Ich bin kein Lehrer, ich bin ein Erwecker.
ROBERT FROST
Schon viele Jahre, bevor ich schließlich damit begann, wollte ich dieses Buch schreiben.
Ursprünglich wollte ich ein Buch über Co-Abhängigkeit schreiben, weil ich, als ich so sehr unter meiner Co-Abhängigkeit litt, kein Buch fand, das mir erklärte, was mit mir geschah. Ich wollte ein Buch für andere verletzte Menschen schreiben, in dem Co-Abhängigkeit erklärt würde, ein Buch, das ihnen helfen sollte, zu verstehen und ihren Schmerz zu lindern.
Mein Motiv löste sich in Luft auf, als ich der Sache nachging. Andere Leute schrieben ihrerseits über Co-Abhängigkeit. Zudem war doch einiges an Literatur erhältlich; ich hatte es nur vorher nicht gefunden.
Später änderte sich mein Motiv. Ich wollte mit meinem Buch nicht nur anderen Menschen den Schmerz erleichtern; ich wollte mich damit von meinem Leiden loskaufen. Es war ein Handel, den ich auf meinem langen Weg zum Eingeständnis zu machen versuchte: Wenn ich ein Buch darüber schreibe, dann wird dieser Teil meines Lebens mir nicht gar so vertan vorkommen.
Auch dieses Motiv entfiel. Bevor ich das Buch schrieb, akzeptierte ich, was mit mir geschehen war. Es war in Ordnung, egal ob ich darüber schrieb oder nicht. Ich erkannte auch, daß ich mehr gewonnen als verloren hatte. Durch meine Erfahrung mit Co-Abhängigkeit fand ich mich selbst. Alles aus unserer Vergangenheit hat uns für diesen Augenblick vorbereitet und hierhergebracht; das Heute bereitet uns auf das Morgen vor. Und alles fügt sich zum Guten. Nichts ist vergeudet.
Als ich mich schließlich hinsetzte, um das Buch zu schreiben, war mein Motiv ungefähr dasselbe wie ursprünglich. Ich wollte etwas schreiben, das co-abhängigen Menschen helfen sollte, und ich glaubte, ein paar lohnende Gedanken zu haben, die ich weitergeben könnte. Jedoch ist dieses Buch nur eine Meinung, und meine Gedanken und Ideen sind eben nur Gedanken und Ideen. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, lassen Sie mich Garrison Keillor zitieren. Er sprach über Romane, aber diese Feststellung paßt auch ebensogut zu Sachbüchern, zu Selbsthilfebüchern:
»Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, besonders dann ... wenn wir uns der Wahrheit nicht absolut sicher sind. Man sucht nach der Wahrheit und stellt nur ein paar Wegweiser auf.«
Ich hoffe, dieses Buch hat Ihnen ein wenig Wahrheit vermittelt. Ich hoffe, ich habe dazu beigetragen, daß Sie aufwachen.
Al-Anon-Familiengruppen (Hrsg.): Die Herausforderung. Al-Anon stellt sich dem Alkoholismus, Essen 1987 (ISBN 3-924824-57-6)
Andolfi, M.: Familientherapie. Das systematische Modell und seine Anwendung, Freiburg 1985
Aßfalg, R./Demel I.: Wieder miteinander sprechen. Der Alkoholkranke und sein Partner, Hamm 1979
Ballhausen, I.: Suchtprävention in Familie und Schule, Osnabrück 1984
Brakhoff, Jutta (Hrsg.): Kinder von Suchtkranken. Situationen, Prävention, Beratung und Therapie, Freiburg 1987
Branden, N.: Honoring the Self, Boston 1983
Burr, A.: Alkohol in der Familie. Wege zur Selbsthilfe, München 1985
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.): Familie und Suchterkrankung, Hamm 1987
Dowling, Colette: Der Cinderella-Komplex, Frankfurt 1984
Drews, T. R.: Getting Them Sober, South Plainfield/NJ 1980 (Vol. I), 1983 (Vol. II)
Franke, U.: Mütter und Väter als Alkoholiker in ausgewählten Kinder- und Jugendbüchern, Münster 1984
Friedemann, A.: Partnerschaftsprobleme zwischen Süchtigen. Alkoholismus und Familie, Ettenheim 1987
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Krämer, H.: Helft mir – meine Eltern trinken, Hamburg 1978
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Russianoff, Penelope: Bin ich ohne Mann nichts wert?, München 1987
Schaef, A. W.: Co-Abhängigkeit: nicht erkannt und falsch behandelt, Wildberg 1986
Schwartz, David J.: Die Wunderwirkung großzügigen Denkens. Wie Sie wagen können, ›groß‹ zu denken und zu handeln, München 1989
Schweigel, D.: Die Einbeziehung von Angehörigen in die Arbeit von Suchtkranken, Freiburg 1983 (Dipl.-Arbeit)
Steiner, Claude M.: Wie man Lebenspläne verändert, o. O.
Stumm-Schneider, E.: Zur Partnersituation der Alkoholkranken. Wie gehen Frauen bzw. Männer mit ihren alkolholabhängigen Partnern um?, Basel 1983
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Villez, T. von: Sucht und Familie, Berlin 1985
Wholey, D.: The Courage to Change, Boston 1984
Al-Anon Familiengruppen, Zentrales Dienstbüro, Emilienstr. 4, 45128 Essen, Tel.: 02 01 /77 30 07
Anonyme Alkoholiker (AA), Interessengemeinschaft e.V., Gemeinsames Dienstbüro, Postfach 46 02 27, 80910 München, Tel.: 0 89 /3 16 43 43
Arbeiterwohlfahrt, Bundesverband, Opelner Str. 130, 53119 Bonn, Tel.: 02 28 /6 68 51 69
Blaues Kreuz in Deutschland e.V. Freiligrathstr. 27, 42289 Wuppertal-Barmen, Tel.: 02 02 / 62 10 98
Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche e.V., Dieterichstr. 17a, 30153 Hannover
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freundeskreise, Brüder-Grimm-Platz 4, 34117 Kassel, Tel.: 0561/780413
Bundesverband der Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher (BVEK), Westring 2, 59065 Hamm, Tel.: 0 23 81/2 52 69
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Ostmerheimer Str. 200, 51109 Köln, Tel.: 0221/89921
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) e.V., Westring 2, 59065 Hamm, Tel.: 0 23 81/25 85/2 52 69
Deutscher Caritasverband e.V., Referat Gefährdetenhilfe/Suchtkrankenhilfe, Karlstr. 40, 79104 Freiburg, Tel.: 07 61 / 20 03 69
Deutscher Guttempler-Orden (I.O.G.T) e.V., Adenauerallee 45, 20097 Hamburg, Tel.: 040/245880
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Referat Gefährdetenhilfe, Heinrich-Hoffmann-Str. 3, 60528 Frankfurt, Tel.: 0 69 /6 70 62 69
Deutsches Rotes Kreuz, Präsidium, Friedrich-Ebert-Allee 71, 53113 Bonn, Tel.: 02 28 / 54 11
Fachverband Drogen und Rauschmittel (FDR) e.V., Prinzenstr. 2, 30159 Hannover, Tel.: 05 11 / 32 50 23
Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V., Brüder-Grimm-Platz 4, 34117 Kassel, Tel.: 05 61 /10 26 38
Katholische Sozialethische Arbeitsstelle (KSA), Abteilung Suchtgefahren, Jägerallee 5, 59071 Hamm, Tel.: 0 23 81 / 87 68
Kreuzbund e.V., Jägerallee 5, 59071 Hamm, Tel.: 02381/8797
Verband ambulanter Beratungs- und Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige e.V., Karlstr. 40, 79104 Freiburg. Tel.: 07 61 / 20 03 63 / 3 69
Verband der Fachkrankenhäuser für Suchtkranke, Brüder-Grimm-Platz 4, 34117 Kassel, Tel.: 05 61 / 10 26 38
Landesstellen gegen die Suchtgefahren:
Landesstelle gegen die Suchtgefahren in Baden-Württemberg der Liga der freien Wohlfahrtspflege, Augustenstr. 63, 70178 Stuttgart, Tel.: 07 11 / 61 74 46
Badischer Landesverband gegen die Suchtgefahren, Renchtalstr. 14, 77871 Renchen, Tel.: 07843/70340
Bayerische Landesstelle gegen die Suchtgefahren, Lessingstr. 1, 80336 München, Tel.: 0 89 / 53 65 15
Landesstelle Berlin gegen die Suchtgefahren e.V., Gierkezeile 39, 10585 Berlin, Tel.: 0 30 / 3 41 85 39
Bremische Landesstelle gegen die Suchtgefahren e.V., Lessingstr. 19, 28203 Bremen, Tel.: 04 21 / 70 25 11
Hamburgische Landesstelle gegen die Suchtgefahren e.V., Brennerstr. 81, 20089 Hamburg, Tel.: 0 40 / 2 80 38 11
Hessische Landesstelle gegen die Suchtgefahren e. V., Metzlerstr. 34, 60594 Frankfurt, Tel.: 0 69 / 61 60 92
Niedersächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren, Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover, Tel.: 05 11 / 85 88 80
Arbeitsausschuß ›Drogen und Sucht‹ der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen, Friesenring 34, 48147 Münster, Tel.: 02 51 /2 70 92 72
Landesstelle gegen die Suchtgefahren in RheinLand-Pfalz, Große Himmelsgasse 6, 67346 Speyer, Tel.: 06232/24021
Saarländische Landesstelle gegen die Suchtgefahren, Feldmannstr. 92, 66119 Saarbrücken, Tel.: 0681/53089
Landesstelle gegen die Suchtgefahren für Schleswig-Holstein e.V., Flämische Str. 6-10, 24103 Kiel, Tel.: 0431/92494
Die Sonne schien, und es war ein
herrlicher Tag, als ich ihn kennenlernte.
Dann wurde alles verrückt.
GEORGIANNE, mit einem Alkoholiker verheiratet
Dies ist Jessicas Geschichte. Ich lasse sie selbst erzählen.
Ich saß in der Küche, trank Kaffee und dachte über meine unerledigte Hausarbeit nach. Geschirr abwaschen. Staubsaugen. Waschen. Die Liste war endlos, doch ich konnte nicht anfangen. Es war zuviel, woran ich denken mußte. Alles zu tun, war unmöglich. Wie mein eigenes Leben, dachte ich.
Müdigkeit, ein vertrautes Gefühl, überkam mich. Ich begab mich ins Schlafzimmer. Ein Nickerchen, früher ein Luxus, war zur Notwendigkeit geworden. Schlafen war so ungefähr alles, was ich tun konnte. Wo war mein Auftrieb geblieben? Früher hatte ich überschäumende Energie. Jetzt bedeuteten Kämmen und das tägliche Make-up bereits eine Anstrengung – eine Anstrengung, die ich häufig nicht auf mich nahm.
Ich lag auf meinem Bett und fiel in tiefen Schlaf. Als ich erwachte, waren meine ersten Gedanken und Gefühle schmerzlich. Auch das war nicht neu. Ich war mir nicht sicher, was mich am meisten bekümmerte: der heftige Schmerz, den ich fühlte, weil ich meine Ehe für gescheitert hielt und die Liebe verschwunden war, erschöpft durch Lügen und Trinken und Enttäuschungen und finanzielle Probleme; die bittere Wut, die ich auf meinen Mann hatte – den Mann, der das alles verursacht hatte; die Verzweiflung, die ich fühlte, weil Gott, dem ich vertraut hatte, mich verraten hatte, indem er das alles geschehen ließ; oder die Mischung aus Furcht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die sich in alle Gefühle mischte.
Verfluchter Kerl! dachte ich. Warum mußte er trinken? Warum war er nicht früher nüchtern geworden? Warum mußte er lügen? Warum hatte er mich nicht so geliebt, wie ich ihn geliebt hatte? Warum hatte er nicht vor Jahren mit dem Trinken und Lügen aufgehört, als er mir noch etwas bedeutete?
Ich hatte nie die Absicht gehabt, einen Alkoholiker zu heiraten. Mein Vater war einer gewesen. Ich hatte mir große Mühe gegeben, mir meinen Mann sorgfältig auszusuchen. Eine tolle Wahl. Franks Problem mit dem Trinken war während unserer Flitterwochen offenkundig geworden, als er eines Nachmittags unser Hotelzimmer verließ und erst um halb sieben am nächsten Morgen zurückkam. Warum hatte ich das damals nicht gemerkt? Zurückblickend waren die Zeichen klar. Welch eine Närrin war ich gewesen! »O nein! Er ist kein Alkoholiker. Er doch nicht«, hatte ich immer wieder verteidigend gesagt. Ich hatte seinen Lügen geglaubt. Ich hatte meinen Lügen geglaubt. Warum verließ ich ihn nicht einfach, ließ mich scheiden? Schuld, Furcht, Mangel an Initiative und Unentschlossenheit. Außerdem hatte ich ihn schon vorher einmal verlassen. Als wir getrennt waren, fühlte ich mich nur deprimiert, dachte an ihn und machte mir Sorgen um das Geld. Ich dummes Ding!
Ich schaute auf die Uhr. Viertel vor drei. Die Kinder würden bald aus der Schule kommen. Dann würde er nach Hause kommen, erwarten, daß das Essen fertig sei. Keine Hausarbeit heute gemacht. Überhaupt nichts getan. Und es ist seine Schuld, dachte ich. SEINE SCHULD!
Plötzlich wechselte meine Gefühlslage. War mein Mann wirklich bei der Arbeit? Vielleicht war er mit einer anderen Frau zum Essen gegangen. Vielleicht hatte er ein Verhältnis. Vielleicht war er früher gegangen, um zu trinken. Vielleicht war er bei der Arbeit und verursachte dort Ärger. Wie lange würde er seine Arbeit überhaupt noch haben? Noch eine Woche? Einen Monat? Dann würde er wie üblich kündigen oder gefeuert werden.
Das Telefon klingelte, unterbrach meine Ängste. Es war eine Nachbarin, eine Freundin. Wir sprachen, und ich erzählte ihr von meinem Tag.
»Ich gehe morgen zu Al-Anon«, sagte sie. »Willst du nicht mitkommen?«
Ich hatte von Al-Anon gehört. Es war eine Gruppe für Menschen, die mit Trinkern verheiratet waren. Ich hatte Visionen von ›grauen Mäuschen‹, die sich bei diesem Treffen aneinander drängten, um das Beste aus dem Trinken ihrer Männer zu machen, die ihnen verziehen und sich überlegten, wie sie ihnen helfen könnten. »Ich will mal sehen«, log ich. »Ich habe noch eine Menge zu tun«, erklärte ich weiter, womit ich nicht log.
Wut überkam mich, und ich nahm den Rest unserer Unterhaltung kaum wahr. Natürlich wollte ich nicht zu Al-Anon gehen. Ich hatte immer wieder geholfen. Hatte ich nicht schon genug für ihn getan? Ich war empört über den Vorschlag, noch mehr zu tun und ständig weitere Kraft in diese bodenlose Grube unerfüllter Bedürfnisse zu werfen, die wir Ehe nannten. Ich war es leid, die Last auf den Schultern zu tragen und mich verantwortlich für den Erfolg oder das Scheitern der Beziehung zu fühlen. Es ist sein Problem, schimpfte ich stumm. Soll er doch selbst eine Lösung für sich finden. Laßt mich aus dem Spiel. Verlangt von mir nichts mehr. Bessert ihn einfach, dann fühle ich mich auch besser.
Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, schleppte ich mich in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Jedenfalls bin nicht ich diejenige, die Hilfe braucht, dachte ich. Ich habe nicht getrunken, Drogen genommen, Arbeit verloren und die liebsten Menschen belogen und betrogen. Ich habe diese Familie zusammengehalten, manchmal mit Hängen und Würgen. Ich habe die Rechnungen bezahlt, einen Haushalt mit kärglichen Mitteln geführt, bin in jedem Notfall dagewesen (und da ich mit einem Alkoholiker verheiratet bin, gab es viele Notfälle), habe die schlechten Zeiten meist allein ertragen müssen und mir so viele Sorgen gemacht, daß ich häufig krank wurde. Nein, fand ich, ich bin nicht verantwortungslos. Im Gegenteil, ich bin für alles und jeden verantwortlich gewesen. Mir fehlte nichts. Ich mußte mich einfach nur aufraffen und mit meinen täglichen Pflichten beginnen. Um das zu tun, brauchte ich keine Treffen. Ich würde mich sogar schuldig fühlen, wenn ich ausging, während ich doch diese ganze Hausarbeit zu erledigen hatte. Gott weiß, ich brauchte nicht noch mehr Schuldgefühle. Morgen würde ich mich aufraffen und viel tun. Es wird schon alles besser – morgen.
Als die Kinder nach Hause kamen, wurde ich laut. Das überraschte weder sie noch mich. Mein Mann war gutmütig, ein netter Kerl. Ich war die Hexe. Ich versuchte, freundlich zu sein, aber es war schwer. Ärger steckte immer dicht unter der Oberfläche. So lange schon hatte ich soviel toleriert. Ich war nicht mehr willens noch bereit, irgend etwas zu tolerieren. Ich war immer in der Defensive, und ich hatte immer irgendwie das Gefühl, als würde ich um mein Leben kämpfen. Später lernte ich, daß es tatsächlich so war.
Bis mein Mann schließlich heimkam, hatte ich ziemlich gleichgültig das Essen vorbereitet. Wir aßen, sprachen kaum.
»Ich hatte einen guten Tag«, sagte Frank.
Was bedeutet das? überlegte ich. Was hast du tatsächlich getan? Warst du überhaupt bei der Arbeit? Und außerdem, wen kümmert das?
»Das ist schön«, erwiderte ich.
»Wie war dein Tag?« fragte er.
Zum Teufel, wie wird er wohl gewesen sein? schimpfte ich stumm. Nach allem, was du mir angetan hast, wie soll es mir da gehen? Ich durchbohrte ihn mit Blicken, zwang mich zu einem Lächeln und sagte: »Mein Tag war gut. Danke der Nachfrage.«
Frank blickte beiseite. Er hörte das Ungesagte deutlicher als das Gesagte. Er wußte, daß es besser war, nichts mehr zu sagen; ich auch. Wir waren gewöhnlich nur einen Schritt von einer lautstarken Auseinandersetzung entfernt, einer Aufzählung früherer Kränkungen und gebrüllter Scheidungsdrohungen. Wir stritten reichlich, und es machte uns krank. So taten wir es schweigend.
Die Kinder unterbrachen unser feindseliges Schweigen. Unser Sohn wollte zu einem mehrere Blocks entfernten Spielplatz. Ich sagte nein, ich würde nicht erlauben, daß er ohne den Vater oder mich ginge. Er jammerte, daß er so gern dort spielen würde und daß ich ihm sowieso nie etwas erlauben würde. Ich schrie ihn an, er dürfe nicht gehen, und das war’s. Er heulte: Bitte, ich muß aber gehen, alle anderen Kinder gehen ja auch. Wie gewöhnlich gab ich nach. Gut, geh nur, aber paß auf! warnte ich. Ich fühlte mich so, als hätte ich eine Niederlage erlitten. Ich fühlte mich immer, als verlöre ich – bei meinen Kindern und bei meinem Mann. Niemand hörte mir zu; niemand nahm mich ernst.
Ich nahm mich selbst nicht ernst.
Nach dem Essen machte ich den Abwasch, während mein Mann vor dem Fernseher saß. Wie üblich, ich arbeite und du spielst. Ich mache mir Sorgen, und du entspannst dich. Mir ist es wichtig und dir nicht. Du fühlst dich gut; ich leide. Verfluchter Kerl! Ich ging mehrere Male durch das Wohnzimmer, blockierte ihm absichtlich den Blick auf den Fernseher und warf ihm heimlich haßerfüllte Blicke zu. Er ignorierte mich. Nachdem ich dessen müde war, stolzierte ich ins Wohnzimmer, seufzte und sagte, ich würde hinausgehen, um den Hof zu harken. Das ist eigentlich Männerarbeit, erklärte ich, aber ich werde es wohl tun müssen. Er sagte, er werde es später erledigen. Ich sagte, später sei nie, ich könne nicht warten, es sei mir peinlich wegen des ungepflegten Hofes. Vergiß es doch einfach. Ich sei ja ohnehin gewöhnt, alles zu tun, und dies würde ich eben auch noch tun. Er sagte, gut, er werde es vergessen. Ich stürmte nach draußen und stampfte wütend im Hof herum.
Müde, wie ich war, ging ich früh schlafen. Bei meinem Mann zu schlafen, war ebenso anstrengend, wie wach mit ihm zusammen zu sein. Wir sprachen nicht miteinander. Jeder rollte sich auf seiner Bettseite so weit wie möglich vom anderen entfernt zusammen, oder er versuchte – als ob alles in bester Ordnung sei –, mit mir zu schlafen. So oder so, es war eine angespannte Situation. Wenn wir einander den Rücken zuwandten, lag ich da mit wirren, verzweifelten Gedanken. Wenn er versuchte, mich zu berühren, erstarrte ich. Wie konnte er von mir erwarten, daß ich mit ihm schliefe? Wie konnte er mich berühren, als ob nichts geschehen sei? Gewöhnlich stieß ich ihn mit einem scharfen ›Nein, ich bin zu müde‹ fort. Manchmal war ich einverstanden. Gelegentlich tat ich es, weil ich es wollte. Doch gewöhnlich schlief ich mit ihm, weil ich mich verpflichtet fühlte, mich um seine sexuellen Bedürfnisse zu kümmern, und weil ich mich schuldig fühlte, wenn ich es nicht tat. In jedem Fall war Sex für mich körperlich und gefühlsmäßig unbefriedigend. Aber, so sagte ich mir, das ist mir egal. Es war gleichgültig. In Wirklichkeit natürlich nicht. Vor langer Zeit schon hatte ich mein sexuelles Verlangen abgestellt. Vor langer Zeit schon hatte ich mein Bedürfnis abgestellt, Liebe zu geben und zu nehmen. Ich hatte jenen Teil meines Ichs eingefroren, der fühlte und für mich sorgte. Das mußte ich tun, um zu überleben.
Ich hatte soviel von dieser Ehe erwartet. Ich hatte so viele Träume für uns gehabt. Keiner war Wirklichkeit geworden. Ich war betrugen und getäuscht geworden. Mein Heim und die Familie – der Ort und die Menschen, die eigentlich Wärme und Zuwendung spenden sollten, eine Stärkung, ein Hort der Liebe – waren zur Falle geworden. Und ich fand keinen Ausweg. Vielleicht, sagte ich mir ständig, wird es besser. Schließlich sind alle Probleme seine Schuld. Er ist Alkoholiker. Wenn es ihm besser geht, wird unsere Ehe besser werden.
Aber ich begann mich zu wundern. Seit sechs Monaten war er trocken und besuchte die Anonymen Alkoholiker. Ihm ging es besser. Mir nicht. War seine Genesung wirklich genug, um mich glücklich zu machen? Bisher schien seine Trockenheit meinen Gefühlszustand nicht zu ändern, und mit meinen 32 Jahren war ich ausgetrocknet, verbraucht und zerbrochen. Was war mit unserer Liebe geschehen? Was war mit mir geschehen?
Einen Monat später begann ich zu erahnen, was sich bald als Wahrheit erweisen sollte. In der Zwischenzeit hatte nur eines sich geändert: Ich fühlte mich noch schlechter. Mein Leben ließ sich nicht mehr meistern; ich wollte es beenden. Ich hatte keine Hoffnung mehr, daß sich etwas bessern würde; ich wußte nicht einmal, was falsch war. Ich hatte kein anderes Ziel, als für andere Menschen zu sorgen, und dabei leistete ich keine gute Arbeit. Ich klebte an der Vergangenheit und fürchtete mich vor der Zukunft. Gott schien mich verlassen zu haben. Ich fühlte mich die ganze Zeit über schuldig und überlegte, ob ich verrückt würde. Etwas Schreckliches, etwas Unerklärliches war mit mir geschehen. Es hatte sich in mich hineingefressen und mein Leben ruiniert. Irgendwie hatte sein Trinken schädlich auf mich eingewirkt, und die Art und Weise, wie diese schädliche Einwirkung erfolgte, war zu meinem Problem geworden. Es war nicht mehr wichtig, wessen Schuld es war.
Ich hatte die Kontrolle verloren.
Ich lernte Jessica zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens kennen. Sie mußte drei grundsätzliche Erkenntnisse machen.
Wenn Sie co-abhängig sind, müssen Sie Ihren eigenen Weg zur Genesung oder zum Heilungsprozeß suchen. Um mit dieser Genesung zu beginnen, ist es hilfreich, Co-Abhängigkeit und gewisse Angewohnheiten, Gefühle und Verhaltensweisen zu verstehen, die sie oft begleiten. Es ist auch wichtig, einige dieser Angewohnheiten und Verhaltensweisen zu ändern und zu verstehen, was während der Veränderung geschieht.
Dieses Buch will nach diesem Verständnis suchen und zu diesen Veränderungen ermutigen. Ich bin glücklich, sagen zu dürfen, daß Jessicas Geschichte ein glückliches Ende beziehungsweise einen neuen Anfang nahm. Es geht ihr besser. Sie begann ihr eigenes Leben zu leben. Ich hoffe, Sie tun es auch.
Wenn ich sage, ich bin co-abhängig,
dann meine ich nicht: ein bißchen co-abhängig.
Ich meine, ich bin wirklich co-abhängig.
Ich heirate keine Männer,
die nach der Arbeit ein paar Bierchen trinken.
Ich heirate Männer, die nicht arbeiten.
ELLEN, eine Al-Anon
Vielleicht konnten Sie sich mit Jessica aus dem letzten Kapitel identifizieren. Ihre Geschichte ist ein extremes Beispiel für Co-Abhängigkeit, aber ähnliche Berichte höre ich häufig. Jessicas Verhalten ist aber nicht die einzige Form von Co-Abhängigkeit. Es gibt viele Variationen dieses Themas. Hier einige andere Geschichten.
Gerald, ein gutaussehender, stattlicher Mann Anfang Vierzig, bezeichnet sich ›als erfolgreich im Geschäftsleben, aber als Versager in Beziehungen mit Frauen‹. Während der High School und auf dem College war Gerald mit vielen Frauen befreundet. Er war beliebt, und man hielt ihn für eine gute Partie. Doch nach seinem Abschluß überraschte Gerald seine Familie und Freunde, als er Rita heiratete. Rita behandelte Gerald schlechter als alle Frauen, mit denen er befreundet gewesen war. Sie verhielt sich Gerald und seinen Freunden gegenüber kühl und feindselig, teilte nur wenige Interessen mit ihm und schien ihn nicht besonders zu mögen oder sich um ihn zu kümmern. Dreizehn Jahre später endete die Ehe mit der Scheidung, da sich erwiesen hatte, was Gerald seit Jahren vermutete: Rita hatte sich seit Beginn ihrer Ehe mit anderen Männern getroffen und trieb Mißbrauch mit Alkohol und Drogen.
Gerald war völlig niedergeschlagen. Doch nachdem er etwa zwei Monate lang getrauert hatte, verliebte er sich stürmisch in eine andere Frau – in eine jener Alkoholikerinnen, die frühmorgens mit dem Trinken bis zur Bewußtlosigkeit beginnen. Nachdem er sich mehrere Monate lang um sie gesorgt hatte, versucht hatte, ihr zu helfen, versucht hatte, herauszufinden, ob er die Ursache für ihr Trinken war, versucht hatte, ihr Trinken zu kontrollieren, und schließlich böse auf sie wurde, weil sie mit dem Trinken nicht aufhören wollte, beendete Gerald die Beziehung. Er lernte bald eine andere Frau kennen, verliebte sich in sie und zog in ihr Apartment. Schon nach wenigen Monaten vermutete Gerald, daß auch sie suchtkrank war.
Gerald verbrachte bald den größten Teil seiner Zeit damit, sich um seine Freundin zu ängstigen. Er kontrollierte sie, durchwühlte ihre Handtasche nach Pillen oder anderen Beweisen ihrer Sucht und befragte sie nach allem, was sie tat. Manchmal leugnete er einfach, daß sie ein Problem hatte. In diesen Zeiten war er sehr beschäftigt, versuchte, das Zusammensein mit seiner Freundin zu genießen (obwohl er sich unwohl fühlte), und sagte sich: Es liegt eben an mir. Etwas stimmt mit mir nicht.
Während einer der vielen Krisen in dieser Beziehung, als Gerald sich vorübergehend nichts vormachte, ging er zu einer Suchtberatungsstelle, um sich Rat zu holen.
»Ich weiß, daß ich die Beziehung beenden sollte«, sagte Gerald, »aber ich bin dazu noch nicht bereit. Wir können über alles und jedes miteinander reden. Wir sind so gute Freunde. Und ich liebe sie. Warum? Warum passiert mir das immer wieder?
Zeigen Sie mir ein Zimmer voller Frauen, und ich verliebe mich in jene, die die meisten Probleme hat – in diejenige, die mich am schlimmsten behandeln wird. Offen gesagt, sie sind eine größere Herausforderung«, gestand Gerald. »Wenn eine Frau mich gut behandelt, stößt mich das ab.«
Gerald hielt sich selbst für einen, der in Gesellschaft trank, der aber als Folge seines Trinkens nie Probleme hatte. Gerald erzählte dem Berater, daß er nie Drogen genommen hatte. Geralds Bruder, der jetzt Ende Vierzig ist, war seit seiner Teenagerzeit Alkoholiker. Gerald leugnete, daß seine verstorbenen Eltern Alkoholiker gewesen waren, gab aber widerwillig zu, daß sein Vater ›zuviel getrunken‹ hatte.
Der Berater meinte, daß der Alkoholismus und das übermäßige Trinken bei Geralds nächsten Familienangehörigen sich noch immer auf ihn und seine Beziehungen auswirkten.
»Wie können deren Probleme mich beeinflussen?« fragte er. »Vater ist seit Jahren tot, und ich sehe meinen Bruder kaum.«
Nach einigen Beratungsstunden begann Gerald sich als co-abhängig zu bezeichnen, war sich aber nicht ganz sicher, was es bedeutete oder was er dagegen unternehmen könnte. Als Gerald über das derzeitige Problem seiner Beziehung weniger wütend war, brach er die Beratung ab. Gerald kam zu dem Schluß, daß die Drogenprobleme seiner Freundin nicht so schlimm seien. Er war davon überzeugt, daß seine Probleme mit Frauen einfach auf Pech zurückzuführen seien. Er hoffte, daß sich sein Pech eines Tages schon wenden würde.
Ist Geralds Problem Pech? Oder ist es Co-Abhängigkeit?
Patty war Mitte Dreißig und seit elf Jahren verheiratet, als sie bei einem privaten Therapeuten Hilfe suchte. Sie hatte drei Kinder, von denen das jüngste an Hirnlähmung litt. Patty hatte ihr Leben allein dem Ziel gewidmet, eine gute Frau und Mutter zu sein. Sie erzählte ihrem Therapeuten, daß sie ihre Kinder liebe und ihre Entscheidung, daheim zu bleiben und sie großzuziehen, nicht bedauere, aber den Alltagstrott hasse. Vor ihrer Heirat hatte sie viele Freunde und Hobbys gehabt, als Krankenschwester gearbeitet und war an allem interessiert. In den Jahren nach der Geburt ihrer Kinder jedoch, vor allem seit das behinderte Kind auf der Welt war, hatte sie ihren Lebensmut verloren. Sie hatte nur wenige Freunde, über 80 Pfund zugenommen, wußte nicht, was sie fühlte, und wenn sie etwas empfand, dann waren es Schuldgefühle, weil sie so wenig spürte. Sie erklärte, daß sie versucht habe, aktiv zu bleiben, indem sie ihren Freunden half und freiwillig für verschiedene Organisationen arbeitete, doch ihre Anstrengungen führten üblicherweise zu Gefühlen von Erfolglosigkeit und Ärger. Sie hatte überlegt, wieder berufstätig zu werden, es aber nicht getan, denn: »Ich verstehe nur etwas von Pflege, und ich bin es leid, mich um Menschen zu kümmern. Meine Familie und Freunde halten mich für einen Ausbund an Kraft. Die gute alte zuverlässige Patty! Immer da. Immer beherrscht. Immer bereit zu helfen. In Wahrheit«, sagte Patty, »breche ich zusammen, gerate ins Abseits, ganz unbemerkt, aber unaufhaltsam. Ich habe seit Jahren Depressionen, ich kann sie nicht abschütteln. Ich weine bei jeder Kleinigkeit. Ich habe keine Energie mehr. Ich schreie ständig die Kinder an. Ich habe kein Interesse mehr an Sex, zumindest nicht mit meinem Mann. Ich fühle mich dauernd wegen allem und jedem schuldig. Ich fühle mich sogar schuldig, weil ich zu Ihnen gekommen bin«, erzählte sie dem Berater. »Ich sollte meine Probleme selber lösen. Ich sollte einfach damit Schluß machen. Es ist lächerlich, Ihre Zeit und das Geld meines Mannes wegen meiner Probleme zu vergeuden, Probleme, die ich mir wahrscheinlich nur einbilde oder gewaltig übertreibe.
Aber ich mußte etwas tun«, gestand Patty. »In letzter Zeit habe ich an Selbstmord gedacht. Natürlich«, fügte sie hinzu, »würde ich mich nie wirklich umbringen. Zu viele Menschen brauchen mich. Zu viele Menschen verlassen sich auf mich. Ich würde sie im Stich lassen. Aber ich mache mir Sorgen. Ich habe Angst.«
Der Berater erfuhr von Pattys Kindern und der Hirnlähmung des jüngsten Kindes. Patty erzählte auch, daß ihr Mann vor ihrer Ehe Probleme mit Alkohol gehabt habe. Während der Ehe habe er weniger getrunken, immer dieselbe Arbeit gehabt und gut für die Familie gesorgt. Doch beim Nachfragen erzählte Patty ihrem Berater, daß ihr Mann nicht zu Meetings der Anonymen Alkoholiker oder anderen Hilfsgruppen gehe. Statt dessen lebe er monatelang abstinent, abgesehen von gelegentlichen Saufgelagen an Wochenenden. Wenn er trank, benahm er sich schrecklich. Wenn er nicht trank, war er mürrisch und abweisend.
»Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Er ist nicht mehr der Mann, den ich geheiratet habe. Was mich noch mehr erschreckt: daß ich nicht weiß, was mit mir passiert oder wer ich bin«, sagte Patty. »Es ist schwer zu erklären, wo genau das Problem liegt. Ich verstehe es selbst nicht. Es gibt kein großes Problem, auf das ich zeigen und von dem ich sagen könnte: Das läuft falsch. Aber mir ist, als hätte ich mich selbst verloren. Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt werde. Was stimmt bei mir nicht?« fragte Patty.
»Vielleicht ist Ihr Mann Alkoholiker, und Ihre Probleme werden durch den Alkoholmißbrauch in der Familie verursacht«, meinte der Berater.
»Wie kann das möglich sein?« fragte Patty. »Mein Mann trinkt nicht oft.«
Der Berater durchleuchtete Pattys Vergangenheit. Patty sprach voller Liebe von ihren Eltern und ihren beiden erwachsenen Brüdern. Sie kam aus einer guten Familie, die ein enges Verhältnis untereinander hatte und erfolgreich war.
Der Berater forschte weiter. Patty erwähnte, daß ihr Vater seit seiner Teenagerzeit zu den Anonymen Alkoholikern gegangen sei.
»Vater wurde trocken, als ich die High School besuchte«, sagte sie. »Ich liebe ihn wirklich und bin stolz auf ihn. Aber die Jahre, als er trank, waren für die Familie eine ziemlich schlimme Zeit.«
Patty war nicht nur mit jemandem verheiratet, der wahrscheinlich Alkoholiker war, sie war außerdem das, was man heute als erwachsenes Kind eines Alkoholikers bezeichnet. Die ganze Familie war durch den Alkoholmißbrauch des Vaters in Mitleidenschaft gezogen worden. Ihr Vater hatte mit dem Trinken aufgehört; ihre Mutter ging zu Al-Anon; das Familienleben verbesserte sich. Aber auch Patty war krank geworden. Erwartete man von ihr, daß sie einfach überwand, was auf sie eingewirkt hatte, nur weil der Vater mit dem Trinken aufgehört hatte?
Statt sie weiter zu beraten, empfahl Pattys Berater ihr verschiedene Seminare zur Stärkung des Selbstbewußtseins. Er riet ihr auch, Al-Anon-Meetings oder Meetings der erwachsenen Kinder von Alkoholikern zu besuchen, Selbsthilfegruppen, die sich auf der Basis der Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker gebildet haben.
Patty befolgte den Rat des Therapeuten. Sie fand keine Heilung über Nacht, aber im Lauf der Monate merkte sie, daß sie Entscheidungen leichter traf, Gefühle empfand und ausdrückte, sagte, was sie dachte, ihre Bedürfnisse beachtete und sich weniger schuldig fühlte. Sie wurde sich selbst und ihren Alltagspflichten gegenüber toleranter. Allmählich legten sich ihre Depressionen. Sie weinte weniger und lachte mehr. Ihre Energie und Lebenslust kehrten zurück. Zufällig schloß sich ihr Mann ohne Pattys Drängen den Anonymen Alkoholikern an. Er wurde weniger feindselig, und ihre Ehe besserte sich. Das Entscheidende aber war, daß Patty ihr Leben wieder meisterte. Ihr Leben funktionierte wieder.
Wenn man Patty heute fragt, was ihr Problem ist oder war, antwortet sie: »Ich bin co-abhängig.«
Klienten, die bei Beratungsstellen für geistige Gesundheit und Suchtberatungsstellen Hilfe suchen, sind nicht die einzigen Menschen, die unter Co-Abhängigkeit leiden. Randall war Suchtberater und genesender Alkoholiker, der bereits mehrere Jahre trocken war, als er feststellte, daß er Probleme hatte. Randall war ebenfalls erwachsenes Kind eines Alkoholikers; sein Vater und seine drei Brüder waren Alkoholiker. Als intelligenter, feinfühliger Mann, dem seine Arbeit Freude machte, war Randalls Problem seine Freizeit. Er verbrachte sie meistens geradezu besessen damit, sich über andere Menschen und ihre Probleme Sorgen zu machen. Manchmal versuchte er, das Durcheinander zu entwirren, das Alkoholiker geschaffen hatten; dann wieder wurde er böse auf die Alkoholiker, weil sie das Durcheinander schufen, zu dessen Beseitigung er sich verpflichtet fühlte; manchmal war er empört über Menschen, nicht unbedingt Alkoholiker, die aber in anderer Form Probleme hatten. Er tobte, fühlte sich schuldig und elend und von den Menschen ausgenutzt. Er fühlte sich ihnen jedoch selten nahe. Und er empfand selten Freude.
Viele Jahre lang glaubte Randall, es sei seine Aufgabe, sich um Menschen Sorgen zu machen und sich um ihre Probleme zu kümmern. Er nannte sein Verhalten Freundlichkeit, Fürsorge, Liebe und zuweilen gerechte Empörung. Jetzt, nachdem er Hilfe für sein Problem bekommen hat, nennt er es Co-Abhängigkeit.
Manchmal entwickelt sich co-abhängiges Verhalten einfach dadurch, eine gute Frau, Mutter, ein Gatte, Bruder oder Christ sein zu wollen. Marlyss, jetzt in den Vierzigern, ist eine attraktive Frau – wenn sie etwas für sich tut. Die meiste Zeit jedoch ist sie damit beschäftigt, sich um ihre fünf Kinder und ihren Mann zu kümmern, einen genesenden Alkoholiker. Sie hatte ihr Leben dafür geopfert, sie glücklich zu machen – doch ohne Erfolg. Gewöhnlich ist sie verärgert und sieht ihre Bemühungen nicht genügend gewürdigt, und ihre Familie ärgert sich über sie. Sie hat Sex mit ihrem Mann, wann immer er will, egal, wie sie sich fühlt. Sie gibt zuviel vom Haushaltsgeld der Familie für Spielzeug und Kleidung für die Kinder aus – alles, was sie haben wollen. Sie chauffiert sie, liest vor, kocht, putzt, liebkost und verhätschelt alle, aber niemand gibt ihr etwas. Meistens hört sie nicht einmal ein Dankeschön. Marlyss ärgert es, daß sie in ihrem Leben ständig gibt. Sie ärgert sich darüber, wie ihre Familie und deren Bedürfnisse ihr Leben beherrschen. Sie hat sich für einen Pflegeberuf entschieden, und auch das ärgert sie.
»Aber ich fühle mich schuldig, wenn ich nicht tue, was von mir gefordert wird. Ich fühle mich schuldig, wenn ich nicht nach meinen Maßstäben als Frau und Mutter lebe. Ich fühle mich schuldig, wenn ich nicht nach den Maßstäben lebe, die andere Menschen bei mir anlegen. Ich fühle mich ganz einfach schuldig«, sagte sie. »Tatsächlich«, fügte sie hinzu, »plane ich meinen Tag und setze meine Schwerpunkte nach Maßgabe dieser Schuld.«
Bedeutet endlose Sorge um andere Menschen, sich über sie zu ärgern und nichts dafür zu erwarten, daß Marlyss eine gute Frau und Mutter ist? Oder könnte es bedeuten, daß Marlyss co-abhängig ist?
Alkoholismus (oder Abhängigkeit) ist nicht das einzige Familienproblem, wodurch Co-Abhängigkeit entstehen kann. Alissa, Mutter von zwei Teenagern, arbeitete halbtags in einer Organisation für geistige Gesundheit, als sie zu einem Familienberater ging. (Zuvor hatte sie schon viele Familienberater aufgesucht, um Hilfe zu finden.) Sie ging zur Beratung, weil ihr ältestes Kind, ein vierzehnjähriger Junge, ständig Probleme verursachte. Er brannte durch, übertrat Ausgehverbote, schwänzte die Schule, mißachtete andere Familiengesetze und tat grundsätzlich immer, was er wollte.
»Dieses Kind«, erzählte Alissa dem Berater, »treibt mich noch zum Wahnsinn.«
Sie meinte das wirklich so. Sie war krank vor Sorge. An manchen Tagen war sie so deprimiert und angstbesessen, daß sie nicht aufstehen konnte. Alissa hatte alles nur Erdenkliche versucht, diesem Kind zu helfen. Sie hatte ihn dreimal in Behandlung geschickt, ihn in zwei verschiedene Pflegeheime gegeben und die ganze Familie von Berater zu Berater geschleppt. Alissa hatte auch anderes versucht: Sie hatte gedroht, geweint, geschrien und gebettelt. Sie hatte hart durchgegriffen und seinetwegen die Polizei gerufen. Sie hatte es mit Zärtlichkeit und Verzeihen versucht. Sie hatte sogar versucht, so zu tun, als ob er die Taten, die er begangen hatte, nicht begangen hätte. Sie hatte ihn ausgesperrt. Und sie war durch den halben Bundesstaat gereist, um ihn nach Hause zu holen, nachdem er durchgebrannt war. Obwohl ihre Bemühungen dem Sohn nicht geholfen hatten, war Alissa davon besessen, die einzig richtige Lösung zu finden, damit er ›seine Fehler einsehen‹ und sich ändern würde.
»Warum«, fragte sie den Berater, »tut er mir das an? Er macht weiter und ruiniert mein Leben.«
Der Berater stimmte zu, daß das Problem mit Alissas Sohn beunruhigend sei und daß etwas getan werden müsse. Aber der Berater sagte auch, daß das Problem nicht weiter bestehen und Alissas Leben ruinieren müsse.
»Sie sind nicht imstande gewesen, Ihren Sohn unter Kontrolle zu bringen, aber Sie können Kontrolle über sich selbst gewinnen«, sagte er. »Sie können mit Ihrer Co-Abhängigkeit fertig werden.«
Sheryl bezeichnet sich auch selbst als Co-Abhängige. Kurz nachdem sie den Mann ihrer Träume geheiratet hatte, fand sie sich in einem Alptraum wieder. Ihr Ehemann, stellte sie fest, war sexbesessen. In diesem Fall konnte er dem Drang nicht widerstehen, sich in Pornografie zu ergehen. Er unterhielt zwanghaft Affären mit anderen Frauen und mit – wie Sheryl es ausdrückte – »Gott allein weiß, wem und was sonst«. Sie erfuhr eine Woche nach ihrer Hochzeit, daß ihr Mann sexbesessen war, als sie ihn mit einer anderen Frau im Bett überraschte.
Sheryls erste Reaktion war Panik. Dann wurde sie wütend. Dann empfand sie Sorge – für ihren Mann und sein Problem. Ihre Freunde rieten ihr, ihn zu verlassen, aber sie beschloß, verheiratet zu bleiben. Er brauchte Hilfe. Er brauchte sie. Vielleicht würde er sich ändern. Außerdem war sie nicht bereit, ihren Traum von einer gemeinsamen rosigen Zukunft aufzugeben.
Ihr Mann schloß sich den Sex Addicts Anonymous an -vergleichbar den Anonymen Sexaholikern in Deutschland –, einer Zwölf-Schritte-Selbsthilfegruppe ähnlich den Anonymen Alkoholikern. Sheryl weigerte sich, sich den Co-SA (vergleichbar den Al-Anon) für Familienmitglieder von Sexaholikern anzuschließen. Sie wollte mit ihrem Problem nicht an die Öffentlichkeit treten; sie wollte nicht einmal privat darüber sprechen.
In einem Zeitraum von wenigen Monaten merkte Sheryl, die ein erfolgreiches Mannequin war, daß sie weniger Aufträge annahm, es ablehnte, abends mit Freundinnen auszugehen, und sich stets in der Nähe des Hauses aufhielt. Sie wollte ans Telefon gehen für den Fall, daß Frauen ihren Mann anriefen. Sie wollte zu Hause sein, um ihren Mann zu sehen, wenn er das Haus verließ und zurückkehrte. Sie wollte sehen, wie er aussah, wie er sich verhielt und wie er sprach. Sie wollte genau wissen, was er tat und mit wem er das tat. Sie rief oft seinen SA-Sponsor an, um sich zu beklagen, um zu berichten und sich nach den Fortschritten ihres Mannes zu erkundigen. Sie weigerte sich, so sagte sie, wieder betrogen und getäuscht zu werden.
Allmählich entfremdete sie sich von ihren Freunden und Aktivitäten. Sie war zum Arbeiten zu zermürbt; sie schämte sich zu sehr, um mit ihren Freunden zu reden. Ihr Mann hatte weitere Affären; ihre Freunde waren enttäuscht darüber, daß sie bei ihm blieb und ständig jammerte, wie schrecklich es sei, seine Frau zu sein.
»Ich konnte den Anblick meines Mannes nicht mehr ertragen. Ich hatte nichts mehr als Verachtung für ihn übrig. Und doch konnte ich mich nicht überwinden, ihn zu verlassen«, berichtete Sheryl später. »Ich konnte mich nicht zu mehr aufraffen, außer dazu, mir Sorgen um ihn zu machen und ihn zu kontrollieren. Die Wende kam in der Nacht, als ich ihn mit einem Hackmesser jagte«, sagte Sheryl. »Es war mein Tiefpunkt. Ich rannte schreiend und tobend durchs Haus, als ich mir zum ersten Mal meiner selbst bewußt wurde. Ich war wahnsinnig geworden. Ich war verrückt – völlig außer Kontrolle –, und er stand einfach da und schaute mich ruhig an. In dem Augenblick wußte ich, daß ich etwas tun mußte, um für mich Hilfe zu bekommen.«
Sheryl schloß sich kurz nach dem Zwischenfall der Co-SA an. Bei diesen Meetings begann sie, sich selbst und ihren Verlust der Beherrschung als Co-Abhängigkeit zu bezeichnen. Sheryl lebt jetzt von ihrem Mann getrennt und will die Scheidung. Sie fühlt sich wohler.
Obwohl die vorstehenden Beispiele dramatisch verliefen, muß sich Co-Abhängigkeit nicht notwendigerweise so intensiv bemerkbar machen. Und sie schließt auch nicht immer Erlebnisse mit Menschen ein, die große Probleme haben. Kristen ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder, und ihr ist nichts über Alkoholismus oder andere Suchtkrankheiten im engeren oder weiteren Familienkreis bekannt. Und doch bezeichnet sie sich als co-abhängig. Ihr Problem ist, so sagt sie, daß die Stimmungen anderer Leute ihre Gefühle beherrschen; und sie versucht umgekehrt, ihre Gefühle zu beherrschen.
»Wenn mein Mann glücklich ist und ich glaube, dafür verantwortlich zu sein, dann bin ich glücklich. Wenn er beunruhigt ist, fühle ich mich auch dafür verantwortlich. Ich bin dann ängstlich, fühle mich unwohl und beunruhigt, bis es ihm besser geht. Ich versuche, ihn dazu zu bringen, daß er sich wieder wohl fühlt. Ich fühle mich schuldig, wenn mir das nicht gelingt. Und er ist böse auf mich, weil ich es versuche.
Ich verhalte mich nicht nur bei ihm co-abhängig«, fügte sie hinzu, »es geht mir bei allen so: bei meinen Eltern, meinen Kindern, Gästen in meinem Haus. Irgendwie scheine ich mich in anderen Menschen zu verlieren. Ich werde in sie verstrickt.
Ich würde gern etwas dagegen tun – gegen diese Sache namens Co-Abhängigkeit –, bevor sie schlimmer wird. Ich bin nicht schrecklich unglücklich«, sagte sie, »aber ich möchte lernen, mich zu entspannen, und so beginnen, mich und andere Menschen zu genießen.«
Ein Geistlicher faßte den Zustand einmal so zusammen: »Manche Menschen sind wirklich co-abhängig, und manche von uns sind nur ein klein wenig co-abhängig.«
Ich habe diese Beispiele gewählt, weil sie interessant sind und unterschiedliche Erfahrungen vermitteln. Sie klären auch einen Punkt, der betont werden muß: Kein einziges Beispiel illustriert den typischen Co-Abhängigen beziehungsweise seine Erfahrung. Co-Abhängigkeit ist kompliziert. Menschen sind kompliziert. Jeder Mensch ist einzigartig, und die Situation jedes Menschen ist anders. Manche Menschen haben extrem schmerzliche und belastende Erfahrungen mit Co-Abhängigkeit gemacht. Andere nicht; sie sind nur schwach beeinflußt worden. Manchmal ist Co-Abhängigkeit die Reaktion einer Person auf den Alkoholismus einer anderen Person; manchmal ist sie es nicht. Jeder Co-Abhängige hat eine einzigartige Erfahrung, geboren aus seinen Umständen, seiner Geschichte und Persönlichkeit.
Doch ein gemeinsamer Faden läuft durch alle Geschichten der Co-Abhängigkeit. Er betrifft unsere Reaktionen auf andere Menschen. Er betrifft unsere Beziehung zu anderen Menschen, gleich ob sie Alkoholiker, Spieler, Sexaholiker, Eßsüchtige oder normale Menschen sind. Co-Abhängigkeit erwächst aus der Wirkung, die diese Menschen auf uns ausüben, und motiviert uns umgekehrt zu dem Versuch, auf sie einzuwirken.
Wie Al-Anon-Mitglieder sagen: »Identifizieren, nicht vergleichen.«
Hausaufgabe