Geschichte der Polen in Deutschland
C.H.Beck
Polen und Polinnen sind aus Deutschland nicht mehr wegzudenken. Dennoch werden sie oft gar nicht als solche wahrgenommen und gelten als die „unsichtbare Minderheit“. Peter Oliver Loew schildert in diesem Buch erstmals die jahrhundertelange Geschichte und die facettenreichen Lebensweltendieser Bevölkerungsgruppe vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Seit Jahrhunderten leben Polen und Polinnen in deutschen Staaten, nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert war Polnisch eine Zeitlang sogar Muttersprache für mehr als ein Drittel der Einwohner Preußens. Mit der Industrialisierung setzte die polnische Massenwanderung in die deutschen Industriezentren ein und hunderttausende Saisonarbeiter bevölkerten die ostelbischen Güter. Im Zweiten Weltkrieg verschleppte NS-Deutschland Millionen von Polen ins Reich, von denen nach Kriegsende gar nicht wenige in Deutschland strandeten. Vertriebene, Spätaussiedler, Flüchtlinge, Erntehelfer und viele andere kamen später hinzu. Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland sind heute Polen, sprechen Polnisch oder stammen aus Polen. Damit sind sie nach den Türken die größte Einwanderergruppe. Ihre Geschichte und ihre Erlebnisse erzählt dieses Buch.
Peter Oliver Loew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt. Er ist mit einer Polin verheiratet. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Danzig. Biographie einer Stadt (2011).
Einleitung
I Wie alles begann: Mittelalter und Frühe Neuzeit
Polnische Prinzessinnen im Reich
Handeln und wandern
Masuren, Schlesien: Polnische Siedlungsgebiete in deutschsprachigen Staaten
Studieren und probieren: Reisende Polen in deutschen Landen
Bischöfe und Reformatoren
Städtische Eliten in Berlin und Dresden
II Die größte Minderheit Preußens und des Reichs: Von den Teilungen Polens bis zum Ersten Weltkrieg
Geteiltes Land: Die preußischen Teilungsgebiete Polens, 1772 bis 1806
Die preußischen Ostprovinzen: Kurzer Überblick über ein langes Jahrhundert, 1815 bis 1918
Polen «bei sich daheim»: Die alten polnischen Siedlungsgebiete in Preußen
1832: Polen ziehen durch Deutschland
Revolutionäre in Aktion: Polenprozess und Völkerfrühling
Polnische Massenmigration
Aristokratie, Arbeiter, Assimilation: Polen in Berlin
«Denn wir verfolgen andere Zwecke als Sie …»: Polen in den Parlamenten
Akademische Weihen: Polen an deutschen Universitäten
Künstler und Lebenskünstler
Reichsweite Organisationen
Wie polnisch waren «polnische Juden»?
Exkurs: Polen in Österreich
Zwischen Garderegiment und Schützengraben: Polen in der Armee
Der Erste Weltkrieg: Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und die Ruhe vor dem Sturm
III Zankapfel: Polen in Deutschland zwischen den Weltkriegen
Aus polnischen Preußen werden preußische Polen
Versailles und die Folgen: Grenzveränderungen und Abstimmungskämpfe
Bleiben, optieren, zurückwandern? Lebenshorizonte von Polen in Deutschland nach 1918
Über’s Land verstreut: Die polnische Minderheit in Deutschland
Immer noch gefragt: Polnische Saisonarbeiter
Auf verlorenem Posten? Die Interessenvertretung der Polen in Deutschland
Künstlerlieben und Leinwandstars
Polnische Juden zwischen Assimilation und Ausgrenzung
IV Schrecken des Krieges: Vertreibung, Germanisierung, Zwangsarbeit, Vernichtung
Polen im «Altreich»
Die eingegliederten Gebiete: Terror, Vertreibung, Vernichtung
«Eindeutschung», Ausgrenzung und schwieriges Miteinander: Polen in den eingegliederten Gebieten
Überleben im Oflag
Kampf fürs fremde Vaterland: Polen in der Wehrmacht
Sklaven aus Polen: Zwangsarbeiter im Reich
«Hier hörten wir auf, Menschen zu sein»: Polen in den reichsdeutschen Konzentrationslagern
V Kinder des Kalten Krieges: Versprengte Existenzen und Masseneinwanderung
Wo ist die Heimat? Polnische Displaced Persons
Maczków: Eine polnische Enklave in Deutschland
München funkt nach Polen
Fast schon in Polen und doch so ganz anders: Polnische Künstler in der Bundesrepublik
Von der «alten Emigration» zu einer neuen Minderheit: Tradition und Neubeginn
Zwischen Heimat und Fremde: Vertriebene und Aussiedler
Die Versuchung: Polnische Flüchtlinge zwischen Asyl und Duldung
Pendler und Händler: Polen in der DDR
VI Die unsichtbare Minderheit? Polen in Deutschland heute
Geregelte Verhältnisse: Die Rahmenbedingungen polnischer Präsenz
Die neue Migration: Zentren und Ränder
Saisonale Arbeitsmigration nach Deutschland
Auf der Suche nach dem großen Glück: Heiratsmigration nach Deutschland
Intellektuelle Zuwanderung
«Es gibt mich weder hier noch dort»: Künstlerexistenzen
Polen in Deutschland als Sportidole
Verwirrspiel der Verbände: Polnische Dachorganisationen
Eine Erfolgsgeschichte: Lokale polnische Organisationen und Medien
Exkurs: Kirchliche Strukturen
Eine neue Grenzminderheit
Polen in Deutschland heute: Immer noch unsichtbar, doch nicht mehr wegzudenken
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Ortsregister
Personenregister
Polen und Polinnen in Deutschland sind die «Unsichtbaren».[1] Fast jeder kennt welche, in vielen Stammbäumen tauchen sie auf, aber kaum jemand weiß etwas über sie. Sie sind einfach da, sorgen manchmal für Aufsehen, oft aber nur für zufriedene Senioren, Wohnungsbesitzer und Arbeitgeber: Als Pflegekräfte, Allround-Handwerker und Spargelstecher, als Bergleute und Putzfrauen tun sie Dinge, ohne die vieles in Deutschland nicht funktionieren würde. Auch in deutschen Symphonieorchestern und an deutschen Hochschulen leisten sie zuverlässig wertvolle Dienste: die deutsche Kulturlandschaft wäre ohne sie ärmer. Von diesen Menschen, der Geschichte der polnischen Zuwanderung und den historischen polnischen Minderheiten in den deutschen Staaten handelt dieses Buch.
Polen in Deutschland lassen sich nur schwer zählen, so sehr unterscheiden sie sich voneinander. Es gibt Aussiedler und Spätaussiedler, die sich nie zu einer polnischen Identität bekannten, aber daheim Polnisch – nicht selten oberschlesische Mundart – sprachen und sprechen. Es gibt aber auch Aussiedler, die all ihren Ehrgeiz aufwendeten, um sich möglichst rasch zu integrieren, und mit ihren Kindern Deutsch radebrechten, nur um «ja nicht aufzufallen», und es gibt Aussiedler, die ebenso viel Ehrgeiz an den Tag legten, um sich und ihre Kinder gute Polen bleiben zu lassen. Menschen sind darunter, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen zugewandert sind, teils mit polnischem und teils mit deutschem Pass, oft mit einer Geschichte aus Jahren des prekären Aufenthalts als illegal arbeitende Asylbewerber. Deutschland wird Jahr für Jahr zeitweise von hunderttausenden polnischer Saisonarbeiter bevölkert, daneben gibt es Nachkommen von Versprengten des Zweiten Weltkriegs oder auch der Arbeitsmigranten aus Vorkriegszeiten, Studierende, Künstler, Intellektuelle, Prostituierte, Diebe und Obdachlose. Wenn man sie alle zusammenfasst und die nicht Gemeldeten addiert, die niemand wirklich zählen kann, so könnte es in Deutschland bis zu 2 Millionen Menschen geben, die Polen sind, Polnisch sprechen oder in erster und zweiter Generation aus Polen stammen. Damit sind sie nach den Türken und noch vor den Russen die zweitgrößte Gruppe von Migranten in Deutschland (Kapitel VI).
Polen sind aus Deutschland nicht wegzudenken, seit Jahrhunderten gehören sie zur Gesellschaft der deutschen Staaten. Die enge Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen hat dazu geführt, dass ihre Präsenz – anders als bei Türken oder Russen – schon seit langem völlig selbstverständlich ist; die Deutschen hatten Zeit, sich an sie zu gewöhnen. Altansässige polnische Bevölkerungsgruppen hatte es im Herzogtum Preußen bzw. Ostpreußen ebenso gegeben wie in Schlesien (Kapitel I), aber erst die drei Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795 ließen sie zu einer großen Minderheit im Königreich Preußen werden: Um 1800 waren 2,6 Millionen seiner 6,2 Millionen Einwohner Polen! Sozioökonomische Veränderungen, insbesondere die Industrialisierung, setzten bald darauf Migrationsprozesse in Gang, in deren Zuge seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute rund acht Millionen Polen aus den polnischen Gebieten dies- und jenseits der Grenzen in die mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete wanderten. Ein wahrhaft europäisches Migrationssystem entstand. Dabei bildete sich die kurzlebige Minderheit der «Ruhrpolen», Berlin wurde zu einem polnischen Zentrum, dort und in München trafen sich polnische Künstler und Intellektuelle, während die polnische Nationalbewegung in Posen oder Oberschlesien immer heftiger für ihre Rechte kämpfte, seit der Reichsgründung 1871 gegen einen immer stärker werdenden Germanisierungsdruck (Kapitel II).[2]
Aufgrund der im Versailler Vertrag 1919 festgelegten Grenzen kamen viele polnische Siedlungsgebiete zum neugebildeten polnischen Staat, die Zahl der Polen in Deutschland sank also drastisch und die verbliebene Minderheit wurde zum Spielball der Politik (Kapitel III). Durch die deutsche Eroberung Polens 1939 wurden jedoch wiederum weite Gebiete des Landes an das Deutsche Reich angegliedert. Terror, Vertreibung und Mord prägten nun für einige Jahre die Geschichte der Polen (Christen wie Juden) in Deutschland; Millionen von ihnen wurden als Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge ins Reich verschleppt (Kapitel IV). Nach Kriegsende kehrten viele – falls sie überlebt hatten – ins kommunistische Polen zurück, andere blieben als «Displaced Persons» im Land der einstigen Unterdrücker. Dazu kamen hunderttausende deutscher Flüchtlinge, Vertriebener, Aussiedler und Spätaussiedler, deren Muttersprache eigentlich Polnisch war. München wurde zu einem Zentrum der politischen Emigration. Berlin entwickelte seit den 1970er Jahren große Sogkraft, während die DDR versuchte, ihren Arbeitskräftemangel durch polnische Kontraktarbeiter zu lösen (Kapitel V). Nach der politischen Wende von 1989 haben sich die Migrationsströme zwar gewandelt, sind aber durchweg stark geblieben und haben sich seit dem EU-Beitritt Polens wieder intensiviert. An der Grenze zu Polen, gerade im Großraum Stettin, bildet sich vielleicht gerade eine neue polnische Minderheit in Deutschland heraus (Kapitel VI).
Keine andere nicht-deutsche Bevölkerungsgruppe hat sich über einen so langen Zeitraum, im Grunde seit dem Mittelalter, und in solchen Dimensionen in Deutschland aufgehalten, sieht man einmal von den Juden ab, die jedoch im deutschen Sprachraum spätestens seit dem Beginn der Moderne immer weniger eine scharf abgegrenzte ethnische Gruppe bildeten.
Eine Geschichte der Polen in Deutschland ist bis heute nicht geschrieben worden. Es gibt Einzeluntersuchungen zu Masuren oder Ruhrpolen, polnischen Prinzessinnen und pendelnden Putzfrauen, aber eine Gesamtdarstellung fehlt bislang. Vielleicht liegt dies an den methodischen Problemen. Denn sowohl der Begriff «Deutschland» als auch der Begriff «Polen» sind unscharf und schwer zu fassen, und auch über das Wort «Minderheit» kann man sich trefflich streiten.
Die definitorischen Probleme beginnen schon im ausgehenden Mittelalter: Polnische Masuren waren eine große Minderheit im Staat des Deutschen Ordens und dem daraus entstehenden Herzogtum Preußen – aber dieser Staat war ebenso wie die aus ihm hervorgegangene Provinz Ostpreußen bis 1871 nie Teil des Reichs, geschweige denn des Deutschen Bundes gewesen. Er war allerdings überwiegend deutschsprachig. Ähnliche Probleme bereiten andere Grenzgebiete im Osten, Schlesien etwa oder Hinterpommern. «Deutschland» ist hier deshalb als ein pragmatischer Begriff aufzufassen, der neben dem eigentlichen «deutschen» Territorialstaat auch andere deutschsprachige Staatswesen umfasst, in denen Polen lebten; deshalb wird Österreich bzw. das Habsburger Reich – obschon nur am Rande und nur bis 1945 – ebenfalls eine Rolle spielen.[3]
Nun waren jedoch die in «Deutschland» lebenden polnischsprachigen Menschen keineswegs alle davon überzeugt, Polen zu sein: Manche sprachen zwar Polnisch, hielten sich aber für gut evangelische Untertanen des preußischen Königs oder eigentlich für Deutsche, die nur aufgrund irgendwelcher Fügungen der Geschichte in einer polnischen Umgebung aufgewachsen waren. Es war ein Unterschied, ob sich jemand subjektiv als Pole fühlte oder objektiv aufgrund sprachlicher, historischer oder – zeitweise – rassischer Kriterien als Pole bezeichnet wurde. Insofern ist «Pole» im Rahmen dieses Buches nichts anderes als ein Arbeitsbegriff und meint sowohl Menschen, die sich als Angehörige der polnischen Nation begreifen, als auch Polnischsprachige oder aus Polen Stammende sowie Angehörige kleinerer Bevölkerungsgruppen wie Kaschuben oder Oberschlesier, die in der Gegenwart zum Teil dabei sind, eigene ethnisch-nationale Identitäten zu entwickeln. «Polen» können natürlich auch noch andere, parallele Identitäten haben, sie können sich beispielsweise zugleich als Deutsche, Europäer oder Rheinländer definieren. In vielen Fällen lag es an den äußeren Umständen, ob jemand den «Polen» oder die «Polin» in sich als Bestandteil seiner Identität oder seiner Außendarstellung begriff oder auch nicht.[4]
Ein weiteres Problem besteht darin, dass es grundsätzlich zwei Arten gibt – oder vielmehr: gegeben hat –, wie Polen nach Deutschland gelangten. Zum einen konnten sie durch Grenzziehungen Bürger eines deutschen Staates geworden sein wie zum Beispiel 1793 die Bewohner Großpolens, des Großherzogtums Posen. Oder aber sie konnten durch Migrationsprozesse – Land-Stadt-Wanderung, Flucht und Vertreibung – nach Deutschland gekommen sein. Vielfach mussten sie selbst dann, wenn sie migrierten, gar nicht «nach» Deutschland kommen, da sie als Polen bereits innerhalb Preußens bzw. der Reichsgrenzen lebten, also ähnlich wie ungezählte «deutschsprachige Deutsche» nur eine Binnenwanderung von Ost nach West absolvierten. Insofern ist eine Geschichte der Polen in Deutschland sowohl eine Geschichte der altpolnischen Regionen im Osten Preußens als auch eine Migrationsgeschichte; die eine hat mit der anderen nicht immer etwas zu tun – bis eben auf die Sprache.
Pole, auch das muss gesagt werden, bedeutet nicht automatisch «Katholik»: Neben den protestantischen Masuren wanderten auch polnische Juden innerhalb Preußens oder kamen aus dem Ausland nach Deutschland. Allerdings beherrschten polnische Juden, zumal in einer Zeit ohne polnischen Staat, das Polnische nicht selten gar nicht oder nur schlecht. Aus polnischer Sicht werden deshalb die in den polnischen Gebieten lebenden Juden nicht automatisch als Polen wahrgenommen, und polnische Juden schon gar nicht als ein Teil polnischer Präsenz in Deutschland. Doch es genügt, an Rosa Luxemburg zu erinnern, die aus jüdischer Familie stammende polnisch-deutsche Revolutionärin, die ihrem russischsprachig aufgewachsenen, aus dem deutsch-russisch-lettisch-jiddisch geprägten Riga stammenden Liebhaber Leo Jogiches zärtlichste Briefe auf Polnisch schrieb und die sich eng mit der polnischen Nationalkultur verbunden fühlte (selbst wenn sie die Nationalismen ihrer Zeit wild bekämpfte), um zu begreifen, dass auch aus den polnischen Gebieten zugewanderte Juden ein ganz wesentlicher Teil einer Geschichte der Polen in Deutschland sind.
Was eine Minderheit ist, scheint auf den ersten Blick klar zu sein. Doch bei näherer Betrachtung offenbaren sich Probleme: Eine Zeitlang waren Polen in Deutschland eine nationale Minderheit. Nach Friedrich Heckmann sind nationale Minderheiten «sozialkulturell heterogene Bevölkerungsgruppen, die in Folge der Konstitution des Nationalstaats aufgrund historischer Siedlungsstrukturen oder Staatsgebietsveränderungen als Resultat von Vereinbarungen oder Konflikten zwischen Nationalstaaten, innerhalb eines in Bezug auf ihre ethnische Identität, Kultur und Geschichte fremden Staatsgebiets leben».[5]
Eine solche Minderheit stellten die Polen in Deutschland zwischen dem Zeitalter der Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und 1939 dar. Allerdings waren sie – in der Zwischenkriegszeit mit Ausnahme Oberschlesiens und der Freien Stadt Danzig – als nationale Minderheit nicht formell anerkannt. Heute lassen sich die Polnischsprachigen in Deutschland vielmehr als ethnische Minderheit definieren, da sie fast ausschließlich durch Migration bzw. Migration der Elterngeneration nach Deutschland gekommen sind. Allerdings erodierte diese ethnische Minderheit bislang immer rasch; meistens war bereits die zweite Generation von Zuwanderern gut in die deutsche Gesellschaft integriert, und nur in Ausnahmefällen werden polnische Identitäten bis in die dritte Generation weitergegeben. Die Frage nach dem Charakter der in Deutschland lebenden Polen – ob sie eine nationale Minderheit sind oder nicht – wird heute sehr kontrovers diskutiert (hierzu ausführlicher in Kapitel VI).
Noch einige Anmerkungen technischer Natur: Da es sich bei diesem Buch um eine Überblicksdarstellung handelt, habe ich die Zahl der Anmerkungen auf ein Minimum beschränkt; auch das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes ist keineswegs erschöpfend. Die Forschungslage ist stellenweise gut bis sehr gut, in anderen Fällen jedoch auch unbefriedigend, gerade wenn es um Alltagserfahrungen oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen geht. Probleme wie das Fortwirken polnischer Identitäten oder Traditionen bei der zweiten oder dritten Generation von polnischen Zuwanderern könnten ebenso noch vertieft untersucht werden wie die polnische Infrastruktur im gegenwärtigen Deutschland. Insgesamt lieferten Sekundärliteratur und gedruckte Quellen jedoch so viel Material, dass auf den ergänzenden Besuch von Archiven verzichtet werden konnte.[6]
Die Schreibung von Personennamen orientiert sich am Gebrauch der Zeit. Ortsnamen werden in der Regel in der deutschen Form verwendet, die polnischen Entsprechungen lassen sich über das Verzeichnis am Ende jedoch problemlos nachschlagen. Alle polnischen Zitate sind, sofern nicht anders angegeben, von mir übersetzt.
Ohne Hilfe kann ein solches Buch nicht entstehen. Meine größte Hilfe war die Bibliothek des Instituts, in dem ich arbeite: Würde es die einzigartige Büchersammlung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt nicht geben, in der sich ein Großteil der Literatur zu den deutsch-polnischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart befindet, hätte ich diesen Text nicht so rasch verfassen können. Neben zahlreichen Gesprächspartnern, mit denen ich mich im Laufe der Arbeit unterhalten habe, seien vor allem diejenigen Freunde und Kollegen erwähnt, die Teile des Manuskripts gelesen und mir wertvolle Hinweise gegeben haben: Matthias Barełkowski, Dieter Bingen, Andrzej Kaluza, Matthias Kneip und Christoph Pallaske. Der Verlag C.H.Beck hat nicht nur Interesse für das Thema gezeigt, sondern – namentlich in Person von Sebastian Ullrich – auch zur zügigen Produktion des Buches beigetragen. Dank gebührt schließlich auch meiner Frau, einer «Polin in Deutschland», und meinen beiden Kindern, deren Umgang mit dem polnischen und dem deutschen Bestandteil ihrer Identität ich mit Faszination beobachte.
Nachbarn kann man sich nicht aussuchen. Aber wenn sie einmal da sind – und die wenigsten Völker und Menschen haben keine Nachbarn –, kann man sie schwerlich ignorieren: Kontakte über den Gartenzaun, der eine oder andere Plausch und Tausch, manchmal herzliche Freundschaft und manchmal innige Feindschaft bleiben nicht aus. Ganz ähnlich war es mit Polen und Deutschen – oder besser gesagt: Menschen polnischer und deutscher Zunge –, die miteinander in Berührung kamen, seit sich Polen in der Mitte des 10. Jahrhunderts als Staat und Nation konstituierte.
Nachweisbar ist eine Präsenz von Polen im deutschsprachigen Raum zunächst nur punktuell. Im Osten des Ottonischen Reichs waren die Sprachverhältnisse im Fluss und viele Gegenden noch von slawischen Stämmen besiedelt, deren Sprachen dem Polnischen ähnelten. Möglicherweise ließ sich der erste historisch belegte Polanenherzog Mieszko I. 966 in Regensburg taufen. Die kirchlichen und politischen Beziehungen zum Reich waren jedenfalls eng; verschiedentlich reisten polnische Herrscher zu Hoftagen im Reich – Mieszko I. 973 etwa nach Quedlinburg, Bolesław Chrobry 1002 nach Merseburg (wo er sich mit dem frisch gekrönten König Heinrich traf und einen bewaffneten Anschlag nur knapp überlebte). Auch in späteren Jahren erschienen die polnischen Herzöge mehrfach zu den Hoftagen in Merseburg oder Quedlinburg. Natürlich reisten sie mit polnischem Gefolge. Einige Angehörige der Piastendynastie hielten sich in ihrer Jugend längere Zeit am kaiserlichen Hof auf.[1]
Die Kontakte beschränkten sich jedoch nicht auf die allerhöchste Ebene: Gesandtschaften kamen ebenso ins Reich wie Händler oder Krieger. Am besten überliefert sind allerdings die Verbindungen der Herrschenden, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Heiratsbeziehungen. Zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert ehelichten zahlreiche deutsche Prinzessinnen polnische Herrscher aus dem Haus der Piasten. Die Forschung hat 47 derartige Ehen gezählt, am bekanntesten wurde sicherlich die Verbindung Richezas, einer Enkelin Ottos II., mit dem polnischen König Mieszko II. Zwar lebten die Prinzessinnen in der Regel auf polnischem Gebiet, zogen aber den regelmäßigen Aufenthalt von Polen in deutschen Ländern nach sich. Später, im 15. und 16. Jahrhundert, verheirateten die Könige der nun herrschenden Jagiellonendynastie zahlreiche Töchter an deutsche Fürsten, die schon aufgrund ihres königlichen Bluts begehrte Heiratskandidatinnen waren. Die prächtigen Brautzüge der Prinzessinnen machten im Reich Eindruck und ließen ein neues Bild von Polen entstehen.[2]
Am bekanntesten wurde die «Landshuter Hochzeit» von 1475, als Jadwiga (deutsch Hedwig), eine der vielen Töchter des polnischen Königs Kasimir IV. und seiner Gattin Elisabeth von Habsburg, mit Herzog Georg «dem Reichen» von Bayern-Landshut vermählt wurde. Diesem Fest, bei dem Kaiser Friedrich III. die zeremonielle Regie führte, wohnten viele hundert Adlige aus ganz Europa bei, alleine ihr Gefolge zählte rund 10.000 Personen. Die polnische Prinzessin traf mit einer ganzen Riege vornehmer Polen und einer großen Entourage ein, die nicht weniger als 642 Pferde mitbrachte, und machte mit leicht exotisch anmutendem Prunk auf sich aufmerksam: «Die Königin trug am Hochzeitstag ein kostbares Kleid, das nach polnischer Art geschneidert war; es war ein roter weiter Rock aus Atlasseide mit weiten langen Ärmeln, der ganz und gar mit köstlichen Perlen bestickt war.»[3]
Neben der Trauung gab es Festmahle, Turniere, Tänze und viele andere Vergnügungen. Dieses unglaublich kostspielige Fest, eines der glanzvollsten im ganzen Mittelalter, machte auf alle Zeitgenossen so großen Eindruck, dass man noch Generationen später davon erzählte. Als am Ende des 19. Jahrhunderts auch in der bayerischen Provinz der Historismus hoch im Kurs stand, wurde zunächst das Landshuter Rathaus mit Historiengemälden geschmückt, auf denen die Hochzeit zu sehen war; 1903 fand dann der erste historische Kostümfestzug statt, der seitdem mit Unterbrechungen regelmäßig wiederholt wird – zur Zeit alle vier Jahre. Auch 2013 stellten weit mehr als 2000 Landshuter Bürger das Festgeschehen von 1475 nach.[4]
Die Landshuter Hochzeit war nur der Auftakt: Zwei Generationen lang wurden nun Jagiellonenprinzessinnen nach Franken, Sachsen, Pommern, Brandenburg und Braunschweig-Wolfenbüttel verheiratet. Besondere Konsequenzen hatte die Ehe zwischen dem Hohenzollernfürsten Markgraf Friedrich von Brandenburg-Ansbach und Jadwigas Schwester Sophie, die 1479 in Frankfurt an der Oder besiegelt wurde und aus der 17 Kinder hervorgingen. Unter diesen befand sich mit Albrecht der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, der dem polnischen König – seinem Onkel – huldigte, als Herzog an die Spitze des säkularisierten Ordensstaats trat und dessen Herrschaft später die Ansprüche der brandenburgischen Hohenzollern auf das Preußenland begründete. Ebenfalls prächtig gefeiert wurde 1496 die Heirat einer weiteren Tochter Kasimirs IV., Barbara, mit dem sächsischen Herzog Georg dem Bärtigen, zu der viele tausend Menschen nach Leipzig strömten.[5]
Zu nennen ist schließlich Sophie, die Tochter des polnischen Königs Sigismund I., die 1556 Herzog Heinrich von Wolfenbüttel heiratete und sich in der fremden Umgebung intellektuell und organisatorisch außerordentlich produktiv betätigte, nicht zuletzt durch den Aufbau einer Büchersammlung, die später zu einem Grundstock der berühmten Bibliothek von Wolfenbüttel werden sollte. Alle diese polnischen Herzoginnen besaßen einen eigenen Hofstaat, polnische Bedienstete und Sekretäre, sie standen in engem Kontakt mit ihrer Heimat. Damit waren sie ein wichtiges Bindeglied im Informationsaustausch zwischen Ost und West und nicht zuletzt auch in unterschiedlichem Umfang politische Akteurinnen.
Politik machten aber vor allem Männer – als Angehörige polnischer Gesandtschaften zu deutschen Fürstenhöfen oder zum Reichstag hielten sie sich zeitweise Monate oder gar Jahre im Reich auf.[6]
Neben der «hohen Politik» war es das Wirtschafts- und Handelsleben, das Menschen aus Polen nach Deutschland führte. Die polnischen Lande hatten Rohstoffe anzubieten, die im Westen nachgefragt wurden: Holz und Holzprodukte, Felle, Vieh und zunehmend auch Getreide. Im Gegenzug wurden Textilien oder Luxuswaren importiert. Zu den ersten Handelsdrehscheiben gehörten das böhmische Prag und das schlesische Breslau, in denen jeweils ein weitgehend deutschsprachiges Bürgertum lebte; vor allem in Breslau hielten sich immer zahlreiche Polen auf.
Die Leipziger Messe nahm ihren Aufschwung Anfang des 15. Jahrhunderts, als sie zu einem wichtigen Etappenort des Handels zwischen Nürnberg bzw. dem süddeutschen Raum und Osteuropa wurde. Im 16. Jahrhundert kamen vor allem deutschsprachige und jüdische, aber auch polnischsprachige Kaufleute aus Danzig, Posen und Krakau zur Messe, zunehmend auch Händler aus anderen Teilen der polnisch-litauischen Republik, wobei der Anteil der jüdischen Kaufleute rasch stieg. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Gäste aus Polen-Litauen schließlich die größte auswärtige Besuchergruppe auf der Leipziger Messe. Zwischen 1766 und 1800 wurden hier mehr als 18.600 Kaufleute aus Polen gezählt, von denen rund 86 Prozent Juden und der Rest Christen waren. Gefragtestes Handelsgut aus dem Osten waren nach wie vor Rauchwaren (also Pelze und Pelzprodukte) sowie Wachs, Talg, Salpeter, Bernstein und Ochsen fanden in Leipzig Abnehmer; die Händler aus der polnisch-litauischen Rzeczpospolita kauften hier ihrerseits vor allem Tuche und Luxuswaren. Ökonomisch weniger wichtig, dafür aber für Bildung und Wissenschaft entscheidend war Leipzig außerdem als Drehscheibe des Buchmarkts – ganz Polen erwarb hier Druckwerke.
Enge Handelsbeziehungen, die vornehmlich von Juden gepflegt wurden, bestanden zwischen Krakau und Breslau; auch Großpolen stand solcherart mit Breslau in Verbindung. Seit 1732 machte sich der Breslauer Verlag W. G. Korn um die Veröffentlichung polnischer Werke und Bücher über Polen verdient; er druckte auch Schulbücher für die polnischen Schulen in Schlesien.[7]
1 _ _ _ Die Leipziger Messe war wichtiger Begegnungsort von Polen, polnischen Juden und Deutschen. Auf dieser zeitgenössischen Darstellung aus dem 18. Jahrhundert sind christliche und jüdische Kaufleute aus Polen in Leipzig zu sehen.
Kaufleute aus Danzig, der deutschsprachigen, doch zu Polen gehörenden Handelsstadt, waren teils bis in den Mittelmeerraum unterwegs, beschränkten sich aber im 18. Jahrhundert meist nur noch auf ihre Vermittlerrolle an der Weichselmündung. Im Übrigen galt für sie Ähnliches wie für deutsche und jüdische Kaufleute aus anderen Teilen Polens – sie waren nur in einem vormodernen Verständnis «polnisch», verstanden sich als Bürger der Rzeczpospolita, waren aber keine Polen in ethnisch-sprachlichem Sinne (auch wenn sie häufig mehr oder weniger gut Polnisch sprachen). Teilweise polonisierten sie sich jedoch ebenso wie das deutsche Patriziat vieler Städte Polens.
Die relativ große Mobilität von Juden führte relativ häufig ebenfalls zu Ost-West-Wanderungen: So hatten von 17 Rabbinern in Frankfurt am Main im 17. und 18. Jahrhundert nur fünf keine eindeutigen Beziehungen nach Polen (oder Böhmen) – sei es, dass sie in Krakau studiert hatten, sei es, dass sie aus Polen gebürtig waren. Auch an der jüdischen Aufklärung (Haskala) in den deutschen Ländern hatten viele aus dem polnisch-litauischen Raum stammende jüdische Gelehrte Anteil.[8]
Hoch- und Spätmittelalter waren in Ostmitteleuropa geprägt vom Landesausbau, in der deutschen Tradition auch als «Ostsiedlung» bekannt, der vornehmlich deutschsprachige Menschen in bislang nur schwach bevölkerte Gegenden brachte und das ethnische Bild der Region innerhalb relativ kurzer Zeit stark veränderte. Dennoch blieben in zunehmend deutsch geprägten Gebieten polnische Bevölkerungsteile erhalten oder bildeten sich sogar neu.
Einer der ersten weitgehend deutschsprachigen Staaten, in denen eine polnischsprachige Minderheit lebte, war der Staat des Deutschen Ordens. Entstanden im 13. und 14. Jahrhundert, reichte er zunächst von der Weichsel nach Osten und umfasste das spätere Ostpreußen; 1237 schloss sich ihm der im Baltikum beheimatete Livländische Orden an, in dessen Herrschaftsgebiet jedoch kaum Polen lebten. In dem zwischen 1308 und 1454/66 zum Orden gehörenden Pommerellen hörte man auf dem Land überwiegend Polnisch, während in den größeren Städten wie Danzig, Elbing und Thorn sowie vom Klerus weitgehend Deutsch gesprochen wurde. Insgesamt dürften zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Pommerellen zwei Drittel der Bevölkerung Polnisch gesprochen haben. 1454 revoltierte dieser Teil des Ordensstaates, unterstellte sich dem König von Polen und firmierte fortan als «Preußen königlichen Anteils» oder kurz «Königliches Preußen».[9]
In der bis heute gemeinhin als Ostpreußen bekannten Gegend lebten zunächst vor allem Prußen, Angehörige eines baltischen Stammes. Nach der Unterwerfung durch den Orden siedelte dieser im Norden des Gebiets überwiegend deutsche Kolonisten an, während in die unwegsamen masurischen Grenzbezirke im Laufe der Zeit vor allem polnische bäuerliche und adlige Siedler aus dem benachbarten polnischen Herzogtum Masowien zogen. Aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind polnische Dorfgründungen bekannt, gegen Ende des 15. Jahrhunderts lasen in einigen Orten polnische Pfarrer die Messe.[10]
Nachdem der letzte Ordenshochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach 1525 dem polnischen König gehuldigt hatte, wurde der Rest des Ordensstaates ein weltliches, protestantisches Herzogtum, das aber nach wie vor polnische Siedler anzog, die, sofern sie nicht ebenfalls schon zur protestantischen Kirche übergetreten waren, dies bald nach ihrer Ankunft taten. Hier, in Masuren mit seinen kargen Böden, Wäldern und Seen, entwickelte sich in Kreisen wie Lyck, Johannisburg, Angerburg oder Ortelsburg bis ins 17. Jahrhundert eine fast geschlossen polnisch-evangelische Bevölkerung. Die dynastische Verbindung des Herzogtums Preußen mit Brandenburg und die spätere Erhebung des Doppelstaates zum Königreich Preußen 1701 veränderte an der Sprachsituation in den «polnischen Ämtern», wie sie nun genannt wurden, kaum etwas. Auch die preußischen Herrscher fanden sich mit den sprachlichen Verhältnissen ab und informierten ihre masurischen Untertanen mit Edikten auf Polnisch. Die Beziehungen über die Grenze nach Polen blieben eng, zumal es keinerlei Verständnisschwierigkeiten gab – ganz anders als mit den preußischen Beamten, die mit der Zeit lediglich den Landstädten der Region ihren Stempel aufprägen konnten. Auch die Kirchensprache blieb Polnisch, weshalb in Königsberg die ersten gedruckten polnischen Gesangbücher und Katechismen erschienen. Um die Ausbildung von Predigern und Lehrern zu gewährleisten, die des Polnischen mächtig waren, wurde 1728 an der Königsberger Universität ein polnisches Seminar begründet, das bis 1901 bestand.[11]
In Schlesien lagen die Dinge anders: Im Hochmittelalter hatte das Land zu Polen gehört, doch die Bindungen lockerten sich langsam, seit Polen 1138 in Teilherzogtümer aufgeteilt wurde. Nachdem der schlesische Herzog Władysław II. 1146 von seinen in anderen Herzogtümern herrschenden Brüdern aus Schlesien vertrieben und vom römisch-deutschen König aufgenommen worden war, der ihm die Burg Altenburg in Sachsen überließ, vertieften sich die Beziehungen Schlesiens zum Reich. Sein Sohn Bolesław diente viele Jahre am deutschen Königshof, ehe er mit Unterstützung Friedrich Barbarossas Schlesien wiedererlangen konnte. Die dynastischen Beziehungen der schlesischen Piasten zu den deutschen Ländern blieben eng, und als durch den Landesausbau seit dem Ende des 12. Jahrhunderts verstärkt deutschsprachige Kolonisten in das Land strömten, veränderte sich auch das ethnische Antlitz des Landes langsam.
In der Mitte des 14. Jahrhunderts traten die schlesischen Fürsten dem böhmischen Königreich und somit dem Reich bei, was aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Bewohner hatte; seit 1526 gehörte Schlesien mit Böhmen zu Habsburg. «Das spätmittelalterliche Schlesien als historischer Raum war nicht polnisch, war nicht deutsch», wie Andreas Rüther schreibt. Man könnte es auch anders formulieren: Manches in Schlesien war polnisch, manches deutsch und vieles entzog sich genauen Zuschreibungen. Polnisch waren neben der Umgangssprache in einigen Gebieten des Landes etwa auch die Traditionslinien der verschiedenen Herzöge, die zum Teil noch der in Polen selbst schon längst ausgestorbenen Piastendynastie angehörten, bis schließlich 1675 auch das letzte schlesische piastische Haus im Mannesstamm erlosch. Zwar standen die Höfe schon längst unter dem Einfluss der deutschen Kultur, doch etwa in den von der Familie Podiebrad regierten Fürstentümern Oels und Bernstadt genoss die polnische Sprache im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hohes Ansehen. Auch die Kirchenstrukturen waren nach wie vor ein Bindeglied – bis 1641 blieb das Bistum Breslau offenbar Teil der altpolnischen Kirchenprovinz, und auch in Ordensgemeinschaften hielt sich teils noch lange das Polnische.[12]
Die polnische Sprache zog sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zurück: In den Gebieten südlich der Oder rascher, auch wenn hier bis ins 19. Jahrhundert noch polnische Sprachinseln erhalten blieben, nördlich der Oder langsamer – hier waren größere Gebiete, insbesondere an der Grenze zu Großpolen, durchweg polnischsprachig. In Oberschlesien setzte sich dagegen mit Ausnahme einiger Regionen und der größeren Städte das Polnische durch, sogar die deutschsprachigen Zuwanderer passten sich relativ rasch an die polnische (und im Süden an die tschechische) Mehrheitssprache an, bis schließlich die meisten Städte und der Adel dem Sprachwechsel hin zum Polnischen folgten. Das Idiom wich hier allerdings immer stärker vom Hochpolnischen ab und nahm zahlreiche Elemente des Deutschen und auch des Tschechischen auf. Selbst dort, wo das Deutsche sich als Verwaltungs- und Elitensprache durchsetzen konnte, blieb das Polnische vielfach die Sprache des privaten Bereichs. In Oberschlesien entstand sogar eine polnische Literatur, oft zu religiösen Zwecken, gelegentlich aber auch zur weltlichen Vergnügung. Die schlesische Hauptstadt Breslau war zwar (mit Ausnahme von Teilen der Unterschichten) größtenteils deutschsprachig, doch als Bildungszentrum bot sie viele Möglichkeiten, sich mit Polen und der polnischen Sprache zu beschäftigen – sei es durch Sprachunterricht in den gerne vom Kaufmannsnachwuchs besuchten polnischen Schulen, sei es im Zuge der Ausbildung von Geistlichen für die polnischsprachigen Gebiete des Landes: Diese Aufgabe kam insbesondere der Jesuitenschule zu, die 1702 zu einer Universität erhoben wurde.[13]
Migration von Polen in deutschsprachige Staaten fiel in Mittelalter und Früher Neuzeit, sieht man von der Einwanderung der Masuren ins südliche Ostpreußen ab, zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Dennoch gab es gerade unter den Eliten Vertreter, die zeitweise oder auf Dauer im deutschen Sprachraum lebten, und zwar nicht nur, weil sie von ihren Königs- und Fürsteneltern hierhin verheiratet wurden. Gut dokumentiert sind Aufenthalte von Polen (und Litauern) im Zuge von kostspieligen Studien- und Bildungsreisen. Schon seit der Gründung der Universitäten im 14./15. Jahrhundert zogen Studenten aus dem polnischen Raum an die deutschen Hochschulen, zunächst nach Köln, Heidelberg, Leipzig und Basel, auch nach Wien und vor allem nach Prag.
Die Reformation, die zeitweise erhebliche Teile des polnischen Adels erfasste, ließ das Interesse an einem Studium an protestantischen Universitäten steigen, so in Königsberg, dessen alma mater zwischen ihrer Gründung 1544 und 1772 von gut 3500 Studenten aus dem gesamten polnisch-litauischen Reich besucht wurde (1551/1552 studierte hier der später berühmt gewordene Renaissancedichter Jan Kochanowski). Auch katholische Reformuniversitäten in Süddeutschland wurden attraktiv. Neben der fachlichen Bildung ging es bei diesen Aufenthalten um den Erwerb der deutschen Sprache, sowohl beim niedrigeren Adel, der sich davon Vorteile beim Handelsverkehr u.a. mit Danzig und den preußischen Städten versprach, als auch beim Hochadel. So gab der Adlige Aleksander Ługowski seinem Sohn Jaś zu Beginn des 17. Jahrhunderts folgende Anweisung: «Ich erwarte von Dir auch, dass Du mir die deutsche Sprache nicht geringschätzt, denn diese ist nicht nur in fremden Ländern, sondern auch daheim beim Königshof nötig.» Dass aber auch gewisse «soft skills» gefragt waren, zeigt die Anweisung eines anderen Adligen an seinen Sohn: Er solle solche Gegenden besuchen, «wo man Bier genießt und wo man auch mit Wein nicht geizt», damit er sich «für künftige Zeiten etwas an den Wein gewöhnt».[14]
Die Kavalierstour gehörte für den Nachwuchs des vermögenden Adels aus der polnisch-litauischen Rzeczpospolita zeitweise zum Standardprogramm: Sebastian Lubomirski, Angehöriger eines der großen Magnatengeschlechter, der selbst 1559/1560 in Leipzig studiert, in Polen anschließend große Karriere gemacht hatte und zu sagenhaftem Reichtum gelangt war, schickte seinen zwölfjährigen Sohn Stanisław (1583–1649) 1595 mit eigenen Wagen und Dienern auf das Jesuitenkolleg in München, wo er nicht nur Unterricht nahm, sondern auch ein ausgedehntes geselliges Leben pflegte, Reitunterricht erhielt und Ausflüge unternahm. Später sandte auch er seinen Sohn zum Studium ins Reich. Sogar gekrönte Häupter ließen ihren Nachwuchs reisen: 1624/25 begab sich der polnische Königssohn Władysław Wasa auf eine große Europareise, die ihn mit einem 40 Mann großen Gefolge mehrere Wochen lang auch durch die deutschen Länder führte, wo man ihn allerorten aufs Beste aufnahm.[15]
Über die Wanderungen bürgerlicher und unterbürgerlicher Polen ist nicht sehr viel bekannt. Ein Beispiel sei jedoch genannt – der Lebensweg des vermutlich aus Krakau stammenden Malers Jan Polak (Polack, Pollak), der sich spätestens seit 1482 in München aufhielt, wo er 1519 starb. Er bestimmte für Jahrzehnte die Sakralkunst im oberbayrischen Raum und schuf expressive Altäre, Fresken und Bilder in München und umliegenden Orten wie Weihenstephan, Benediktbeuren und Freising. Übrigens zogen auch Ritter gen Westen – vor allem im Hochmittelalter stellten sich polnische Krieger in den Dienst deutscher Territorialherren.[16]
Kirchen sind als transnationale Institutionen ein natürlicher Berührungspunkt verschiedener Kulturen und Sprachgemeinschaften; berufliche Wege vor allem innerhalb der katholischen Kirche führten immer wieder über Grenzen. In den deutsch-polnischen Beziehungen verhielt es sich kaum anders. Nur einige Beispiele: So war Otto von Bamberg jahrelang Kaplan am Hof des polnischen Herzogs Władysław I. Herman gewesen und hatte Polnisch gelernt, ehe er an den kaiserlichen Hof zurückkehrte und schließlich auf Bitten von Herzog Bolesław III. zwischen 1124 und 1128 Pommern missionierte. Während Otto ein des Polnischen mächtiger Deutscher war, so handelte es sich bei Matthäus von Krakau um einen deutschsprachigen Polen: Als Sohn eines Stadtschreibers aus der polnischen Residenzstadt kam er über Prag in den Westen des Reichs, nach Heidelberg, wo er seit 1394 lehrte und zum engsten Umfeld von König Ruprecht III. gehörte; von 1405 bis zu seinem Tod 1410 war er Bischof von Worms. Nicht wenige polnische Intellektuelle fanden im 15. Jahrhundert ihren Weg in deutsche Lande – Petrus Wysz von Radolin wirkte in Erfurt, Laurentius von Ratibor in Basel. Auch innerhalb von Ordensgemeinschaften waren grenzüberschreitende Lebensläufe häufig, so sind etwa bei den Benediktinern, Zisterziensern und Dominikanern viele Aufenthalte polnischer Brüder in deutschen Landen nachzuweisen. Zu einem der spätmittelalterlichen Großereignisse gehörte das Konzil von Konstanz (1414–1418). Im Januar 1415 traf dort eine starke polnische Delegation ein; insgesamt reisten während des Konzils rund 200 Polen in die Stadt am Bodensee, darunter die bedeutendsten Persönlichkeiten der Kirche und der Rechtskunde.[17]
Die Reformation änderte auch in Polen vieles; für einige Zeit schien sich das konfessionelle Übergewicht in Polen-Litauen sogar zum Protestantismus zu verlagern. Die Entscheidung für den Übertritt vom Katholizismus war nicht leicht, und auch Johannes a Lasco (poln.: Jan Łaski) tat sich damit schwer. Er wurde 1499 im zentralpolnischen Łask geboren, sein Vater gehörte als Senator zur Elite des Staates. Nach ausgedehnten Auslandsreisen wurde er Probst von Gnesen, doch schließlich entschied er sich, nachdem er in Leipzig Melanchthon getroffen hatte, für die Reformation. Da er daraufhin seine Kirchenämter in Polen verlor, zog er 1540 nach Emden, wo er Superintendent wurde und sich um den Aufbau der protestantischen Kirche in Ostfriesland verdient machte; 1548 ging er nach London.[18] Auch in späterer Zeit gab es in Königsberg, vor allem aber in Berlin Vertreter der polnischen protestantischen Kirchen, die von hier aus versuchten, die Stellung ihrer Konfession zu sichern und zu verteidigen. Zu diesen zählten zum Beispiel mehrere Vertreter der Familie Jabłoński, ihres Zeichens Senioren (Bischöfe) der Großpolnischen Unität. Daniel Ernest Jabłoński bzw. Daniel Ernst Jablonski (1660–1741), ein Enkel Johann Amos Comenius’, war seit 1693 Hofprediger in Berlin, pflegte umfassende wissenschaftliche Interessen und war zusammen mit Gottfried Wilhelm Leibniz Begründer der Preußischen Akademie der Wissenschaften.[19]
Neben den Jabłońskis fanden noch weitere Polen den Weg an die Spree. Der aus dem polnisch-kaschubischen Grenzgebiet zu Pommern, aus Konitz, stammende polnische Adelssohn Johann Ernst Gotzkowsky (1710–1775) war früh verwaist schon in Kindesjahren zu Verwandten nach Dresden gekommen, hatte sich bald darauf in Berlin niedergelassen und rasch Karriere als Schmuckhändler und Hoflieferant, Besitzer von Textilfabriken, Kunsthändler für Friedrich II., Gemäldesammler und Gründer einer Porzellanmanufaktur gemacht, ehe er bankrott ging. Er war so berühmt, dass in Berlin bis heute Straßen, Brücken und Schulen nach ihm benannt sind. Der ermländische Fürstbischof und bedeutende Dichter Ignacy Krasicki (1735–1801) hielt sich, seitdem Preußen das Ermland 1772 geschluckt hatte, häufig in Berlin und Potsdam auf, wo er engen Umgang mit Friedrich II. pflegte.
Zumindest einen polnischen Namen trug Daniel Chodowiecki (1726–1801), auch wenn dieser aus dem zu Polen gehörenden Danzig stammende Künstler zwar Nachfahre großpolnischer Adliger war, er selbst aber kein Polnisch sprach. Doch Namen verpflichten offensichtlich die Nachwelt, und so wurde Chodowiecki – von Deutschen ausgesprochen «Chodowiki», mit einem Ch wie in «Chance» –, auch wenn er eifrig den preußischen Mythos illustrierte, immer wieder als großer Pole dargestellt, natürlich polnisch intoniert: «Chodowiëtzki», mit einem Ch wie in «Bauch». So sollte es übrigens noch vielen anderen Deutschen und Polen ergehen, denen man aufgrund ihres polnisch oder deutsch klingenden Namens eine nationale Identität andichtete, die sie selbst nicht gewählt hätten.
Als am 27. Juni 1697 Friedrich August I. von Sachsen, genannt «der Starke», unter dem Namen August II. zum König von Polen-Litauen gewählt wurde, begann eine neue Epoche der deutsch-polnischen, besser: der sächsisch-polnischen, Beziehungen: Bis 1763 sollten nun – mit Unterbrechungen – Wettiner das große Reich regieren. Nicht nur, dass sich der sächsische Hof nun regelmäßig längere Zeit in Polen aufhielt, nein, auch viele Polen fanden den Weg nach Dresden: Hochadlige und Staatsmänner, Offiziere und gemeine Soldaten, Sprachlehrer, Pagen und Musiker. Bedeutsam war das Jahr 1719, als mehrere hundert Polen zur Hochzeit des Thronfolgers an die Elbe kamen und sich von der Offenheit des Hofs und der Hofgesellschaft überzeugen konnten. Während Jan Jerzy Przebendowski schon zuvor als polnischer Großkronschatzmeister in den sächsischen Geheimen Rat berufen worden war, blieben nun manche Vertreter des Adels auf lange Zeit in der sächsischen Hauptstadt: Augusts erste offizielle polnische Mätresse, Urszula Lubomirska, ebenso wie Jan Kanty Moszyński, der Ehemann einer unehelichen Tochter Augusts, dann – unter dem zweiten polnischen Sachsenkönig August III. – hohe Regierungsmitglieder wie der Kronunterkanzler Jan Małachowski oder später Jerzy Mniszech, aber auch die Angehörigen der polnischen Kanzlei und zahlreiche Bedienstete.[20]
Bedeutend war zudem die Zahl polnischer Soldaten in sächsischen Diensten: Schon bald nach Regierungsantritt warb August II. junge polnische Adlige für sein Dresdener Kadettenkorps an, später richtete er in Sachsen eine polnische Ausbildungskompagnie mit 80 Musketieren ein. Insgesamt dürften unter den beiden Sachsenkönigen mehr als 600 adlige Polen im Kadetten- und Pagenkorps gedient haben. Auch in weiteren Einheiten gab es viele Polen, so im Janitscharenregiment oder bei den sächsischen Ulanen. Selbst nach Ende der sächsisch-polnischen Union machten Polen noch Karriere in der sächsischen Armee. Berühmt wurde Jan Henryk Dabrowski (1755–1818), Sohn eines sächsischen Offiziers. Er wuchs in Hoyerswerda auf, trat 1771 ebenfalls in sächsische Dienste ein, wechselte 1792 zur polnischen Armee, stellte nach dem Untergang Polens ab 1797 für Napoleon in Italien polnische Legionen auf und diente später dem kurzlebigen, vom französischen Kaiser gegründeten Herzogtum Warschau.[21] Das Lied der polnischen Legionen, der Dąbrowski-Mazurek («Noch ist Polen nicht verloren»), wurde rasch zu einem Nationallied der Polen und ist heute Nationalhymne. Der Refrain lautet:
Marsz, marsz, Dąbrowski, |
Marsch, Marsch, Dąbrowski |
Z ziemi włoskiej do Polski, |
Aus dem italienischen Land nach Polen, |
Za twoim przewodem |
Unter deiner Führung |
Złączym się z narodem. |
vereinen wir uns mit der Nation. |
Sachsen blieb auch nach dem Ableben Augusts III. und dem Ende der polnisch-sächsischen Union 1763 attraktiv für polnische Eliten, zum einen aufgrund der im Laufe der Jahrzehnte entstandenen Verwandtschaftsbeziehungen und wirtschaftlichen Kontakte, zum anderen, weil es anders als Preußen keine «negative Polenpolitik» betrieb. Dresden war noch viele Jahre ein wichtiger Aufenthaltsort für oppositionelle Kreise, etwa die Widersacher des neuen polnischen Königs Stanisław August Poniatowski. Und das weltoffene Leipzig wussten Leute wie der Magnat Józef Aleksander Jabłonowski zu schätzen, der sich 1768 diese Stadt zum Wohnsitz auserkor, wo er die «Societas Jablonoviana» gründete, eine gelehrte Gesellschaft, die bis heute existiert und aus der später die Sächsische Akademie der Wissenschaften hervorgehen sollte.[22]
Ein polnischer Exilant in deutschen Landen muss noch erwähnt werden, auch wenn er mit Sachsen nur mittelbar etwas zu tun hatte: Stanisław Leszczyński, seines Zeichens zweimal polnischer König (1704–1709 und 1733–1736), zweimal von den sächsischen Wettinern im Verein mit ihren russischen Verbündeten abgesetzt und zweimal ins Exil geschickt. Seine ersten Exiljahre verbrachte er 1714 bis 1718 in Zweibrücken, der Hauptstadt des kleinen Herzogtums Pfalz-Zweibrücken, in der er ein für die entlegene Provinz erstaunliches Hofleben inszenierte, ehe er sich im elsässischen Weißenburg niederließ. Hier und in Nancy, wo er – mittlerweile zum Schwiegervater des französischen Königs geworden – sein zweites Exil verbrachte, erinnert man sich bis heute gerne an den Glanz, den Stanisławs französischsprachiger Hof mit seinem teils aus Polen stammenden Hofstaat verströmte.