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Thomas Pynchon

Gegen den Tag

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren

 

 

 

It´s alway night, or we wouldn´t need light.

THELONIOUS MONK

EINS

Das Licht über den Weiten

Vorspring und Achterleine loswerfen!»

«Frischauf jetzt … langsam und vorsichtig … sehr schön! Fertig machen zum Ablegen!»

«Windy City, wir kommen!»

«Hurra! Wir fliegen!»

Unter derlei lebhaften Ausrufen stieg das wasserstoffbetriebene Luftschiff Inconvenience, seine Gondel mit patriotischen Fähnchen geschmückt, an Bord eine fünfköpfige Besatzung – allesamt Mitglieder jenes berühmten, unter dem Namen Freunde der Fährnis bekannten aeronautischen Clubs –, zügig in den Morgen auf und wurde alsbald vom Südwind erfasst.

Nachdem das Schiff Reiseflughöhe erreicht hatte und alles, was an Erscheinungen auf dem Boden zurückgeblieben, auf beinahe mikroskopische Größe zusammengeschrumpft war, verkündete Randolph St. Cosmo, der Schiffskommandant: «Wegtreten von Manöverstation», und die Jungs, jeder in der schmucken, aus rotweiß gestreiftem Blazer und himmelblauer Hose bestehenden Sommeruniform, gehorchten munter.

Ihr Ziel an diesem Tag war die Stadt Chicago und die jüngst dort eröffnete Weltausstellung. Seit ihre Befehle eingegangen waren, hatte das «Gemunkel» unter den aufgeregten und neugierigen Mannschaften wenig anderes zum Gegenstand gehabt als die sagenhafte «Weiße Stadt», ihr gewaltiges Riesenrad, ihre alabasternen Tempel des Handels und der Industrie, ihre funkelnden Lagunen und die tausend anderen vergleichbaren Wunder wissenschaftlicher wie künstlerischer Art, die ihrer dort harrten.

«Junge, Junge!», rief Darby Suckling, während er sich über die Halteleinen beugte und zusah, wie sich der weite Bogen des amerikanischen Herzlandes tief unten in einem verschwimmenden Wirbel von Grün hinzog, sodass seine flachsblonden Locken im Wind an der Gondel entlangflogen wie ein leewärts flatterndes Banner. (Darby war, wie meine getreuen Leser sich erinnern werden, das «Nesthäkchen» der Mannschaft, diente zugleich als Maskottchen und Faktotum und übernahm außerdem die schwierigen Sopranstellen, wann immer es die jugendlichen Aeronauten zu Gesängen irgendwelcher Art drängte.) «Ich kann es überhaupt gar nicht erwarten!», rief er aus.

«Was dir soeben weitere fünf Tadel eingebracht hat!», beschied ihn eine strenge Stimme dicht an seinem Ohr, während er jäh von hinten gepackt und von den Halteleinen weggezogen wurde. «Oder sagen wir zehn? Wie oft», fuhr Lindsay Noseworth, stellvertretender Kommandant und bekannt für seine Unduldsamkeit gegen jederlei Zurschaustellung von Laxheit, fort, «hat man dich wegen regelwidriger Redeweise verwarnt?» Mit der Gewandtheit, die sich langer Übung verdankte, stellte er Darby auf den Kopf und hielt das Fliegengewicht an den Knöcheln in den leeren Raum hinaus – «terra firma» lag mittlerweile gut und gern einen Kilometer tiefer –, um ihm sodann einen Vortrag über die vielen Übel einer nachlässigen Ausdrucksweise zu halten, deren nicht geringstes darin zu sehen sei, dass sie unschwer zum Fluchen und zu noch Schlimmerem führen könne. Da jedoch Darby die ganze Zeit vor Entsetzen schrie, bleibt zweifelhaft, wie viele dieser nützlichen Anregungen tatsächlich ihren Adressaten fanden.

«Nun reicht es, Lindsay», meinte Randolph St. Cosmo. «Der Bursche hat zu tun, und wenn du ihn so erschreckst, wird er bestimmt nicht zu viel nütze sein.»

«Na schön, Kleiner, mach dich an die Arbeit», brummte Lindsay und stellte den verängstigten Darby widerwillig wieder auf die Füße. Als Schiffsprofoss, der für die Disziplin an Bord zuständig war, versah er sein Amt mit einer humorlosen Strenge, die den unbefangenen Beobachter leicht an eine Form von Monomanie hätte denken lassen können. Doch angesichts der Unbedenklichkeit, mit der die temperamentvolle Mannschaft dazu neigte, Vorwände für allerlei halsbrecherischen Unsinn zu finden – was mehr als einmal zu «brenzligen» Situationen von der Art geführt hatte, die einen Aeronauten vor Entsetzen erstarren lassen –, erlaubte Randolph seinem Stellvertreter normalerweise, schärfer als eigentlich notwendig durchzugreifen.

Vom anderen Ende der Gondel war ein längeres Scheppern zu hören, gefolgt von einem unbeherrschten Gebrummel, das Randolph, wie stets, veranlasste, die Stirn zu runzeln und sich an den Magen zu fassen. «Ich bin bloß über einen der Picknickkörbe gestolpert», rief Miles Blundell, Handlanger und Lehrling, «so, wie es aussieht, den, in dem das ganze Geschirr drin war … ich hab ihn wohl nicht gesehen, Professor.»

«Vielleicht hat ihn seine Vertrautheit», gab Randolph in klagendem Ton zu bedenken, «vorübergehend unsichtbar für dich gemacht.» Sein Tadel, wiewohl am Rande des Sarkasmus, war wohlbegründet, denn Miles hatte zwar nur die besten Absichten und besaß von allen in der kleinen Schar das freundlichste Herz, litt zuweilen jedoch unter einer Störung seiner motorischen Prozesse, die oft kurzweilige Folgen zeitigte, doch ebenso häufig auch die Sicherheit der Mannschaft aufs Spiel setzte. Während er nun umherging und die Scherben des zu Bruch gegangenen Porzellans aufhob, erregte er die Heiterkeit eines gewissen Chick Counterfly, des neuesten Mitgliedes der Mannschaft, das ihm, an ein Stag gelehnt, zusah.

«Haha», rief der junge Counterfly, «also wirklich, du bist der größte Trampel, den ich je gesehen habe! Hahaha!» Eine wütende Entgegnung drängte sich Miles auf die Lippen. Doch er verkniff sie sich, indem er sich in Erinnerung rief, dass Beleidigung und Kränkung der Gesellschaftsklasse, welcher der Neuling entsprang, ganz selbstverständlich waren und man seine Redeweise daher auf Rechnung seiner unzuträglichen Vergangenheit schreiben musste.

«Warum gibst du mir nicht was von dem feinen Silberzeug, Blundell?», fuhr der junge Counterfly nun fort. «Und wenn wir nach Chicago kommen, suchen wir uns eine Pfandleihe, u-und dann –»

«Darf ich dich darauf aufmerksam machen», erwiderte Miles höflich, «dass alles Tischgeschirr, welches das Zeichen der Freunde der Fährnis trägt, Eigentum der Organisation ist und zum Gebrauch während offizieller Mahlzeiten an Bord vorgehalten wird.»

«Ist ja wie in der Sonntagsschule hier», brummelte der unverschämte Bursche.

An einem Ende der Gondel lag, ohne das Hin und Her auf Deck groß zu beachten, mit dann und wann ausdrucksvoll auf die Planken klopfendem Schwanz und die Nase zwischen die Seiten eines Werkes von Mr. Henry James gesteckt, ein Hund von unbestimmter Rasse, allem Anschein nach von dem Text vor ihm ganz und gar gefangen genommen. Seit die Freunde Pugnax – damals noch ein Welpe – im Zuge eines Geheimauftrages in unserer Landeshauptstadt (vgl. Die Freunde der Fährnis und der böse Kretin) aus einem wütenden Scharmützel rivalisierender Rudel wilder Hunde des Bezirks im Schatten des Washington Monument gerettet, hatte dieser es sich angewöhnt, die Seiten alles Gedruckten zu durchforschen, das an Bord der Inconvenience gelangte, von theoretischen Abhandlungen zur Luftfahrtkunst bis hin zu oft auch weniger angemessenem Lesestoff wie etwa «Groschenromanen» – obgleich seine Vorliebe eher sentimentalen Geschichten über seine eigene Spezies zu gelten schien als solchen, die Extreme menschlichen Verhaltens darstellten, das er offenbar etwas unheimlich fand. Mit der schnellen Auffassungsgabe, die Hunden eigen ist, hatte er gelernt, mittels Nase oder Pfoten äußerst behutsam umzublättern, und wer ihm bei dieser Beschäftigung zusah, konnte nicht umhin, sein Mienenspiel zu bemerken, insbesondere die ungemein ausdrucksvollen Augenbrauen, die zu einem Gesamteindruck von Interesse, Mitgefühl und – die Schlussfolgerung war schwerlich von der Hand zu weisen – Verständnis beitrugen.

Mittlerweile selbst ein alter Hase der Luftschifffahrt, hatte Pugnax wie der Rest der Mannschaft gelernt, einem «menschlichen Rühren» dergestalt nachzugeben, dass er sich an die dem Wind abgekehrte Seite der Gondel verfügte, was Überraschungen unter der Bevölkerung am Boden zur Folge hatte, freilich nicht oft oder auch nur auffällig genug, als dass irgendwer den Versuch unternommen hätte, Berichte über diese urinalen Angriffe aus der Luft aufzuzeichnen oder gar zu koordinieren. Sie gingen vielmehr in das Reich der Folklore, des Aberglaubens oder vielleicht auch – wenn man den Begriff nur entsprechend weit fasst – des Religiösen ein.

Nachdem sich Darby Suckling von seinem jüngsten Abstecher in die Atmosphäre erholt hatte, wandte er sich an den lernbegierigen Caniden. «Sag mal, Pugnax – was liest du denn gerade, mein Alter?»

«Rr Rff-rff Rr-rr-rff-rrf-rrf», entgegnete Pugnax, ohne aufzublicken, was Darby, der sich wie der Rest der Mannschaft an Pugnax’ Stimme gewöhnt hatte – und das im Grunde leichter als an so manchen regionalen amerikanischen Akzent, den die Jungen auf ihren Fahrten zu hören bekamen –, nun als «Prinzessin Casamassima» interpretierte.

«Aha. Eine Art … italienischer Liebesroman, möchte ich wetten?»

«Thema des Werkes», wurde er von dem allzeit wachsamen Lindsay Noseworth, der das Gespräch zufällig mit angehört hatte, prompt belehrt, «ist die unerbittlich ansteigende Flut des weltweiten Anarchismus, der an unserem derzeitigen Reiseziel besonders üppig grassiert – ein unheilvolles Leiden, dem wir, so will ich hoffen, nicht unmittelbarer ausgesetzt sein werden, als es Pugnax im Augenblick widerfährt, nämlich gefahrlos auf den Seiten eines Buches.» Wobei er dem Wort «Buch» eine Betonung verlieh, an deren Grad von Verachtung wahrscheinlich nur höhere Ränge annähernd heranreichen. Pugnax schnupperte kurz in Lindsays Richtung, bemüht, jene Verbindung olfaktorischer «Noten» zu entdecken, die er bei Menschen festzustellen gewohnt war. Doch wie immer entging ihm dieser Geruch. Dafür mochte es eine Erklärung geben, obgleich er nicht recht wusste, ob er auf einer solchen bestehen sollte. Erklärungen schienen, soweit er es beurteilen konnte, nichts zu sein, worauf Hunde bedacht waren, geschweige denn Anspruch hatten. Zumal Hunde, die so viel Zeit wie er, Pugnax, hier oben verbrachten, am Himmel, weit über dem unerschöpflichen Komplex von Düften, der sich unten an der Oberfläche des Planeten fand.

Der Wind, der bislang stetig von Steuerbord geweht hatte, begann zu drehen. Da sie Befehl erhalten hatten, sich unverzüglich nach Chicago zu verfügen, rief Randolph, nachdem er eine aeronautische Karte des unter ihnen liegenden Landes zu Rate gezogen: «Auf, Suckling – zum Anemometer aufentern –, Blundell und Counterfly, an die Schraube», womit er ein Vortriebsmittel zur Erhöhung der Reisegeschwindigkeit der Inconvenience meinte, das meinen eher wissenschaftlich veranlagten Lesern aus den früheren Abenteuern der Jungs (Die Freunde der Fährnis auf Krakatau, Die Freunde der Fährnis und die Suche nach Atlantis) erinnerlich sein dürfte – erfunden von ihrem langjährigen Freund Professor Heino Vanderjuice aus New Haven und angetrieben von einer sinnreichen Turbine, deren Kessel durch Verbrennung von überschüssigem, über eine spezielle Anordnung von Ventilen aus der Hülle gewonnenem Wasserstoff angeheizt wurde – wiewohl die Erfindung, wie vorauszusehen, von Dr. Vanderjuice’ zahlreichen Rivalen als ein Unding geschmäht worden war, das einem Perpetuum mobile gleichkomme und in eindeutigem Widerspruch zu den Gesetzen der Thermodynamik stehe.

Miles mit seinen marginalen Koordinationsfähigkeiten und Chick mit einem ebenso deutlich wahrnehmbaren Mangel an Eifer nahmen ihren Posten am Steuerpult der Vorrichtung ein, während Darby Suckling unterdessen die Webeleinen und Wanten der riesigen ellipsoidischen Hülle, an der die Gondel hing, bis ganz nach oben emporkletterte, wo die Luft ungehindert strömte, um sodann von einem Anemometer Robinson’scher Bauart genaue Windmessungen als Indikator für die Fortbewegungsgeschwindigkeit des Schiffes abzulesen und sie als schriftliche, in einem Tennisball an einer Leine herabgelassene Mitteilung an die Brücke weiterzuleiten. Man wird sich erinnern, dass sich die Mannschaft diese Methode der Informationsübermittlung während ihres kurzen, jedoch ergebnislosen Aufenthaltes «südlich der Grenze» von den niedrigen Elementen abgeschaut hatte, die ihr Leben vergeuden, indem sie auf den Ausgang von pelota-Spielen wetten. (Für Leser, die erst an dieser Stelle mit unserer Schar junger Abenteurer Bekanntschaft schließen, muss sogleich betont werden, dass sich – vielleicht mit Ausnahme des noch unzureichend bekannten Chick Counterfly – keiner jemals der moralisch verderblichen Atmosphäre des «frontón», wie derlei Orte dort genannt werden, ausgesetzt hätte, wenn dies nicht im Zuge der Nachrichtenbeschaffung für das Innenministerium des Präsidenten Porfirio Díaz, zu der sich die Freunde seinerzeit kontraktlich verpflichtet hatten, unabdingbar gewesen wäre. Näheres zu ihren dortigen Taten findet sich in Die Freunde der Fährnis in Mexiko.)

Obwohl das äußerst Gefährliche seines Tuns für alle ersichtlich war, hüllte Darbys Begeisterung für die anstehende Aufgabe seine Elfengestalt wie stets in einen Zaubermantel, der ihn zu beschützen schien, allerdings nicht vor dem Sarkasmus von Chick Counterfly, der dem emporkletternden Maskottchen nun nachrief: «Hey! Suckling! Nur ein Trottel würde sein Leben riskieren, um festzustellen, wie schnell der Wind weht!»

Lindsay Noseworth, als er dies hörte, runzelte peinlich berührt die Stirn. Auch unter Berücksichtigung seiner schwierigen Lebensgeschichte – die Mutter dem Vernehmen nach verschwunden, als er noch ein Säugling war, der Vater eine zwielichtig haltlose Existenz irgendwo in der ehemaligen Konföderation – stellte Counterflys Neigung zu willkürlichen Beleidigungen allmählich eine Bedrohung für seinen Status als Probekandidat bei den Freunden der Fährnis, wenn nicht gar für die Gruppenmoral dar.

Zwei Wochen zuvor an einem Schwarzwasserfluss im tiefen Süden, als die Freunde gerade in einem noch schwebenden, schmerzhaften «Handel» aus der dreißig Jahre zurückliegenden Rebellion zu schlichten versuchten – einem Handel, über den man auch heute tunlichst noch nichts zu Papier bringt –, war Chick eines Abends in einem Zustand äußerster Angst in ihrem Lager aufgetaucht, verfolgt von einem Trupp Reiter in weißen Kutten und unheimlichen spitzen Kapuzen, welche die Jungs sogleich als Mitglieder des gefürchteten «Ku-Klux-Klan» erkannten.

Seine Geschichte, soweit sie sich angesichts der jähen, durch das Gefährliche der Situation noch verstärkten Registerwechsel, welche die Stimme des Heranwachsenden charakterisieren, verstehen ließ, lautete wie folgt: Chicks Vater Richard, ursprünglich aus dem Norden stammend und gemeinhin unter dem Namen «Dick» bekannt, hatte sich seit mehreren Jahren in der ehemaligen Konföderation betätigt und an einer Reihe geschäftlicher Projekte versucht, die sich leider durchweg als erfolglos erwiesen und ihn in nicht wenigen Fällen sogar, wie die Redewendung lautet, bis knapp vors Tor des Zuchthauses gebracht hatte. Schließlich hatte sich «Dick» Counterfly angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ankunft eines Polizeiaufgebots, das von seinem Vorhaben erfahren hatte, den Staat Mississippi an ein mysteriöses chinesisches Konsortium mit Sitz in Tijuana, Mexiko, zu verkaufen, rasch in die Nacht abgesetzt und seinem Sohn nichts weiter hinterlassen als eine Hosentasche voll Münzen und die wohlgemeinte Ermahnung: «Muss mich verdünnisieren, Junge – schreib mir, wenn du Arbeit hast.» Seither hatte Chick von der Hand in den Mund gelebt, bis ihn in dem Städtchen Thick Bush, unweit des Lagers der Freunde, jemand als Sohn eines notorischen und weithin gesuchten Bauernfängers erkannt und vorgeschlagen hatte, ihm umgehend eine Behandlung mit Teer und Federn angedeihen zu lassen.

«Sosehr wir auch geneigt wären, dir unseren Schutz anzubieten», hatte Lindsay dem verstörten Jungen mitgeteilt, «hier am Boden sind wir an unsere Charta gebunden, die uns vorschreibt, uns niemals gegen das Gewohnheitsrecht einer Örtlichkeit zu stellen, auf die wir zufällig niedergegangen sein mögen.»

«Sie sind nicht von hier», erwiderte Chick in etwas scharfem Ton. «Wenn die hier hinter einem her sind, hat das nicht die Bohne mit Recht zu tun – dann heißt’s nur noch, lauf, Yankee, lauf, und Katie, leg den Riegel vor.»

«In höflicher Rede», beeilte sich Lindsay ihn zu korrigieren, «sagt man besser ‹gar nichts› anstatt ‹nicht die Bohne›.»

«Noseworth, um der Liebe Christi willen!», rief Randolph St. Cosmo, der die mit Kutten und Kapuzen angetanen Gestalten im Umkreis des Lagers schon seit geraumer Weile besorgt beäugte, indes die lodernden Fackeln, die sie mit sich führten, sämtliche Falten und Knitter ihrer primitiven Verkleidung mit geradezu bühnenhafter Präzision ausleuchteten und unheimliche Schatten auf Tupelo, Zypresse und Hickory warfen. «Hier gibt es nichts weiter zu diskutieren – dem Burschen wird Asyl und, wenn er es wünscht, die vorläufige Mitgliedschaft in unserer Einheit gewährt. Hier unten hat er ganz gewiss keine Zukunft mehr.»

Aus Furcht, dass Funken von den Fackeln des Pöbels in die Nähe des wasserstofferzeugenden Apparats fliegen und eine Katastrophe auslösen könnten, hatten sie die Nacht in schlafloser Achtsamkeit verbracht. Irgendwann jedoch hatten sich die ominös gewandeten Landbewohner, vielleicht aus Angst vor ebenjener Maschinerie, zu ihren Behausungen und Schlupfwinkeln getrollt. Und Chick Counterfly war, auf Glück und Unglück, bei ihnen geblieben …

Der Schraubenmechanismus beschleunigte das Schiff bald auf eine Geschwindigkeit, die es zusammen mit der des achterlichen Windes vom Boden aus nahezu unsichtbar machte. «Wir fliegen um einiges schneller als anderthalb Kilometer pro Minute», bemerkte vom Steuerpult aus Chick Counterfly, außerstande, seine Stimme von einer gewissen Ehrfurcht frei zu halten.

«Damit könnten wir bis Einbruch der Nacht in Chicago sein», kalkulierte Randolph St. Cosmo. «Alles in Ordnung, Counterfly?»

«Bestens!», rief Chick aus.

Wie die meisten «Rekruten» der Organisation hatte Chick festgestellt, dass seine anfänglichen Schwierigkeiten nicht so sehr der Geschwindigkeit als vielmehr der Höhe und der damit einhergehenden Veränderung von Luftdruck und Temperatur geschuldet waren. Auf den ersten Flügen tat er ohne zu klagen seine Pflicht, wurde eines Tages jedoch dabei ertappt, wie er unerlaubterweise einen Spind durchstöberte, der verschiedene Stücke arktischer Kleidung enthielt. Von Lindsay Noseworth zur Rede gestellt, konnte der Bursche zu seiner Verteidigung nur zähneklappernd «K-k-kalt!» stammeln.

«Glaube ja nicht», belehrte ihn Lindsay, «du seist mit deiner Aufnahme an Bord der Inconvenience in ein Reich des Kontrafaktischen entkommen. Es mag hier oben keine Mangrovensümpfe und keine Lynchjustiz geben, aber wir müssen gleichwohl mit den Zwängen der gegebenen Welt leben, zu deren denkwürdigen der Temperaturabfall mit zunehmender Höhe zählt. Irgendwann dürften deine Empfindlichkeiten in dieser Hinsicht nachlassen, und in der Zwischenzeit» – und damit warf er ihm einen Schlechtwettermantel aus schwarzem japanischem Ziegenleder zu, auf dessen Rücken in gelber Schablonenschrift EIGENTUM DER FREUNDE DER FÄHRNIS stand – «soll das hier nur als Übergangskleidung gelten, bis du dich an diese Höhen gewöhnt und mit etwas Glück die Lektionen gelernt hast, die sich aus dem selbstverständlichen Aufenthalt hier oben ergeben.»

«Die Sache lässt sich mit wenigen Worten zusammenfassen», vertraute Randolph ihm später an. «Aufzusteigen ist, wie nach Norden zu fahren.» Er verharrte blinzelnd, als rechnete er mit einem Kommentar.

«Aber», fiel es Chick ein, «wenn man nur weit genug nach Norden fährt, überfliegt man irgendwann den Pol, und dann bewegt man sich wieder Richtung Süden.»

«Ja.» Der Kommandant des Himmelsschiffes rührte unbehaglich die Schultern.

«Wenn man also … nur hoch genug steigt, kommt man irgendwann wieder herunter

«Pst!», warnte Randolph St. Cosmo.

«Man nähert sich vielleicht der Oberfläche eines anderen Planeten, hakte Chick nach.

«Nicht direkt. Nein. Einer anderen ‹Oberfläche›, aber einer irdischen. Zu unserem Leidwesen oft nur allzu irdisch. Mehr als das möchte ich im Augenblick lieber nicht –»

«Es sind Berufsgeheimnisse», mutmaßte Chick.

«Du wirst schon sehen. Zu gegebener Zeit, versteht sich.»