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Gerrit Wustmann

ISTANBUL BOOTLEG

Gerrit Wustmann

ISTANBUL BOOTLEG

gedichte / şiirler

Ins Türkische übertragen von Miray Atlı

Mit einem Vorwort von Doğan Akhanlı

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Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung

der Kunststiftung NRW

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Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert mit einem Stipendium des Kulturamtes der Stadt Köln

© 2013 binooki OHG, Berlin

1. Auflage 2013

Audio-CD:

Satz: Erhard Waldner

Printed in Germany

Und wie die Hymne glich auch Istanbul einer Collage, deren Schnittlinien im Unendlichen verlaufen.

Jörg Fauser, »Rohstoff«

Die Stadt, ein Dichter
und eine dunkle Schönheit

von Doğan Akhanlı

Es war eine grüne Einsamkeit, in die ich fiel.

Ich wurde an dem Flughafen verhaftet, der den Namen unserer ersten Pilotin, Sabiha Gökçen, trägt. Nachdem ich 20 Jahre lang fort gewesen war. In den ersten Stunden des Ramadans. Noch vor Sonnenaufgang. Bevor das Fasten anfing und die Straßenlampen abgestellt wurden. Bevor der Gebetsruf vom Minarett des Uhrenstellinstituts zu hören war.

In der Stadt.

Istanbul wird von den Griechen als »die Stadt« bezeichnet; das wusste ich nicht.

Das habe ich erst in Köln gelernt.

Von einer wunderschönen Griechin.

In Istanbul verhaftet werden, das ist nicht bildlich gesprochen. Mit den Gedichten, dem Dichter, mit mir hat das nichts zu tun. Es ist pure Realität. Das Problem war, dass die, die mich verhafteten, keine Ahnung davon hatten, was diese Stadt für mich und meine Jugend bedeutete.

Sie sind unschuldig.

Es gibt keinen Grund, sich zu beschweren.

Kreuzigen wird auch nicht nötig sein.

Wahrscheinlich.

Mit noch nicht einmal achtzehn Jahren war ich in dieser Stadt schon einmal verhaftet worden.

Vor 35 Jahren.

Eine grundlose Gefangenschaft ist nicht leicht.

Wenn du nicht aus der Moschee herausgeholt wurdest.

Wenn du jung bist.

Die Nacht verbrachte ich in einem Verhörzimmer im Sabiha-Gökçen-Flughafen.

Ich würde gesucht.

Das ist keine Überraschung. Ich werde gesucht, seit ich jung war.

Was ist diesmal der Grund?

Unbekannt.

Die Sonne ging auf.

Der Grund, aus dem ich verhaftet wurde, blieb unbekannt.

In den frühen Morgenstunden machten wir uns dann mit einer Gruppe Zivilpolizisten auf den Weg auf die europäische Seite. Mit dem Minibus. Es waren Leute, die wissen, wie man tötet. Wahrscheinlich. Sie sehen aus wie Zivilisten, aber in Wahrheit tragen sie Waffen. Allesamt Profis, wenn es darum geht, ihre Pistolen unter Hemden zu verbergen. Keine Spur von der Kälte, die in Gerrits Gedicht hacı beschrieben ist. Es ist August. Es ist heiß.

In den Straßen, die wir durchquerten, lag Einsamkeit.

Von den umstehenden Bürogebäuden, den Wohnungen, dem wenigen Grün, das sich zwischen den Wohnvierteln zu behaupten versuchte, den immer langsamer fahrenden Autokonvois, der immer größer werdenden Menschenmenge und den von jedem hohen Gebäude wehenden riesigen türkischen Flaggen kam die Einsamkeit direkt auf mich zu.

Das Rauchen im Auto wurde mir erlaubt.

Wir näherten uns dem Bosporus.

Der Kommissar, der auf dem Beifahrersitz saß und mich stark an einen alten, sehr mutigen Freund aus Istanbul erinnerte, sagte dem Fahrer, als wir uns der Brücke näherten, die den Namen des Sultans trägt, der diese Stadt einst besetzte: »Fahr langsamer, Herr Akhanli soll die Schönheit unseres Bosporus sehen.« Ich blickte ins blaubraune Tal, Richtung Schwarzes Meer. Ich trug eine solche Traurigkeit in mir, dass der wunderschöne Bosporus für mich aussah wie eine Frau, die so hässlich war, dass man ihr nicht einmal ins Gesicht blicken konnte.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt Gerrits Gedicht gelesen, hätte ich diesem Anblick den Namen grüne Einsamkeit gegeben.

Es war August.

Es war heiß.

Und die grüne Einsamkeit des Bosporus ließ nicht nur meine Haut, sondern auch mein Herz frieren.