Rohinton Mistry
Das Kaleidoskop des Lebens
Aus dem Englischen von Matthias Müller
FISCHER E-Books
Rohinton Mistry wurde 1952 in Bombay geboren und lebt nun in Toronto, Kanada. Für seine Romane erhielt er viele Auszeichnungen, u.a. den kanadischen Staatspreis, den Commonwealth-Preis und zuletzt, für ›Die Quadratur des Glücks‹, den Kiriyama-Preis.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Jede Wohnung im Mietshaus am Firozsha-Platz ist für den jungen Kersi wie eine Zauberschachtel, in der sich Schicksale entfalten, mit anderen verbinden, überraschend kreuzen. Da ist der Rechtsanwalt Rustomji, der durch die Kapriolen seiner Wasserleitung zum Märtyrer seiner Verdauung wurde, aber zu geizig ist, einen Klempner zu organisieren. Da ist Najamai, die den einzigen Kühlschrank des Stockwerks besitzt und den Nachbarn darin Platz einräumt, um genauestens über deren Eßgewohnheiten, finanzielle Krisen und geplante Feste informiert zu sein. Da ist die Dienerin Jaakaylee, die einen Geist entdeckt und so erfolgreich Angst davor hat, daß ihm andere im Haus auch begegnen. Kersi ist zu Hause in dieser Welt, in der jeder jeden kennt, und doch träumt er mit seinen Freunden vom Studium im Ausland. Erst als er tatsächlich im kühlen Wohlstand Kanadas lebt, steigt die Erinnerung an den lebhaften, geräuschvollen, engen, stimmenerfüllten Firozsha-Platz in ihm auf - eine Sehnsucht, die ihn nicht mehr verläßt.Wie in einem kostbaren Gewebe sind die Schicksale der Menschen dieses Hauses verbunden, ein Muster, das sich durch die skurrilen, humorvollen, eigenwilligen und höchst individuellen Figuren erst langsam enthüllt. Von wohletablierten Honoratioren bis zu kleinen Dienstboten, die im Grunde alle nichts Schöneres kennen, als genußvoll die Angelegenheiten ihrer Nachbarn zu diskutieren: Rohinton Mistry zeigt die ganze Fülle Indiens.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel ›Tales from Firozsha Baag‹
im Verlag Penguin Books Canada Ltd.
© Rohinton Mistry 1987
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1999
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Coverabbildung: Visum/Timm Rautert
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402894-1
»Nicht, daß eine Geschichte lang sein muß,
aber es wird lange dauern,
sie kurz zu machen.«
Henry David Thoreau
Mit einem Aufschrei kam Rustomji aus der Toilette. Nur mit Mühe hielt er die gelbfleckige Pyjamahose an der geöffneten Kordel fest. Sein noch unrasiertes Gesicht war wutverzerrt.
»Mehroo! Arré Mehroo! Wo steckst du?« schrie er. »Ich sag dir, mir reicht’s! Ausgerechnet heute, an Behram roje. Mehroo! Hörst du mich?«
Mehroos Sandalen schlappten im Takt – plop plop – eins zwei. Sie war erheblich jünger als ihr Mann, denn sie war schon als sechzehnjähriges Mädchen an den sechsunddreißigjährigen Mann verheiratet worden, noch bevor sie ihr letztes High-School-Jahr abgeschlossen hatte. Rustomji, ein erfolgreicher Anwalt in Bombay, war von Mehroos Eltern als ein guter Fang betrachtet worden – niemand hatte voraussehen können, daß er schon mit fünfzig ein künstliches Gebiß tragen würde. Wer, inmitten des Überschwangs des Eheschmiedens auf dem Höhepunkt der Heiratssaison, konnte sich einen zahnlosen, klebrigen Mund vorstellen, der Morgen für Morgen eine Frau in der Blüte ihres Lebens begrüßt? Niemand. Bestimmt nicht Mehroo. Sie kam aus einer orthodoxen parsischen Familie, die alle wichtigen Tage des parsischen Kalenders feierte, die geziemenden Gebete und Zeremonien im Feuertempel abhalten ließ, und für ihre unsauberen Tage im Monat sogar ein gesondertes Zimmer bereitstellte, mit einem Eisenbett und einem Eisenschemel.
Mehroo hatte ihr Schicksal begrüßt und das ganze orthodoxe Gedankengut ihrer Eltern in ihr neues Zuhause mitgenommen. Bis auf das separate »unsaubere« Zimmer, das für Rustomji nicht in Frage kam, war ihr alles gestattet. Bei aller Gleichgültigkeit, die er vortäuschte, genoß Rustomji insgeheim die uralten Traditionen. Er fand es herrlich, in seinem strahlend weißen Dugli, gestärkten weißen Hosen und dem sorgfältig gebürsteten Pheytoe auf dem Kopf zum Feuertempel zu gehen – er hatte einen prächtigen Haarschopf, dem es noch nicht so wie seinen Zähnen ergangen war.
Mehroo reagierte gelassen auf Rustomjis Geschrei. An diesem Vormittag, dessen Höhepunkt die Gebete im Feuertempel sein würden, würde sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Sie würde alles tun, damit die Vollkommenheit von Behram roje nicht verdorben wurde. Dieser Tag des parsischen Kalenders lag ihr besonders am Herzen. An Behram roje hatte ihre Mutter sie in der Awaba-Petit-Parsi-Frauenklinik zur Welt gebracht. An diesem Tag, sieben Jahre später, war auch ihr Navjote begangen worden, als sie vom Familienpriester als Zoroasterin bestätigt wurde. Und vor vierzehn Jahren schließlich hatte Rustomji sie an Behram roje geheiratet, als bis in die frühen Morgenstunden getafelt und gefeiert wurde – es hieß, daß kein einziger Bettler hungern mußte, so groß waren die Essensmengen, die an dem Tag in die Mülleimer von Cama Garden gekippt wurden.
Behram roje bedeutete Mehroo wirklich viel. Weshalb sie fröhlich trällerte: »Ich kom-me, ich kom-me!«
Rustomji knurrte: »Bist du taub, oder was? Muß ich erst rumschreien, bis mir die Lunge platzt?«
»Ich komm ja schon, ich komm ja schon! Ich hab bloß zwei Hände, und es gibt noch so viel zu tun, die Dienerin hat sich verspätet, und das Haus ist noch nicht gefegt …«
»Arré, vergiß deine dumme Dienerin!« jammerte Rustomji. »Diese stinkende Toilette da oben leckt wieder! Gott allein weiß, was die anstellen, daß sie leckt. Ich hab da gehockt – hatte gerade erst angefangen –, als jemand die Spülung betätigt hat. Und dann spür ich auf meinem Kopf – pitsch – alles naß! Auf meinem Kopf!«
»Auf deinem Kopf? I gitt-i-gitt! Wie scheußlich! Wie unglückbringend! Wie …« Die Worte fehlten ihr, als sie vor der Vorstellung dieses beschmutzenden Ereignisses zurückschrak. Zaghaft spähte sie in die Toilette, in der Erwartung, eine Sintflut von Kot und Dreck zu erblicken. Aber sie sah bloß ein Leck, das in gleichmäßigem Rhythmus direkt in die Kloschüssel tröpfelte, womit klar war, daß sie sich unmöglich benutzen ließ. Rustomji, der immer noch mit wilder, aufgelöster Miene die Kordel seiner Schlafanzughose umklammert hielt, stand kochend vor Wut hinter ihr, während sie ihre Inspektion beendete.
»Wieso lassen wir diesmal nicht selber einen guten Klempner kommen, anstatt uns bei der Hausverwaltung zu beschweren?« schlug Mehroo vor. »Die werden doch nur wieder Pfuscharbeit machen.«
»Keine Paisa meines hartverdienten Geldes werde ich dafür ausgeben! Diese Schurken, die mit ihren dicken Ärschen auf Haufen von Mietgeld sitzen, sollen das bezahlen!« polterte Rustomji und machte ausholende Bewegungen mit der Hand, die die Pyjamakordel nicht festhalten mußte. »Ich werde ihnen ins Büro scheißen, ich werde zu ihnen nach Hause gehen und dort scheißen, ich werde ihnen vor ihre Haustür scheißen, wenn es sein muß!«
»Pst, Rustomji, sag nicht solche Sachen an Behram roje«, tadelte Mehroo ihn. »Wenn du noch mußt, dann frag ich Hirabai nebenan, ob sie was dagegen hat.«
»Aber nicht, wenn ihr blöder Mann da ist. Ich hab dir schon tausendmal gesagt, daß ich in Narimans Gegenwart keinen Schritt da hineintun werde. Außerdem ist es jetzt weg. Verschwunden«, sagte Rustomji kategorisch. »Jetzt ist mein ganzer Tag verdorben. Und wer weiß«, fügte er düster mit perverser Befriedigung hinzu, »vielleicht führt das sogar zu Verstopfung.«
»Nariman ist wahrscheinlich schon zur Bibliothek gegangen. Ich werde Hirabai fragen, vielleicht mußt du später doch noch mal. Ich gehe jetzt rüber, um im Büro anzurufen, und wenn ich wiederkomme, mache ich dir eine schöne heiße Tasse Tee. Wenn du die schnell trinkst, glugluglug, regt das bestimmt deine Verdauung an«, besänftigte Mehroo ihn und ging. Rustomji beschloß, sich Wasser für sein Bad heiß zu machen. Er fühlte sich am ganzen Körper unsauber.
Das Kupfergefäß war schon mit Wasser gefüllt. Aber irgend jemand hatte vergessen, es zuzudecken, und es war Putz von der Decke hereingerieselt. Er schwamm auf der Oberfläche, kleine weiße Flocken. Wie die kleinen Flocken, die Rustomji vor den Augen tanzten, wenn er sehr müde war, nach einem langen Tag am heißen, staubigen Gericht, oder wenn er sehr wütend war, nachdem er die Jungs von Firozsha Baag angebrüllt hatte, weil sie mit ihrem Kricket im Hof so einen Lärm machten.
Der Putz bröselte jetzt schon seit einigen Jahren von der Decke seiner Wohnung im Block A, so wie in den meisten anderen Wohnungen im Firozsha Baag. Es hatte eine Unterbrechung gegeben, als Dr. Mody (die gute Seele) die Hausverwaltung des Baag wie eine Pferdebremse bearbeitet und auf Verbesserung gedrungen hatte. Aber damit war es auch irgendwann vorbei, und die Verwalter gingen zu einer neuen Strategie über, die darin bestand, sämtliche Instandsetzungsarbeiten einzustellen, die für den Erhalt des Gebäudes nicht unbedingt erforderlich waren.
Nach einer Zeit erfolgloser Proteste waren die meisten Mieter dazu übergegangen, sich selbst um ihre Wohnungen zu kümmern, sie neu verputzen und streichen zu lassen. Aber Rustomji hatte bis zum heutigen Tage hartnäckig durchgehalten, bezeichnete seine Nachbarn als Dummköpfe, daß sie es der Verwaltung so leicht machten, anstatt die Unannehmlichkeit sich schälender Wände zu ertragen, bis die Schurken kapitulierten.
Als die Nachbarn unter Nariman Hansotias Ägide beschlossen hatten, etwas Geld zu sammeln und einen Maler zu beauftragen, die Fassade von Block A zu streichen, hatte sich Rustomji aus prinzipiellen Gründen geweigert, seinen Anteil beizusteuern. Das Gebäude hatte eine empörende, gelblichgraue, schmierige Patina angenommen. Aber nicht einmal der liebenswerte pensionierte Nariman, der täglich außer sonntags in seinem 1932er Mercedes-Benz zur Cawasji-Framji-Gedenkbibliothek fuhr, um die Tageszeitungen aus aller Welt zu lesen, konnte Rustomji überreden, teilzunehmen.
Nariman war tief enttäuscht zurückgekommen: »Dieser Zorngickel will nicht zur Vernunft kommen«, sagte er zu Hirabai, »er hat Sägemehl im Schädel. Aber wenn ich es nicht schaffe, ihn zum allgemeinen Gespött zu machen, will ich nicht Nariman heißen.« Aus dieser Auseinandersetzung war ein Beiname entstanden: Rustomji-der-Zorngickel. Er hatte sich in Firozsha Baag ausgebreitet und erfreute sich langanhaltender Beliebtheit.
Sodann hatte Nariman Hansotia die Nachbarn überredet, mit den Arbeiten zu beginnen, und den Maler angewiesen, die Fassade von Rustomjis Wohnung nicht anzurühren. Rustomji würde sich dann schämen, dachte er, wenn die Malerarbeiten beendet waren und die glänzende Fassade des Gebäudes ein schmieriges Quadrat aufwies. Aber Rustomji war begeistert. Triumphierend erzählte er jedem, dem er begegnete: »Mr. Hansotia hat sich einen neuen Anzug gekauft, und er hat einen Flicken auf dem Knie!«
Rustomji kicherte jetzt, als er sich an den Vorfall erinnerte. Er füllte das Kupfergefäß mit frischem Wasser und hievte es auf den Gasofen. Der Brenner ging nur zögernd an. Er vermutete, daß die Gasflasche fast leer war. Vor über einer Woche hatte er bei der verdammten Gasgesellschaft angerufen und eine neue Flasche bestellt. Er fragte sich, ob es wieder einen Engpaß geben würde, so wie letztes Jahr, als sie Kohlen in einem Öfchen verbrennen mußten – die wöchentliche Ration Kerosin hatte kaum gereicht, um den Morgentee zu machen.
Tee, Gott sei Dank gab es Tee, dachte er und freute sich schon auf die zweite Tasse, die Mehroo ihm versprochen hatte. Er würde sie siedend heiß in großen Zügen austrinken, ein ständiger Fluß von der Tasse auf die Untertasse in den Mund. Vielleicht könnte dies doch noch seine beleidigten Gedärme veranlassen, sich zu rühren und noch irgend etwas von diesem Morgen zu retten, der bis jetzt unter einem Unstern stand. Natürlich müßte er noch Hirabai Hansotias Toilette bewältigen – seine Verdauung war aufsässig in fremder Umgebung. Er mußte abwarten, was stärker wäre: Mehroos verdauungsfördernder Tee oder Hirabais schließmuskelverengende Toilette.
Er holte sich die Times of India und machte es sich in seinem Sessel bequem, bis das Badewasser kochte. Irgend etwas mußte gegen den abblätternden Anstrich und den bröckelnden Putz unternommen werden. An manchen Stellen war die Erosion so fortgeschritten, daß der rote Backstein zutage trat. Man erzählte sich, daß diese Wohnungen in unglaublich kurzer Zeit und mit sehr wenig Geld errichtet worden seien. Es waren billige Baustoffe benutzt worden, und man hatte Sand, der vom nahegelegenen Chaupatty Beach herangekarrt worden war, mit minderwertigem Zement vermischt. Jetzt, während der Monsunzeit, perlte Feuchtigkeit an den Wänden herab, wie Schweiß an dem Rücken eines Kuli, wodurch das Zerbröseln von Putz und Farbe erheblich beschleunigt wurde.
Hin und wieder brachte Mehroo den sich ständig verschlimmernden Zustand zur Sprache, und Rustomji flüchtete sich darin, über die Verwalter herzuziehen. Aber heute brauchte er sich keine Sorgen zu machen. An einem Tag wie Behram roje würde sie so etwas nie erwähnen. Es gab gar keine Zeit zum Diskutieren. Der Morgen hatte für sie früh begonnen. Sie hatte die Kinder für die Schule fertig gemacht und ihnen ihr Mittagessen eingepackt, hatte fürs Abendessen vorgekocht, Rustomjis weißes Hemd, seine Hose und sein Dugli gestärkt und gebügelt, die sie alle schon am Abend zuvor gewaschen hatte, sowie ihre weiße Bluse, ihren Unterrock und Sari. Und jetzt hatte dieses Teufelspack da oben es geschafft, daß das WC leckte. Wenn Gajra, ihre Dienerin, nicht bald käme, würde Mehroo auch noch fegen und wischen müssen, bevor sie dazu kam, den Eingang mit bunten Kreidemustern zu schmücken, den Tohrun aufzuhängen (der schon seit sechs Uhr morgens wartete, seit der Blumenwalla ihn geliefert hatte) und den Duft von Loban in der Wohnung zu verteilen – es galt als unglückbringend, die vorgeschriebene Reihenfolge dieser Dinge abzukürzen oder zu ändern.
Aber es war Mehroos eigener Wunsch gewesen, den Tag so zu begehen. Für Rustomji waren diese Gebräuche tot und bedeutungslos. Außerdem hatte er ihr wiederholt die, wie er es nannte, Psychologie des Dienstpersonals erklärt: »Wenn irgendein wichtiger Tag bevorsteht, dann laß es nie die Dienerin wissen, tu so, als wäre alles ganz normal. Und du darfst sie niemals bitten, früher als gewöhnlich zu kommen, denn dann wird sie absichtlich später kommen.« Aber Mehroo ließ sich nichts sagen. Sie war vertrauensvoll und gutgläubig und litt weiter.
Gajra war die letzte in einer langen Reihe von Dienerinnen, die in ihrer Wohnung schufteten. Vor ihr war es Tanoo gewesen.
Zwei Jahre lang war Tanoo allmorgendlich bei ihnen erschienen, um zu fegen und zu wischen, das Geschirr zu spülen und ihre Wäsche zu waschen. Sie war Anfang siebzig, groß und dürr, O-beinig und halb blind, mit einer erstaunlichen Zahl von Falten auf Gesicht und Gliedern. Wo ihre Haut nicht faltig war, war sie schuppig und rauh. Sie hatte große Ohren, die unter Strähnen dünner, mit Kokosöl geölter grauer Haare hervorstanden, und trug eine Brille (der ein Glas fehlte), die ihr wackelig auf der langen spitzen Nase saß.
Das Problem mit Tanoo war, daß ihr ständig irgendein Teller, eine Tasse oder Untertasse kaputtging. Wenn es um mangelhaftes Fegen und Wischen ging, war Mehroo bereit, ein Auge zuzudrükken, doch der Geschirrbruch war ein spürbarer Schaden, der, so Rustomji, eines Tages zu ihrem Ruin führen würde, wenn ihm nicht Einhalt geboten würde.
Tanoo wurden in regelmäßigen Abständen Lohnkürzungen und andere, drastischere Formen der Bestrafung angedroht. Doch trotz ihrer guten Absichten, Beteuerungen und Vorsätze kam es nie zu einer Besserung. Ihre trüben Augen wurden zusätzlich durch ihre zitternden, fahrigen Hände beeinträchtigt, Folge ihres hohen Alters und eines langen, an Unglück reichen Lebens, aus dem ihr Mann geflüchtet war, nachdem er ihr zwei Söhne beschert hatte, die sie eigenhändig großziehen mußte und die jetzt Trunkenbolde waren, faule Nichtsnutze und der Kummer ihrer alten Tage.
»Arme, arme Tanoo«, sagte Mehroo oft, die nichts daran zu ändern vermochte. »Sehr traurig«, pflichtete Rustomji ihr bei, tat aber nicht mehr als das.
Und so glitten Teller und Untertassen weiter aus Tanoos alten, müden Händen, gingen krachend und scheppernd zu Boden, was Rustomji finanziellen Kummer bereitete und Mehroo Trauer – Trauer, weil sie wußte, daß Tanoo würde gehen müssen. Auch Rustomji hätte gerne Trauer und Mitleid empfunden. Aber er hatte Angst. Er hatte vor langer Zeit beschlossen, daß dies kein Land für Trauer, Mitleid oder Mitgefühl war – das waren wertlose und bestenfalls ungeeignete Gefühle.
Früher, als er das College besuchte, hatte er, als Freiwilliger bei der Social Service League, einmal anders darüber gedacht (töricht, wie er jetzt fand). Manchmal erinnerte er sich wehmütig an diese SSL-Lager, an die langen Zugfahrten voller Gesang und Ausgelassenheit zu entlegenen Dörfern, denen das Notwendigste zum Leben fehlte, wo sie Straßen und Brunnen anlegten, Schulgebäude bauten und die Dorfbewohner unterrichteten. Ausnahmslos harte Arbeit, und doch hatte es so viel Spaß gemacht, was waren sie für eine wunderbare Truppe gewesen, etwa Dara the Daredevil, wie er zwischen den heranfahrenden Zügen hin und hersprang, nannte er sich der Tom Mix of the Locomotive, und Bajun der Bananenweltmeister – einmal hatte er einundzwanzig davon gegessen, und zwar nicht kleine, sondern normale lange grüne. Jeder war eine ganz eigene Type gewesen.
Doch es war nicht Rustomjis Art, die Dinge, so wie er sie jetzt sah, in Nostalgie zu tauchen. Er war froh, daß er das alles hinter sich hatte.
Doch so wie die Sache für Tanoo schließlich verlief, war es für Mehroo ein nicht ganz so schlimmer Schlag. Tanoo traf Vorkehrungen, Bombay zu verlassen und in das Dorf zurückzukehren, das sie vor so langer Zeit verlassen hatte, und ihren Lebensabend dort bei der Familie ihrer Schwester zu verbringen. Mehroo freute sich für sie. Rustomji seufzte erleichtert auf. Er hatte keine Einwände, als Mehroo ihr beim Abschied großzügige Geschenke machte. Er schlug sogar vor, ihr eine neue Brille zu besorgen. Doch Tanoo lehnte dankend ab, mit der Begründung, sie würde dafür im Dorf nicht soviel Verwendung haben, wenn es keine Porzellanteller und Untertassen zu spülen gab.
Und so ging Tanoo, und Gajra kam: jung und knusprig, und berüchtigt für ihre Säumigkeit.
Kokos-Haaröl war das einzige, was Gajra und Tanoo gemeinsam hatten. Sie war, trotz ihrer Molligkeit, recht hübsch. Sie war, so fand Rustomji, sinnlich. Und er wurde nicht müde, in die Küche zu kommen, während Gajra, in der Hocke auf dem Sims des Abflusses, das Geschirr spülte. Als kleiner Junge hatte Rustomji gehört, daß die meisten Dienerinnen keine Verwendung für Unterwäsche hätten – weder für Büstenhalter noch für Schlüpfer. Schon als Heranwachsender hatte er dies mehrmals durch Beobachtung im Hause seines Vaters bestätigen können. Gajra lieferte weitere Beweise, Beweise, die ihr beim Fegen oder Spülen aus der knappen Bluse heraussprangen. Mit einer geschickten Bewegung steckte sie dann ungeniert die üppige Brust wieder in ihren Choli zurück, doch erst, wenn Rustomji sich sattgesehen hatte. Wie zwei Ratnigiri-Mangos erster Güte waren sie, fand er, saftig, weich und golden.
»Ich bin über alle Maßen glücklich«, dachte er dann lustvoll, sich immer wieder an den kleinen Scherz aus seiner geliebten Schulzeit im St. Xavier’s erinnernd. Obwohl man es dort nicht auf Missionierung anlegte, hielt die Schule es mit der Tradition, alle ihre Schüler, ob Katholiken oder Anhänger anderer Konfessionen, mit dem Vaterunser und den populäreren Psalmen vertraut zu machen.
Es war Rustomjis einziger heißer Wunsch, daß irgendwann einmal Gajras Brüste so weit aus ihrem Choli herausrutschten, daß ihre Brustwarzen zu sehen wären. »Dada Ormuzd, nur einmal, laß sie mich nur einmal sehen«, betete er sehnsüchtig, während er versuchte, sich ihre Brustwarzen vorzustellen: mal dunkelbraun und von der Größe eines Korns, doch mit der verborgenen Kraft, anzuschwellen; mal unkontrollierbar erregt und schwarz und groß und spitz.
Während er darauf wartete, daß sein Wunsch in Erfüllung ging, vergnügte sich Rustomji damit zuzusehen, wie Gajra jeden Morgen den Sitz ihres Saris veränderte, bevor sie mit der Arbeit begann: Sie raffte ihn zwischen ihren Schenkeln hoch und steckte ihn sich um die Hüfte herum, damit er im Abfluß nicht naß wurde. Auf die Weise verändert, erzeugten die Lagen einen sehr großen, maskulinen Klumpen zwischen ihren Beinen. Aber ihre Bewegungen, während sie, mit rundlichem Steiß, ihre tägliche Umwandlung vollzog – die Knie beugte, Schenkel auseinander, und sich auf den Hintern klopfte, um den Stoff zu glätten – waren für Rustomji äußerst erotisch.
Mehroo war gewöhnlich zugegen, wenn das stattfand, und so mußte er so tun, als würde er die Times of India lesen, um dann heimlich von hinter, über oder unter der Zeitung einen Blick zu riskieren. Manchmal fiel ihm ein kleiner Vers auf Marathi ein, den er als Junge aufgeschnappt hatte. Es war Teil eines Liedes, das auf jeder der ausgelassenen und wilden Partys gesungen wurde, die sein Vater immer für seine parsischen Kollegen von der Central Bank gab. Damals hatte der kleine Rustom die Bedeutung nicht verstanden, aber es ging folgendermaßen:
Sakubai la zaoli
Dadra chi khalti …
Nach vielen Jahren und vielen Partys durfte Rustom, als er älter wurde, bei den Gästen sitzen, anstatt hinaus zum Spielen im Hof geschickt zu werden. Es kam der Tag, als er zum ersten Mal an dem Glas seines Vaters mit Scotch und Soda nippen durfte. Mutter hatte prostestiert, daß er noch zu klein dafür sei, aber Vater hatte gesagt: »Was macht das schon, wenn er einmal nippt, meinst du, er wird zum Säufer?« Rustom hatte dieser erste Schluck geschmeckt und er wollte mehr, sehr zum Vergnügen der Gäste. »Ganz der Vater, schätzt sein Gläschen!« hatten sie gewitzelt.
Etwa um diese Zeit war Rustom allmählich auch die Bedeutung des Verses und des Liedes klargeworden: Es ging um die Begegnung zwischen einem parsischen Herrn und einer Dienerin, die er bei einem Nickerchen unter einer dunklen Treppe erwischt – er verführt sie ohne große Mühe und geht dann fröhlich seines Weges. Später hatte Rustom es seinen Freunden in St. Xavier vorgesungen, das Lied, das ihm heute wieder einfiel, an Behram roje, in seinem Sessel, mit der Times of India auf seinem Schoß. Er hoffte, Gajra würde kommen, bevor Mehroo von ihrem Telefonat bei Hirabai wiederkam. Dann könnte er offen und ungehindert glotzen.
Aber noch während Rustomji seinen unreinen Gedanken nachhing und in ihnen schwelgte, kam Mehroo wieder. Im Büro hatte man versprochen, gleich den Klempner zu bestellen. »Ich hab ihm gesagt: ›Bawa, Sie sind doch auch Parse, und Sie wissen, wie wichtig Behram roje ist‹, und er hat gesagt, das versteht er und er wird die Toilette heute noch reparieren lassen.«
»Der Drecksack versteht es? Hah! Jetzt wo er es weiß, wird er es absichtlich verzögern, um dich zu ärgern. Mach ruhig, sei offen und ehrlich zu aller Welt, tu’s, wenn du unbedingt unglücklich sein willst.« Und Mehroo ging, um ihm seinen Tee zu machen.
Es klingelte an der Haustür. Rustomji wußte, es mußte Gajra sein. Doch noch während er loseilte, um zu öffnen, spürte er, daß ihn weitere Frustration erwartete, daß ihm die Befriedigung seiner Lüsternheit ebenso rüde versagt werden würde wie die Erleichterung seines Darmes.
Sein Instinkt trog ihn nicht. Mehroo kam so schnell aus der Küche gestürmt, wie es ihr ihre schlappenden Chappals erlaubten, schimpfte Gajra aus und scheuchte sie mit der Anweisung davon, heute nur zu fegen – das übrige könne bis morgen warten – und dann wieder zu gehen. Rustomji kehrte schmollend zu seiner Times of India zurück.
Dann machte Mehroo eilig ein paar Kreidemuster am Eingang, längst nicht so kunstvoll und bunt wie geplant. Die Zeit wurde knapp. Sie mußte spätestens um elf im Feuertempel sein. Ihr graute vor der unheilbringenden Wirkung einer Verzögerung, hängte einen Tohrun über jeden Eingang (zum Glück steckte in den Blumen, die seit sechs Uhr morgens dahingewelkt waren, noch ein Funken Leben) und ging sich umziehen.
Als sie ausgehbereit war, war Rustomji immer noch damit beschäftigt, seine Verdauung mit Tee in Bewegung zu setzen. Verärgert über Gajras abrupten Fortgang, brütete er schweigend über seinen Verlust, für den er Mehroo die Schuld gab. »Geh du schon vor«, sagte er, »wir treffen uns im Feuertempel.«
Mehroo nahm den Bus der Linie H. Sie sah strahlend aus in ihrem weißen Sari, im parsischen Stil über die rechte Schulter und über die Stirn getragen. Nachdem der Bus der Linie H das Viertel um Firozsha Baag verlassen hatte, fuhr er durch enge gewundene Gassen voller Elend. Er fuhr über Bhindi Bazaar, durch Lohar Chwal und Crawford Market, kroch schmerzhaft langsam zwischen dem dichten Verkehr von Autos, Menschen, Handkarren und Lastwagen entlang.
Normalerweise beobachtete Mehroo unterwegs zum Feuertempel aufmerksam die Szenen, die sich während der langsamen gewundenen Fahrt des Busses entfalteten, und staunte über den hartnäckigen Einfallsreichtum, mit dem die Menschen in den düsteren kleinen Löchern und uneinladenden, schrecklichen Behausungen ihr Leben lebensfähig machten. Doch jetzt saß Mehroo da, ohne das Treiben und das Elend in diesen engen Straßen wahrzunehmen. Nichts davon durchdrang die Heiterkeit, mit der sie dem vollkommenen Frieden entgegensah, der im Feuertempel herrschte und von dem sie bald ein Teil sein würde.
Zufrieden betrachtete sie den weißen Sari, der ihre Gestalt bedeckte, und zog den Saum über ihrer Stirn zusammen. Wenn sie wieder nach Hause kam, würde der Sari stark nach Sandelholz duften, das im heiligen Feuer verbrannt wurde. Anstatt ihn zu waschen, würde sie ihn sich neben das Bett hängen, um den Duft so lange wie möglich auszukosten. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind immer darauf gewartet hatte, daß ihre Mutter vom Feuertempel wiederkam, damit sie das Gesicht in ihren Schoß vergraben und den Sandelholzduft einatmen konnte. Der Dugli ihres Vaters verströmte das gleiche Aroma, aber der weiße Sari ihrer Mutter war besser, er fühlte sich so weich an. Dann das Ritual des Chasni: alle Geschwister setzten sich mit ihren Gebetsmützen auf dem Kopf begierig um den Eßtisch herum, um sich von den Früchten und den Süßspeisen zu nehmen, die während der Gebetszeremonien des Tages gesegnet worden waren.
Mehroo wurde etwas traurig bei dem Gedanken an ihre eigenen Kinder, denen diese Dinge völlig gleichgültig waren. Sie mußte sie überreden, das Chasni aufzuessen, sonst würde es tagelang unbemerkt und unberührt dastehen.
Schon als Kind hatte Mehroo es herrlich gefunden, zum Feuertempel zu gehen. Sie liebte die verschiedenen Gerüche, die Ruhe, die Priester in Weiß, die ihre eleganten, mystischen Rituale vollführten. Am liebsten mochte sie das innere Heiligtum, das Sanctum sanctorum, dunkel und geheimnisvoll, mit Marmorboden und Marmorwänden, das nur der zelebrierende Priester betreten durfte, um das heilige Feuer zu beaufsichtigen, das in der riesigen, glänzenden, silbernen Afargaan-Schale auf marmornen Sockeln brannte. Sie hatte das Gefühl, sie könnte stundenlang vor dem Heiligtum sitzen, die Flammen bei ihrem Lebenstanz beobachten, die Funken verfolgen, wie sie zu der unendlichen himmelähnlichen dunklen Kuppel hochflogen. Es war ihr eigener Schlüssel zum Universum, der die Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit weniger beängstigend machte.
Während ihrer High-School-Zeit ging sie vor der Prüfungswoche immer in den Feuertempel. Ihre Opfergabe, ein Stück Sandelholz, wurde in die silberne Schale am Eingang zum inneren Heiligtum gelegt, und dann rieb sie sich andächtig Stirn und Kehle mit der grauen Asche aus der Schale ein, die zu diesem Zweck dort war. Dustoor Dhunjisha, in seinem wogenden weißen Gewand, war stets zugegen, umarmte sie zur Begrüßung und nannte sie seine liebe Tochter. Der Geruch seines Gewandes erinnerte sie an den Sari ihrer Mutter, wenn er nach Sandelholz duftete. Gelassen und gestärkt ging sie dann in ihre Prüfung.
Dustoor Dhunjisha, der inzwischen fast fünfundsiebzig war, war jetzt nicht immer da, wenn Mehroo zum Feuertempel ging. An manchen Tagen, wenn er sich nicht wohl fühlte, blieb er in seinem Raum und überließ es einem jüngeren Priester, sich um Gebete und Gottesdienst zu kümmern. Aber heute hoffte sie, daß er da war. Sie wollte dieses sanfte Gesicht aus ihrer Kindheit sehen, den langen weißen Bart, den beruhigenden Bauch.
Auch nachdem Mehroo Rustomji geheiratet hatte und nach Firozsha Baag gezogen war, war sie weiterhin für alle Zeremonien zu Dustoor Dhunjisha gegangen. Damit riskierte sie, den Zorn des Dustoorji auf sich zu lenken, der in ihrem Block im zweiten Stock wohnte. Dieser war der Auffassung, es sei sein Vorrecht, die religiösen Angelegenheiten der Mieter von Firozsha Baag zu betreuen, und sie sollten alle seinen nahegelegenen Tempel aufsuchen, sofern er sie zeitlich unterbringen konnte. Doch Mehroo blieb ihrem Dhunjisha treu. Sie achtete nicht auf die Empörung, die ihr vom Priester von Block A entgegenschlug, noch auf Rustomjis Unterstellungen.
Unter Dhunjishas priesterlichem Gewand, so Rustomjis Vorwurf, lauerte ein lüsterner alter Mann, der sein verehrungswürdiges Ansehen mißbrauchte: »Liebt es, Frauen zu berühren und zu befummeln, der alte Bock – je jünger und knackiger, desto mehr Spaß macht es ihm, sie zu umarmen und zu drücken.« Mehroo glaubte ihm kein Wort. Sie bat ihn immer wieder, nicht solche häßlichen Dinge über so eine heilige Persönlichkeit zu sagen.
Aber das war nicht alles. Rustomji war bereit zu beschwören, daß Dhunjisha und seine Konsorten erwiesenermaßen schlüpfrige Bemerkungen zwischen den Gebetsversen austauschten, sie zwischen ihre Rezitationen der Schrift schoben, vor allem an Festtagen, wenn schlanke, gut entwickelte Frauen in großer Zahl in ihrer bunten Kleiderpracht anwesend waren. Das oft wiederholte Ashem Vahoo war sein Lieblingsbeispiel:
Ashem Vahuu
Seht mal die Titten da von der Mieze-Buh …
Diese Version war ein beliebter Scherz unter den weniger religiös Veranlagten, und Mehroo tat es als einen weiteren Beweis für Rustomjis Respektlosigkeit ab. Er versicherte ihr, sie täten es sehr geschickt, so daß es niemand merkte. Außerdem war es schwierig, ihr Gemurmel überhaupt zu verstehen, wegen des weißen Tuchs, das alle Dustoorjis wie maskierte Banditen über Nase und Mund tragen mußten, damit ihr Atem nicht das heilige Feuer verunreinigte. Rustomji behauptete, es bedürfe eines geübten Ohres, um ihr Gebrabbel zu durchforsten und die Gebete von den Obszönitäten zu trennen.
Der Bus der Linie H hielt bei Marine Lines. Mehroo stieg aus und ging die Princess Street entlang. Sie wunderte sich über den starken Verkehr. Autos und Busse stauten sich bis zu der Überführung von Princess Street zum Marine Drive.
Als sie sich dem Feuertempel näherte, sah sie vor den verschlossenen Toren zwei Streifenwagen und einen Mannschaftswagen der Polizei. Sie beschleunigte ihre Schritte. Das letzte Mal, als man die Tore geschlossen hatte, war, soviel sie wußte, während der Unruhen zwischen Hindus und Moslems gewesen, nach der Teilung. Ihr graute davor zu erfahren, welches Unglück sich jetzt wohl ereignet hatte. Parsen wie Nicht-Parsen verrenkten die Hälse, um etwas durch die Stäbe der Tore zu sehen. Sie waren alle von derselben menschlichen Neugier erfaßt. Ein Polizist versuchte sie zu überreden, daß es nichts zu sehen gäbe und sie weitergehen sollten.
Mehroo hielt sich zuerst unentschlossen am Rand der Menge und tauchte dann hinein. Sie sah Dustoor Kotwal das Tempelgebäude verlassen und entschlossen zum Tor schreiten. Sie schob sich durch die wogende Menge und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er war, wie Dustoor Dhunjisha, ein ansässiger Tempelpriester und kannte sie gut.
Dustoor Kotwal hatte eine Mitteilung für die Parsen: »Alle für heute vorgesehenen Gebete und Zeremonien entfallen, ausgenommen die Gebete für die Toten.« Bevor Mehroo das Tor erreichen konnte, war er verschwunden.
Jetzt schnappte sie beunruhigende Worte aus der Menge auf: »… gestern nacht ermordet worden … erstochen … in den Rücken … Polizei und CID …« Sie wurde mutlos. All das an Behram roje, wo sie sich so viel Mühe gemacht hatte, alles richtig zu machen! Wieso entzog sich bloß alles auf diese gemeine Art ihrer Kontrolle? Sie beschloß, solange zu bleiben, bis sie mit jemandem sprechen konnte, der wußte, was passiert war.
Nachdem Mehroo gegangen war, trank Rustomji seine Tasse Tee aus. Er beschloß, vor dem Baden noch kurz zu warten, um seiner verstockten Verdauung noch eine letzte Chance zu geben.
Doch nachdem er weitere zehn Minuten mit der Times of India zugebracht und immer noch keinen Ton aus seinem Inneren vernommen hatte, gab er es auf. Während er seine Sachen fürs Bad vorbereitete, beugte er sich vor, bis sein Hintern sich hob, spannte das eine Bein etwas an und drückte. Nichts geschah. Nicht einmal ein kleiner Furz. Er inspizierte seinen Dugli und seine Hose: genau richtig gestärkt – nicht zu schlaff, nicht zu steif. Er rieb sich den Bauch und hoffte, er würde nicht später im Feuertempel gehen müssen. Die Toilette dort war scheußlich, gewöhnlich war der Boden um die Kloschüssel herum mit Urin vollgespritzt, oder die Exkremente waren nicht weggespült. Wenn man das sah, glaubte man nicht, daß Parsen das WC benutzten, fand er, sondern unkultivierte, schmutzige ignorante Barbaren.
Während Rustomji seine Waschungen vollzog, bemühte er sich, das ekelhafte Leck von oben zu vergessen und wie er darunter gehockt hatte. Mit jedem Becher voll heißen Wassers, den er aus dem Eimer schöpfte und sich über den Rücken goß, sich ins Gesicht spritzte und zwischen Beinen und Schenkel entlangrinnen spürte, wurde dieses widerliche Leck glücklicherweise zu einer Erinnerung reduziert, die von Sekunde zu Sekunde schwächer wurde. Das reinigende Wasser, das in den Abfluß rann, spülte die Reste dieser Erinnerung weit fort. Und als er sich abgetrocknet hatte, war sie vollständig gelöscht. Rustomji war wieder ein ganzer Mensch.
Das einzige, was jetzt noch in der Luft hing, war, genau wie es die Werbung versprach, der erfrischende Duft der lebensspendenden Lifebuoy Soap. Lifebuoy Soap und Johnnie Walker Scotch waren die einzigen beiden Posten, die sich in den Verhaltens- und Moralvorschriften gehalten hatten, die über drei Generationen an Rustomji weitergegeben worden waren, und er genoß sie beide. Die einzige Veränderung, die die Jahre mit sich gebracht hatten, bestand darin, daß Johnnie Walker Scotch, der unter den Briten problemlos erhältlich war, sich jetzt nur auf dem Schwarzmarkt beschaffen ließ und Rustomjis anhaltenden Kummer über den Abzug der Briten begründete.
Als er aus dem Bad trat, stellte er erfreut fest, daß seine Verdauung ihn nicht mehr störte. Die Trägheit, die seine morgendlichen Stunden heimgesucht hatte, hatte sich verflüchtigt, und ein neuer Eifer bemächtigte sich seiner. Die Schleifen an dem Dugli bereiteten ihm beim Anziehen etwas Probleme, gewöhnlich band Mehroo sie ihm zu. Aber in seiner gegenwärtigen Stimmung wurde er spielend mit ihnen fertig. Mit einem letzten Bürstenstrich über seine mit Brillantine behandelten Haare setzte er sich den Pheytoe auf, zog noch einmal ermutigend an den Schleifen und musterte sich im Spiegel. Er war erfreut über den Anblick und somit bereit für den Feuertempel.
Die Haltestelle der Linie H war sein Ziel, als er beschwingten Schrittes aus der Tür trat. Der Hof war menschenleer, die Jungs waren alle in der Schule. Am Abend würden durch ihre lärmigen Spiele wieder Aggression und Ärger in der Luft hängen, die er bekämpfen mußte, wenn er seine Ruhe haben wollte. Zuversichtlich, daß er die Bengels gut im Griff hatte, beschloß er, an der Haltestelle der Linie H vorbeizugehen und weiterzulaufen zum A-Express, vorbei an Tar Gully und seinem bedrohlichen Schlund. Das gestärkte Weiß seines Gewandes rief in ihm Gefühle von Pracht und Unbesiegbarkeit wach, und er hatte nichts dagegen, daß die Bewohner der Straße sein Erscheinen zur Kenntnis nahmen.
An der Haltestelle des A-Busses wartete eine lange Schlange. Rustomji ignorierte sie in ihrer gesamten gewundenen Länge und stellte sich an die Spitze. Er starrte mit gütigem Blick ins Leere, taub für die Proteste, die aus den Windungen der Schlange zu ihm drangen, und ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, ob er nach oben oder unten gehen sollte. Er entschied sich für unten – es könnte sich als schwierig erweisen, die steile Treppe zum Oberdeck mit der nötigen Haltung zu bewältigen, die seine Aufmachung erforderte.
Der Bus kam, und noch bevor er hielt, brüllte der Schaffner: »Oberdeck! Oberdeck! Alles aufs Oberdeck!« Rustomji hatte die Frage natürlich für sich schon geklärt. Ohne auf den Schaffner zu achten, packte er die Haltestange und stellte sich unbekümmert unten hin. Der normalerweise streitsüchtige Schaffner sagte nichts.
Als sich der Bus Marine Lines näherte, ging Rustomji zur Tür vor, um seinen Ausstieg vorzubereiten. Es gelang ihm recht gut, trotz der rauhen, holprigen Fahrweise des Busses. Er erreichte die Tür, ohne daß seine Haltung oder seine Kleidung Schaden nahmen, und wartete.
Doch Rustomji ahnte nicht, daß auf dem Oberdeck das Schicksal in Gestalt eines Mundes saß, der Tabak und Betelnuß kaute, ein Mund mit einem Übermaß an Saft und schmerzenden Kiefern, die nach Erleichterung schrien. Und als der Bus bei Marine Lines hielt, lehnte sich das Schicksal aus dem Fenster, um eine großzügige Portion klebrigen, zähflüssigen dunkelroten Zeugs von sich zu geben.
In seinem Dugli, der in der Mittagssonne leuchtete, entstieg Rustomji dem Bus und trat auf den Bürgersteig. Der Spritzer Tabaksaft erwischte ihn zwischen den Schulterblättern: blutrot auf leuchtendem Weiß.
Rustomji spürte es und wirbelte herum. Er sah hoch und entdeckte ein Gesicht, von dessen hellroten Lippen Saft tropfte und dessen Mund zufrieden kaute, und er wußte sofort, was passiert war. Während der Bus langsam wegfuhr, brüllte er qualvoll und hilflos, schrie so schmerzvoll, als stecke ihm ein Messer im Rücken.
»Salaa gandoo! Dreckiger Hurensohn! Schamloses Tier – Paan aus dem Bus zu spucken! Ich schlag dir das Gesicht ein, du Zuhälter …«
Eine kleine Menschenmenge versammelte sich um Rustomji. Einige waren neugierig, andere hatten Mitleid, aber die meisten hatten ihren Spaß.
»Was ist passiert? Wer hat ihm wehgetan, dem …?«
»Ts, irgend jemand hat ihm Paan auf seinen Dugli gespuckt …«
»Hähähä! Bawaji hat Paan voll auf seinen weißen Dugli …«
»Bawaji, Bawaji, Dugli sieht jetzt sehr hübsch aus, rot und weiß, genau wie in Technicolor …«
Durch das Spotten und Necken, das sich noch zu der Schandtat des Tabaksafts hinzugesellte, ließ sich Rustomji zu etwas gefährlich Törichtem hinreißen. Er verlagerte seinen Zorn von dem Bus, der sich entfernte, als sei nichts gewesen, zu der Menge, wobei er die Tatsache übersah, daß sie im Gegensatz zum Bus nah genug war, seine Beschimpfungen mit ihrer eigenen Wut zu beantworten.
»Arré ihr schwesterfickenden Ghatis, was gibt’s hier zu lachen? Schämt ihr euch nicht? Dieser Dreckskerl hat Paan auf mein Dugli gespuckt, und ihr findet das komisch?«
Eine Welle der Feindseligkeit ging durch die Menge und verdrängte das bisherige harmlose Genecke, das sie angesichts des Schauspiels des Paan-durchtränkten Bawaji betrieben.
»Arré, was bildet der sich ein, wer er ist, uns so zu beleidigen, uns mit so einem schlimmen, schlimmen Fluch zu kommen?« Irgend jemand rempelte Rustomji von hinten an.
»Bawaji, wir brechen dir alle Knochen. Maroo saala bawajiko!« Schlagt den verdammten Bawaji zusammen.
»Arré, wir reißen dir deinen Arsch in Fetzen!« Leute rempelten ihn jetzt von allen Seiten an. Der Pheytoe wurde ihm vom Kopf gepflückt, und sie zupften an den Schleifen des Dugli.
Jetzt war aller Zorn vergessen, und Rustomji hatte nur noch Angst um sein Leben. Er wußte, er war in ernsten Schwierigkeiten. Kein einziges freundliches Gesicht in dieser Gruppe, die jetzt auf einen Spaß anderer Art aus war. Voller Panik versuchte er die Feindseligkeit rückgängig zu machen: »Arré, bitte, yaar, wieso einen alten Mann schikanieren? Jaané dé, yaar. Laßt mich gehen, Freunde.«
Dann wurde seine verzweifelte Suche nach einem Ausweg belohnt – eine plötzliche Eingebung, die vielleicht funktionieren könnte. Er griff sich in den Mund, löste sein Gebiß heraus und spuckte es auf seine Handfläche. Zwei Speichelfäden, die in der Mittagssonne glänzten, verbanden für einen Moment das Gebiß mit seinem Zahnfleisch. Schließlich brachen sie und tropften ihm am Kinn hinunter. Mit viel Mühe und Spucke sagte er geifernd: »Seht nur, so ein alter Mann, nicht mal mehr Zähne«, und streckte die Hand aus, damit alle es sehen konnten.
Der zusammengefallene Mund und die hängenden Lippen besänftigten alle. In der Versammlung breitete sich ein allgemeines Gekicher aus. Rustomji der Clown hatte triumphiert. Er hatte die Harmlosigkeit des ursprünglichen amüsanten Schauspiels wiederhergestellt, und so konnte er sich den Pheytoe wieder auf den Kopf setzen und das Gebiß in den Mund tun.
Dann, unter den amüsierten Blicken der Menge, knöpfte Rustomji die Schleifen des Dugli auf und entfernte ihn. Es kam nicht mehr in Frage, zum Feuertempel zu gehen. Tränen der Scham und der Wut stiegen ihm in die Augen, und durch den Nebel hindurch sah er den blutroten Fleck. Obwohl er den Dugli ausgezogen hatte, spürte er immer noch etwas Feuchtes auf dem Rücken – der Saft hatte auch sein Hemd durchnäßt. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er auf die abstoßendste Art und Weise beschmutzt worden.
Jemand reichte ihm eine Zeitung, in die er den Dugli einwickeln konnte, ein anderer hob das Päckchen Sandelholz auf, das er fallengelassen hatte. In diesem Moment, als Rustomji am hilflosesten aussah, kam ein Bus und die Menge entschwand.
Er blieb allein zurück, den mit Zeitungspapier umwickelten Dugli und das in Packpapier eingeschlagene Sandelholz in den Händen. Sein Pheytoe saß ihm jetzt in einem anderen Winkel auf dem Kopf, und er sah nicht mehr unangreifbar aus und fühlte sich auch nicht mehr so. Mit unsicherer Geste winkte er ein Taxi heran. Es war ein kleiner Morris, und er mußte sich beim Einsteigen tief bücken, um zu vermeiden, daß ihm der Pheytoe vom Kopf gestoßen wurde.
Das Grauen dessen, was Mehroo am Feuertempel erfahren hatte, ließ auf dem Nachhauseweg ein wenig nach. Ihre Gedanken wanderten zu Rustomji. Inzwischen hatte er bestimmt fertig gebadet und war beim Feuertempel eingetroffen. Sie hatte zwei Stunden lang dort gewartet, zuerst draußen vor den Toren, dann drinnen. Vielleicht hatte Rustomji es schon erfahren, hoffte sie, vielleicht wußte er, daß die Gebete abgesagt worden waren.
Sie schloß auf und betrat die Wohnung. Rustomji lag ausgestreckt im Sessel. Er hatte seinen Dugli neben sich auf das Teetischchen geworfen, und zwar so, daß der blutrote Paan-Fleck deutlich zu sehen war. Er war überrascht, Mehroo so früh wiederzusehen, und mit so einer verzweifelten Miene. Sonst kam Mehroo immer mit glückselig strahlendem Gesicht vom Feuertempel zurück. Heute sah sie aus, als hätte sie den leibhaftigen Sataan im Feuertempel gesehen, dachte Rustomji.
Sie näherte sich dem Teapoy, und das Licht fiel auf den Dugli. Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus: »Dustoor Dhunjishas Dugli! Aber … aber … wie hast du …?«
»Was redest du da wieder für einen Unsinn? Irgendein Schwein hat Paan auf meinen Dugli gespuckt.« Er beschloß, ihr zu verschweigen, daß er nur knapp davongekommen war. »Wieso sollte ich denn den Dugli von diesem fetten Schurken Dhunjisha haben?«
Mehroo fühlte sich schwach und setzte sich. »Möge Gott dir die Worte vergeben. Du weißt nicht, daß Dustoor Dhunjisha ermordet wurde!«
»Was! Im Feuertempel? Aber wer würde denn so was …?«
»Wenn du dich noch eine Minute gedulden kannst, erzähl ich dir alles. Ich muß erst etwas Wasser trinken, ich fühle mich so erschöpft.«
Rustomjis Trägheit war wie weggeblasen. Er eilte in die Küche, um Mehroo ein Glas Wasser zu holen. Dann erzählte sie ihm, wie Dhunjisha von einem Chasniwalla erstochen worden war, der im Feuertempel angestellt war. Der Chasniwalla hatte die Tat bereits gestanden. Er hatte gerade versucht, mehrere Silbertabletts aus dem Tempel zu stehlen, als der ahnungslose Dhunjisha in den Raum kam. Der Chasniwalla verlor die Nerven und tötete ihn. Dann wollte er die Leiche verschwinden lassen und warf sie in den heiligen Brunnen des Feuertempels.
»Die Leiche wurde heute morgen gefunden«, fuhr Mehroo fort. »Ich wurde später hineingelassen, und die Polizei hat die Leiche untersucht, es war nichts entfernt worden, er trug immer noch seinen Dugli, er sah genauso aus wie …« Sie deutete auf Rustomjis Gewand auf dem Teetischchen, schüttelte sich und verstummte.
Sie begann sich zu beschäftigen. Sie trug ihr Glas wieder in die Küche zurück, zusammen mit Rustomjis Teetasse vom Morgen und zündete den Ofen an, um das Mittagessen zu bereiten. Sie kam wieder, untersuchte den Paan-Fleck auf seinem Dugli und fragte sich laut, wie er sich wohl am besten entfernen ließe, dann verstummte sie wieder.
Rustomji stieß einen Seufzer aus. »Was ist das bloß für eine Welt. Parse tötet Parse … Chasniwalla und Dustoor …«
Auch er verstummte, während er langsam den Kopf schüttelte. Er starrte nachdenklich auf die Wände und die Decke, wo Stücke von Farbe und Putz darauf warteten, abzublättern, in ihre Töpfe und Pfannen zu fallen, in ihre Wassergefäße, in ihr Leben. Morgen würde Gajra kommen und die weißen Flocken vom Boden auffegen. Sie würde die Töpfe und Pfannen säubern und die Gefäße mit frischem Wasser füllen. Die Times of India würde kommen, er würde sie lesen und dabei seinen Tee schlürfen und sehen, wie Nariman Hansotia in seinem 1932er Mercedes-Benz auf dem Weg zur Cawasji-Framji-Gedenkbibliothek vorbeifuhr, um die Tageszeitungen aus aller Welt zu lesen. Mehroo würde mit Wasser die bunten Kreidezeichen am Eingang entfernen und den Tohrun wieder herunternehmen – am nächsten Morgen wären die Blumengebinde trocken und verschrumpelt.
Mehroo betrachte Rustomji, wie er in seinem Sessel vor sich hin grübelte, und spürte in ihrer eigenen Seele die Melancholie seines besorgten, entrückten Blickes. Dieser seltene Blick auf das Weiche unter seiner rauhen Schale berührte sie. Sie schlüpfte auf leisen Sohlen zum Schlafzimmer, um ihren Sari zu wechseln.
Der meterlange zerknitterte Stoff, dem der Duft von Sandelholz verwehrt geblieben war, wurde auf dem Bett deponiert. Es hatte keinen Sinn, den Sari zusammenzufalten und ihn neben dem Bett aufzuhängen, er konnte gleich in die Wäsche. Sie betrachtete ihn fast verzweifelt und bemerkte auf der Wand neben dem Bett Spuren, die von durchtropfendem Wasser von den Regenfällen des letzten Jahres übriggeblieben waren.
Der diesjährige Monsun stand kurz bevor. Er würde die engen Gassen sauberwaschen, durch die sie an diesem Morgen auf ihrem Weg zum Feuertempel gekommen war. Und in der Wohnung würde der Regen neue Tropfen Feuchtigkeit hervortreten lassen, um die Spuren des letzten Jahres durch neue zu ersetzen.
Der Essensduft, der aus der Küche herüberschwebte, drang sanft in ihre Meditation ein. Es erinnerte sie daran, daß Behram roje noch nicht vorbei war. Aber sie ging in die Küche und stellte den Ofen aus – bis zum Mittagessen war noch einige Zeit hin, wie sie wußte. Statt dessen machte sie zwei Tassen Tee. Zwischen zehn Uhr morgens und vier Uhr nachmittags trank sie nie Tee, es war eine ihrer strengsten Regeln. Heute würde sie Rustomji zuliebe eine Ausnahme machen.
Sie ging wieder zu ihm, fragte ihn, ob er bereit fürs Mittagessen sei, und als sie die erwartete Ablehnung erhielt, lächelte sie mit zärtlicher Befriedigung in sich hinein – wie gut sie ihren Rustomji kannte. Sie fühlte sich ihm in diesem Moment sehr nahe.
Er schüttelte langsam den Kopf und starrte nachdenklich in die Ferne. »Der Magen ist noch schwer. Muß verstopft sein.«
»Und die Toilette?«
»Leckt immer noch.«
Sie erschien dann wieder mit den zwei Tassen, die sie in der Küche bereitgestellt hatte. »Dann noch eine Tasse Tee?«
Rustomji nickte dankbar.
Najamai machte sich bereit, ihre Wohnung in Firozsha Baag abzuschließen und zum Zug zu gehen, um den Tag bei der Familie ihrer Schwester in Bandra zu verbringen.