Peter Smolka

 

 

Westafrika

mit dem Fahrrad

 

 

Mit dem Rad durch Marokko, Mauretanien, Senegal, Mali, Burkina Faso und Togo

 

 

 

 

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 Verlag Rad und Soziales www.radtouren4u.de

 

Bis 2017 ist Peter Smolka auf einer Weltreise mit dem Rad unterwegs.

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www.tour-de-friends.de


Das Buch

Marokko, Mauretanien, Senegal, Mali, Burkina Faso und Togo sind die Stationen, die Peter Smolka auf dem schmalen Reifen seines Fahrrades in zweifacher Hinsicht „erfuhr“: Auf Straßen und Wegen, die durch Sonne und Sand mitunter zur Strapaze wurden, und in intensivem Kontakt zu Land und Leuten, der einem Entspannung suchenden Pauschaltouristen normalerweise verschlossen bleibt.

Außergewöhnliche Erlebnisse und Erfahrungen der Tour, reichhaltige, aufschlussreiche Beschreibungen von Freud und Leid des Alltags im Armenhaus des afrikanischen Kontinents fügen sich zu einem gleichermaßen fesselnden wie informativen Gesamtbild zusammen.

Auf den Spuren de Westafrika-Radtour erschließt sich dem Leser in dieser vitalen Reiseschilderung ein Teil des Schwarzen Kontinents in seiner nackten Realität.

Die vorliegende, gelungene Mischung aus Spannung und Sachinformation ist Garant für pures Lesevergnügen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wohin die nächste Reise führt.

 

 

Der Autor

Geboren in den 60er-Jahren in Osterode/Harz und aufgewachsen in Hildesheim. Studium der Informatik von 1982 - 1990 in Erlangen (unterbrochen von eingeschobenen Fahrradreisen).

Seit 1991 (mit Unterbrechungen) als Entwicklungsingenieur bei Philips und Siemens tätig.

Interessen neben dem Radreisen: Volleyball, Fotografieren und Reisereportagen.

Aktuelles unter www.tour-de-friends.de

 

Die Strecke

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 


 

 

Vorwort

 

Eva war an allem schuld. Sie wollte fort aus Erlangen, für zwei Monate irgendwohin, wo niemand sie kennt, wo sie niemanden kennt, wo sie sich ihre Selbständigkeit beweisen kann. Eine Kamikaze-Aktion, wenn sie mich gefragt hätte. Aber sie fragte mich ja nicht - sie sagte es mir.

Das war im November 1987. Wir hatten uns ein paar Wochen zuvor erst kennengelernt und waren gerade in der Testphase, ob es mit uns wohl klappen könnte. Es sah nicht gut aus! Während ihres Robinson-Aufenthaltes, den sie im Frühjahr '88 in Hamburg anzutreten gedachte, sollte auch ich ihr fernbleiben. So war sicherlich eine gewaltige Portion Trotz dabei, als ich beschloss: Soll sie ihren Abenteuerurlaub in Deutschland machen - ich mache ihn im Ausland.

Den Termin hatte Eva mit ihren Plänen festgelegt, das Fahrrad stand als Transportmittel von Anfang an fest - es fehlte also nur noch ein Reiseziel. Doch das war vorerst unwichtig, denn die Vorbereitungen wollte ich ohnehin auf das Wichtigste beschränken; nur keinen bis ins kleinste Detail vorausgeplanten Trip, auf gar keinen Fall etwa eine genaue Routenplanung mit festgelegten Etappenzielen. So hielt ich es auch schon bei früheren Radtouren. Die letzte lag genau zwei Jahre zurück und hatte mich durch den Balkan und den Nahen Osten (der so nah übrigens gar nicht ist) nach Ägypten geführt. Damals hing die Reise vom erfolgreichen Abschluss dreier Prüfungen an der Uni ab, und erst zehn Tage vor dem Aufbruch wusste ich, dass ich tatsächlich starten würde.

 

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(Very-)Smalltalk. Der Kontakt zu den Einheimischen macht die Reise auch dann interessant, wenn das Gespräch nur mit Händen und Füßen geführt wird: Hier geht es um den Preis für einen halben Liter Milch.

 

Irgendwann kam mir der Iran in den Sinn, Ziel Teheran. Anfängliche Sorgen, die Beschaffung des Visums könnte Schwierigkeiten machen, weil zu dieser Zeit noch der Golfkrieg tobte, zerstreute die iranische Botschaft in Bonn. Dort gab man sich gelassen: "Natürlich werden Touristenvisa ausgegeben." - Und was für mich überhaupt nicht selbstverständlich war, schien für die persischen Diplomaten genauso wenig ein Problem zu sein: "Natürlich können Sie auch auf dem Landweg und mit einem Fahrrad einreisen."

Anfang 1988 verschärfte sich die Situation durch den Städtekrieg zwischen Bagdad und Teheran jedoch dramatisch. Zwar beteuerte die iranische Botschaft auf meine Anfragen, es sei nach wie vor möglich, als Tourist einzureisen, aber mein persischer Freund Modji, der ebenfalls regelmäßig bei der Botschaft anrief, bekam ganz andere Töne zu hören: "Was will der Verrückte denn dort? Zurzeit fliegen nicht einmal Iraner nach Teheran!"

Ende März gab ich das "Unternehmen Teheran" wieder auf.

Meine Gedanken wanderten nun nach Afrika. Ägypten hatte ich ja schon gesehen, interessant wäre sicher auch der Westen. - Das war es: Westafrika!

Dass eine Radreise nach Westafrika freilich länger dauern würde als ein Trip nach Persien, war dabei nicht weiter schlimm. Ich musste die Tour nicht mehr auf zwei Monate begrenzen, es durften nun ruhig drei oder vier werden. Denn seit Dezember schon war Eva weg. Noch nicht in Hamburg - aber mit ihren Gefühlen für mich.

Am Starttermin Anfang Juni wollte ich trotzdem festhalten, da er gut in meinen Studienplan hineinpasste. Somit reichte die Zeit gerade noch für die wichtigsten Impfungen und dazu, ein paar Informationen über Westafrika zu sammeln. Aus Reiseführern erfuhr ich unter anderem, dass ich zur wohl ungünstigsten Zeit die Savannenländer südlich der Sahara erreichen würde, zur Regenzeit nämlich, der Saison, in der die Straßen überflutet sind und dem Europäer wegen des "nicht auszuhaltenden Treibhausklimas" von der Reise abgeraten wird. Doch das bereitete mir keine allzu großen Kopfzerbrechen - geschwitzt hatte ich auch schon im ägyptischen Sommer, und was "Regen" sein kann, wusste ich eben noch nicht. Die Regenzeit mit ihren unangenehmen Überraschungen war es aber schließlich, die mir so manchen Reisetag schwermachen sollte.

Eine erste Überraschung gab es schon kurz vor meinem Aufbruch zuhause. Da meldete man sich von höchstoffizieller Seite...

 

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Farbenpracht Afrikas.

 

 

Anruf

 

Das Telefon läutete.

"Hier ist die Bayerische Staatskanzlei. Sind Sie Peter Smolka?"

Ich erschrak. Wer hat schon ein so lupenreines Gewissen, dass er sich ständig frei von jeglicher Schuld fühlt und nicht unsicher wird, wenn man ihn so direkt nach seiner Identität fragt? Vielleicht ist man ja irgendwo zu schnell gefahren oder hat eine Parkuhr nicht genügend gefüttert. - Aber seit wann schaltet sich die Staatskanzlei bei solchen Lappalien ein? Ist sie überhaupt für solche Dinge zuständig? - Unsinn! Die haben sicher Wichtigeres zu tun als mit jedem Verkehrssünder persönlich Kontakt aufzunehmen.

"Ja", antwortete ich, trotzdem etwas unruhig, "der bin ich."

"Sie wollen doch mit dem Fahrrad nach Togo. Uns liegt hier ein Schreiben des Ministerpräsidenten vor, das Sie mitnehmen sollen."

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meinen Vorstoß in die Höhle des Bayerischen Löwen hatte ich längst vergessen, weil er schon Wochen zurücklag und eigentlich keine Reaktion mehr zu erwarten war. Und dass die Staatskanzlei ihre Finger mit im Spiel haben würde, war mir auch nicht klar gewesen. Den Brief, der mein Vorhaben ankündigte, hatte ich einfach nur an "Franz Josef Strauß - 8000 München" adressiert.

Nachdem der Iran wegen der eskalierenden Kriegssituation als Reiseziel nicht mehr zur Debatte stand, war die Westafrika-Idee in immer konkreteren Formen in den Vordergrund gerückt. Als dann mein Finger auf der Landkarte Senegal, Mali, die Elfenbeinküste und Ghana durchquert hatte, stand er an der Grenze zu Togo, dem kleinen Land am Golf von Guinea, das mit Deutschland durch eine gemeinsame Vergangenheit verbunden ist. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Deutschland den Häuptlingen an der Küste als Schutzmacht angeboten und entsprechende Verträge geschlossen, die sich allerdings 30 Jahre später mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ohne Zutun der Vertragspartner von selbst auflösten. Dennoch - das war mir bekannt - bestehen auch heute noch gute Beziehungen zwischen dem afrikanischen Land und der Bundesrepublik; insbesondere Bayern pflegt die Kontakte durch gelegentliche gegenseitige Besuche. Deshalb hatte ich Herrn Strauß gebeten, ein offizielles Schreiben für mich zu verfassen.

"An wen ist der Brief gerichtet?" wollte ich wissen.

"Er ist für ganz Westafrika als allgemeines Empfehlungsschreiben gehalten und in französischer Sprache verfasst - für den Fall, dass Sie irgendwo Probleme bekommen", sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. "Die Frage ist jetzt nur noch, wie Sie ihn erhalten."

"Am besten, man macht es ganz stilecht: Ich hole ihn per Rad aus München ab."

"Wann würde es Ihnen denn passen?"

"Sagen wir ..." - ich schätzte die Zeit ab, die ich für die letzten Vorbereitungen noch brauchen würde - "... Montag, den 6. Juni."

"Der Termin passt uns nicht sehr gut. Montag und Dienstag ist Ministerpräsident Gandhi in München zu Besuch, da wird bei uns ziemlich viel los sein."

Montag und Dienstag der indische Ministerpräsident zu Gast in der Staatskanzlei, am Mittwoch der Erlanger Informatikstudent, das müsste doch gehen: "Wie wär's dann am 8. Juni?"

"Gut, Sie kommen also mit dem Fahrrad hierher. Und wenn es aus irgendeinem Grund nicht klappt, schicken wir Ihnen das Empfehlungsschreiben mit der Post zu. Auf Wiedersehen."

Eines war sicher: Sollte bereits die Fahrt von Erlangen in die bayerische Landeshauptstadt scheitern, brauchte ich mich auf den Weg nach Westafrika erst gar nicht zu machen.


 

Ein Kontinent ist zu Ende

 

Öde ist die Landschaft um mich herum. Fast wüstenhaft, kaum eine Pflanze gedeiht. Das schwarze Asphaltband unter mir zieht sich monoton dahin.

Ein breites Flussbett lässt vermuten, dass es hier wenigstens im Winter Wasser gegeben hat und dass es im nächsten Winter wohl wieder Wasser geben wird. Dann wird es vielleicht grün sein in der Sierra Nevada.

Aber jetzt ist Sommer, der Juni geht zu Ende. Das Flussbett ist ausgetrocknet, der Rio Andarrax führt nicht einen Tropfen Wasser. Zahlreiche Auto- und Lastwagenspuren ziehen sich durch sein Mini-Cañon - sie zeugen von einer anhaltenden Trockenperiode. Der grellste Farbtupfer in dieser eintönigen Szenerie ist ein gänzlich verrostetes Auto, das vor etlichen Jahren aufgegeben und dann nie wieder berührt worden zu sein scheint.

 

Ein Tag ist vergangen, seit ich die Mittelmeerküste bei Alicante verlassen habe, um den Weg ein kleines Stückchen landeinwärts abzukürzen. Seit einem Tag sehe ich, dass das wirkliche Spanien nichts mit dem Reichtum zu tun hat, den Touristenstädte wie Calpe oder Benidorm vorgaukeln. Rasch wurden im Hinterland die protzenden Hotelburgen der Küste von einfachen Bauernhäusern und baufälligen Hütten abgelöst - ich näherte mich Andalusien.

Auf diese südlichste spanische Provinz hatte mich schon Cristina vorbereitet, ein Mädchen aus Tarragona in Catalonien. "Andalusien", sagte sie, "ist arm." Und obwohl sie leidenschaftliche Befürworterin einer Abtrennung Cataloniens von Spanien war, schien sie sich mit den Leuten im Süden ein wenig verbunden zu fühlen. Um mir einen Eindruck von der Armut der Menschen zu geben und mich auf mögliche Gefahren im Süden hinzuweisen, fragte sie mich direkt: "Was würdest du machen, wenn du fünf Kinder ernähren müsstest, aber dein Geld nicht reicht? Dann würdest du auch stehlen und rauben!" - Ich antwortete nicht auf ihre Frage, sondern dachte nur bei mir: "So arm?"

Gestern dann hinter Lorca dieses Schild: "Andalusien". Schlagartig wurde die Straße schlechter. Plötzlich fiel mir auch auf, wie eintönig die Landschaft war. Die üppig grünen Obstplantagen um Valencia lagen weit zurück.

"Andalusien" - das klang jetzt wie eine Drohung!

 

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Reich sind hier nur die Toten – ein Friedhof in Andalusien.

 

Doch die Menschen blieben harmlos. Wohl musste ich in den Geschäften das Wechselgeld, das mir stumme Verkäuferinnen zurückgaben, gut nachzählen, denn wenn sie sich verrechneten, dann stets zu meinen Ungunsten. Aber aggressive Leute begegneten mir nicht. Im Gegenteil - die Bewohner wirkten eher scheu, sie lebten zurückgezogen in kleinen Ortschaften, die weit versprenkelt in den kargen Bergen lagen. Was ich bisher von Andalusien sah, war einsame, immer öder werdende Landschaft. Und dieses herbe Antlitz gipfelte nun in einem wüstenartigen Erscheinungsbild.

 

Zwei Stunden später ist der ganze Spuk vorüber, mit der Annäherung an das Mittelmeer gewinnt das Grün in der Natur mehr und mehr die Oberhand. Bei Almeria gibt es endlich ein Wiedersehen mit der Küste. Die Spanier nennen sie die "Costa del Sol", eine Bezeichnung, die sie wohl zu recht trägt - den ganzen Tag ist keine Wolke am Himmel zu sehen. Ich hätte sie allerdings "Küste des Windes" getauft, denn hier beginnt plötzlich jemand, mit unglaublichen Kräften gegen mich zu kämpfen, ein Sturm, wie ich ihn bisher auf noch keiner Radtour erlebt habe.

Nach einer Weile erkenne ich eine Regelmäßigkeit in der Taktik, die der Wind auf der bergigen und kurvenreichen Küstenstraße gegen mich anwendet: Vor den Rechtskehren, den zum Meer gerichteten, lässt er mir Ruhe, schiebt mich scheinheiliger Weise sogar noch ein wenig vorwärts, schon im nächsten Moment, im Scheitelpunkt der Kurve, stemmt er sich mir entgegen und versucht mit aller Kraft, mir den Lenker aus der Hand zu winden oder mich gar umzuwerfen. Doch das Wissen um dieses heimtückische Vorgehen nutzt mir nicht sehr viel. Nun nähere ich mich zwar den gefährlichen Kurven nur noch langsam, als warte ein bissiger Hund dahinter, doch was mein unsichtbarer Gegner mit mir vorhat, weiß ich nicht. Mal stoppt er mich - einmal schiebt er mich sogar wieder zurück, dass ich nur mit Mühe einen Sturz vermeiden kann - mal reißt er den Lenker gewaltsam nach rechts, mal zerrt er ihn nach links. Manchmal fahre ich eineinhalb Meter auf die Fahrbahnmitte zu - ich bin nicht mehr der Herr über mein Fahrzeug. Wäre die Straße zwischen Almeria und Malaga nicht so wenig befahren und nicht so breit, ich könnte meine Reise an dieser Stelle nicht fortsetzen, es wäre lebensgefährlich.

Im nächsten Ort will ich mich nach der Häufigkeit solcher Winde erkundigen. Zwar spricht niemand Englisch, aber man gibt sich große Mühe, mich zu verstehen. Überhaupt sind die Menschen hier wieder sehr freundlich. Sie scheinen genau die richtige Portion Tourismus abzubekommen: nicht so viel, dass sie den Besucher als gefühllose, wandelnde Geldbörse ansehen, der nur eines im Sinn hat, nämlich das Geldausgeben, aber auch nicht so wenig, dass sie neidisch nach Catalonien und Valencia blicken müssen und in dem durchreisenden Touristen Laufkundschaft erkennen, die sie übers Ohr hauen können, wie dies zwischen Alicante und Almeria geschieht. Trotz der Sprachbarriere bemühen sich die Einheimischen an der Südküste also, mein Problem zu klären. Durch kräftiges Pusten versuche ich klarzumachen, dass der Wind mich interessiert - sie verstehen es: "Viento".

Ich krame die wenigen Brocken Spanisch hervor:

"Todo el año?" - "Das ganze Jahr über?"

"No."

"Todo el dia?" - "Den ganzen Tag lang?"

"Si."

"Toda la costa?" - "An der ganzen Küste?"

"Si."

"También mañana?" - "Auch morgen?"

Die Frau, die mir antwortet, zuckt mit den Schultern: vielleicht ja, vielleicht auch nicht.

Das ist meine einzige Hoffnung, als ich an diesem Abend entnervt in den Schlafsack krieche: dass am nächsten Morgen, wenn es hell wird, kein Lüftchen geht - als hätte es diesen fürchterlichen Sturm nie gegeben.

 

Ganz windstill präsentiert sich der nächste Tag zwar nicht, aber der Wind bleibt vergleichsweise schwach. Die Fahrt geht recht zügig voran. Zudem gleicht die Straße nicht länger einer Achterbahn, denn zwischen dem Meer und den Bergen der Sierras mit ihren vielen Namen erstreckt sich nun ein Saum mit sanften Hügeln. Dies ist die Costa del Sol, die der Massen-Tourismus kennt. Malaga erinnert ein wenig an Benidorm. Auf den Straßen ein Chaos, aus dem mich nur die Stadtautobahn herausrettet. 60 Kilometer weiter erinnert Marbella an Malaga. Doch danach wird es wieder ruhiger.

Am späten Nachmittag rückt schließlich in der Ferne ein Felsen näher. Eher unauffällig hat er sich in das Landschaftsbild eingeschlichen. Dabei ist es nicht irgendein Felsen - es ist der Felsen: Gibraltar!

 

Ich bin am Ende unseres Kontinents. Afrika liegt vor mir, von Gibraltar aus werde ich es sehen können. Dann werde ich auf Europa zurückblicken, auf 3.000 Kilometer, von denen ich jeden Meter aus eigener Kraft bewältigt habe. - Es herrschen um die 30 Grad im Schatten, ich radle durch die pralle Sonne - aber bei diesen Gedanken überkommt mich eine Gänsehaut.


 

Der Affenfelsen

 

Eineinhalb Monate lag der Anruf der Staatskanzlei nun zurück. Die drei Wochen vor dem Start hatten die letzten Vorbereitungen ausgefüllt: Es galt, einige Veränderungen am Fahrrad vorzunehmen, die Ausrüstung zu vervollständigen und wenigstens die wichtigsten Informationen über Westafrika einzuholen. Ich ließ verschiedene Impfungen über mich ergehen und beantragte noch schnell das Visum für Mali, damit - für alle Fälle - auf einer möglichen Route von Senegal nach Togo der bürokratische Weg geebnet war, ohne dass ich unterwegs weitere Visa würde beantragen müssen.

In der Firma, in der ich mir neben dem Studium mit Programmierarbeiten etwas Geld verdiente, erledigte ich währenddessen den letzten Auftrag, um einige Tage vor der Abreise schließlich meinen Schreibtisch aufzuräumen - "meinen Nachlass zu ordnen", wie einer der Kollegen es ausdrückte. Er hatte einen ermutigenden Humor!

Etwas Unerwartetes war in diesen letzten Wochen auch noch geschehen: Marions Weg hatte meinen gekreuzt. Wir kannten uns schon vorher, aber nun stolperten wir geradezu übereinander. Ausgerechnet jetzt! Sollte ich doch dableiben?

7. Juni, sechs Uhr früh - Abschied von Marion.

Die Fahrt von Erlangen nach München war Sache eines Tages. Am folgenden Morgen fand ich mich wie verabredet um 10.00 Uhr vor der Prinzregentenstraße 7 ein, wo am Tor bereits ein Häuflein von Journalisten wartete, die der Übergabe des Empfehlungsschreibens beiwohnen wollten. Da dieser offizielle Akt nicht in der kahlen Halle des Erdgeschosses abgewickelt werden sollte, wuchteten wir das voll bepackte Fahrrad unter der tatkräftigen Mithilfe der Wachmannschaft eine steile Treppe zum Flur des ersten Stockwerkes empor. Dort begleitete dann ein kleines Blitzlichtgewitter die interessierten Fragen des Ministerpräsidenten, die Marke und technische Einzelheiten meines Reiserades betrafen. Seine Neugier war dabei nicht gespielt, etwa als Akt der Höflichkeit, sondern vielmehr darin begründet, dass Strauß früher selbst begeisterter Radrennfahrer war. Und immerhin errang er in den 30er Jahren einmal den Titel eines Bayerischen Meisters im Amateurrennen.

 

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Das Empfehlungsschreiben von Franz Josef Strauß, das mir noch gute Dienste leisten sollte (Übersetzung in den Reisetipps).

 

 

Entgegen den Verlautbarungen im Telefongespräch war der Brief, den er mir überreichte, doch gezielt an die offiziellen Stellen in Togo gerichtet. Er bat darin die togolesischen Behörden, aber auch die Bewohner des Staates, mir bei meiner Radtour durch das Land hilfreich zur Seite zu stehen. Ob dem Kral-Bewohner in Togos Busch der Name "Franz Josef Strauß" wohl etwas sagen würde?

Schließlich gab es noch einige Tipps, was ich mir in Togo unbedingt anschauen müsse. Vor allem das bayerische Restaurant dürfe ich nicht auslassen, das unweit der Hauptstadt Lomé geführt wird: "Dort bekommen Sie alles Gute aus Bayern", schwärmte der Ministerpräsident, "wohlgemerkt in deutscher Reinlichkeit. Und die - das werden Sie auf Ihrer Reise noch erleben - treffen Sie nicht überall in Afrika an."

Mit den Worten: "Und schreiben Sie uns eine Karte" verabschiedete er sich und entschwand.

Der Besuch in der Staatskanzlei war damit aber noch nicht ganz zu Ende, denn Herr Dr. Remmele von der Pressestelle der Staatskanzlei hatte ganze Arbeit geleistet. Da waren zum einen die Journalisten, die er hatte aufmarschieren lassen, und mit ihnen viele Fragen: Wieweit? – Wie lang? - Warum? - Auf welchem Weg?

Zum anderen hatte er noch zwei Radio-Interviews arrangiert. Das Gespräch mit dem Rheinlandpfälzischen Rundfunk ließ sich bequem am Telefon erledigen, für das zweite machte ich mich danach auf den Weg in die Münchener Fußgängerzone.

"Radio Xanadu" hatte seinen Sitz im "Gläsernen Studio", wie sie es nannten. Es war in das Erdgeschoß eines Kaufhauses integriert und bestand zur Fußgängerzone hin aus einem einzigen großen Fenster. Alle Beiträge, die über den Äther gingen, wurden mit Hilfe von Lautsprechern auch nach draußen übertragen, und so drückten sich, während wir uns eine Viertelstunde über meine Reisepläne unterhielten, vor der Scheibe so viele Leute die Nase platt, dass man das Studio von innen aus gesehen nicht mehr als gläsern bezeichnen konnte.

 

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Zimmer mit Aussicht. – So übernachtet man im Allgäu.

 

Mit dem Verlassen des Studios hatte der unerwartet große Trubel ein jähes Ende. Ein eigenartiges Gefühl: Eben noch bist du von etlichen fremden Menschen begafft worden wie ein Tier von einem anderen Stern, dann fährst du um die nächste Ecke und bist plötzlich allein - allein mit dir und deinen Gedanken.

Meine selbst gewählte Einsamkeit wurde allerdings schon am nächsten Tag durch einen Besuch bei Verwandten in Liechtenstein unterbrochen. Auch Marion war da, sie kam aus Erlangen in das kleine Fürstentum nachgereist. Drei Tage Liechtenstein - drei Tage Marion. Dann wieder Abschied von Marion. Diesmal für Monate. Und wieder allein.

Die Schweiz und Frankreich durchquerte ich im Eiltempo und legte erst in Tarragona für eine knappe Woche eine Pause ein. Auch auf dem weiteren Weg durch Spanien behielt ich Reisetempo und vagabundenhaftes Leben bei: aufstehen, den ganzen Tag lang denken und dabei radeln, abends nach einer geeigneten Unterkunft suchen. Geeignet sind Bushaltestellenhäuschen, Häuser im Rohbau oder Gartenlauben: Man kommt am nächsten Tag nicht in Versuchung, allzu lang in den Federn liegenzubleiben. In einem Bushäuschen könnte man sonst von den ersten Fahrgästen überrascht werden - der Blick abends auf den Fahrplan ist natürlich obligatorisch. Auch von der Baustelle sollte man sich lieber vor Ankunft der Arbeiter entfernt haben. Hotels wären sicher bequemer gewesen, aber nach dem zu späten Aufstehen aus dem weichen Bett vertrödelt man dann auch noch unnötige Zeit mit dem Frühstück. Ich riss die Kilometer nur so herunter, Europa war unwichtig, ich wollte nach Afrika. 1100 Kilometer nach dem Aufbruch in Tarragona, am Nachmittag des fünften Tages, lag Afrika nun vor mir.

Dass ich nicht das erstbeste Schiff bestieg, lag einerseits daran, dass man etwas lang Ersehntes oft nicht sofort ergreift, wenn es in Reichweite gelangt, sondern sich die Freude gern eine Weile warmhält. Andererseits waren aber auch noch einige organisatorische Dinge zu erledigen, für die es in Afrika zu spät sein mochte, und außerdem wollte ich mir die Besichtigung Gibraltars nicht entgehen lassen.

 

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Abend an der Costa del Sol.

 

 

Da die britische Kronkolonie unter akutem Platzmangel leidet, leidet sie auch unter Campingplatzmangel - es gibt dort keinen. Afrikafahrer beziehen auf dem Zeltplatz im nahen Algeciras Quartier. Die spanische Stadt wird so zum Trichterhals, in dem sich alle sammeln, die nach Marokko einreisen wollen.

Wer nicht in Algeciras ist, um auf den anderen Kontinent zu wechseln, ist wegen Gibraltar da. "Das ist doch verrückt! Da steht so'n Stein im Süden von Spanien im Wasser, und der gehört den Briten", meinte mein Zeltnachbar, ein Motorrollerfahrer aus Hamburg. Der Blick auf die Landkarte bekräftigt seine Ansicht - ganz einzusehen ist es nicht, warum dieser winzige, knapp sieben Quadratkilometer große Felsen nicht spanisch ist.

Natürlich ist es nicht die Größe, die die Kolonie wertvoll macht, sondern die strategisch günstige Lage an der schmalen Nahtstelle zwischen Mittelmeer und Atlantik. Die Briten hatten schon lange ein Auge auf die Halbinsel geworfen, bis sich im 18. Jahrhundert endlich die Gelegenheit ergab, sie - zusammen mit Menorca - zu erobern. Während Menorca Anfang des 19. Jahrhunderts wieder an die Spanier zurückgegeben wurde, blieb Gibraltar in britischer Hand. Als 1968 der Versuch scheiterte, das Problem zu lösen, sperrten die Spanier den Landweg auf die Halbinsel. Die Absperrungen mit ihren hohen Zäunen wurden gern mit der innerdeutschen Grenze verglichen. Wer die Verwandten auf der anderen Seite besuchen wollte, musste zuerst von Algeciras nach Marokko fahren und von dort aus zurück nach Gibraltar. Erst 1983 wurden die Tore für Besuche unter Angehörigen wieder geöffnet, zwei Jahre später endgültig auch für den Touristenverkehr.

Es war ein unwirklicher Moment, als ich die Grenze durch das schmiedeeiserne Tor passierte und mich dann Beamte kontrollierten, die ihrer Kleidung nach tags zuvor noch im fernen London den Verkehr geregelt haben mochten. Fast musste ich den Eindruck haben, ein britisches Freilichtmuseum zu besuchen. Die Uniform dieser Männer blieb allerdings beinahe das einzige, was mich an Großbritannien erinnerte. Die Häuser in Gibraltar sind größtenteils im südländischen Stil gebaut, in den Straßen ist die spanische Sprache stärker vertreten als die englische, und die blassen Briten wirken zwischen den vielen Spanischstämmigen eher als Touristen, weil sie deutlich in der Unterzahl sind. Die meisten von ihnen sind Mitglieder der Streitkräfte.

Auf das Platzproblem, unter dem die Halbinsel leidet, weist gleich hinter der Grenze ein kleines Kuriosum hin. Da sich hier, am Fuße des Felsens, die ebensten Areale der Kronkolonie finden, hat man an dieser Stelle den Flugplatz eingerichtet, auf dem Touristen direkt aus Großbritannien eingeflogen werden, der aber freilich auch militärischen Zwecken dient. Große Teile der immer noch recht knapp bemessenen Start- und Landebahn wurden dabei erst durch Aufschüttungen gewonnen. Die einzige Straße, die von der Grenze in die Stadt führt, quert den Flugplatz, und weil die Flugzeuge aus verständlichen Gründen Vorrang vor dem Verkehr zu Lande haben, müssen die Autofahrer von Zeit zu Zeit vor geschlossenen Schranken warten.

 

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Auf Gibraltar gibt es so wenig Platz, dass die einzige Zufahrt zur Stadt und die Flugzeuglandebahn sich kreuzen müssen.

 

Der Länge nach durchradelt man Gibraltar in 15 Minuten und steht dann beim "Europe Point" an der Südspitze britischer Besitzungen auf dem Kontinent. Allerdings ist dies nicht, wie oft irrtümlich angenommen wird, der südlichste Festlandspunkt Europas. Der liegt etwa 30 Kilometer weiter westlich nahe der spanischen Stadt Tarifa und heißt sinnigerweise Punta Morroqui. Europa und Afrika nähern sich dort auf 14 Kilometer.

Mit dem Namen "Gibraltar" ist schon immer die einzige Kolonie freilebender Affen Europas verbunden. Für mich die größte Attraktion, die man keinesfalls auslassen darf. So folgte ich den Schildern "Rock Apes", bis ich nach anstrengender Bergfahrt auf halbem Wege zum Felsgipfel eine kleine Bande von Bettlern und Dieben entdeckte. Hier ist ihr angestammter Platz, an dem sie sich zusammenfinden und auf die Touristen warten, die ihnen mit Kleinbussen oder Taxis einen Besuch abstatten. Noch bevor die Autos gehalten haben, sind die Affen bereits auf das Wagendach oder durch ein offenes Seitenfester ins Wageninnere gesprungen. So mancher unbeaufsichtigt herumliegende Hut und auch Fotoapparate sind schon auf Nimmerwiedersehen davongetragen worden.

 

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Die Affen von Gibraltar sind frech und neugierig

 

Die Fütterung findet draußen vor den Fahrzeugen statt. Hält man den Tieren die geschlossene Hand hin, öffnen sie sie Finger um Finger, um zu schauen, was sich an Essbarem darin verbirgt. Wählerisch sind sie allerdings: Erdnüsse nehmen sie gern, Schokolinsen scheinen sie zu lieben, Pfefferminzplätzchen lehnen sie strikt ab. Sie können es sich erlauben, denn es kommen genug Menschen vorbei. Für die Fürsorge der Touristen darf sich die britische Krone übrigens bedanken, heißt es doch, dass die Engländer nur solange auf Gibraltar bleiben wollen, wie es dort Affen auf dem Felsen gibt. Winston Churchill ordnete daher vorsorgend an, die Zahl der Affen dürfe niemals unter 35 fallen.

Einen sah ich am Affenfelsen, den ließen die neugierigen, possierlichen Tiere völlig kalt, ja, sie waren in gewisser Weise sogar seine Konkurrenz. Es war der Mann, der sich die ganze Zeit regungslos auf eine Mauer lehnte und über das Meer blickte. Das zerfurchte Gesicht machte es schwer, sein Alter zu schätzen: Er war wohl zwischen 30 und 45. Erst wenn die Affen satt waren und die Touristen wieder abzogen, kam für ihn der Moment, die auf dem Boden liegengebliebenen Nüsse aufzusammeln und die Papierkörbe zu durchforsten, in denen er gelegentlich Beutel mit Futterresten fand. Er aß alles sofort. Dann lehnte er sich wieder auf die Mauer und wartete auf die nächste Fütterung.

 

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Gibraltar – hier ist Europa zu Ende.