moment anders.

Dakota erhaschte einen Blick auf Aidens Gesicht und merkte, dass selbst er plötzlich nicht mehr ganz so betrunken aussah. »Einer dieser Sterne saugt Materie von seinem Gefährten ab, und daraus resultiert eine stellare Explosion. Aber soweit man weiß, besaß keine Komponente dieser neuen Novae genug Masse, damit es zu einem Novaausbruch kommen konnte, noch gehörten sie zu einem Doppelsternsystem.«

»Und dann sind da noch die doppelten Neutrino-Entladungen«, fügte Dakota impulsiv hinzu, wofür sie einen dankbaren Blick von Martens erntete, der froh war, nicht weitersprechen zu müssen. Langley sah sie mit beifälliger, wenn nicht gar bewundernder Miene an, und sie errötete bis unter die Haarwurzeln.

»Weltraumscanner haben immer einen Neutrino-Ausstoß aufgezeichnet, nur wenige Minuten vor der visuellen Beobachtung«, fuhr sie fort. »Aber jeder dieser kürzlich erfolgten Novae in der Magellan’schen Wolke ging ein Neutrino-Echo voraus: es gab nicht einen, sondern jedes Mal zwei Neutrino-Ausstöße im Abstand von ein paar Sekunden, und anschließend erfolgte dann die normale visuelle Bestätigung. Doch eigentlich ist das gar nicht möglich. In unserer eigenen Galaxis entstehen in einem Jahrhundert vielleicht ein paar Novae, und auf einmal brechen mehrere Dutzend in einer Nachbargalaxie aus, die aus einem Zehntel der Sterne besteht, die unsere Milchstraße bilden. Obendrein in einem Zeitraum von wenigen Jahren und fast buchstäblich vor unserer Haustür. Das ergibt keinen Sinn.«

Langley lächelte. »Sehen Sie, Aiden, dieses Mädchen besitzt eine gesunde Neugier. Sie stellt Fragen, während Sie nur dasitzen und sich beschweren.«

Martens brach in ein nervöses Lachen aus, in das Otterich einen Augenblick später einstimmte. Aiden rang sich ein Lächeln ab, wie wenn er sagen wollte: Sie haben gewonnen, und plötzlich hatte Dakota Mühe, sich zu erinnern, was sie an diesem Burschen so sympathisch gefunden hatte, dass sie ihm noch vor Kurzem erlaubte, sich auf sie zu legen. Sie führte es auf die Kombination von Alkohol und der unbestreitbaren Tatsache zurück, dass er alles andere als unattraktiv war.

Mit einem Seufzer riss sie sich zusammen und zwang sich dazu, nicht mehr daran zu denken, wie sie eng umschlungen unter den warmen Laken gelegen hatten. Es war eine Sache, auf dieses eisige Dach zu klettern, weil schon wieder ein neuer Stern am Himmel aufgetaucht war; doch wer anfing, nach den Ursachen für dieses Phänomen zu fragen, konnte mancherorts in arge Schwierigkeiten geraten.

Als die ersten Novae erschienen waren, waren die Stadtältesten, die Erkinning und sämtliche anderen Kommunen der Freien Staaten regierten, schnell bei der Hand gewesen, diese Zeichen am Himmel auf Gottes unerforschlichen Willen zurückzuführen, die sich deshalb jeder wissenschaftlichen oder wie auch immer gearteten Untersuchung entzogen.

Das Konsortium – so hieß die administrative und militärische Körperschaft, die den von Menschen bewohnten Teil des Weltraums kontrollierte – kümmerte sich im Allgemeinen nicht um Lokalpolitik, doch es blieb die Tatsache, dass von Bellhavens mannigfachen, unterschiedlichen Nationen lediglich die Freien Staaten vom Konsortium selbst massiv unterstützt wurden; der Grund dafür waren die aufsehenerregenden Fortschritte, die Techniker in Erkinning und gewissen anderen Städten der Freien Staaten bei der Weiterentwicklung der Ghost-Technologie gemacht hatten. Unter diesen Umständen war das Verbot öffentlicher Spekulationen bezüglich der Novae nicht viel mehr als ein Säbelrasseln; damit versuchten die Ältesten zu zeigen, dass sie in Erkinning immer noch die maßgeblichen Machtpositionen innehatten, obwohl jeder wusste, dass das nicht stimmte.

Aiden schaute grimmig drein. Ein Onkel von ihm bekleidete einen Sitz im Ältestenrat, und wenn er sich in derlei Mutmaßungen verwickeln ließe, wäre das seiner Karriere nicht förderlich. Dakotas nächste Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, um Aiden keine Gelegenheit zu geben, Langley der Ketzerei zu bezichtigen.

»Die Supernovae haben alles, was wir über stellare Mechanik zu wissen glaubten, über den Haufen geworfen, aber die Shoal wollen nicht einmal darüber reden, und deshalb glaubt jeder, sie hätten etwas zu verbergen.«

Eine Weile herrschte allgemeines Schweigen, das nur vom Geräusch des Nachtwindes gestört wurde, der über die Brustwehr strich.

»Also gut«, meinte Langley, der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. »Ich habe das Teleskop aus einem ganz bestimmten Grund hier heraufgebracht. Das Konsortium erwartet, das seine Investitionen reiche Früchte tragen. Deshalb sollten Sie sich vergegenwärtigen, dass Sie noch sehr viel zu lernen haben, selbst dann noch, wenn Ihr Studium schon eine halbe Ewigkeit zurückliegt – allerdings brauchen Sie sich in dem Fall keine Sorgen mehr wegen der Ältesten zu machen, die Ihnen vorschreiben, was Sie zu denken oder nicht zu denken haben.«

Mit einem Finger tippte er sich an die Schläfe. »Nichts passiert ohne Grund, und das schließt eine benachbarte Galaxie ein, in der sich Dinge abspielen, die an eine Explosion in einer Feuerwerkskörper-Fabrik erinnern. Selbstverständlich drängen sich einem Fragen auf. Angenommen, eine bis jetzt noch unbekannte Kraft hat eine beträchtliche Anzahl sehr weit entfernt liegender Sterne trotz offenkundig zu geringer Masse zum Detonieren gebracht  – lässt das den Schluss zu, dass dasselbe auch hier bei uns eintreten könnte?«

»Aber auf diese Frage kann es keine Antwort geben«, protestierte Aiden mit einem unverkennbar trotzigen Unterton. »Selbst die Schiffe der Shoal brauchten Jahrhunderte, um zu Forschungszwecken in die Große Magellan’sche Wolke zu gelangen. Und was auch immer dort passiert sein mag, hat sich zu einer Zeit ereignet, als unsere Vorfahren auf der Erde sich noch durch die Baumkronen hangelten. Es ist müßig zu spekulieren, wenn wir ja doch niemals imstande sein werden, das Rätsel zu lösen.«

Langley schloss für einen kurzen Moment die Augen, und Dakota glaubte, ihn leise fluchen zu hören. Als er die Augen wieder aufmachte, blickte er Dakota an und gab ihr einen Wink.

»Dakota, möchten Sie die Erste sein, die durchs Teleskop schaut?«

Sie trat vor und beugte sich über das Gerät, um durch das Okular zu spähen. Langley war auf Aidens Argument nicht eingegangen, weil der natürlich recht hatte. Denn nur mit Hilfe der Shoal war es den Menschen überhaupt gelungen, interstellare Raumfahrt zu betreiben. Die im zwanzigsten Jahrhundert durchgeführten Experimente auf dem Gebiet der Langstrecken-Quantendynamik hatten zur Tach-Transmission geführt, einer Form von Kommunikation ohne Zeitverzögerung, die die Shoal in ihren riesigen interstellaren Flotten aus Kernschiffen schon seit Langem verwendeten.

Es gab Millionen von bewohnten Sternsystemen, doch die Shoal behaupteten, die einzige Rasse zu sein, die einen überlichtschnellen Antrieb entwickelt hatte; und als Gegenleistung für das Versprechen, dass die Menschheit niemals versuchen würde, diese Technologie zu replizieren, durften die Menschen innerhalb einer genau bestimmten Sphäre des Weltraums, die einen Durchmesser von ungefähr dreihunderttausend Lichtjahren besaß, andere Planeten kolonisieren.

Dieses Angebot hatte man nicht ausschlagen können, doch es kursierten Geschichten und Gerüchte, dass die Menschen sich trotz der ursprünglichen Drohungen der Shoal angeschickt hatten, den Transluminal-Antrieb zu kopieren. Sämtliche Anstrengungen waren anscheinend kläglich gescheitert. Desgleichen wurde niemals öffentlich zugegeben, dass Regierungen der Menschen Spionagesatelliten und Technologien zur Fernüberwachung einsetzten, um die Kernschiffe der Shoal in jenen wesentlichen Momenten vor dem Eintritt in den Transluminalraum zu beobachten, doch die breite Masse glaubte, dass das der Wahrheit entsprach.

Ohne die Shoal gäbe es demnach keine Kolonien, keinen interstellaren Handel, keine akribisch lizensierten fremdartigen Technologien, welche die anderen Klienten-Rassen der Shoal lieferten, und ganz gewiss keine Pioniere, die Erkinning, die Freien Staaten und all die anderen menschlichen Kulturen hier auf Bellhaven gegründet hatten.

Ohne die Großzügigkeit der Shoal hätte nichts von alledem existieren können.

Dakota drückte ihr Auge fester an das Okular des Teleskops und spürte den kühlen Plastikring an ihrer Augenbraue und Wange. Dann sah sie scharf umrissene Lichtpunkte. Wieder einmal drängten sich Details der Sterne, die sie beobachtete, in ihr Bewusstsein, die sie ohne Unterstützung durch ihre Implantate vermutlich gar nicht hätte wahrnehmen können. Aber ihr Ghost lernte bereits, ihre Fragen und Wünsche vorherzusehen, deshalb blendeten sich die Informationen genauso schnell aus, wie sie gekommen waren.

Gewiss, Orbitalobservatorien und miteinander vernetzte Radioteleskope lieferten viel akkuratere Ergebnisse, aber mit eigenen Augen durch eine simple Linse zu spähen, war immer noch ein aufregender Vorgang. Sie konnte sich gut vorstellen, was Galileo Galilei empfunden haben mochte, als er zum ersten Mal die Jupitermonde entdeckt hatte.

»Vielleicht hat jemand sie zur Explosion gebracht«, murmelte Dakota. »Die Sterne in der Magellan’schen Wolke, meine ich.«

Aiden brach in schallendes Gelächter aus, und Dakotas Wangen brannten vor Verlegenheit.

»Wenn dir eine bessere Erklärung einfällt, dann darfst du sie uns gern mitteilen«, schnauzte sie. In diesem Augenblick trat Marlie vor, der das Gezänk sichtlich peinlich war, um auch durch das Teleskop zu peilen.

Langleys Züge wirkten wieder wie aus Granit gemeißelt und völlig teilnahmslos, doch zweifellos bekam er jedes Wort mit, das gesagt wurde.

»Wissen Sie, Aiden«, meinte er schließlich, »es steht eindeutig fest, dass die Shoal uns an der kurzen Leine halten. Man sagt uns, da draußen gäbe es Tausende von anderen Spezies, doch bis jetzt haben wir nur die Bandati und noch zwei weitere Rassen kennengelernt. Aber man kann nie wissen, was die Zukunft bringt. Vielleicht ändert sich ja alles.«

Aiden grinste hämisch, doch Dakota merkte ihm an, dass seine Selbstsicherheit ins Wanken geraten war. »Tutor, an manchen Orten kann es gefährlich werden, solche Meinungen auszusprechen«, erwiderte er ruhig.

Langley zuckte nicht mit der Wimper, sondern behielt seinen starren Gesichtsausdruck bei. »Ich möchte Ihnen Folgendes mitgeben, Aiden«, setzte er erneut an. »Sobald auch Sie erst einmal eingesehen haben, unter wie vielen Restriktionen die menschliche Rasse zu leiden hat, werden Sie begreifen, was es heißt, von einer Veränderung des Status quo zu träumen. Dann werden Sie erkennen, wie frustrierend es ist, wenn man Ihnen sagt, dass Sie nur so und so weit kommen können und eine bestimmte Grenze nicht überschreiten dürfen.«

»Nun, es ist doch weit genug, oder nicht?«, versetzte Aiden und blickte ein wenig verwirrt drein. »Ich finde«, fuhr er fort, während er einen Mundwinkel zu einem dreisten Grinsen hochzog, »es ist immer noch besser, als für den Rest seines Lebens hier festzustecken.«

Dakota sah das Mienenspiel auf Langleys Gesicht, auch wenn Aiden es offensichtlich nicht mitbekam.

»Ihr größtes Problem«, kommentierte Langley mit rauer Stimme, »ist ein beklagenswerter Mangel an Abenteuerlust.«