HORROR FACTORY ist eine Reihe von insgesamt 26 Horror-Kurzromanen – von der klassischen Geistergeschichte über den modernen Psychothriller bis hin zur Dark Fantasy. Alle Romane sind deutsche Erstveröffentlichungen. Unter den Autoren sind sowohl bekannte Namen als auch Newcomer. Die Geschichten sind jeweils in sich abgeschlossen.
HORROR FACTORY wird herausgegeben von Uwe Voehl.
Sind es wirklich nur die Lebenden, die uns Böses antun? Oder wollen uns auch die Toten ins Verderben stürzen?
Kenneth und seine Ehefrau Marie haben ein altes Haus am Stadtrand von Baltimore erworben. Hier wollen sie der ständigen Verfügbarkeit entfliehen, die das Stadtleben Ende der 1920er mit sich bringt. Doch schon bald erweist sich die Villa als Ort, an dem es nicht mit rechten Dingen zugeht. Was hat es mit dem unwirklichen, bläulich-kalten Schimmern auf sich, das nachts die Zimmer in unheimliches Licht taucht? Kenneth und Marie beginnen Nachforschungen anzustellen. Einst residierte die Familie Le Grand auf dem Anwesend – mit einem dunklen Geheimnis, das noch heute sein Unwesen treibt…
HORROR FACTORY. Das ganze Spektrum des Phantastischen. Von Gothic bis Dark Fantasy. Vampire, Zombies, Serienmörder und das Grauen, das in der menschlichen Seele wohnt. Jeder Band in sich abgeschlossen.
Rona Walter, Buch- und Drehbuchautorin aus Schottland, lebt heute in ihrer Wahlheimat Hamburg. Sie studierte »English and Literature« mit Schwerpunkt »Romanticism & 19th Century Novel« an der Universität Milton Keynes in England.
Das blaue Haus
Bereits wenige Wochen, nachdem sie das Anwesen für ein Butterbrot gekauft hatten, wie Kenneth zu frohlocken pflegte, und mitsamt seiner betagten Mutter eingezogen waren, konnte Marie die alte Frau kaum noch ertragen. Marie hielt das baldige und beiläufige Ableben der Alten unter gebührender Rücksichtnahme auf die jüngeren Mitglieder der Familie schlichtweg für ein Gebot der Höflichkeit.
Bis jetzt jedoch konnte man von einem stillschweigenden Verscheiden der Greisin leider nur träumen.
Seit sie von ihrem Sohn zu Bett gebracht worden war, rumorte es sonderbar in den Wänden des schwiegermütterlichen Gemachs, und immer wieder schreckte die Alte davon aus dem Schlaf und erfüllte das Haus mit dem Geheul ihres heiseren, aber noch immer durchdringenden Organs.
Zum dritten Mal seit Anbruch der Nacht erhob Marie sich aus ihrem Lesesessel, um für Ruhe zu sorgen.
Als sie vor der Schlafzimmertür stand, legte sie das Ohr ans Holz und lauschte.
Die Schwiegermutter war verstummt. Das andere Geräusch klang, als würden Tausende von Insekten sich durch die Wandpaneele nagen.
Marie drehte den Türknauf. Die Angeln gaben ein leises Quietschen von sich. Zögernd setzte sie den Fuß über die Schwelle.
Da sah sie es.
Trotz der Selbstbeherrschung, die sie sich im Laufe all der Ehejahre angeeignet hatte, brach ein gellender Schrei von ihren Lippen.
Ich irre durch die Nacht. Sich diese Nacht genauer auszumalen, überlasse ich Ihnen. In Ihrer Phantasie mag die Nacht so windig und so kalt sein, dass der Atem in Wölkchen vor dem Gesicht gefriert und der feine Nebel mir spinnenwebengleich nach den Knöcheln greift wie die Finger einer gespenstischen Mätresse.
Über mir kreischt irgendein Tier, wahrscheinlich ein Vogel. Sein Ruf klingt klagend und spöttisch zugleich. Allerdings ist mir in diesen Breiten keine Vogelart bekannt, die solche geradezu menschlichen Schreie ausstößt.
*
Aber beginnen wir von vorn – bei der Ursache meiner nächtlichen Misere. Ich möchte Sie wenigstens so weit darüber ins Bild setzen, wie ich es überhaupt noch vermag.
Irgendwohin waren meine Verlobte und ich unterwegs. (Sie sehen, schon bezüglich des Fahrtziels verlässt mich die Erinnerung.) Ich verlor die Kontrolle über das Pferdegespann. Die Gäule gingen durch, die Deichsel brach. Die Kutsche – ein modisches, kostspieliges, aber leider auch instabiles Gefährt – kam von der Straße ab und landete im Graben.
Zweifellos hat meine Zukünftige sich daraufhin über meine Fähigkeiten als Pferdelenker ereifert, und ebenso zweifellos bin ich ihren gekeiften Insultationen mit der beherrschten Zurückhaltung begegnet, die einem Gentleman ziemt. Sodann entfernte ich mich offenbar von der Stätte des Ungemachs. Ich fürchte, bei der Affäre einen Sturz erlitten zu haben, der den Kopf in Mitleidenschaft gezogen hat. Dies würde mein getrübtes Gedächtnis erklären.
Über mich selbst weiß ich gerade noch, dass der Postbote Mr. Timm – lächerlich, wie gut ich mich an seinen Namen erinnere! – mich stets als Mr. D––g oder D––y ansprach, wenn er mich begrüßte. Darüber hinaus erinnere ich mich an sehr wenig. Nicht nur das Ziel unserer nächtlichen Kutschfahrt und mein eigener Name sind mir entfallen, sondern auch, wo ich wohne und oder wie meine Verlobte überhaupt heißt. Vermutlich lautet ihr Name Elisabeth oder Hester oder Margaret, zu Ehren der Großmutter oder Erbtante oder einer anderen ehrbaren Matrone aus ihrem Stammbaum. Ebenso wahrscheinlich habe ich sie in zärtlicheren Momenten ›Lizzie‹ oder ›Hettie‹ oder ›Molly‹ gerufen.
Doch genug damit!
Ich irre also durch die Nacht. Eigentlich ziehe ich ein beheiztes Zimmer und ein Gläschen gut gereiften schottischen Taliskers einem unfreiwilligen Spaziergang durch Dunkelheit und Kälte vor. Und doch schätze ich die Nacht. Mir gefällt ihre Verschwiegenheit und ihre Diskretion.
Ich halte Umschau, bohre den Blick in die nahezu undurchdringliche Finsternis. Irgendwo weit hinter mir und für mich unsichtbar muss Baltimore liegen, auch das weiß ich noch.
Zögernd mache ich einen Schritt in eine beliebige Richtung, Hauptsache fort von der Stadt in meinem Rücken, da sie, wie mir ein intuitives Gefühl verrät, nur wenig an Sympathie und angenehmen Erinnerungen für mich bereithält. Irgendetwas sagt mir, dass ich aufgebrochen war, um Baltimore hinter mir zu lassen.
Mein Ausschreiten ist mehr ein Dahinstolpern; ich fühle mich benommen, eher wie ein Schatten, der durch einen Traum wandelt, denn wie ein Wanderer im wirklichen Leben. Ich krame meine Taschenuhr hervor – ein wunderschönes Stück, das Geschenk meines Vaters zu meinem Abschluss am Eton College. Eine solche Internatserziehung wird von den Amerikanern gern belächelt. Doch die Untertanen Ihrer britannischen Majestät bevorzugen eben eine etwas … gediegenere, klassischere Art der Heranbildung von Mannestugenden, als es die Selfmademen in den einstigen Kolonien tun. Mich jedenfalls haben die Methoden des Eton zu dem gemacht, was ich heute bin. Ein durch und durch kontrollierter Herr von Welt.
Aber einer, den, wie ich gestehe, auf Schritt und Tritt eine gewisse Trübsal, ja fast schon Traurigkeit begleitet.
Der Mond scheint zu hell, und er ist mir etwas zu nah. Aber das entspricht wohl der augenblicklichen Laune der Natur. Mein Blick schweift von dem fahlen Himmelskörper, der wie ein aufgedunsener Gefährte des apokalyptischen Reiters am Firmament glüht, ab und gleitet über die wogenden Kronen der Bäume hin, welche die Straße säumen. Viel mehr ist nicht zu sehen.
Der exzentrische Ostpreuße Bessel an meiner Stelle hätte jede beliebige Entfernung anhand der Sternbedeckungen durch den Mond zu berechnen gewusst und somit eine Zuflucht finden können – wovor und für wie lange auch immer. Doch ich bin bei Weitem nicht Bessel. Und mir fehlt jede Ahnung, ob ich in dieser seltsamen Nacht überhaupt noch eine Bleibe erreichen werde.
Ich mache einen weiteren Schritt – und sehe plötzlich vor mir etwas aufblitzen, schwach nur inmitten der Nebelfinger, die meine Knöchel umspielen.
Ich beuge mich hinab.
Da liegt ein Kompass zu meinen Füßen. Er hat ein schimmerndes Gehäuse aus Kupfer und wurde, wie es scheint, für eine Dame angefertigt. Dies schließe ich aus den Abmessungen, die zu einer schlanken Frauenhand passen, und aus den verspielten Ornamentverzierungen. Es sind fein gearbeitete, verschlungene Ranken und Blüten, und sie stechen mir irgendwie ins Auge. Das Gehäuse ist blitzblank und wirkt nahezu wie frisch poliert. Das gefällt mir – die gewissenhafte Pflege von Gebrauchsgegenständen ist in meinen Augen ein Gebot der Vernunft –, und ich nehme das Gerät an mich. Dabei muss ich schmunzeln. Allein der Gedanke, dass eine Weibsperson jemals in die Bedrängnis geriete, eines solchen Hilfsmittels zu bedürfen, geschweige denn, dass eine Frau sich damit tatsächlich zu behelfen wüsste, ist gar zu abwegig.
Ich halte mir den Kompass prüfend vors Auge. Die Nadel zuckt noch nicht einmal. Auch als ich das Instrument schüttle, bleibt sie starr. Zur Probe mache ich einen Schritt zurück. Vergnügt erkenne ich, dass die Nadel einen Ruck vollführt. Nur ganz kurz … Doch schon im nächsten Augenblick dreht sie sich, während ich selbst vollkommen still stehe, langsam gen Osten. Ich hebe den Blick, starre in die Nacht. Alles ist still bis auf das Wispern der wogenden Baumkronen, obwohl kaum ein Lüftchen weht. Nichts ist zu sehen.
Ich klopfe auf das Glas über der Teilkreisscheibe. Auch sie bleibt reglos, und die Nadel schwenkt zurück in ihre ursprüngliche Position. Einen Lidschlag später beginnt sie erneut mit ihren ruckartigen Ausschlägen und weist dann abermals ostwärts.
Ich hebe den Blick.
Dort, inmitten der nächtlichen Einsamkeit, steht eine Gestalt.
Mich warnt ein Instinkt. Dennoch gehe ich auf die Gestalt zu. Von einer Frau habe ich doch gewiss nichts zu fürchten? Es ist ja ganz gewiss eine Frau, denn langes, dunkles Haar umweht ihren Kopf. Ihr Kleid lässt sich nur schwer beschreiben. Es umfließt sie wie Nebel, und wieder frage ich mich, ob das Licht des seltsamen Mondes meinen Sinnen einen Streich spielt.
Die Frau blickt mir entgegen. Ich starre zurück, jedwede Etikette ist vergessen. Mir sinkt der Mut, ein flaues Gefühl macht sich im Magen breit. Ich habe einige Mühe, meine Haltung als Gentleman zu wahren.
Ich schließe fest die Augen, reibe mir mit den Daumen über die Lider. Als ich wieder hinsehe, ist die Frau einige Armlängen näher herangekommen. Ich sage bewusst nicht, sie habe sich mir mehrere Schritt weit genähert – denn sie scheint eher zu gleiten als zu gehen.
Erschrocken mache ich einen Satz zurück; um ein Haar wäre ich gestürzt. Würde ich jetzt meinen Arm ausstrecken, bekäme ich sogar einen Zipfel ihres Kleids zu fassen. Ihr Gesicht liegt in unnatürlichem Schatten, der keinen Ursprung zu besitzen scheint. Die Augen sind bloß schwarze Löcher – die Augenlöcher einer Theatermaske.
Gebannt starre ich in das Schattengesicht. Mir schwindelt, denn die Frauengestalt scheint unruhig zu flackern wie eine verlöschende Flamme. Sie sinkt in sich zusammen. Auf einmal lodert sie wieder empor – und schrumpft aufs Neue … Schließlich – ich habe mich gerade ermannt und will sie berühren – löst sie sich in Rauch auf und zieht von dannen wie eine Dunstschwade im Wind.
Zuallerletzt löst sich der deutende Zeigefinger an der Spitze ihres ausgestreckten Armes auf: Dort, in der Ferne, zeichnet sich die nächste unbestimmte Form ab.
Wieder fahre ich mir über die Augen. Diesmal rückt das Gebilde nicht abrupt heran wie zuvor die Schattendame. Es bleibt, wo es ist – in allzu weiter Ferne. Nahezu unerreichbar, wie mir scheint.
Der letzte Nebelfaden des Frauentrugbilds ist verflogen. Ich bin wieder allein. Prompt versuche ich, mir ihr Bild erneut vor Augen zu rufen. Wie die Figur aus einer vage erinnerten Geschichte oder einer uralten Sage …
Genug!
In einer Lage wie der meinen ergibt der Herr von Welt sich nicht müßigen Träumereien. Ich schließe die Finger fester um den Kompass. Die Nadel schlägt jetzt unstet mal nach der einen Seite aus, mal nach der anderen. Es scheint, als sei sie unschlüssig, ob sie mich in die Metropole schicken will, zurück nach Baltimore, das jetzt offenbar in gerader Linie hinter mir liegt, oder ob sie mir den Weg zu dem Gebilde weisen soll, das wie von Geisterhand erschaffen in einiger Entfernung vor mir in die Nacht emporwächst. Die Floskel wie von Geisterhand erschaffen meine ich nicht im Wortsinn. Doch der Nebel, der den Boden bedeckt und sich um meine Knöchel schlingt, trägt einiges dazu bei, dieser Nacht eine ausgesprochen spukhafte Atmosphäre zu verleihen.