Temple Grandin

 

Durch die gläserne Tür

 

 

Lebensbericht einer Autistin

 

 

 

 

Unter der Mitarbeit von Margaret M. Scariano

 

Aus dem amerikanischen von Manfred Jansen

 


Titel der amerikanischen Originalausgabe: Emergence: Labeled Autistic

Copyright © 1986 by Arena Press

This translation of Emergence: Labeled Autistic is published by arrangement with Academic Therapy Publications, Novato, California, USA

 

Copyright der deutschen eBook-Ausgabe © 2013 Verlag Rad und Soziales

www.autismus-buecher.de

 


 

Das Buch

Der große amerikanische Kinoerfolg „Rain Man“ erzählt die Geschichte des Autisten Raymond mit anrührender Unmittelbarkeit und unpathetischer Leichtigkeit. Ebenso eindringlich und geradeaus ist die Geschichte der Autistin Temple Grandin, die übrigens mithalf, „Rain Man“ - Hauptdarsteller Dustin Hoffman auf seine anspruchsvolle Rolle vorzubereiten. Aus ihrer außergewöhnlichen Perspektive schildert Temple Grandin ihren zähen Kampf gegen die bizarren Symptome des Autismus: etwa das Unvermögen, ihre Bewegungen zu kontrollieren, die Besessenheit mit einer Beschäftigung, ihre Geräuschempfindlichkeit, die Überreiztheit ihres Nervensystems überhaupt, oder ihre anfängliche totale Unfähigkeit, mittels Sprache oder auch nur Körperkontakt eine Verbindung zur Außenwelt herzustellen - obwohl sie gerade dies sehnlichst wünschte. Dass es ihr schließlich dennoch glückte, sich aus ihrem gläsernen Gefängnis zu befreien, verdankt sie ihrem eigenen Erfindungsreichtum: Sie konstruierte einen Apparat, mit dessen Hilfe sie körperliche Berührung zulassen, aber auch kontrollieren konnte.

Diese „Zaubermaschine“ wie auch die liebevolle Zuwendung einiger weniger Menschen öffneten ihr den Weg durch die gläserne Tür in die reale Welt.

 

Die Autorin

Temple Grandin ist heute eine weltweit anerkannte Spezialistin für den Entwurf und Bau von technischen Anlagen zur Viehhaltung. Sie erwarb einen Doktorgrad in Animal Science an der Universität von Illinois. Sie hält weltweit Vorträge zur Viehhaltung und zum Autismus und schrieb Hunderte von wissenschaftlichen Aufsätzen und mehrere Bücher über Autismus und Tierverhalten. Sie lebt in Fort Collins, Colorado.

 

 


 

 

Meiner Familie in Liebe gewidmet

 


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Vorwort

Die Lektüre dieses Buches ist wie ein Abenteuer. Es gibt kein Buch, das diesem auch nur annähernd gleichkäme.

Der Grund dafür ist sehr einfach. Die Autorin hat eine Geschichte zu erzählen, eine wahre Geschichte übrigens, die völlig aus dem Rahmen fällt und deshalb wohl von vielen als reine Erfindung abgetan werden wird. Doch die Geschichte ist wahr.

Es ist zwölf Jahre her, dass ich Temple Grandin (das ist ihr richtiger Name) kennenlernte. Sie hatte mich angerufen, weil sie mein Buch zum kindlichen Autismus gelesen hatte und mich besuchen wollte, um über bestimmte Aspekte mit mir zu sprechen. Sie sagte, sie sei Autistin, die ihre Psychose überwunden habe, und sie studiere jetzt Psychologie am College. Autismus ist in den vergangenen Jahren zu einem Modebegriff geworden und wird auf viel zu vieles angewendet. Nur bei etwa einem Viertel derjenigen, die mir erzählen, sie seien geheilte Autisten, scheint dies auch zuzutreffen.

Was nun Temple anging, so überzeugten mich ihre Stimme und ihre ungewöhnlich direkte Art davon, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine geheilte Autistin handelte - oder zumindest war sie gerade dabei, ihren Autismus in den Griff zu bekommen. Doch was sie da sagte, ließ mich zweifeln. Es gelingt nur sehr wenigen Autisten, überhaupt die High School, geschweige denn das College zu schaffen. Und wenn, dann belegen sie in der Regel Mathematik oder Statistik als Hauptfach, und nicht etwa Psychologie. Und hier war eine gewisse Temple Grandin am Telefon, die sich in den Kopf gesetzt hatte, auf eigene Faust eine fremde Stadt zu besuchen. Soviel Selbständigkeit ist bei Autisten etwas höchst Seltenes, ganz zu schweigen von der dazu nötigen persönlichen Initiative.

Als sie dann vor mir stand, eine große, schlaksige junge Dame, besessen von Berührungsapparaten und Viehpferchen (jawohl, Berührungsapparaten und Viehpferchen - vergewissern Sie sich selbst), war ich sofort davon überzeugt, dass ihre Selbstdiagnose zutraf. (Als ich mich dazu bereiterklärte, dieses Vorwort zu schreiben, wusste ich noch nicht, wie schwierig das sein würde. Es gibt so viel zu sagen, doch wenn ich das vorwegnähme, wurde ich zu viel von der Geschichte verraten und dem Leser die ganze Spannung nehmen.)

Ich war fasziniert von den Kindheitserinnerungen Temple Grandins, und ich glaube, dass es Ihnen genauso gehen wird. Auch beeindruckte mich ihre wissenschaftliche Arbeit. Sie lechzte nach Wissen, wie das zwar bei jedem Wissenschaftler der Fall ist, doch bei Temple war dieses Bedürfnis zusätzlich dadurch motiviert, dass sie auch sich selbst besser verstehen lernen wollte. Ihre Berufswahl beeindruckte mich sehr, und das Ansehen, das sie sich schon auf dem College erworben hatte, war enorm. Ein denkwürdiges Zusammentreffen.

Nachdem wir uns eine Zeitlang unterhalten hatten, luden meine Frau und ich Temple zum Mittagessen ein. Ihre laute, monotone Stimme (typisch für Autisten) zog verwirrte Blicke der anderen Gäste auf uns Daraufhin forderte ich sie mehrmals auf, doch etwas leiser zu sprechen, auch wenn ich sie damit unter Umständen beleidigte. Doch man höre und staune: Sie fühlte sich nicht im Mindesten vor den Kopf gestoßen! Wir saßen da einer jungen Frau gegenüber, die wusste, dass sie sich auffällig benahm und anders redete als andere Menschen - eben weil sie Autistin war. Doch sie nahm diese Dinge als selbstverständlich hin und betrachtete sie als überbrückbare Hindernisse, weniger als etwas, deswegen man befangen sein oder sich peinlich berührt fühlen müsse. Es ist genau diese Art von unbefangener Offenheit und rationaler Objektivität, die ihr Buch zu einer guten und informativen Lektüre werden lassen.

Es ist sehr angenehm, mit einem derart aufrichtigen Menschen zu tun zu haben, der nicht den geringsten Dünkel kennt.

Bei jenem Abschnitt meines Buches, der Temples Aufmerksamkeit erregt und sie veranlasst hatte, mich zu besuchen, handelt es sich um eine kurze Passage, in der ich meine Gedanken zu einem Problemkomplex darlege, der sich mit ungewöhnlichen Reaktionen autistischer Kinder auf Berührungsreize beschäftigt. Dieser Punkt war in der Fachliteratur bislang nicht beachtet worden. Wir wissen noch relativ wenig über dieses Phänomen, und es schien auch nicht der Rede wert zu sein, sieht man einmal davon ab, dass in sehr vielen Fallstudien kurz darauf hingewiesen wird. Ich schloss daraus, dass diesem Umstand - dem Einsatz von Berührungsreizen bei der therapeutischen Behandlung autistischer Kinder - eine wesentlich größere Bedeutung zukommen könnte, als man bisher erkannt hat. Wie sich herausstellte, hatte sich Temple aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte sehr für dieses Thema zu interessieren begonnen. Nun wollte sie wissen, ob ich seit der Veröffentlichung meines Buches mehr darüber in Erfahrung gebracht hätte. Meine Kenntnisse sind in der Tat vielfältiger geworden, wenn auch nicht in dem Umfang, den ich mir gewünscht hätte. Aber ich unterbreitete ihr dennoch meine Vorstellungen. Aus ihrem Buch geht hervor, dass sie diese Konzepte in hohem Maß weiterentwickelt hat.

Soweit ich weiß, handelt es sich bei dem vorliegenden Buch, das von einer Autistin verfasst wurde, die ihren Autismus weitgehend im Griff hat, um das erste seiner Art. Es ist ein aufregendes Buch. Der Leser nimmt Anteil an dem Abenteuer eines Kindes, das extrem behindert war und keine andere Chance zu haben schien, als in einer geschlossenen Anstalt zu enden. Aus dem Kind wurde eine energiegeladene und produktive junge Frau, die sich in ihrem Beruf zu einer weltweit geachteten Kapazität entwickelt hat. Die Geradlinigkeit Temple Grandins, mit der sie dem Leser ihre innersten Gefühle und Ängste mitteilt, verbunden mit ihrer Fähigkeit, geistige Entwicklungsprozesse zu erläutern, verschafft uns Einblicke in das Phänomen Autismus, die bislang nur wenigen vergönnt waren.

Ich habe sie vor kurzem erneut getroffen und mich mit ihr unterhalten, und zwar nachdem wir uns einige Jahre nicht gesehen hatten. Ich war sehr beeindruckt davon, dass sie heute wesentlich weniger autistisch klingt als zu der Zeit, als ich sie kennenlernte. Sie hat sich seitdem ständig weiterentwickelt. Sie hat es nicht nur in ihrem Beruf zu Ansehen gebracht, sondern auch in den Aufgaben, zu denen sie sich berufen fühlte und für die dieses Buch beredtes Zeugnis ist. Aber auch menschlich gesehen hat sie sehr viel erreicht. Man spürt den unbezwingbaren Geist, der zwischen den Zeilen dieses Buches steckt - und er erfüllt einen mit Stolz.

Bernard Rimland, Ph. D.

Institute for Child Behavior Research

San Diego, Kalifornien

 


 

Einleitung

Ich legte das Einladungsschreiben wieder weg und schenkte mir noch eine Tasse Tee ein. Die Mountain Country School in Vermont veranstaltete ein Klassentreffen. Der Kopf schwirrte mir vor Erinnerungen.

Die gute alte Mountain Country School … und Mr. Peters, der Gründer, den ich sehr schätzte. War diese Einladung ein Irrtum? Erinnerte man sich etwa nicht mehr an das „bizarre Kind“, an die „Nervensäge mit ihren Fixierungen“ oder an die “Verrückte, die die anderen Kinder verprügelte“?

Wie könnte das in Vergessenheit geraten sein? Ich war ja tatsächlich ein „bizarres“ Kind gewesen. Außerdem fing ich erst mit etwa dreieinhalb Jahren zu sprechen an. Bis dahin hatte meine Mitteilungsfähigkeit aus Kreischen, Piepsen und Summen bestanden. Man hatte mir den Stempel “autistisch“ aufgedrückt. lm Jahre 1943 prägte Kanner den Begriff „Autismus“, um damit die verschiedenartigsten Symptome zu charakterisieren. Einige Jahre später wurde ich als „autistisch“ bezeichnet.

Ich habe im Laufe der Jahre genug über Autismus gelesen, um zu wissen, dass es nach wie vor viele Eltern und natürlich auch viele Fachleute gibt, die der Meinung sind: einmal autistisch, immer autistisch. Dieses Urteil bedeutete für viele Kinder ein höchst betrübliches Leben, die wie ich schon sehr früh als autistisch diagnostiziert wurden. Für diese Menschen ist es völlig unbegreiflich, dass sich die Merkmale des Autismus modifizieren und in den Griff bekommen lassen. Ich bin entschieden der Meinung, dass ich ein lebender Beweis dafür bin. Und auch andere autistische Kinder haben diese Chance, besonders wenn sie vor der Vollendung des fünften Lebensjahres gewisse sprachliche Fähigkeiten entwickelt haben.

Ich bin mittlerweile Mitte Vierzig und gehöre zu den wenigen Spezialisten auf der Welt, die technische Anlagen zur Viehhaltung planen und entwerfen. Ich hatte Kunden auf der ganzen Welt, die bei mir um Rat nachfragen und die mich beauftragen, diese Anlagen für sie zu entwerfen. Ich schreibe regelmäßig Beiträge für die Fachblätter meines Berufszweigs und halte Vorträge auf Fachkongressen in ganz Amerika. 1988 habe ich an der University of Illinois in Urbana meine Doktorarbeit in Animal Science erfolgreich abgeschlossen. Ich führe ein normales und völlig unabhängiges Leben in gesicherten finanziellen Verhältnissen.

Wie ist es möglich, dass ein kleines Kind, dessen Eltern sich mit der Tatsache anfreunden mussten, dass es sein Leben in einer Anstalt würde fristen müssen, die Fachleute eines Besseren belehrte? Wie schafft es ein Kind, dem man den Stempel „autistisch“ aufgedrückt hatte, Fuß in der normalen Welt zu fassen? Ich habe zwar nach wie vor gewisse Probleme im Umgang mit anderen Menschen, aber ich stehe auf eigenen Füßen und komme mit dem Lehen zurecht.

Fragen wir uns zunächst einmal, was Autismus eigentlich ist.

Beim Autismus handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, um eine Beeinträchtigung jener Systeme, die sensorische Informationen weiterverarbeiten, und sie ist dafür verantwortlich, dass das Kind manchen Reizen gegenüber überempfindlich ist, während es auf andere gar nicht reagiert. Das autistische Kind zieht sich häufig aus seiner Umwelt und vor den Menschen aus seiner Umgebung zurück, um damit einer Reizüberflutung zu entgehen. Autismus bedeutet ein abnormes Verhalten in der Kindheit, wobei sich das Kind von zwischenmenschlichen Beziehungen abschottet. Ein solches Kind wendet sich nicht nach außen, um die Welt um sich herum zu entdecken, sondern verbleibt in seiner eigenen, inneren Welt. Wenn ich in den folgenden Kapiteln meine Kindheitserinnerungen niederschreibe, wird deutlich, wie überempfindlich ich auf Gerüche, Bewegungen und Geräusche reagierte, und das ist auch bei anderen autistischen Kindern der Fall. Schon die geringfügigsten Bewegungen genügten, um mich in Wiederholungszwang zu versetzen (ein Verhalten, bei dem jemand bestimmte Tätigkeiten nicht mehr beenden kann, auch wenn er das eigentlich möchte). Für die Erwachsenen in meiner Umgebung war dies eine harte Geduldsprobe.

Welches sind die Ursachen für Autismus? Die Antworten anerkannter Kapazitäten auf diese Frage gehen weit auseinander. Sind es neurologische oder physiologische Ursachen? Wird Autismus durch traumatische Erlebnisse in der Gebärmutter, aufgrund von Zurückweisung durch die Mutter oder durch einen Mangel an Spurenelementen verursacht? Geht Autismus mit Gehirnschädigung einher? Oder sind psychogene Vorgänge ausschlaggebend?

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich bestimmte Bereiche des Zentralnervensystems unter Umständen nicht richtig entwickeln. Aus irgendeinem bisher noch unbekannten Grund kommt es zwischen den vielen Millionen Nervenzellen, die sich im Gehirn heranbilden, zu falschen Verbindungen. Autopsien der Gehirne von Dyslexikern, deren Lese- und Schreibschwäche man mit dem Autismus in Beziehung setzen kann, weisen darauf hin, dass sich die Nervenzellen womöglich in die falsche Richtung entwickelt haben. Computertomographische Untersuchungen von Autisten deuten darauf hin, dass manche von ihnen Schädigungen während der neuronalen Entwicklung erlitten haben und dass bestimmte Bereiche des Gehirns überaktiv sind. Doch ganz gleich, um welche Form von Autismus es sich handelt, die Symptome sind stets die gleichen.

Diese Symptome scheinen bereits in den ersten Lebensmonaten aufzutreten. Das Kind reagiert nicht wie andere Babys. Es ist nicht taub, denn es reagiert auf Geräusche. Die Reaktionen des Kindes auf andere Sinnesreize sind schwer vorhersagbar. Der Geruch einer frisch geschnittenen Rose aus dem Garten kann beispielsweise einen Wutanfall hervorrufen oder bewirken, dass es sich in seine innere Welt zurückzieht. Andere Symptome für autistisches Verhalten sind das Vermeiden von Körperkontakt, das Fehlen vernünftiger sprachlicher Äußerungen, Wiederholungszwang, Wutanfälle, Empfindlichkeit gegenüber extrem lauten oder ungewöhnlichen Geräuschen sowie Mangel an emotionalen Kontakten mit anderen Menschen.

Was lässt sich nun dagegen tun? Sämtliche bekannten Behandlungsmethoden sind ausprobiert worden und zeitigten bis zu einem gewissen Grad Erfolg: sensorische Stimulation, Verhaltensmodifikation, Erziehung, medikamentöse Behandlung, Ernährungsumstellung und so weiter. Bei manchen Autisten spricht die eine Behandlungsmethode, bei anderen eine andere an. Manche Autisten bedürfen der lebenslangen Betreuung in geschlossenen Anstalten, da sie mit der Welt draußen nicht umgehen können oder weil sie gewalttätiges Verhalten zeigen.

Mein Leben ist anders verlaufen, so dass mein Beispiel Eltern und Fachleuten, die mit Autisten zu tun haben, Mut machen könnte. Wenn der eine oder andere Arzt die Aufzeichnungen meiner Mutter über mich durchgeht, so wird er vielleicht der Meinung sein, dass bei mir zuviel sogenanntes »normales« Verhalten zu beobachten sei und dass man bei mir eine Fehldiagnose gestellt habe. Marion Sigman und Peter Mundy vom UCLA in Los Angeles haben herausgefunden, dass autistische Kinder über mehr soziale Kompetenz verfügen, als gemeinhin erkannt wird. Vergleicht man beispielsweise autistische Kinder mit den entsprechenden Kontrollpersonen aus Gruppen mit normalen und mit zurückgebliebenen Kindern, so gehorchen autistische Kinder den Anweisungen ihrer Mütter genauso schnell wie die entsprechenden Kinder aus den beiden anderen Gruppen. Die Behauptung, ein autistisches Kind reagiere überhaupt nicht auf andere Menschen, ist schlichtweg falsch. Lorna Wing vom Londoner Institute of Psychiatry stellte fest, dass autistische Kinder in einer bestimmten Situation durchaus soziales Verhalten zeigen, in einer anderen jedoch nicht. Autistische Kinder unterscheiden sich in ihren Fähigkeiten, in ihrer Intelligenz, in ihren Vorlieben und Abneigungen und sozialen Umgangsformen genauso voneinander wie sogenannte normale Kinder. 1950 erhielt ich den Stempel »autistisch« und tastete mich allmählich von den dunklen Seiten des Lebens zu den lichteren vor.

Als ich dieses Buch schrieb, schickte ich erste Abzüge davon an zahlreiche Spezialisten für kindliche Entwicklung und Autismus. Die Reaktionen darauf waren sehr interessant. Manche Stellungnahmen lauteten lapidar: »Aber haben Sie denn nicht die Therapie XYZ gemacht? Das hätte Ihnen geholfen.« Das Problem besteht darin, dass vor vierzig Jahren, selbst wenn es die Therapie XYZ da schon gegeben hätte, nur wenige Fachleute davon gewusst hätten. Man sollte nicht vergessen, dass sogar der Begriff »Autismus« erst geprägt wurde, als ich noch ein kleines Kind war. Vieles von dem, was jetzt bekannt ist, war vor vierzig Jahren weder den Fachleuten, geschweige denn der Allgemeinheit überhaupt zugänglich.

Meine Kindheitserinnerungen sind heute für mich wie ein kostbarer Wandteppich. Bestimmte Muster habe ich nach wie vor deutlich vor Augen, während andere bereits ausgebleicht sind. Die Ereignisse, an die ich mich erinnere, veranschaulichen, auf welch faszinierende Art und Weise autistische Kinder auf die merkwürdige Welt um sie herum reagieren und wie sie diese wahrnehmen - eine Welt, in die irgendeine Art von Ordnung zu bringen sie verzweifelt versuchen.


Kindheitserinnerungen

Ich entsinne mich noch gut des Tages, an dem ich meine Mutter und meine jüngere Schwester Jean beinahe umgebracht hätte.

Meine Mutter hatte sich hinters Steuer gesetzt, drehte sich nun zu mir um und sagte: »Hier, dein Hut. Du möchtest doch bestimmt hübsch aussehen, wenn du zu deinem Sprachlehrer gehst, nicht wahr?« Sie stülpte mir den blauen Samthut bis über beide Ohren auf den Kopf, wandte sich nach vorne und ließ den Motor an.

Ich hatte das Gefühl, als würden meine Ohren zu einem einzigen riesigen Ohr zusammengequetscht. Das Hutband saß straff an meinem Kinn. Ich riss mir den Hut vom Kopf und brüllte los. Schreien war die einzige Möglichkeit, meiner Mutter klarzumachen, dass ich den Hut nicht aufhaben wollte. Er tat mir weh und zerdrückte mir das Haar. Ich konnte ihn nicht ausstehen und wollte ihn nicht tragen, wenn es in die »Sprechschule« ging.

An der Ampel drehte sich meine Mutter zu mir um und sah mich an. »Setz den Hut wieder auf«, befahl sie und fuhr auf die Schnellstraße.

Ich befingerte den mir Schmerzen bereitenden Hut und versuchte die Ränder des Gewebes wegzurubbeln. Ich summte tonlos vor mich hin und knetete endlos an der Kopfbedeckung herum, bis sie als unförmiger blauer Klumpen auf meinem Schoß lag. Irgendwie musste ich den Hut loswerden, also beschloss ich, ihn aus dem Fenster zu werfen. Mutter würde gar nichts davon mitbekommen, hatte sie doch auf den Verkehr zu achten. Doch ich war erst etwas über drei Jahre alt und konnte das Fenster nicht selbst nach unten kurbeln. Der Hut fühlte sich mittlerweile höchst unangenehm an, lauernd wie ein Ungeheuer lag er da. Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte ich mich nach vorne und schleuderte ihn aus Mutters Fenster.

Sie schrie auf. Ich hielt mir die Ohren zu, um diesen schmerzhaften Laut von mir fernzuhalten. Sie versuchte, den Hut zu erwischen, wobei der Wagen ins Schleudern geriet und wir uns plötzlich auf der Gegenfahrbahn befanden. Ich lehnte mich zurück und genoss das Schaukeln des Wagens. Jean saß auf dem Rücksitz neben mir und weinte. Ich sehe noch genau die Büsche und Sträucher vor mir, die entlang der Schnellstraße gepflanzt waren. Wenn ich die Augen schließe, kann ich die warmen Sonnenstrahlen spüren, wie sie durchs Fenster fluten, die Auspuffgase riechen, und ich sehe den roten Sattelschlepper immer näher kommen.

Mutter versuchte, das Steuerrad herumzureißen, doch es war zu spät. Ich hörte das knirschende Krachen aufeinanderprallenden Metalls und spürte einen heftigen Stoß, als wir den Sattelschlepper streiften und plötzlich zum Stehen kamen. Glassplitter regneten auf mich herab, und ich rief: »Eis, Eis, Eis«. Angst verspürte ich überhaupt nicht, alles war viel zu aufregend.

Unser Auto war auf der Seite eingedrückt. Es grenzte an ein Wunder, dass ich uns nicht ins Jenseits befördert hatte. Darüber hinaus war es ein Wunder, dass ich das Wort »Eis« deutlich und prägnant hatte aussprechen können. Das Sprechen war für mich als autistisches Kind eines der größten Probleme. Ich verstand zwar alles, was man zu mir sagte, doch ich konnte nur bedingt darauf reagieren. Ich versuchte es, doch in der Regel brachte ich nichts Vernünftiges zustande. Der Vergleich mit dem Stottern drängt sich auf: Es wollten einfach keine Wörter über meine Lippen kommen. Und dennoch gab es Situationen, in denen ich Begriffe wie »Eis« deutlich aussprechen konnte. So etwas ereignete sich häufig dann, wenn ich, wie bei dem Autounfall, unter Stress stand und die Blockaden überwunden wurden, die mich in der Regel am Sprechen hinderten.

Dies ist wahrlich ein verwirrender und frustrierender Aspekt des kindlichen Autismus, der die Erwachsenen zur Verzweiflung treibt. Die Menschen um mich herum fragten sich, warum ich in bestimmten Situationen sprechen konnte und in anderen nicht. Hatte ich einfach keine Lust, oder war ich gar ein verzogener Fratz? Spekulationen wie diese machten mir das Leben dann noch schwerer.

Vielleicht sind mir die Szenen aus meiner Kindheit deshalb in so lebendiger Erinnerung geblieben, weil ich nicht in der Lage war, vernünftig mit anderen zu kommunizieren, und weil ich mich in meine innere Welt zurückgezogen hatte. Wie ein Film laufen die Erinnerungen auf der großen Leinwand meines inneren Auges vor mir ab.

Meine Mutter war erst neunzehn, als sie mich zur Welt brachte, und sie sagte mir später, dass ich anfangs ein normales, gesundes Neugeborenes mit großen blauen Augen, fülligem braunem Haar und einem Grübchen am Kinn gewesen sei. Ein ruhiges, braves kleines Mädchen namens Temple.

Wenn ich mich an die ersten Tage und Wochen meines Lebens erinnern könnte, wäre mir dann damals schon bewusst gewesen, dass ich mich auf dem Weg in einen Abgrund der Einsamkeit befand? Abgesondert von meinen Mitmenschen wegen meiner Überreaktionen oder der unzureichenden Empfindungen meiner fünf Sinne? Wäre ich in der Lage gewesen, die Entfremdung zu spüren, mit der ich mich aufgrund einer vor der Geburt erlittenen Hirnverletzung auseinandersetzen musste? Ein Gehirnschaden, der erkennbar wurde, als sich mein Gehirn auszubilden begann?

Ich war sechs Monate alt, als meine Mutter feststellen musste, dass ich mich nicht knuddeln lassen wollte und erstarrte, wenn sie mich herumtrug. Als sie mich in den Arm nehmen wollte, reagierte ich wie ein gefangenes Tier und kratzte sie. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie nicht begriff, was in mir vorging, und sich aufgrund meiner ablehnenden Haltung verletzt fühlte. Sie hatte gesehen, wie andere Babys sich eng an ihre Mutter schmiegten und sich sichtlich zufrieden und aufgehoben fühlten. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was sie eigentlich falsch machte, schrieb es dann aber ihrer Jugend und Unerfahrenheit zu. Der Umgang mit einem - wie sich später herausstellte - autistischen Kind hatte etwas Beängstigendes für sie, da sie nicht wusste, wie sie mit einem Wesen zurechtkommen sollte, das ihr deutliche Ablehnung entgegenbrachte. Vielleicht war meine offenkundige Zurückweisung tatsächlich nichts Ungewöhnliches, dachte sie und achtete nicht weiter auf ihr ungutes Gefühl. Immerhin war ich ein gesundes Mädchen, wach und intelligent, das keinerlei Anzeichen von Koordinationsstörungen zeigte. Ich war das erste Kind, so dass meine Mutter auch den Eindruck gewann, meine Verweigerungshaltung könnte im Zuge meines Reifungsprozesses durchaus normal sein.

Zu dieser für autistische Kinder so charakteristischen Tendenz, Körperkontakt zu vermeiden, kamen in den folgenden Jahren weitere typische Verhaltensweisen eines Autisten hinzu: Fixierung auf sich drehende Gegenstände, der Wunsch, für sich zu bleiben, Zerstörungswut, Wutanfälle, Unfähigkeit zu sprechen, empfindliche Reaktionen auf plötzlich auftretende Geräusche, scheinbare Taubheit sowie großes Interesse an Gerüchen.

Ich war ein zerstörungswütiges Kind und bemalte mit Vorliebe die Wände, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern jedes Mal, wenn ich einen Bleistift oder Buntstift in die Finger bekam. Ich erinnere mich daran, wie man mir gehörig die Leviten las, weil ich auf den Teppich gepinkelt hatte. Beim nächsten Mal klemmte ich mir einfach den langen Vorhang zwischen die Beine. Ich dachte, der Vorhang würde schnell wieder trocken sein, ohne dass Mutter etwas bemerkte. Normale Kinder nehmen Ton zum Modellieren, ich benutzte meine Ausscheidungen und verteilte meine Schöpfungen dann im gesamten Zimmer. Ich zerkaute Puzzlespiele und spuckte den Brei aus Pappe dann auf den Boden. Außerdem wurde ich sehr leicht wütend, und wenn etwas Mal nicht nach meinem Kopf ging, warf ich alles durch die Gegend, was mir gerade in die Finger geriet. Das konnten eine wertvolle Vase sein oder eben meine eigenen Ausscheidungen. Ich kreischte pausenlos und wurde bei starkem Lärm gewalttätig, während ich manches Mal überhaupt nichts zu hören schien.

Als ich drei Jahre alt war, ging meine Mutter mit mir zum Neurologen, um mich untersuchen zu lassen, da ich anders war als die gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich war das älteste Kind der Familie, und keines meiner Geschwister verhielt sich so wie ich.

Das EEG und die Hörtests zeigten normale Ergebnisse. Man führte mit mir den sogenannten Rimland-Test durch, bei dem ein Ergebnis von zwanzig Punkten und mehr auf klassischen Autismus (Kanner-Syndrom) hindeutet. Ich erreichte nur neun Punkte (nur etwa zehn Prozent der als autistisch diagnostizierten Kinder entsprechen den sehr eng gefassten Definitionen des Kanner-Syndroms, da es stoffwechselbedingte Unterschiede zwischen dem Kanner-Syndrom und anderen Formen des Autismus gibt). Zwar waren meine Verhaltensmuster definitiv autistisch, doch die infantilen, aber nichtsdestoweniger sinnvollen Laute, die ich als Dreieinhalbjährige von mir gab, reduzierten meine Punktzahl auf der Rimland-Skala deutlich. Allerdings sorgt jede Form des Autismus sowohl bei Eltern als auch bei den betroffenen Kindern für Frustrationen. Nach der Untersuchung meinte der Arzt, dass bei mir keine physischen Schäden zu erkennen seien. Er schlug vor, mich in die Sprechtherapie zu schicken, um so meine Mängel im sprachlichen Ausdruck zu beseitigen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war sprachliche Verständigung für mich eine Sackgasse gewesen. Ich verstand zwar, was gesagt wurde, konnte aber nicht antworten. Ich vermochte nur zu kreischen und in die Hände zu klatschen. Das war alles. Meine Logopädin hieß Mrs. Reynolds, und ich habe sehr angenehme Erinnerungen an sie, abgesehen davon, dass sie einen Zeigestock benutzte. Vor diesem Ding hatte ich Angst. Es war spitzig und sah böse aus. Zu Hause hatte man mir eingebleut, nie mit einem spitzen Gegenstand auf jemanden zu zeigen. Man könnte demjenigen sonst das Auge ausstechen. Und jetzt richtete Mrs. Reynolds ihren Stock direkt auf mich! Voller Angst schrak ich zurück. Ich glaube nicht, dass sie jemals mein Entsetzen ermessen konnte, das ich beim Anblick dieses Stocks empfand. Plausibel machen konnte ich es ihr schon gar nicht. Trotz dieser negativen Erfahrung half mir Mrs. Reynolds. Bei ihr ging ich nämlich zum ersten Mal ans Telefon.

Mrs. Reynolds hatte für einen Augenblick das Zimmer verlassen, als plötzlich das Telefon läutete. Es läutete und läutete. Niemand ging hin. Aufgrund des Reiz- und Stresszustandes, in dem ich mich wegen des ständigen Klingelns befand, schien die Barriere meines üblicherweise in solchen Situationen zutage tretenden Stotterns durchbrochen zu werden. Schließlich rannte ich zum Apparat, nahm den Hörer ab und sagte »Hal-lo«. Alexander Graham Beils erstes Telefonat dürfte auch keine durchschlagendere Wirkung gehabt haben.

Meiner Mutter zufolge stand mir zunächst nur ein sehr begrenzter Wortschatz zur Verfügung, wobei ich die Wörter sehr stark in die Länge zog und beispielsweise »Bah« anstatt »Ball« sagte. Meine Äußerungen beschränkten sich auf einzelne Wörter wie »Eis«, »geh«, »mein«, »nein«. Für meine Mutter müssen meine Bemühungen etwas Wundervolles gehabt haben. Welch ein Schritt nach vorne, verglichen mit meinem Gepiepse, Gesumme und Gequietsche!

Meine Mutter machte sich jedoch nicht nur wegen meiner mangelnden Sprachkenntnisse Sorgen. Meine Stimme klang ziemlich flach, mein Tonfall war ohne Modulation oder Rhythmus. Schon allein dadurch unterschied ich mich von anderen Kindern. Meine Sprachentwicklungsverzögerung und die mangelhafte Modulation der Stimme brachten es mit sich, dass ich erst als erwachsene Frau anderen Menschen in die Augen schauen konnte. Ich erinnere mich gut daran, wie meine Mutter immer wieder zu mir sagte: »Temple, hörst du mir überhaupt zu? Schau mich an, wenn ich mit dir rede!« Das wollte ich manchmal auch, konnte es aber nicht.

Blitzschnelle Augenbewegungen - ein für viele autistische Kinder charakteristisches Merkmal - waren ein weiteres Symptom meines autistischen Verhaltens. Doch damit nicht genug: Ich war kaum an anderen Kindern interessiert, sondern lieber mit meiner inneren Welt beschäftigt. Ich konnte stundenlang am Strand sitzen, den Sand durch meine Finger rieseln lassen und Miniaturgebirge bauen. Jedes einzelne Sandkörnchen faszinierte mich, ich fühlte mich wie ein Wissenschaftler, der durch sein Mikroskop schaut. Ein anderes Mal betrachtete ich eingehend jede einzelne Linie meines Fingers und folgte ihr, als ob es sich um eine Straße auf einer Landkarte handeln würde.

Herumwirbeln war eine weitere meiner Lieblingsbeschäftigungen. Ich stellte mich mitten ins Zimmer und drehte mich um mich selbst, wobei sich das Zimmer mit mir drehte. Dieses Eigenreizverhalten erzeugte in mir ein Gefühl der Macht: Ich hatte die Dinge unter Kontrolle. Immerhin konnte ich ein ganzes Zimmer um mich herum tanzen lassen. Manchmal ließ ich auch die Welt herumwirbeln, indem ich mich mit der Schaukel im Garten so lange um die eigene Achse drehte, bis sich die Ketten aufgewickelt hatten. Dann setzte ich mich auf die Schaukel und schaute zu, wie sich die Ketten wieder abwickelten und Himmel und Erde sich drehten. Natürlich schaukeln auch nichtautistische Kinder gerne, aber der Unterschied besteht darin, dass das Schaukeln beim autistischen Kind zur zwanghaften Handlung wird.