Erst mal 49 werden
Roman
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Lektorat: Dr. Ulrike Voigt, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Alexandra Klatt, Potsdam
Datenkonvertierung: readbox, Dortmund
ISBN: 978-3-942336-10-9
1.
Seit acht Jahren berichte ich über alles, was in unserer Stadt wichtig ist. Und zwar sieben Tage in der Woche. Denn als freiberufliche Lokalreporterin wird man lausig bezahlt. Seit der Umstellung auf den Euro sind die Honorare kaum erhöht worden. Die Kilometerpauschale wurde bei den meisten Zeitungen gestrichen. Der schwedische Krimiautor Johan Theorin sagte mal in einem Interview, dass er gelernt habe, dass ein freier Journalist die Freiheit hat, dort zu verhungern, wo immer er will. Um das zu vermeiden, arbeite ich von Montag bis Sonntag. Ich schreibe, bis ich am Schreibtisch einschlafe. Und wenn ich wach werde, schreibe ich weiter. Wenn ich nicht schreibe, fahre ich zu den Terminen, über die ich schreibe. Wenn ich nicht zu den Terminen fahre oder schreibe, bin ich mit meiner Tochter zusammen. Ich liebe meine Tochter und das Schreiben. Auf Menschen und ihre Geschichten bin ich neugierig. Tauschen möchte ich nicht. Nur manchmal, wenn ich mich vor Arbeit und Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann und mein Konto trotzdem gähnende Leere aufweist, dann möchte ich die Bettdecke über den Kopf ziehen und nie mehr wieder auftauchen. Doch selbst in solchen Momenten ist tief in mir die Gewissheit, dass ich das Richtige tue.
Veränderungen machen Angst, habe ich kürzlich in einer Frauenzeitschrift gelesen, seien aber unerlässlich, um sich weiterzuentwickeln. Die Veränderung in meinem Leben begann vor zehn Jahren. Ich erwischte meinen Ehemann beim Fremdgehen und mein Vater kam ins Krankenhaus. Genau in dieser Reihenfolge und innerhalb von zwei Tagen. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, meine Ehe scheiterte. Ich verdrängte meine Angst, kratzte all meinen Mut zusammen und sprang in ein Leben ohne Netz und doppelten Boden. Ich reichte die Scheidung ein, legte meinen Ehenamen ab und ließ meinen Geburtsnamen wieder in meinem Personalausweis eintragen, mietete eine Wohnung, bat die Zeitungen und Zeitschriften um mehr Aufträge.
Ach ja, ich bin übrigens 47 Jahre alt. Und das Älterwerden war für mich nie ein Problem. Meistens vergesse ich, wie alt ich bin. Wenn mich jemand nach meinem Alter fragt, kann es passieren, dass ich erst nachrechnen muss.
Doch neulich stellte ein Bekannter fest: „Du wirst doch bald 50.“
„Na ja“, sagte ich, „erst muss ich mal 48 und dann 49 werden.“
Aber der Stachel saß.
50! – Kann gar nicht sein. Eben erst war ich doch noch 41. Oder 44. Jedenfalls nicht 50. Ich fühle mich voller Energie, Neugier, Tatendrang. Und der Sex wäre auch besser, wenn ich welchen hätte.
Das Blöde am Älterwerden, sagte neulich jemand im Fernsehen, sei, dass der Kopf nicht mitaltere. Während also der Kopf ständig Sachen machen wolle oder auch nur denke, die einer 35-Jährigen gut zu Gesichte stünden, verweigere der Körper zunehmend die Ausführung. „Ab 40 fangen die Beschwerden an. Dann kann man nicht mehr so wie man will“, erklärte mir letztens ein 42-Jähriger, also ein halbes Kind. Ich hielt dagegen: „Meine Eltern haben mir versichert, dass das erst mit 60 anfängt.“
Wie auch immer. Sollten mir also noch zehn Jahre bleiben, werde ich sie damit verbringen, über den Satz von George Sand zu meditieren: „Der interessanteste Weg, den es gibt, ist der Weg zu sich selbst.“
2.
Immer schon wollte ich intensiv leben, mein Leben selbst gestalten, mich erfüllen, schreiben. Doch davon war ich lange weit entfernt. Reihenhaus, Kind, Ehemann, Familienfeste veranstalten, Haushalt organisieren und nebenbei ein bisschen arbeiten und in gestohlenen Momenten schreiben. Ich hatte es so satt, war unzufrieden, gestand es mir aber nicht ein.
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, aus meiner Ehe auszubrechen, obwohl ich mich mordsmäßig langweilte. Wäre damals nicht das ständige Fremdgehen meines Ehemannes dazwischen gekommen, ich wäre in dieser Ehe-Alltags-Brühe bis zum Ende meiner Tage weitergeschwommen.
Im Oktober 2000 fuhr ich mit zwei Freundinnen zur Frankfurter Buchmesse. An einem Stand mit esoterischen Büchern, Tarot- und Wahrsagekarten durfte jede von uns eine Karte ziehen. Ein orangefarbener Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln auf lila Grund war auf meiner zu sehen. Unter dem Schmetterling standen die Worte: „Die bewusste Wandlung“. Die Karte behielt Recht. Ein Jahr später präsentierte mir das Schicksal zwei Möglichkeiten: Die Ehe mit einem fremdgehenden Mann zu ertragen oder aktiv zu werden. Ich begann mich zu bewegen. Zunächst meinen Körper. Ich entdeckte das Walken und etwas später das Fitnessstudio. Vier Mal in der Woche lief und trainierte ich meinen Frust weg. Der Nebeneffekt: Ich verlor meinen Kummerspeck, der sich nach dem Tod meines Vaters auf den Rippen angesammelt hatte. Dann fand ich die richtige Wohnung und war damit beschäftigt, meiner Tochter und mir ein neues Leben einzurichten. In dieser Zeit fühlte ich mich oft wie ein Jongleur, der drei Bälle in die Luft wirft und sie in Bewegung hält, gleichzeitig zwei Teller auf Stäben dreht und damit durch einen brennenden Ring springt. Unvorhergesehene Rechnungen, Reparaturen am Auto, ein trauerndes Kind. Der Alltag war schlichtweg anstrengend. Oft tat mir in dieser Zeit der Kiefer weh, weil ich tatsächlich die Zähne fest zusammenbiss.
„Leben ist Kampf“ – das war eine Lebensweisheit meiner Großmutter. Diesem Satz konnte ich nie viel abgewinnen. Bis zu diesem Tag im Mai, als unser Kater mein funkelnagelneues weißes Designer-Ledersofa aufschlitzte, mein High-Tech-Bügeleisen ohne Vorwarnung in zwei Teile zerfiel, während gleichzeitig die Waschmaschine den Schleudergang nicht fand. Und dann klingelte der Postbote und brachte mir einen Brief. Vom Finanzamt. Eine saftige Steuernachzahlung.
Da fragte ich mich, wo die Kameras versteckt sind. Ich setzte mich also auf den noch heil gebliebenen Sessel, von dem aus ich einen guten Blick auf Sofa, Bügeltisch und Finanzamt-Brief genießen konnte, hörte der Waschmaschine beim Röhren zu und kämpfte mit den Tränen.
„Vielleicht hast du doch Recht, Oma“, dachte ich.
Ein paar Tage später kam meine Tochter von der Schule und erzählte mir von einem Streit mit ihrer Freundin: „Ich war total traurig. Doch du hast mich getröstet.“
Ich schaute sie fragend an.
„Ich bin zum Infokasten unserer Schule gegangen, und dort war dein Zeitungsartikel über die Schulaktionen ausgehängt. Da fühlte ich mich dir nah. Es war, als wenn du neben mir stehen würdest und mich in den Arm nehmen würdest.“
Das verschlug mir die Sprache. Ich nickte stumm und umarmte sie.
Einfach so bekam ich eine der schönsten Liebeserklärungen meines Lebens und dachte: „Leben ist so viel mehr als Kampf.“
Aber manchmal gab es eben diese Tage, an denen ich mich fühlte, als hätte mich ein Laster überfahren. Doch kam es mir nicht in den Sinn, meine Entscheidung, mich von dem treulosen Gatten zu befreien, zu bereuen. Allerdings verändert eine Scheidung das Leben. Und sie konfrontierte mich mit seltsamen Ansichten, verschrobenen Einstellungen und Vorurteilen.
Am Weltkindertag hatte ich den Auftrag, über ein Kinderfest auf dem Marktplatz in unserer Stadt zu berichten. Während ich die Minis und den Veranstalter befragte, kam eine Bekannte auf mich zu. Im Schlepptau hatte sie ihre Enkelkinder.
„Ich muss mit dir mal ein ernstes Wort reden“, sagte Ute und schaute mir streng in die Augen.
Überrascht nickte ich. Ich kannte Ute durch meine Arbeit. Sie war im Vorstand eines Frauenkulturvereins, der Ausstellungen und Lesungen organisierte. Ich hatte sie schon oft interviewt. Aber wirklich sympathisch war sie mir nicht. Obwohl ich mich bemüht hatte, etwas Nettes an ihr zu finden. Aber weder ihr Lippenstift noch ihre selbstgerechte Art waren mein Fall.
Die Kleinen setzten sich an einen der vielen Tische und fingen an zu malen.
Ute zog mich beiseite: „Was habe ich gehört? Du trennst dich von Thomas. Schämst du dich nicht?“
Irritiert schaute ich sie an: „Was meinst du?“
„Ich habe gehört, dass du deinen Mann verlässt“, Ute musterte mich missbilligend und schüttelte den Kopf. Dabei wippten ihre dauergewellten, kinnlagen grauen Haare entrüstet hin und her.
Woher nahm diese Frau das Recht meine Entscheidung zu verurteilen? Wie kam sie überhaupt dazu so mit mir zu reden? Wut kroch in mir hoch.
„Er hat mich ständig betrogen“, sagte ich gepresst und ärgerte mich gleichzeitig über meine Rechtfertigung.
„Das ist kein Grund. Deswegen zerstört man doch nicht seine Ehe“, sagte Ute und blähte entrüstet die Nasenflügel, „was meinst du, wie vielen Frauen das so ergeht. Das kann man aushalten.“
„Ich nicht“, sagte ich, drehte mich um und ließ sie stehen.
Acht Wochen später, ich war gerade umgezogen, hatte ich einen Unfall. In einer unachtsamen Sekunde fuhr ich auf ein Auto, das abbiegen wollte: 2.000 Euro Schaden – an meinem Auto. Noch völlig unter Schock traf ich bei einem Pressetermin auf Ute. Sie fragte mich, wie es mir ginge und die Unfallgeschichte brach springflutartig aus mir heraus. Und weil ich gerade im Schwung war, zählte ich noch auf, was außerdem noch bezahlt werden muss: der Umzug, die neuen Möbel, die Handwerker.
„Selbst schuld“, sagte sie und lächelte schadenfroh, „hättest dich ja nicht scheiden lassen müssen.“
Dabei musterte sie mich von oben bis unten. Ein trotziges Kichern stieg in mir hoch: Mein Slip ist schwarz, hat beige Spitzen und passt nicht zu meinem grünen BH. Und meine Socken sind blau und an den Fersen fadenscheinig – genau das hätte ich am liebsten zu ihr gesagt. Doch stattdessen sagte ich nur: „Ach so“ und verabschiedete mich.
Es passierten auch positive Dinge. Ich fühlte mich so lebendig wie nie zuvor in meinem Leben. Zum einen arbeitete ich in einem Beruf, der mir Spaß machte. Zum anderen gab es Christian. In seinen hellbraunen Augen sah ich die Frau, die ich sein wollte. Begehrenswert, attraktiv, unabhängig.
Ich lernte Christian im Fitnessstudio kennen. Dass er sich für mich interessierte, empfand ich als etwas Besonderes. Mein Mann, im gleichen Alter wie ich, wollte mich nicht mehr. Aber er – durchtrainiert, gutaussehend und elf Jahre jünger als ich – begehrte mich. Wenn wir zusammen waren, schlief er nicht nur mit mir, er liebte mich. Er roch gut, schmeckte gut, war muskulös, durch und durch männlich, humorvoll und liebenswert. Mit ihm erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben tiefe Leidenschaft. Und er heilte die Wunden und blauen Flecken in und auf meiner Seele einfach deswegen, weil er mir das Gefühl gab, richtig zu sein. Doch es war nicht nur Begehren oder die gegenseitige Bestätigung, die uns anzog wie ein Magnet das Eisen. Wir gaben uns Halt. Denn als wir uns kennenlernten waren wir beide in zerrütteten Ehen gefangen, gefesselt an Partner, die wir nicht mehr wollten.
Doch während ich, als ich ging, meine Tochter mit mir nahm, drohte Christian das Schicksal eines Wochenendvaters. Und den Gedanken, sich von seiner dreijährigen Tochter und seinem fünf Jahre alten Sohn zu trennen, konnte er nicht ertragen.
Während ich also die Abfahrt Scheidung wählte, fuhr er weiter auf der Autobahn der unglücklich Verheirateten. Dann kam der Tag, an dem ich das nicht mehr aushielt. Ich fühlte mich wohl auf der neuen Straße meines Lebens. Und ich wollte Christian an meiner Seite haben. Er zögerte, zauderte, lief weg, kam wieder, wich mir aus, zog mich eng an sich und nahm wieder Reißaus. Irgendwann ging ich.
3.
Unsere Trennung dauert nun schon drei Jahre. Hin und wieder schreiben wir uns Mails. Es hat zu meinem Geburtstag angefangen. Er gratulierte mir. Ich schrieb zurück. Und so hielten wir Kontakt, wie es eben gute Bekannte tun.
Und dann stand ich eines Tages im Wohnzimmer und meine Designerlampe im Esszimmer wollte nicht mehr leuchten. Ich tauschte alle Lämpchen aus – nichts. Dadurch scheinbar inspiriert, verweigerte meine Küchenlampe ebenfalls das Leuchten. Ich ließ mich natürlich von diesem läppischen Problem nicht unterkriegen, kaufte eine neue Leuchtstoffröhre für die Küchenlampe und beauftragte einen Elektriker, meine Esszimmerlampe zu reparieren. Der Elektriker kam nicht, die neue Leuchtstoffröhre leuchtete nicht. Wut und Hilflosigkeit trieben mir Tränen in die Augen.
Ich sprang mit Anlauf in einen Bottich Selbstmitleid: Warum habe ich keinen Mann, der mir hilft? Wieso bin ich allein? Wieso passiert mir das? Scheiße, ich will auf der Stelle einen Mann!
Und da meldete sich ein kleines Stimmchen:
Ruf ihn an, sagte es.
Nö, antwortete ich.
Ruf ihn an, sagte es wieder.
Nö.
Doch.
Nö.
Mach es.
Naja, dachte ich, vielleicht sollte ich nicht so stur sein. Ich kann ja mal eine Mail schreiben und ihn fragen, ob er jemanden kennt, der sich mit Lampen auskennt. Fragen kostet ja nichts.
Lieber Christian,
ich brauche mal dringend deinen Rat beziehungsweise einen Tipp vom Hobbyhandwerker. Meine Lampe im Esszimmer und eine Küchenlampe funktionieren nicht mehr. Obwohl ich die Glühlampen ausgetauscht habe.
Kennst du vielleicht einen Elektriker, der das reparieren kann, ohne gleich eine Horrorrechnung zu stellen?
Liebe Grüße
Beate
Zehn Minuten später sah ich seinen Namen auf dem Display meines Handys aufleuchten.
„Hallo Christian“, meldete ich mich zu laut und zu fröhlich. Das erste Mal nach einer langen Zeit hörte ich die vertraute Stimme:
„Hallo Beate. Welche Probleme hast du denn genau mit deinen Lampen?“
„Du hast also meine Mail gelesen“, stellte ich überflüssigerweise mit kicksender Stimme fest und schickte ein nervöses Lachen hinterher. Wie peinlich ist das denn, dachte ich, und zwang mich, ruhig zu atmen.
„Ja also“, begann ich und berichtete. Er hörte zu, fragte nach.
Dann Stille. Das nervöse Lachen stieg wieder in mir auf. Doch bevor die Hysterie sich endgültig Bahn brach, hörte ich ihn sagen: „Ich komme vorbei und schau es mir mal an.“
„Ah ja, wie damals, als ich in meine Wohnung gezogen bin.“ Ich hörte mich albern lachen.
„Mhm, morgen kann ich nicht, aber übermorgen. Ich simse dich vorher an. Okay?“, sagte er.
„Ja, das ist aber nett“, quietschte ich, nun völlig am Ende mit meinen Nerven.
„Ich melde mich“, sagte er und schickte ein Tschüss hinterher.
Zittrig legte ich mein Handy zurück auf den Schreibtisch.
Nichts passiert, sagte ich zu mir, da hilft nur ein Freund einem Freund in Not.
4.
Jetzt steht er vor meiner Haustür, in seiner rechten Hand trägt er den Handwerkerkoffer. Und natürlich sieht er großartig aus; breitschultrig, muskulös, glatt rasiert, mit zerzausten dunkelblonden Haaren, in dunkelblauem T-Shirt und Jeans. Als er den Handwerkerkoffer auf den Wohnzimmerboden stellt, sehe ich den breiten, goldenen Ring. Dieses äußere Zeichnen seiner Verbundenheit mit einer anderen Frau versetzt mir einen Stich, gibt mir aber auch die notwendige innere Distanz zurück, die sich bei seinem Anblick verstohlen davongeschlichen hat.
Die Leuchtstoffröhre in der Küche stellt keine große Herausforderung für ihn dar. Ein Dreh, es klickt, sie leuchtet. Und ich komme mir doof vor. Doch bei der Esszimmerlampe gibt es Gott sei Dank ein richtiges Problem. Der Trafo ist kaputt.
„Schau mal, hier steht der Name der Firma und sogar der Link für die Homepage“, Christian deutet auf die Lampenfassung. Er steht auf der obersten Stufe meiner kleinen Leiter. Ich schaue zu ihm hoch und meine Augen entwickeln ein Eigenleben. Denn durch das Heben seiner Arme hat sich sein T-Shirt nach oben geschoben und von unten kann ich genau darunter schauen. Ich halte die Luft an. „Du kannst dort sicherlich einen neuen Trafo bestellen. Ich baue ihn dir auch ein. Sag einfach Bescheid, wenn er da ist“, er lässt die Arme sinken.
Ich nicke. Verstohlen atme ich aus.
„Magst du was trinken. Einen Kaffee vielleicht?“
Christian lächelt mich an: „Gerne.“
Während ich mit Filter und Kaffeepulver hantiere, setzt sich Christian an den Küchentisch und schaut mir zu. Ich schalte die Kaffeemaschine ein und setze mich ihm gegenüber.
„Wie läuft es im Job?“, frage ich.
Ich habe das richtige Thema angeschnitten. Er erzählt von seinem Wechsel in eine andere Abteilung des Unternehmens, von den Chancen und Möglichkeiten, die sich ihm jetzt bieten. Ich schaue in seine hellbraunen Augen, und auf einmal kann ich mich kaum noch gegen diese Anziehungskraft wehren. Gegen meinen Willen löst sich ein Teil von mir und strebt auf ihn zu. Seine Worte und Sätze ergeben keinen Sinn mehr. Er gestikuliert, und da sehe ich ihn wieder, seinen Ehering. Und der Teil von mir, der sich auf Wanderschaft begeben hat, kommt geschwind zurück.
„Wie läuft es denn privat?“, frage ich unvermittelt.
Er stutzt kurz und sagt dann nachdenklich: „Wir haben uns arrangiert. Es funktioniert.“
„Dann konntet ihr eure Liebe retten?“
„Was nicht da ist, kann man auch nicht retten“, sagt er.
Wow! Mit so viel Ehrlichkeit habe ich nicht gerechnet. Sicherheitshalber baue ich für den abtrünnigen Teil in mir eine Wand auf. Eine aus Granit und davor ziehe ich noch eine Betonwand hoch.
„Warum trennt ihr euch dann nicht endlich?“, frage ich, um einen sachlichen Ton bemüht.
Er zuckt mit den Schultern.
„Wegen der Kinder, wegen des Geldes, aus Bequemlichkeit“, zählt er auf.
„Das hört sich feige an.“
„Ist es vermutlich auch“, sagt er und rührt geistesabwesend mit dem Löffel im Kaffee herum. Nach einer Weile spricht er weiter: „Beruflich habe ich mich weiterentwickelt, privat wohl nicht.“
Mein Kopf bekommt ein Eigenleben und nickt.
Unvermittelt sieht er auf die Küchenuhr: „Es ist spät. Ich muss nach Hause. Die Kinder warten.“
„Ich bin stolz auf mich“, sage ich später zu meiner Freundin Conny, „ich konnte mit ihm reden, ihm nahe sein, ohne rückfällig zu werden. Das ist ein gutes Gefühl. Ich habe es geschafft. Er ist wirklich nur noch ein Freund für mich.“
Conny schnauft ungläubig ins Telefon. Normalerweise schätze ich Connys direkte und ehrliche Art. Doch heute brauche ich eine Freundin, die zuhört und nichts in Frage stellt. Schließlich habe ich schon genug damit zu tun, mir selbst zu glauben.
Conny ist übrigens meine älteste Freundin. Unsere Eltern wohnten in dergleichen Straße. Wir lernten zusammen Rollschuh- und Schlittschuhlaufen, Rechnen, Schreiben und später Englisch, Latein und Mathe. Bis zum Abitur waren wir unzertrennlich. Genauso wie ich, war sie die Älteste in der Geschwisterfolge. Und zum Glück hatten wir einen völlig unterschiedlichen Männergeschmack. Während Conny ältere, gebildete Männer attraktiv fand, suchte ich mir Gleichaltrige, die Motorrad fuhren, muskulös und kantig waren. Conny heiratete mit 23 einen elf Jahre älteren Mann, ich mit 27 Jahren einen ebenfalls 27-Jährigen. Um acht Monate versetzt bekamen wir unsere Kinder. Sie einen Sohn, ich meine Tochter Tessa. Auf meinem Weg zur Scheidung war Conny an meiner Seite. Doch von da an verliefen unsere Lebensläufe unterschiedlich. Während sich Conny als Mutter und Hausfrau verwirklicht, ihren Mann Edward bei seiner Karriere als Geschäftsführer eines großen Unternehmens unterstützt, gehe ich als berufstätige Singlemutter durch die Welt.
Zwei Tage nach unserem Telefonat schlendern Conny und ich durch die Bonner Innenstadt auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für Edward. In einem Schaufenster sieht Conny einen blauen Herren-Kaschmirpulli und zieht mich in das Geschäft.
Eine junge Frau kommt lächelnd auf uns zu.
„Ich hätte gerne den Kaschmirpulli in Größe 52“, sagt Conny und zeigt auf das Schaufenster.
Die freundliche junge Frau zieht ihn aus einem Stapel hervor, als es im Kassenbereich laut scheppert. Ich blicke in die Richtung und sehe eine zweite Verkäuferin, die sich gerade eine Jacke anzieht und dabei mehrere Kleiderbügel von der Theke gefegt hat.
„Sarah, ich bin weg“, sagt sie in Richtung der jungen Frau.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. 20 Uhr.
„So spät schon“, sage ich erstaunt, „dann haben Sie ja jetzt Geschäftsschluss.“
Sarah nickt und macht eine wegwerfende Handbewegung: „Macht aber nichts. Lassen Sie sich ruhig Zeit.“
„Haben Sie den Pulli auch in Beige und Anthrazit?“ fragt Conny.
„Ich glaube. Im Lager müssten noch welche sein“, sagt Sarah und verschwindet. Nach fünf Minuten kommt sie mit den Pullis zurück.
Als wir zur Kasse gehen, sieht Conny ein Kleid, zieht es von der Stange, tritt vor einen Spiegel und hält es prüfend vor sich.
„Das gefällt mir. Kann ich das anprobieren?“, fragt Conny.
Ich trete verlegen von einem Fuß auf den anderen. Ich will der netten Verkäuferin nicht den Feierabend klauen. Aber Conny scheint mein Unbehagen gar nicht wahrzunehmen.
„Die Umkleidekabinen sind hinten rechts“, sagt Sarah freundlich, geht hinter die Kasse, holt einen Schlüsselbund hervor und schließt die Ladentür ab.
„Ich finde es toll, dass Sie sich Zeit für uns nehmen“, sage ich.
„Das ist mein Job. Den mache ich gerne. Ich bin jetzt seit fünf Jahren in diesem Geschäft“, antwortet sie und fügte stolz hinzu, „und im letztem Monat bin ich zur stellvertretenden Filialleiterin befördert worden.“
„Herzlichen Glückwunsch. Ihre Eltern sind sicherlich sehr stolz auf Sie.“
Ich lächle sie an, weil ich gar nicht anders kann. Denn diese junge, hübsche Frau strahlt.
„Ja, das sind sie. Jetzt arbeite ich darauf hin, dass ich Filialleiterin werde. Nächsten Monat beginnt die Weiterbildung.“
„Bildung ist wichtig“, höre ich Connys Stimme. Conny tritt aus der Umkleidekabine, „meinem Sohn sage ich das auch immer wieder. Im Moment ist er in Paris bei Freunden. Und nächstes Jahr wird er ein Schuljahr in den USA verbringen.“
Die Verkäuferin nickt und lächelt etwas angestrengt. Manchmal kann Conny ein ziemlicher Snob sein.
„Was meinst du?“ Conny dreht sich einmal um die eigene Achse und fügt, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, hinzu: „Das Kleid nehme ich und die drei Pullis für Edward.“
„Hast du Lust auf Kino, oder sollen wir essen gehen?“, frage Conny, als wir aus dem Laden treten.
„Ach, ich weiß nicht. Morgen muss ich wieder früh raus“, sage ich.
„Du bist so tapfer“, sagt Conny unvermittelt.
„Tapfer?“, wiederhole ich irritiert.
„Ja. Du klagst nicht oder jammerst über deine Situation. Du bist tapfer.“
„Tut mir leid. Damit kann ich nichts anfangen. Als Opfer habe ich mich nie gefühlt.“
„Naja“, sagt Conny mit einem unsicheren Unterton, „du hast keinen Mann, musst arbeiten und gleichzeitig dein Kind versorgen.“
„Conny“, sage ich entnervt, „ich fühle mich in meinem Leben sehr wohl. Sei nicht so herablassend.“
„Okay. Wir könne ja ein anderes Mal ins Kino oder so“, sagt Conny.
5.
835 Euro. Ich starre auf die Nebenkostenabrechnung, die ich soeben in meinem Briefkasten gefunden habe. Wovon soll ich das denn bezahlen? Panik breitet sich in mir aus. Damit habe ich nicht gerechnet. Letztes Jahr musste ich zwar auch nachzahlen, aber mit 240 Euro war das überschaubar gewesen. Ich überfliege die Rechnung, ziehe nervös den Aktenordner mit den Wohnungsunterlagen aus dem Regal und vergleiche die Abrechnung vom letzten Jahr mit der neuen Aufstellung. Ich finde zwar einen Rechenfehler. Doch dabei handelt es sich lediglich um 40 Euro. Irgendwie muss ich 795 Euro auftreiben. Ich brauche Hilfe, denke ich mit einem Blick an die Zimmerdecke: Lieber Gott, lass dir was einfallen.
Und tatsächlich. Ich bekomme Hilfe. Allerdings ganz anders, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.
Es ist Ende Mai, und es ist heiß. In meinem Arbeitszimmer gibt es leider keine Klimaanlage. Ich habe die Wahl zwischen Ventilator an oder aus. Ist er aus, klebt das Papier an meinen Unterarmen und Schweiß tropft von meiner Stirn in meine Augen und versperrt mir die Sicht auf meine Texte.
Ist er an, muss ich niesen, kriege trockene Augen, verspannte Schultern und das Papier fliegt aus dem Fenster. Nein, es hilft auch nicht, den Ventilator auf die kleinstmögliche Stufe einzustellen, dann kann ich ihn nämlich gleich auslassen.
Nach draußen will ich eigentlich auch nicht mehr. Egal, wie oft ich mich mit Sonnencreme einbalsamiere, irgendwo findet die Sonne immer eine Stelle auf meinem Körper, die sie verbrennen kann. Und von den ständigen Kopfschmerzen – ist das Ozon? – will ich erst gar nicht reden.
Als ich gestern übellaunig eine Verkäuferin auf dem Wochenmarkt fragte, wie sie die Hitze aushalte, sagte sie: „Luftige Baumwollkleidung und NICHT JAMMERN.“
Ich verstehe. Der Sommer ist super. Ich schwitze tapfer weiter. Ergeben schnappe ich mir meine Kameratasche, stopfe einen Block, einen Kuli, die Geldbörse und einen Lippenstift hinein und mache mich auf den Weg. Zwei Stunden später komme ich in der Redaktion der Tageszeitung an, für die ich als Freie arbeite. Ich bin völlig am Ende. Denn ich bin über einen Kunsthandwerkermarkt gelaufen und habe Händler zu der Frage „Wie gehen Sie mit der Hitze um?“ interviewt. Ich winke Maria zu, die betont freundlich in den Telefonhörer spricht: „Ja, chillen ist kein deutsches Wort. Da gebe ich Ihnen Recht. Natürlich, ich werde es der Reporterin ausrichten. Ich wünsche Ihnen auch einen guten Tag. Auf Wiederhören.“
Maria legt den Hörer auf und verdreht die Augen. Ich schaue sie schuldbewusst an. Ich habe den Artikel über die Eröffnung eines Jugendzentrums geschrieben und darin einen Jungen zitiert, der gesagt hat: „Es ist toll geworden. Hier macht das Chillen Spaß.“
„Puh“, sagt sie, und dann fangen wir an zu kichern. Ich mag Maria sehr. Seit 20 Jahren leitet sie das Redaktionssekretariat, beruhigt aufgebrachte Leser und ist Trostspenderin für Redakteure, Reporter und Volontäre. Mit ihrem liebevollen Humor bringt sie Leichtigkeit in die Redaktion.
„Jetzt weißt du Bescheid. Demnächst bitte keine Jugendlichen mehr zitieren“, Maria kichert immer noch, „ach übrigens, der Chef will mit dir reden.“
Mir wird noch heißer: „Habe ich was angestellt?“
Maria schüttelt so heftig ihren Kopf, dass sich mehrere Haarsträhnen aus ihrem brünetten Knoten lösen.
„Nur keine Bange“, sagt sie und deutet auf die Tür zur Redaktionsleitung.
Ich weiß, mehr werde ich nicht erfahren. Ergeben klopfe ich und öffne die Tür.
„Ah, hallo Beate, komm rein!“ Maximilian erhebt sich von seinem Schreibtischstuhl und kommt auf mich zu. Die schwarze Jeans und das schwarze Poloshirt lassen seine schlanke Figur fast hager aussehen. Seine blauen Augen schauen mich müde an. Wahrscheinlich ist es gestern hier wieder sehr spät geworden.
„Setz dich“, Maximilian deutet auf die Sitzecke.
Er setzt sich mir gegenüber: „Wie du ja sicherlich weißt, geht Heinz in zwei Monaten in den Ruhestand.“
Ich nicke. Natürlich weiß ich das.
„Um es kurz zu machen, kannst du dir vorstellen, als Redakteurin für uns zu arbeiten? Was meinst du?“ fragt er und erklärt mir die Rahmenbedingungen und nennt das Gehalt.
Ich starre ihn an. Ganz langsam dringt die Bedeutung seiner Worte in mein Bewusstsein. Mir ist gerade eine Festanstellung angeboten worden. Jeden Monat garantiert Geld auf dem Konto. Nicht mehr um jeden Auftrag kämpfen müssen. Bezahlter Urlaub und Weihnachtsgeld. Endlich würde ich ganz entspannt und ohne Geldsorgen mit meiner Tochter Urlaub machen können. Ich kann es nicht fassen.
„Nur damit ich das richtig verstehe. Du bietest mir einen unbefristeten Arbeitsvertrag an?“
Maximilian nickt.
Jetzt kann ich meine Freude nicht mehr zurückhalten. Ich strahle: „Ich nehme an.“
„Ich brauche natürlich deine Bewerbungsunterlagen. Für die Geschäftsleitung in Köln.“
„Kein Problem“, sage ich eilig und bin schon in Gedanken bei der dunkelblauen Bewerbungsmappe, schwarz ist schließlich zu traurig und grau zu trist, sehe mich beim Fotografen, um das beste Bewerbungsfoto machen zu lassen und kaufe gepolsterte Briefumschläge.
Ich schaue in die blauen Augen meiner Tochter: „Nach Ablauf der Probezeit. Wir könnten in den Weihnachtsferien irgendwohin fahren, wo es warm ist.“
„Mhm“, verträumt schiebt sich Tessa eine Gabel voll Nudeln in den Mund. Wir sitzen bei „Da Angelo“, und während Tessa Fussili in Sahnesoße mit Champignons und Kochschinken verputzt, genieße ich Steinbuttfilet und Rosmarinkartoffeln. So würde es jetzt immer sein. Zeit für mein Kind. Zeit, um Essen zu gehen. Zeit für Kino. Zeit für mich. Endlich wieder Privatleben. Die Sieben-Tage-Wochen sind Geschichte. Natürlich werde ich demnächst auch Wochenenddienste haben, aber eben nur hin und wieder. Das Leben ist schön.