Temple Grandin
Ich bin die Anthropologin auf dem Mars
Mein Leben als Autistin
Mit einem Vorwort von Oliver Sacks
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
Titel der amerikanischen Originalausgabe: THINKING IN PICTURES AND OTHER REPORTS FROM MY LIFE WITH AUTISM
Copyright © 1995 by Temple Grandin
Deutsche Übersetzung © 1997 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright der deutschen eBook-Ausgabe © Verlag Rad und Soziales
www.autismus-buecher.de
Das Buch
Als »Anthropologin auf dem Mars« bezeichnete sich die Autistin Temple Grandin in einem Gespräch mit Oliver Sacks - und wurde so zum Titel seines weltbekannten Buches. Hier beschreibt sie mit einer außergewöhnlich eindringlichen Sprache ihr Leben, das geprägt ist von der schmerzhaften Isolation durch ihr Anderssein. Der Leser erhält Zugang zu ihrer Bilderwelt und begreift mit fortschreitender Lektüre, dass Grandin den Autismus nicht beenden will, selbst wenn sie es könnte, da er »ein Teil dessen ist, was ich bin«.
»Es ist ein zutiefst bewegendes und faszinierendes Buch, weil es eine Brücke zwischen unserer und Temples Welt schlägt und uns einen Blick in einen ganz andersartigen Geist eröffnet.«
Oliver Sacks
Die Autorin
Temple Grandin ist Professorin für Tierverhalten an der University of Illinois und weltweit anerkannte Entwicklerin von Viehhaltungsanlagen. Sie hat sich außerdem durch Vorträge über Autismus einen Namen gemacht. Temple Grandin lebt in Fort Collins, Colorado.
Ich widme dieses Buch meiner Mutter.
Ihre Liebe, ihre Hingabe und Unverständnis
ermöglichten mir meine Erfolge.
Danksagungen
Ich möchte Diedra Enwright danken, die mein Manuskript getippt hat. Rosalie Winard danke ich für die Fotos. Und ich möchte meiner Lektorin Betsy Lerner dafür danken, dass sie geduldig war und mir half meine Gedanken zu ordnen.
Eine Abfolge und Ordnung herzustelle ist für einen visuell denkenden Menschen, bei dem Bilder die Gedanken ersetzen, schwierig. Ich bin ungeheuer dankbar für die wunderbare Unterstützung, die mir Dr. Oliver Sacks gab. Weitere Menschen, die dieses Projekt möglich machten, sind meine Agentin Pat Breinin und Brandon Saltz, Lektoratsassistent bei Doubleday. Schließlich möchte ich Mark Deesing, Mary Tanner und Julie Struthers für das Bibliographieren danken.
Inhaltsverzeichnis
im Jahr 1986 erschien ein außergewöhnliches, unvergleichliches und in gewisser Weise undenkbares Buch: Temple Grandins Emergence: Labeled Autistic (deutsch: Durch die gläserne Tür). Unvergleichlich, weil der Autismus nie zuvor »von innen geschildert« worden war; undenkbar, weil seit mehr als vierzig Jahren das medizinische Dogma galt, der Autist habe kein »inneres Leben«, und wenn doch, so werde es nie möglich sein, es von außen zu ergründen oder von innen auszudrücken; außergewöhnlich aufgrund seiner extremen (und wunderlichen) Direktheit und Klarheit. Temple Grandins Stimme kam aus einer Welt, die nie eine Stimme gehabt hatte, der nie zuvor eine wirkliche Existenz zugestanden worden war - und sie sprach nicht nur für sich selbst, sondern für Tausende andere, oft hochbegabte erwachsene Autisten, die unter uns leben. Sie enthüllte uns, dass es möglicherweise Menschen gibt, nicht weniger menschlich als wir, die sich fast unvorstellbar andersartige Welten aufbauen und ein unvorstellbar andersartiges Leben führen.
Der Begriff »Autismus« hat für die meisten Menschen immer noch eine endgültige und unausweichliche Bedeutung - sie sehen ein stummes und unzugängliches Kind, das hin und her wippt, schreit und von jedem Kontakt zu seinen Mitmenschen abgeschnitten ist. Und wir sprechen fast immer von autistischen Kindern, nie von autistischen Erwachsenen - als würden solche Kinder nie erwachsen werden oder als verschwänden sie irgendwie auf irgendeine mysteriöse Art vom Erdboden und aus unserer Mitte. Oder wir denken an ein autistisches »Genie«, an ein seltsames Wesen mit bizarrem Auftreten und stereotypen Verhaltensweisen, auch dieses vom normalen Leben abgeschnitten, doch mit einer unheimlichen Begabung für Rechnen, Zeichnen. Gedächtnisleistungen - also ein Autist mit Inselfähigkeiten von der Art des Rain Man im gleichnamigen Film. Dieses Bild ist nicht vollkommen falsch, aber es enthält uns vor, dass es Formen des Autismus gibt, die zwar mit einem erheblich von der »Normalität« abweichenden Denken und Wahrnehmen einhergehen können, den Autisten jedoch nicht umfassend behindern, sondern ihm (insbesondere, wenn er sehr intelligent ist, auf Verständnis stößt und geschult wird) ein erfülltes und erfolgreiches Leben erlauben und ihm darüber hinaus eine besondere Art von Klugheit und Mut verleihen.
Genau das erkannte Hans Asperger, der diese »höheren« Erscheinungsformen des Autismus im Jahr 1944 beschrieb (Kinderprobleme - Problemkinder. 4. Internationaler Kongress für Heilpädagogik, Wien 1969) - aber Aspergers Abhandlung wurde vierzig Jahre lang praktisch ignoriert. Dann, im Jahr 1986, tauchte Temples verblüffendes Buch auf. Ihr Fallbeispiel hatte nicht nur eine nachhaltige und heilsame Wirkung auf die medizinische und wissenschaftliche Einschätzung des Phänomens und ermöglichte - ja, erzwang - eine umfassendere und offenere Definition des Autismus. Das Buch war auch ein ausgesprochen berührendes menschliches Dokument.
Seit Temple ihr erstes Buch schrieb, sind zehn Jahre vergangen, zehn Jahre, in denen sie ihr seltsames, einzelgängerisches, halsstarriges, leidenschaftliches Leben weiterverfolgte - zehn Jahre, in denen sie ihren Platz als Universitätslehrerin für tierisches Verhalten und als Entwicklerin von Viehhaltungsanlagen fand.
Es waren zehn Jahre des Kampfes: ihres Kampfes dafür, den Tieren Verständnis und eine menschliche Behandlung angedeihen zu lassen, ihres Kampfes für ein besseres Verständnis des Autismus, ihres Kampfes mit der Kraft von Bildern und Worten, und nicht zuletzt ihres Kampfes darum, jene seltsame Spezies - uns - zu verstehen und ihren eigenen Wert und ihre Rolle in einer Welt zu definieren, die nicht autistisch ist. Und nun hat sie sich erneut auf das Abenteuer eines Buches eingelassen (in der Zwischenzeit hat sie ungezählte wissenschaftliche Abhandlungen und Vorträge verfasst) und schenkt uns mit Ich bin die Anthropologin auf dem Mars einen weiteren, sehr viel tiefgründigeren und zusammenhängenderen, erzählerischen Essay. Anhand dieses Berichts können wir verfolgen und nachvollziehen, was die Kindheit für Temple bedeutete. Wir erfahren von den überwältigenden Empfindungen von Geruch und Klang und Berührung, die sie nicht abschwächen konnte; von ihrem endlosen Wippen und Schreien in völliger Isolation von ihrer Umgebung; wir erfahren, wie sie in plötzlichen Wutanfällen mit Exkrementen um sich warf oder wie sie (in unheimlicher Konzentration und vollkommener Abschottung von der Welt) ihre Aufmerksamkeit stundenlang ein paar Sandkörnern oder den Mustern ihrer Fingerspitzen widmete. Wir spüren das Chaos und den Terror, die diese angsterfüllte Kindheit beherrschten, wir ahnen das in ihr aufkeimende Gefühl, sie könnte für ihr ganzes Leben eingesperrt, von Mauern umgeben bleiben. Wir können gemeinsam mit ihr nachvollziehen, wie sie die ersten bruchstückhaften Anfänge von Sprache erlebte, wir empfinden ihren Eindruck nach, die Sprache sei eine geradezu zauberhafte Kraft, die ihr die Möglichkeit eröffnete, eine gewisse Herrschaft über sich selbst zu erlangen, einen gewissen Kontakt mit anderen herzustellen und mit der Welt zu kommunizieren. Wir durchleben ihre Schultage mit ihr - ihre vollkommene Unfähigkeit, andere Kinder zu verstehen oder deren Verständnis zu gewinnen; ihre große Sehnsucht nach und ihre Angst vor Kontakt; ihre bizarren Tagträume - von einer Zaubermaschine, die ihr diesen Kontakt, dieses von ihr ersehnte »Anschmiegen« ermöglichen und ihr gleichzeitig die Kontrolle über dieses Gefühl geben würde; und wir sehen die Wirkung eines bemerkenswerten Lehrers, der in der Lage war, hinter all dem Bizarren, hinter all dem Pathologischen das ungewöhnliche Potential dieser seltsamen Schülerin zu erkennen und ihre Obsessionen in die Bahnen eines Lebens für die Wissenschaft zu lenken. Darüber hinaus können wir an Temples außergewöhnlicher Leidenschaft und an ihrem tiefen Verständnis für Rinder Anteil nehmen - wenn wir es auch nicht vollkommen verstehen können. Dieses Verständnis hat sie zu einer weltbekannten Expertin für die Psychologie und das Verhalten von Rindern gemacht, zu einer Erfinderin von Geräten und Anlagen für die Viehhaltung und zu einer leidenschaftlichen Verfechterin eines menschlichen Umgangs mit den Tieren. (Ursprünglich wollte sie diesem Buch den Titel A Cow’s Eye View geben). Und wir erhaschen einen kurzen Blick - das ist möglicherweise das am schwierigsten Vorstellbare - auf ihre völlige Verwirrung angesichts des Denkens anderer Menschen, auf ihre Unfähigkeit, die Ausdrücke und Absichten anderer zu enträtseln, auf ihre Entschlossenheit, die anderen, also uns und unser fremdartiges Verhalten, wissenschaftlich und systematisch zu studieren, ganz so, als wäre sie (dies sind ihre eigenen Worte) »eine Anthropologin auf dem Mars«.
All das ahnen wir trotz (oder vielleicht nicht zuletzt aufgrund) der berührenden Einfachheit und des Erfindungsreichtums ihrer Sprache, ihres eigenartigen Mangels sowohl an Zurückhaltung als auch an Unbescheidenheit, ihrer völligen Unfähigkeit, auszuweichen oder etwas zu verbergen.
Es ist faszinierend, Ich bin die Anthropologin auf dem. Mars und Durch die gläserne Tür zu vergleichen. Die zehn Jahre, die zwischen beiden Büchern liegen, waren Jahre wachsender beruflicher Anerkennung und Erfüllung für Temple - sie reist, berät, Temple romantisiert den Autismus nicht und spielt auch nicht herunter, wie sehr sie durch ihre Behinderung vom sozialen Leben, von Freude, Erfolgen, Freundschaften ausgeschlossen wurde, die für uns andere das Wesen des Lebens ausmachen. Aber sie ist sich ihres eigenen Daseins und ihres Werts deutlich und positiv bewusst, und sie hat einen ausgeprägten Sinn dafür, wie der Autismus paradoxerweise zu diesem Wert beigetragen haben dürfte. Vor kurzem beendete sie einen Vortrag mit den Worten: »Könnte ich mit einem Fingerschnippen meinen Autismus beheben. so würde ich es nicht tun - denn dann wäre ich nicht mehr ich. Der Autismus ist ein Teil dessen, was ich bin.« Temple mag sich grundlegend von den meisten von uns unterscheiden, aber das macht sie nicht weniger menschlich, sondern eher auf eine andere Art menschlich. Ich hin die Anthropologin auf dem Mars ist letzten Endes ebenso eine Untersuchung über die Identität, über das »Wer« eines hochbegabten autistischen Menschen, wie das Buch eine Studie über das »Was« ist. Es ist ein zutiefst bewegendes und faszinierendes Buch, weil es eine Brücke zwischen unserer und Temples Welt schlägt und uns Zugang zu einem völlig andersartigen menschlichen Geist gibt.