Elena Erat

Peter Materne

 

 

Rad-Abenteuer Welt

 

45.000 Kilometer auf dem Rad um den Globus

 

 

 

 

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 Verlag Rad und Soziales www.radtouren4u.de

 

Weitere Informationen im Internet unter

www.elena-erat.de


 

Die Autoren

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Elena Erat ist Arzthelferin, Sekretärin und diplomierte Managementassistentin. Sie arbeitete einige Jahre in Rom und lebt nun in Freiburg/Brsg. Bereits in früher Jugend reiste sie auf eigene Faust allein ins Ausland. Seitdem ist sie immer wieder unterwegs, um Neues zu entdecken. In Nordindien baute die Autorin zusammen mit indischen Freunden eine Dorfschule. Das Projekt der ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ wird durch Spenden finanziert, die sie im internationalen Freundeskreis sammelt. Weitere Veröffentlichungen: u.a. in der Zeitschrift »Der Trotter« und als Co-Autorin im »Selbstreise-Handbuch« der Deutschen Zentrale für Globetrotter.

 

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Peter Materne (†) war von Beruf Industriemeister Metall. Sein großes Interesse galt neben der Musik schon immer dem Reisen und anderen Kulturen. Vor der gemeinsamen Fahrradweltreise mit Elena Erat radelte er allein von Karlsruhe aus 6000 km nach Marokko, Tunesien und zurück. Er war auch als Musiker (Gitarre), Bandleader (Peter Pan Band) und Tourneebegleiter für Pop- und Rockgruppen tätig. Peter Materne erlag im Alter von 49 Jahren einem Herzinfarkt.

 

Die beiden Autoren sind für ihre Fahrradweltreise unter dem Motto ›Für Umweltschutz und Völkerverständigung‹ als »Globetrotter des Jahres« von der Expertenjury der Firma Globetrotter-Ausrüstung ausgezeichnet worden.

 

Weitere Informationen im Internet unter

www.elena-erat.de

 

 

Das Buch

Über 800 Seiten, ursprünglich in zwei Bänden herausgegeben, nun als eBook. Die Globetrotter des Jahres berichten informativ, spannend und humorvoll von ihrer Weltreise mit dem Fahrrad.

Elena Erat und Peter Materne machen sich vom idyllischen Freiburg aus auf in Richtung Osten. In Rumänien besuchen sie Graf Draculas Schloss, in der Türkei verzaubert sie die Weltstadt Istanbul, in Ägypten feiern sie Weihnachten bei 40°C im Schatten. Ein erster Höhepunkt ihrer Reise: Eine Begegnung mit Mutter Teresa in Indien.

Die Autoren schlagen ihr Lager unter anderem in einem buddistischen Kloster in Thailand auf. Mit zwei „kleineren“ Umwegen über Australien und Johannesburg landen die beiden in Brasilien. Sie staunen über die Schönheiten des Regenwaldes, feiern Oktoberfest mit Samba-Rythmen und kämpfen sich durch die Anden.

In Panama entkommen sie knapp nur dem Tod. Durch mehrere Länder Südamerikas fahren sie nach Norden, dann noch einmal quer über den Kontinent von Los Angeles nach New York, bevor sie nach über zwei Jahren und 45.000 geradelten Kilometern durch 26 Länder wieder zu Hause ankommen.

 

 

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Inhaltsverzeichnis

 


 

Vorwort von Rüdiger Nehberg

der bekannte Abenteurer, Reisebuchautor und Aktionist für Menschenrechte, hat zu diesem Buch das Vorwort geschrieben.

 

Liebe Elena, lieber Peter,

Vorworte haben etwas Formales und Sachliches an sich. Nach dem Lesen Eures Werkes ist mir die Sachlichkeit abhanden gekommen, und Formales war nie mein Ding. Ich gratuliere Euch aus tiefer Überzeugung sowohl zu Eurer gigantischen physischen Leistung, als auch zu dem poetisch-liebenswerten Buch! Mit jeder Zeile seid Ihr mir mehr ans Herz gewachsen.

Eure Transglobe Friendship Bicycle Tour ist etwas ganz Einmaliges und ebenso ist es Euer Buch. Ich kann es jedem, der von der großen Welt träumt, aber meint, sie müsse ihm verschlossen bleiben, weil er nicht wohlhabend ist, ans Herz und ins Bett legen als Abend- und Traumlektüre. Zum Pläneschmieden und zum Nachmachen.

Zunächst mal zur Radtour: Beim Lesen habe ich alles nacherlebt, was Ihr vorexerziert habt. Jemand, der ja selbst einige tausend Kilometer unter seine Pedale und den Hintern gebracht hat, kann das sicher besser empfinden, als Pauschaltouristen es je könnten. Ich habe mit Euch gelitten beim Gegenwind und im Regen, beim zeitweiligen Zusammenbruch der Räder und den sturen Behördenmenschen. Ich spürte den angespitzten Schraubenzieher an Elenas Halsschlagader in Panama und die Zähne der Hunde in ihren Schenkeln in Brasilien. Diese und andere Ereignisse sind sicher spektakulär, aber andererseits sind gerade sie es, die diese Reise zu einem echten und unvergesslichen Abenteuer machen. Sie haben Euch nie bewogen aufzugeben. Ich kann nachvollziehen, dass Elena manchmal »vor Wut über die zeitweise allzu großen Anforderungen« an ihre physischen Kräfte »das Rad zerhacken wollte«. Solche Reaktionen sind völlig verständlich. Sie gehören sogar zum »Pflichtprogramm« eines jeden Extremradlers, sonst wäre er ein Übermensch. Doch letztlich sind es Sekunden während einer unendlichen Reise, auf der das Positive überwog, weil Sportsgeist weltweit und in allen Kreisen der Bevölkerung Respekt und Anerkennung bewirkt. Ihr habt es mehr als reichlich erfahren.

Aber mehr als die spektakulären Ereignisse Eurer Reise hat mich Eure Philosophie beeindruckt: Die umfassenden Reisevorbereitungen als Referenz gegenüber den Bereisten; der hohe Respekt gegenüber diesen andersdenkenden Menschen und anders gearteten Kulturen; der sensible, feine Humor; Euer gesund kritisches Auftreten gegenüber Ungerechtigkeiten; Eure tief verwurzelte Tierliebe.

Für mich ist Eure Reise Globetrotting par exellence und hochgradig vorbildlich Völker verbindend. Eure Art zu schreiben ist literarisch anspruchsvoll und spiegelt Eure Philosophie wider. Die Schreibe ist heiter, flüssig, interessant, informativ und nie langweilig oder belehrend. Sie ist eine ermutigende Gebrauchsanweisung für jeden, den das Fell juckt, den der Sportsgeist quält, der »süchtig ist nach Herzklopfen« wie Ihr. Ich kann Eure Gedanken nachvollziehen, wenn Ihr schreibt, dass Eure Reiselust und der Wissensdrang während der 2¼ Jahre und 45.000 km nicht etwa gestillt, sondern vergrößert wurden. Wenn man das Buch gelesen hat, möchte man sein Rad putzen und losfahren (allerdings würde ich mir 80 kg Gepäck nicht antun! Ihr müsst ja Elefantenschenkel haben).

Ich wünsche Eurem Werk alles erdenklich Gute. Möge es vielen Menschen zur Anregung dienen, auch ihrem Leben eine neue Qualität und Dimension zu bescheren; nicht Raffen und Konsum zur Maxime zu erheben, sondern Verständnis und Toleranz zwischen unterschiedlichen Völkern.

Ich danke Euch für das Buch.

 

Herzlich, Euer Rüdiger


 

Aber eines Tages schwamm auf dem Fluss eine Kiste vorbei. Der kleine Bär fischte die Kiste aus dem Wasser, schnupperte und sagte: »Oooh ... Bananen.« Die Kiste roch nämlich nach Bananen. Und was stand auf der Kiste geschrieben?

»Pa-na-ma«, las der kleine Bär. »Die Kiste kommt aus Panama, und Panama riecht nach Bananen. Oh, Panama ist das Land meiner Träume«, sagte der kleine Bär. (1)


 

DEUTSCHLAND: Die Sintflut von Baden

 

Peter:

»O Mann, die kommen genau auf uns zu. Meinst du, die haben uns gesehen?«

»Sei leise«, flüstert Elena, »der Mond strahlt uns voll an - klar haben die uns gesehen!«

Hinter uns steht ein dichtes Zuckerrohrfeld. Der Wind lässt die Stängel mit harten, klickenden Geräuschen aneinanderstoßen. Vor uns erstreckt sich ein langer holpriger Acker. Die Büsche am Feldrand werfen im Mondlicht gespenstische Schatten. Wir haben uns mit unserem kleinen grünen Zelt an den Rand des Feldes geklemmt, irgendwo mitten in Pakistan.

»Kannst du was erkennen?« fragt Elena ängstlich.

»Und ob! Es sind drei Männer, bewaffnet mit Knüppeln und Gewehren!«

Wie eine Wand kommen die Kerle auf uns zu. Turbane und Djalabas flattern im Wind, Metall beschlagene Gewehre blitzen im hellen Mondlicht.

»Wenn uns jetzt in Pakistan was passiert, merkt das von unseren Leuten zu Hause lange niemand. Keiner weiß genau, wo wir sind!« Keine Chance zur Flucht. Wir müssen uns stellen und abwarten, was geschehen wird. Die Typen kommen immer näher auf uns zu. Rechts und links vom Acker sehen wir plötzlich noch weitere Männer; alle sind mit Stöcken oder Gewehren bewaffnet ...

Aber erzählen wir der Reihe nach:

Also - Pilot wollte ich nie werden. Auch Lokführer oder Löwenbändiger war nie mein Berufsziel, obwohl letzteres grob in die von mir angestrebte Richtung ging. Wurde ich als Vorschulkind gefragt: »Na Kleiner, was willste denn mal werden?«, stand für mich fest: »Urwaldforscher!« Verband ich doch in meiner Vorstellung diese Tätigkeit mit interessanten Reisen in aufregende, fremde Länder und dem Bestehen von gefährlichen Abenteuern. Der Anblick einer Reihe von in die Weite führenden Telegrafenmasten erzeugt in mir bis heute sofort Fernweh. Weil man ja bekanntlich immer nur ganz vernünftige Dinge tun soll und nur selten auf seine innere Stimme hört, wurde ich zunächst einmal Industriemeister, dann Musiker, Taxifahrer, Personaldisponent, Theatermanager und freier Künstler. Ich stellte Lichtobjekte aus Recyclingmaterial her.

Zahlreiche Reisen führten mich quer durch Europa und darüber hinaus. 1991 machte ich eine dreimonatige Fahrradtour, die mich über 6.000 km durch Frankreich, Spanien, Marokko, Tunesien, Italien und die Schweiz führte. Das Südwestfunk-Fernsehen sendete einen Beitrag über meine Nordafrika-Reise mit dem Fahrrad, meine Arbeit an einem Figurentheater und die von mir entworfenen Lichtobjekte. Während der Aufzeichnung im Fernsehstudio lernte ich Elena kennen. Auch sie war in der Vergangenheit viel in der Welt herumgekommen und hatte sich schon immer für fremde Kulturen interessiert. Fünf Jahre lebte und arbeitete sie in Rom, bereiste Nordafrika, Asien und noch ein paar andere Ecken der Welt. Zu Hause war sie als Chefsekretärin tätig.

Natürlich plante ich schon bald, Elena mit mir in die Welt hinauszuziehen, denn schnell spürte ich, dass auch sie von diesem gewissen Reisebazillus befallen war, der zuweilen heftiges >Fieber< erzeugen kann. Diese Neugier, dieses >nur noch bis zur nächsten Biegung gehen, mal gucken, was da ist<, war auch bei ihr sehr ausgeprägt. Doch für mein Vorhaben wollte ich Elena einen konkreten Plan vorlegen, den sie unmöglich verwerfen könnte. Einige Zeit benötigte ich, um alle nur denkbaren Schritte zu den Reisevorbereitungen theoretisch zu sondieren. Eines Abends war es dann soweit, Stufe eins begann. Ich präsentierte ihr die wichtigsten Eckpfeiler für die Transglobe Friendship Bicycle Tour. Jetzt war es raus - endlich!

Elena bat sich Bedenkzeit aus.

»Schließlich gibt man nicht so ohne weiteres alle Sicherheiten auf, die man sich in langen Jahren erarbeitet hat«, meinte sie. Aber bereits eine halbe Stunde später stimmte sie zu. Auch bei ihr hatte die Neugier auf das Leben die >Vernunft< überredet. Und was hatten wir auch schon Großes zu verlieren? Natürlich, da war der sichere Arbeitsplatz, da war die Wohnung und das soziale Netz, das uns im Notfall auffangen würde. Aber die Gegenargumente wogen schwer. Ist es wirklich richtig, seine Freizeit hauptsächlich dazu zu verwenden, sich für die Arbeit zu regenerieren? Sollen wir wirklich unsere Lebenszeit ausschließlich in geordnetem, aber eintönigem Kreislauf verbringen? Vielleicht im Alter zurückblicken und verbittert überlegen, warum wir es eigentlich nie riskiert haben, zumindest zeitweise >auszusteigen<? Wir waren nicht damit zufrieden, Dokumentarfilme aus dritter Hand im Fernsehen zu bewundern, sondern wollten selbst mit Herzklopfen dabei sein, Abenteuer erleben, Freundschaften schließen mit fremden Menschen aus einem gänzlich anderen Kulturkreis. Wir wollten die intensiven Gerüche auf den Märkten dieser Welt in uns aufnehmen und hören, welche Musik die Menschen fröhlich stimmt. Und wir wollten in einer Zeit des wiederauflebenden Fremdenhasses unseren Teil zum gegenseitigen Verständnis beitragen, indem wir Bericht erstatten über das Erfahrene, hier wie draußen in der Welt. Hinzu kam der Gedanke des Umweltschutzes, der uns sehr am Herzen liegt und für den wir aktiv etwas tun wollten.

Wir sahen uns an und lachten. Stufe zwei wurde gezündet, die Vorbereitungen begannen, das Herzklopfen und die Vorfreude fingen an.

Nach langem Wünschen und Hoffen konnten endlich Nägel mit Köpfen geschmiedet werden. Den Menschen in der fremden Welt da draußen wollten wir in ihre Kochtöpfe gucken, sehen, wie sie arbeiten und leben, hören, was sie zu sagen haben. Es interessierte uns, wie >unsere Ausländern die in Deutschland leben, sich in ihrem Land verhalten. Ein Stück Freundschaft wollten wir um den blauen Planeten tragen, gegen Fremdenhass und Rassismus im Bereich unserer Möglichkeiten angehen. Die Fahrräder sind dafür das geeignete Transportmittel, denn sie sind relativ billig, technisch unkompliziert und umweltfreundlich. Wir sind damit schnell genug, um voranzukommen, und langsam genug, um an interessanten Punkten jederzeit halten zu können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir von den Leuten unterwegs leicht angesprochen werden können. So sind viele Begegnungen möglich. Dazu sind sie leise, brauchen kein Benzin, und man kann auch auf schmalen Wegen fahren. Die vor uns liegenden zwölf Monate waren nun angefüllt mit Arbeit und viel Vorfreude. Die Ausrüstung wurde zusammengestellt, und die Fahrräder mussten für die Weltreise optimiert werden, denn immerhin wollten wir über zwei Jahre auf dem gleichen Rad unterwegs sein. Zudem mussten Sponsoren gefunden werden, weil wir nicht alles selbst finanzieren konnten. Dazu nützten mir einige gute Kontakte zur Ausrüster-Industrie von früheren Touren her. Mehrmals kurvten wir deshalb quer durch Deutschland. Zusätzlich zu diesen >Kleinigkeiten< mussten wir unser Häuschen, in dem wir auf dem Land zur Miete wohnten, räumen, da es verkauft wurde.

War es Schicksal oder Zufall? Überraschend wurde eine kleine, günstige Wohnung frei, die wir schon lange gerne gehabt hätten. Wieder war ein weiterer wichtiger Punkt erreicht nach der Devise: möglichst viel Geld verdienen und sparen, wo immer es geht. Elena war in der Vergangenheit gute Kundin bei zahlreichen Flohmärkten gewesen. Entsprechend umfangreich war das zu bewegende Umzugsgut!

So ganz nebenbei mussten wir natürlich auch noch arbeiten, um das nötige Geld für die Expedition zu beschaffen. Elena saß nach dem Dienst noch bis spät in die Nacht vor dem Computer, um die Reisekasse schwerer zu machen. Ich arbeitete beim Figurentheater, darüber hinaus war ich mit einem Diavortrag über meine vorherige Afrikareise unterwegs.

Für die Reisevorbereitung suchten wir über das Freiburger Goethe-Institut sogenannte >Tandem-Partner<. Man trifft sich mit einem Gesprächspartner aus einem anderen Land zum gegenseitigen kostenlosen Sprachunterricht. So lernten wir einen syrischen und einen ägyptischen Arzt kennen, die beide ihre Weiterbildung in Freiburg absolvierten. Auf diese Weise kann der Sprachunterricht sehr lebhaft gestaltet werden. Man informiert sich gegenseitig auch über Dinge, die man als normaler Tourist so ohne weiteres nicht erfährt.

Um möglichst problemfreien Kontakt zur Bevölkerung zu haben, erkundigten wir uns zudem über die Gepflogenheiten in verschiedenen Ländern mittels hierzu erhältlicher Literatur. So lernten wir, dass ich mich als Mann in arabischen und asiatischen Ländern Frauen gegenüber möglichst zurückhalten und etwaige Gespräche mit dem weiblichen Geschlecht besser Elena überlassen sollte. Für uns Europäer normale Verhaltensweisen könnten in diesen Ländern völlig missdeutet werden und zu unnötigen Komplikationen führen. Ein mitgebrachter Blumenstrauß für die Ehefrau eines Arabers landet wohl im besten Fall im Magen eines Kamels. Man(n) hat sich nicht für die Frau oder Tochter eines anderen Mannes zu interessieren.

Allerdings gibt es auch für Elena als Frau bestimmte Verhaltensregeln. So zum Beispiel sollte sie einem Araber nicht direkt in die Augen sehen, es sei denn, er ist den Kontakt mit Europäern gewöhnt und missversteht es nicht als Aufforderung. Bei uns in Europa gilt das Augenniederschlagen eher als negativ. Ein flackernder oder verdeckter Blick wird oft als Falschheit gedeutet. Der Blickkontakt könnte in diesen Gebieten der Erde nicht nur sie in Schwierigkeiten bringen, sondern würde auch mich als ihren Mann in ein schlechtes Licht setzen, der Lächerlichkeit preisgeben. Andere Länder, andere Sitten.

 

Wir hatten uns entschieden, die Reise im Frühjahr zu beginnen, um möglichst weit südlich zu sein, wenn in Europa wieder der Winter einsetzt. Der 2. April 1994, das geplante Abreisedatum, rückte fast zu schnell heran. Jetzt hatten wir genau den Stress, dem wir zu entrinnen versuchten. Wenn wir so richtig erledigt waren, standen wir vor der Weltkarte, die über dem Arbeitsplatz befestigt war, fuhren mit den Fingern Ländergrenzen und Kontinente ab und fabulierten über die ungewissen Abenteuer, die uns da draußen erwarten würden. Für den ungünstigsten Ausgang hinterließen wir ein Testament. Elena besuchte einen Selbstverteidigungskurs für Frauen und zusammen fuhren wir nach Köln, um dort die Seemannstauglichkeitsprüfung abzulegen. Mit dieser Bescheinigung kann man auf Schiffen anheuern und sich so die Überfahrt verdienen. Aufregende Monate! Und doch war es eine wunderbare Zeit, voller Vorfreude, Herzklopfen und Kribbeln im Bauch.

Viele der zuvor noch schier unüberwindbaren Probleme glätteten sich wie die bekannten Wogen nach einem Sturm. Ganz besonders muss dabei die große und entscheidende Mithilfe unserer beiden Schwestern Gissy und Edith sowie unseres lieben Freundes Goody bereits in der heißen Planungsphase betont werden. Die drei übernahmen während unserer Abwesenheit das Management der Tour, kümmerten sich um Post- und Bankangelegenheiten und erfüllten unsere Wünsche und Anfragen bezüglich des Materials, das wir unterwegs brauchten.

Trotz dieses zuverlässigen Teams lagen wir oft viele Stunden in den Nächten wach. Wir überdachten, planten, verwarfen, verbesserten, fingen wieder von vorne an. Wir stellten uns schwierige Situationen vor, die vielleicht auf uns zukommen könnten, und überlegten, wie wir am besten reagieren sollten. War es richtig, was wir taten? Der Abreisetermin rückte immer näher, aber trotz der vielen Arbeit lief alles gut. Da passierte es.

 

In der Klinik wollte ich mir einen problematischen Weisheitszahn entfernen lassen und war mit dem Fahrrad dorthin unterwegs. Da löste sich plötzlich der Scheinwerfer an meinem Rad und kippte von seiner Befestigung am Vorderradgepäckträger ins Reifenprofil. Das Rad blockierte wie ein Mustang. Ich flog über den Lenker und bremste mit der linken Gesichtshälfte krachend auf dem Asphalt. Blut floss in Strömen, ein großer Hautlappen hing herunter. Der Splitt hatte sich bis auf den Schädelknochen ins Fleisch eingegraben. Die Wunde musste in der Klinik mehrfach genäht werden. Felge und Gabel meines Bikes sowie meine Brille waren Schrott. Und das fünf Wochen vor dem geplanten Start! Plötzlich schien alles in Frage zu stehen.

Zu allem Unglück hatten wir zwei Tage später einen Fototermin im Studio. Mit meinem zu geschwollenen Gesicht konnte ich diesen Termin unmöglich wahrnehmen. Farbenprächtig wäre es ja gewesen! Dank der ärztlichen Kunst und meiner guten Konstitution konnte man aber schon bald nach der Operation die Fäden ziehen - und der Zahn wurde auch noch extrahiert. Zahlreiche Impftermine folgten, dazwischen gaben wir noch einige Radio- und Zeitungsinterviews zur Reise und suchten Untermieter für die Wohnung. Im Nachhinein wundern wir uns manchmal selbst, was wir alles in kurzer Zeit zu Wege brachten, wie wir die Kraft dazu aufbringen konnten.

Die letzte Phase vor dem Start zur »Transglobe Friendship Bicycle Tour« begann, die Zeit des Abschiednehmens war gekommen. Viele Freunde und Bekannte luden uns ein, manche gaben uns Adressen von Bekannten im Ausland mit. Meine Schwester Edith veranstaltete ein großes Abschiedsfest, das fast zwei Tage dauerte. Die Räume unserer kleinen Wohnung hallten beängstigend, als wir sie verließen.

Was werden wir alles erlebt haben, wenn wir sie in zwei, drei Jahren wieder betreten werden? Wie werden wir uns vielleicht verändert haben? Mit gemischten Gefühlen, mit großen Erwartungen, mit Freude, aber auch mit einem etwas beklemmenden Gefühl zogen wir an diesem 2. April die Tür hinter uns zu.

Am Vorabend hatte ich noch zum x-ten Mal die Ortlieb-Satteltaschen ein- und ausgepackt, Unverzichtbares von Entbehrlichem getrennt. Es war eine anstrengende Zeit damals, aber auch eine sehr schöne.

 

Als wir morgens auf den Rathausplatz radelten, plätscherten die Freiburger >Bächle< wie immer. Doch für uns würde nichts mehr so bleiben, wie es war. Es begann jetzt eine Zeit, die uns größte Anforderungen an Kondition, Mut und Selbstüberwindung abverlangen würde. Zunächst jedoch begann das große Schulterklopfen unserer Freunde. Man küsste, umarmte und drückte uns, dann noch mal und noch mal. Konnte man denn sicher sein, uns je wieder lebend zu sehen? Hier wurde uns etwas Selbstgebackenes oder Geld zugesteckt, dort rollte eine Träne auf den Platz, auf dem wir uns in zwei bis drei Jahren wieder treffen wollten.

Die Presse war da, der »Allgemeine Deutsche Fahrrad Club« hatte einen Informationsstand aufgebaut. Es wurde viel fotografiert, und sehr viele Menschen drängten sich auf dem Platz. Vom Freiburger Oberbürgermeister hatten wir eine Grußbotschaft an seinen Amtskollegen in Cizre in der Osttürkei dabei, deren Übergabe sich später als ziemlich abenteuerlich herausstellte.

Auch vom Donaueschinger Oberbürgermeister führten wir einen schriftlichen Gruß mit, der für die Partnerstadt Vac in Ungarn bestimmt war. Sportamtsdirektor Däschle gab den symbolischen Startschuss, dann hieß es aufsitzen und los ging's.

»Bis bald!« riefen wir den Zurückbleibenden zu und bogen am Rathausplatz rechts ab - erst in Richtung Schwabentor, von dort aus in die weite Welt.

Der Kies knirschte unter den Pneus, als wir auf dem vertrauten Weg am Flüsschen Dreisam entlangfuhren. Die vielen gutgemeinten Worte und Wünsche klangen noch in den Ohren nach. Lange Zeit radelten wir schweigsam und nachdenklich vor uns hin. Erst später machten wir eine erste kurze Rast und umarmten uns.

 

»Mensch, ich kann es kaum fassen. Wir haben es geschafft!! Jetzt sind wir wirklich unterwegs auf großer Tour«, sage ich zu Elena, die mich glücklich anstrahlt. Eine lange Zeit voll gemeinsamen, intensiven Erlebens liegt vor uns.

Der dunkelgraue, tief hängende Himmel droht uns jeden Moment auf den Kopf zu fallen, und so suchen wir Schutz unter dem Dach einer Sportvereinshütte, als auch schon Regen und Hagel losprasseln.

»Wo wollt ihr denn hin mit dem ganzen Gepäck?« fragen die Sportler.

»Einmal um die Welt«, ist die knappe Angabe des Reisezieles.

»Na, da habt ihr ja noch was vor, viel Glück!« kommt es lachend zurück.

Bald schieben wir die schweren Räder über den Turner, mit etwa 1.100 m Höhe einer der Hausberge Freiburgs im Schwarzwald. Auf einer Anhöhe mit Blick auf das im Abendlicht liegende Tal schlagen wir das erste Nachtlager dieser Reise auf. Von den Bauernhäusern unten im Tal dringt Hundegebell herauf. Bläulicher Rauch kräuselt sich von irgendwoher in den dunkelblauen Himmel. Sanfte und friedvolle Stille ruht über dem Wald, aber es ist bitterkalt. Wir werden heute Nacht in den Wolken schlafen, die tief über der Landschaft hängen. Die Stimmung ist fast wie an Weihnachten. Wie viele Gedanken werden jetzt wohl bei uns sein?

Bei einer Tanne am Waldrand grabe ich mit einer kleinen Klappschaufel ein Loch für ein Plumpsklo mit dem Baumstamm als >Rückenlehne<, gebe jedoch schnell auf, als ich feststelle, dass vor mir schon mal jemand diese gloriose Idee hatte ...

Auf der Wiese vor dem Zelt lodert das erste Lagerfeuer dieser Reise. Es sieht schön aus vor dem dunklen Abendhimmel mit den schwarzen Tannen, die sich leise im Wind wiegen, zudem wärmt es.

 

Der neue Tag beginnt mit einem feudalen Frühstück. Es ist Ostern, und wir haben allerhand Schokoladenhasen, Kuchen und Eier dabei. Dann ist Schieben angesagt. Steil geht es bergauf. Das Wetter macht dem April wirklich alle Ehre. Sonne raus - Sonne rein, Jacken aus - Jacken an, Regen, Schnee, Graupelschauer, frieren, schwitzen. So geht es den ganzen Tag. Anfangs hatten wir einen herrlichen, weiß-blauen Himmel, jetzt kann man vor lauter Regenwänden und kalten Nebelschwaden, die uns entgegenwabern und einhüllen, kaum die verstreut liegenden Höfe der Bergbauern ausmachen. Dann wieder beißt eisiger Wind ins Gesicht, lässt die Augen tränen. Durch Schneeverwehungen, Regen, Kälte und Hagelschauer zerren wir die Räder vorwärts in die milchige Suppe, immer weiter und weiter.

Im Neuschnee wollen die Laufräder die Spur nicht halten und brechen dauernd aus. Mit kräftigem Ruck müssen die etwa 80 kg Gewicht ständig wieder in ihre Bahn zurückgebracht werden. Die Räder allein mit ihren Stahlrahmen, Taschenhalterungen und Transportkorb wiegen bereits 20 kg. In den Wanderschuhen schlittern wir erschöpft durch Matsch und Dreck. Die folgende Nacht verbringen wir auf einer leidlich ebenen Viehweide, wo wir mehr schlecht als recht schlafen. Schon beim ersten Dämmerlicht treibt uns die Kälte vors Zelt. Zwar sind es nur -5° C, aber der kalte Wind und die Nässe setzen uns sehr zu. Mit den gefrorenen Schnürsenkeln kann ich den >indischen Seiltrick< aufführen. Sie stehen von alleine senkrecht in die Höhe, bleiben allerdings auch in der Position, obwohl ich meine Hände >magisch< bewege und dazu >indische Beschwörungen< murmele oder vielmehr das, was ich dafür halte. Die vor Kälte zitternde Elena packt lachend die Sachen zusammen, der neue Tag beginnt fröhlich.

Die Räder mit den Gepäcktaschen vor dem Zelteingang sind mit Eis und Schnee überzogen. Das Frühstück fällt aus an diesem Morgen. Es ist kaum noch was zu essen da, und zudem ist es zu ungemütlich. Unter heftigem, nassen Schneetreiben bauen wir das Zelt ab und verstauen die Ausrüstung auf den Stahlrössern. Auf der Landstraße peitscht die schmutzige Gischt der vorbeifahrenden Autos ins Gesicht, die Kälte beißt trotz Schutzkleidung an Zehen und Fingern.

 

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Die erste Nacht während der Fahrrad-Weltreise verbrachten wir im April 1994 bei Eis und Schnee auf dem Freiburger Hausberg namens >Turner< in ca. 1.100 m Höhe.

 

Wegen der Feiertage sind natürlich alle Geschäfte geschlossen. Weil wir unseren gesamten Proviant bereits am ersten Tag verschlungen haben, versuchen wir, in Gasthäusern Brot zu kaufen, werden aber einige Male abgewiesen. Im großen Wirtshaus oben auf dem Turner erklärt uns die Bedienung unwirsch, dass sie kein Brot habe.

Zu unserer Freude verkauft uns der Wirt der ersten Schänke im nächsten Dorf für 2 € ein paar Scheiben Brot, die er in der Küche in Aluminiumfolie wickelt. Erst viel später sehen wir beim Auspacken, dass er uns drei total verschimmelte Brotscheiben verkauft hat ...

Alle Gasthäuser, bei denen wir vergeblich nach Brot fragten, hatten draußen am Eingang den Gekreuzigten hängen, wohl zum Zeichen ihrer christlichen Nächstenliebe.

»Was würde wohl mit Maria und Josef passieren, kämen sie heute auf der Suche nach Hilfe zu diesen Menschen?« murmelt Elena verärgert mit knurrendem Magen.

Inzwischen hat sich ein gnadenloser, kalter Dauerregen eingestellt. Die gute Laune liegt auf Eis. Stumm radeln wir verbissen vor uns hin. Es gießt ohne Ende, tropft von Dächern und Bäumen, in die Schuhe und von unseren Nasen. Wir sind nass bis auf die Knochen. Als ich für einen Moment hinter einen Busch muss, hält Elena beide Räder - und fällt mit allem um, direkt in eine Pfütze. Die Situation ist so komisch, dass ich erstmal kräftig lachen muss über Elenas dreckbeschmiertes, verdutztes Gesicht, bevor ich sie aus dem Gewirr von Gepäck, Rahmen und Speichen befreien kann. Sie sieht fast aus wie ein wütendes Erdmännchen in ihrem über und über mit Waldboden >verzierten< Regencape.

Wir fahren auf dem Radweg die Donau entlang. Die Felder stehen infolge der starken Regenfälle total unter Wasser. Vereinzelt waten Störche vornehm in Riesenpfützen herum. Unsere Blicke tasten ständig die finstere Wolkendecke ab auf der Suche nach einem blauen Fleck. Der Fleck bleibt weg, stattdessen klatscht neuer Regen herunter. Ich bin froh, dass Elena bei diesen schlechten Startbedingungen nicht der Mut verlässt. Im Gegenteil. Sie liebt das Geräusch des Regens abends auf dem Zeltdach und lacht mich unter zerzausten, nassen Haaren fröhlich an. Nur mit der Kälte hat sie es nicht so sehr.

»Warum muss es denn so kalt sein? Ich denke, es ist Frühling«, meint sie mit traurigem Blick aus unserem Zelt, das bald einer Tropfsteinhöhle gleicht, denn dicht ist es entgegen der Versprechungen des Herstellers nicht.

Zwei Tage lang hocken wir im deutschen Regenwald bei Riedlingen und sehen zu, wie es von den Blättern tropft und Dunstschleier durch den nassschweren, nach Moder riechenden Wald getrieben werden.

»Ich geh mal etwas für die Pfanne fangen«, rufe ich Elena zu und trabe mit der Angel zur nahen Donau.

Den Fischen regnet es wohl auch zu stark, sie bleiben, wo sie sind, also gibt es wieder Marmeladenbrot. Auch recht. Am Morgen des dritten Tages wird der Regen schwächer und hört endlich ganz auf. Nur einzelne dicke Tropfen rollen noch von den Bäumen ins Moos und suchen den Weg zum Fluss, um von dort, dem ewigen Kreislauf folgend, ins Meer zu fließen. Da wollen auch wir hin, an der Donau entlang ans Schwarze Meer.

»Also los, lass uns schnell abhauen«, rufen wir uns zu und packen die triefenden Klamotten zusammen. Stellenweise schwappt der Fluss über die Ufer, wir müssen Umwege fahren. Egal, wenn wir nur rollen, uns vorwärts bewegen. Weiter, immer weiter! Trotz des Sauwetters behalten wir die gute Laune, lachen viel und freuen uns, so frei zu sein wie Vögel. Die Last der Monate ist vorbei. Vor uns liegt die ganze Welt. Abenteuer, wo seid ihr? Wir kommen!

 

Elena:

Zunächst rollen wir noch in heimatlichen Gefilden, sozusagen ums Haus herum, zeigt Peters Tacho doch erst wenige hundert Kilometer gefahrene Strecke. Mein teurer Entfernungsmesser hat leider trotz >Plastiktütenmützchen< bereits beim ersten Regenguss jeden weiteren Dienst versagt. Der Donauradwanderweg ist größtenteils gut ausgeschildert. Wir kommen durch einige schöne Dörfchen, an vielen malerischen Kirchen und alten Klöstern vorbei. Jetzt ist ja alles möglich: In den Pausen beißen wir genüsslich in rohe Zwiebeln, Salami und Knoblauch, mit einem Schluck Rotwein wird kräftig nachgespült.

Durch Munderkingen mit seiner malerischen Altstadt und dem Rathaus von 1563 geht es und weiter durchs Rottenacker Ried nach Erbach, das im Mittelalter der Sitz von Adelsgeschlechtern war. Mit Ulm erreichen wir die erste Großstadt an der Donau. Hier steht der höchste Kirchturm der Welt mit 161 m. Wir schlendern durch das malerische Fischerviertel entlang des Flüsschens Blau.

Unweit hiervon sprang Albrecht Ludwig Berblinger, besser bekannt als der Schneider von Ulm, einer der ersten Flugpioniere, unfreiwillig in die Donau. Hier wurde 1879 Albert Einstein geboren, und auch Ulm hat seinen schiefen >Metzgerturm<.

Bei unserem griechischen Freund in Ulm trennen wir uns von weiterem Gepäck, entspannen und waschen die Kleider, bevor wir wieder starten Richtung Ingolstadt. Das Wetter bleibt größtenteils freundlich, wir auch. Die Stadt war schon im Altertum Soldatenstadt. Herzog Ludwig >der Gebartete< baute sich hier im 14. Jahrhundert ein Schloss, das heute noch einen anziehenden Mittelpunkt bildet.

 

Wir sind in Bayern. Hätten wir es nicht schon gewusst, wären wir spätestens dann drauf gekommen, als wir ein Bett in der Jugendherberge buchen wollen. Nicht sehr freundlich weist uns der Herbergsvater ab, obwohl freie Betten vorhanden sind. Unser Fehler ist, dass wir schon mehr als 26 Jahre alt sind und somit in Bayern keine Aufnahme in den Jugendherbergen finden. Diese Sonderregelung ist einmalig in der Welt, aber es hilft nichts. Ziemlich bedeppert nehmen wir die zu Hause neu erstandenen Jugendherbergsausweise und schleichen uns.

Adernzieher, Knochenbrecher, Wurzelheber und noch so mancherlei martialisch anmutende Gegenstände, die zum Gruseln taugen, sehen wir uns im Medizinisch-Historischen Museum an, während der freundliche Pförtner ein wachsames Auge auf die beladenen Räder hat. So können wir gemeinsam das interessante Museum anschauen, in dem es in Chemikalien eingelegte menschliche Teile gibt, schaurige medizinische Instrumente und viel Gänsehaut erzeugendes Dokumentationsmaterial. Dann radeln wir quer durch die Stadt. »Ihr habt doch bestimmt Durst! Wollt ihr ein Weizenbier?« ruft eine Frau von einem Balkon herunter. Im Handumdrehen erscheinen zwei Gläser Bier am Geländer, die wir begeistert leeren. Hoffentlich haben noch viele Leute so tolle Ideen wie diese Frau!

Die Fahrt führt direkt am Donauufer entlang. An einer besonders schönen Stelle beschließen wir zu übernachten. Doch Vorsicht ist geboten, denn hier bei Günzing sollten noch vor einer Woche viele Dorfbewohner vor dem Hochwasser evakuiert werden. Zahlreiche Fenster und Türen sind mit Sandsäcken verrammelt. Die Sonne senkt sich in den Wald. Irgendwo auf einem der bereits tiefschwarzen Tannenwipfel sitzt ein Vogel und piept schläfrig vor sich hin.

 

Peter:

Elena hat Pellkartoffeln mit Salat zubereitet. Die >Erdäpfel< fanden wir am Straßenrand, der Salat wächst als Löwenzahn, Klee und Gras auf der Wiese. Man muss sich nur zu helfen wissen. Unsere Organisation beim morgendlichen Zusammenpacken funktioniert noch nicht so richtig. Obwohl wir um 6 Uhr aufstehen, kommen wir nicht rechtzeitig vom Acker. Bis wir gefrühstückt, Geschirr gespült, alles verpackt und aufgeladen haben, ist es jedes Mal fast 9 Uhr. Für morgen haben wir uns belegte Brote vorbereitet und wollen so die Prozedur abkürzen.

Plötzlich wendet auf der Straße mit pfeifenden Reifen ein PKW hinter uns, der uns eben begegnet war. Das Fahrzeug saust vorbei, um ein Stück weiter vorn scharf zu bremsen. Ein großes Mikrofon kommt aus dem Beifahrerfenster zum Vorschein, gehalten von einer Reporterin des Bayerischen Rundfunks, die uns interviewen möchte. Über die bisherige Strecke und die neue Donaubegradigung sollen wir berichten. Wir erzählen von wunderschönen Flussniederungen, schwärmen von wilden Biegungen, von schäumenden klaren Wassern, die über bemooste Felsen perlen. An den Ufern gibt es Frösche, Reiher und Störche, Teppiche von Schlüsselblumen und wilden Hyazinthen. Natürlich nutzen wir die gebotene Möglichkeit und sprechen auch über die immensen Erdbewegungsarbeiten, die aus den idyllischen Flusswindungen zwischen Ulm und Günzburg einen öden Kanal machen, an dessen zu betonierten Rändern nicht mehr viel Natur existieren kann.

Wir sagen der Reporterin, dass es unserer Meinung nach eines der dümmsten Bauwerke ist seit dem Turmbau zu Babel, zumal es längst erwiesen ist, dass eine derart gewaltige Flussbegradigung auch viele für den Menschen negative Seiten hat. Die absterbenden Kiefernwälder als Folge von fünf Raffinerien sowie Deutschlands ältestes Kernkraftwerk bei Gundremmingen bereiteten auch uns Unbehagen, von den vielen toten Fischen ganz zu schweigen, die am Ufer dümpeln. Die Natur wird der Technik angepaßt und negativ verändert.

 

Elena:

Am Nachmittag liegen wir am Kiesstrand von Weltenburg. Durch ein Tal von 6 km Länge zwängt sich der Strom, gesäumt von 100 m hohen weißen Felsen, dem Fränkischen Jura. Die idyllische Stimmung, die vom Kloster Weltenburg ausgeht, war nicht immer so. Gegründet im Jahr 1617, ist es die älteste klösterliche Niederlassung Bayerns.

 

Regensburg. 2.379 Stromkilometer sind wir noch vom Schwarzen Meer entfernt. In den Städten lässt es sich schlecht im Wald zelten, deshalb fahren wir auf einen Campingplatz. Im April ist dort noch nicht viel los, wir sind fast die einzigen Gäste. Kurz nachdem wir unser Zelt aufgestellt haben, rollt ein Biker auf die Wiese.

Der Kanadier Stuart ist auch auf großer Reise. In Mexiko sei er geradelt und käme jetzt gerade aus Rumänien, dort sei er bestohlen worden. Stuart spricht gut Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch, stottert aber stark. Jetzt habe er nur noch 6 € und wolle nach London zu seiner Freundin. Geld haben wir keines zu verschenken, aber wir geben ihm Tütensuppen und Schokolade.

Seltsam, dass Stuart, abgebrannt, wie er vorgibt zu sein, sich noch einen Campingplatz leistet. Nur 2 km weiter könnte er umsonst im Wald schlafen und das Geld sparen. Für die weite Reise hat er wenig Gepäck dabei auf seinem Rennrad. Und die dünnen Reifen haben alle Strapazen mitgemacht? Im Verlauf unserer Reise werden wir noch mehr über ihn erfahren.

In Regensburg besuchen wir das Münster und gruseln uns im Folterkeller der mittelalterlichen Inquisitoren unter dem Rathaus. Im Quälen und Vernichten ihrer Widersacher waren die Menschen schon immer sehr erfinderisch. Da gab es die Streckbank und Gewichte, die der Verurteilte angehängt bekam, während er selbst nur am Schlüsselbein aufgehängt an der Decke baumelte, und so manche >Hexe< wurde hier zum Sprechen gebracht. Hinter einem Holzgitter im Halbdunkel verborgen saßen die Gerichtsbarkeit und ein Priester, um der grausamen und blutigen >Wahrheitsfindung< beizuwohnen.

»Wo wollt ihr denn hin, mein Gott, soviel Zeuch haben die dabei, Eeerwin, guck doch mal!« schallt es hinter uns in gesundem Rheinländisch.

 

Eine Busladung Touristen hat uns entdeckt und will wissen, was für ein Teufel uns getrieben hat, so bepackt durch die Gegend zu reisen. Eine Frage, die uns in verschiedenen Varianten später noch viele Male gestellt werden wird. Zum Abschied fotografieren sie uns und rufen »Viel Glück!« hinter uns her, als wir über das alte Kopfsteinpflaster zur Stadt hinaus holpern. Wir können's gebrauchen, einen ganzen Sack voll! Knirschend rollen die Reifen über den Kies des sich friedlich windenden Weges. Die Felder liegen in erdigem Braun oder zartem Grün in die Landschaft verstreut wie ein Flickenteppich. Auf einmal verstummt das Vogelgezwitscher, als fast gleichzeitig ein dunkler Schatten schnell zu Boden fällt.

»Oje, dem ist nicht mehr zu helfen!« murmelt Peter, als wir an der Absturzstelle ankommen. Ein Eichelhäher hat die Oberleitung übersehen, so dass ihm der Draht im Flug glatt den linken Flügel abgerissen hat. Lautlos öffnet er nochmals den Schnabel, dann stirbt der schöngefärbte Flieger in meinen Händen.

 

Schon von weitem leuchtet sie hoch aus dem Wald heraus, die Nachbildung des Parthenons von Athen, hier >Walhalla< genannt. In Walhalla konnte einziehen, wer »teutscher Zunge sey«, und so kann man dort heute auch Schweizern oder Österreichern ins edelkalkgeweisste Antlitz blicken. Imposant sieht sie schon aus mit ihren 52 Säulen, 358 Stufen und einer Fläche von 2.100 m2. Allein die Flügeltüren sind fast 7 m hoch.

Am 18. Oktober 1842 wurde das Kolossaldenkmal nach zwölfjähriger Bauzeit eingeweiht. Den Schweiß haben die Götter bekanntlich vor das Vergnügen gesetzt. Wir müssen uns zu Fuß durch den frühlingslichten Wald den schönen Ausblick über das Donautal erarbeiten. Die Räder warten inzwischen bei einer Bauernfamilie am Fuße des Hügels. Allmählich stabilisiert sich das trockene Wetter, und eines schönen Samstags im Mai liegt Passau vor uns. Es ist schon zu spät, um die Stadt anzusehen, so suchen wir einen passenden Zeltplatz für die Nacht. Es ist ein schöner, ruhiger Abend, und bald stecken wir in den Schlafsäcken, aus denen wir aber nach kurzer Zeit erschreckt hochfahren, als ein Kleintransporter mit scharfem Reifengequietsche auf der Straße um die Kurve rast. Hinten aus dem LKW hören wir einen dumpfen Schlag und dann das entsetzte Gequieke von Schweinen, die es bei jeder Kurve durcheinander wirft.

Der Tee anderntags ist stark und heiß. Wir rappeln uns auf, um die Stadt zu erkunden. Gestern haben wir schon Plakate gesehen, die zum Besuch der >Maidult<, einem großen Volksfest, aufrufen. Also nix wie hin!

Unterwegs treffen wir schon auf viele festlich gekleidete Leute mit erwartungsfrohen Gesichtern. Musiker in Trachten sind mit ihren Umzugswagen sogar aus Österreich und der jungen Republik Tschechien angereist, um mit den Bayern zusammen zu feiern. Auch Schwarzwälder sieht man, die von Freiburg im Schwarzwald nach Bayern gezogen sind und hier ihr Brauchtum pflegen.

Bumm! Bumm! und nochmals: Bumm! krachen die Böller über dem ehemaligen Exerzierplatz. Die Rauchfahnen wehen davon, die Gaudi kann beginnen. Plötzlich erscheinen ganze Gruppen Fell behangener Männer, Frauen und Kinder mit Ziegen im Schlepptau. Bärenmenschen, Trommler und Fanfarenbläser sind die nächsten in dem langen Zug. Große Fahnen werden dicht über die Köpfe der Zuschauer geschwungen, Krapfen und >Würschtel< fliegen durch die Luft, dralle Schönheiten lassen die Oberweite und die spitzenbesetzten Unterröcke wippen.

Peter hat schnell herausgefunden, wo der wichtigste Platz ist. So stellt er sich mit dem Pfarrer im Talar in eine Reihe und genießt das gute Bier, das hier >Freibier< heißt und kostenlos verteilt wird. Um uns herum tobt der Umzug mit reichlich Gelächter und vielen Blechinstrumenten. Abwechselnd stromern wir durch die Menge, denn einer muss ja immer bei den Rädern bleiben. Irgendwann neigt sich der Umzug dem Ende entgegen. Um mich haben sich einige >gstandene Mannsbilder< mit Lederhose und Gamsbart am Hut versammelt.

Interessiert betrachten sie die Bikes und hören aufmerksam zu, als ich ihnen von unserem Vorhaben erzähle. Einer kramt eine verzierte Schnupftabakdose hervor und schüttet sich eine Prise auf den Handrücken, um sie mit lauten Pfeifgeräuschen einzuschniefen.

»Wollt's ihr nix schoffn?« fragt er und streicht sich über den beachtlichem Bierbauch.

»Wir haben viele Jahre geschafft«, antworte ich, »jetzt wollen wir erstmal etwas die Welt kennenlernen, bevor wir zu alt zum Reisen sind.«

Der Stämmigste unter ihnen spricht aus, was so mancher seiner Freunde vielleicht auch denkt. Er würde ja eigentlich auch gern so drauflos reisen, aber bisher fehlte ihm vor lauter Hausbauen, Familie und Arbeit die Zeit. Vielleicht fehlt aber auch ein bisschen der Mut.

»Man sollt' wirklich mehr ans Leb'n denken«, murmelt er, »bevor's z'spat is«. Die anderen lachen, doch dieser Mann bleibt ernst.

Da - eben ist der letzte Bierwagen um die Ecke gebogen, gezogen von sechs geschmückten, schweren Brauereipferden. Es wird Zeit, sich aufzumachen zur >Wiesn<, denn dort heißt es: »Ozapft is!« Alles, was laufen oder sich wenigstens fortbewegen kann, ist unterwegs. Karussells sausen im Kreis herum, Losverkäufer brüllen mit roten Gesichtern, an den Boxautos dröhnt Discomusik, und in den Bierzelten riecht es nach Kasseler Fleisch, Schweinebraten, Senf und Bier. Bis jetzt war der Spaß noch umsonst gewesen, doch angesichts der Preise rutscht unser Herz etwas tiefer. So kommt es, dass man uns mitten in diesem Trubel nur eine Fischsemmel essen sieht, ein kleines Bier teilen wir uns. Wir brauchen das Geld für Wichtigeres.

Was soll's! Auf uns wartet noch Großes. Der Weg führt weiter durch herrlich rauschende Wälder, durch deren Blätterdach jetzt sogar die Sonne leuchtet. Splitt auf einsamen Feldpfaden knirscht unter den Reifen, und manchmal singen wir lauthals unsere Lebensfreude heraus.

Wenn man wie wir langsam reist, hat man genügend Zeit, seine Umgebung aufmerksam zu betrachten. Vor einem Supermarkt fällt uns eine junge Mutter auf, die sich angeregt mit einer Bekannten unterhält, während sich plötzlich ihr Kinderwagen mit dem Baby selbständig macht und die Straße hinunterrollt. Die Mutter rennt dem Wagen hinterher, fängt ihn ein -und schimpft lautstark mit dem Säugling. Oder der Hund, der an der Leine neben seinem Herrn hergetrottet kommt, sich brav hinsetzt und zitternd wartet, weil ihm das Halsband runtergerutscht ist. Prompt bekommt er dafür einen Klaps.

Auffallend ist das oftmals unfreundliche oder sogar ablehnende Verhalten von Tankstellenpächtern, wenn wir um Trinkwasser bitten oder darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Anscheinend sind viele Menschen hier nur noch gegen Bargeld zur Freundlichkeit bereit. Ich ärgere mich darüber und nehme mir vor, diese Tankstellen nach der Radreise, wenn ich wieder mit dem Auto unterwegs bin, zu meiden.

Manchmal fällt es mir schwer, mit Peter mitzuhalten. Er ist einfach größer und stärker und kommt viel leichter mit dem schweren Rad zurecht. Bereits vor der Reise hat er versprochen, auf meine fehlende Kondition Rücksicht zu nehmen. Jetzt freue ich mich, dass er wirklich immer wieder geduldig auf mich wartet und mir Zeit lässt, mein Reisetempo langsam zu steigern. Außerdem ist er ein fröhlicher, optimistischer Mensch, mit dem das Reisen Spaß macht.

 

Peter:

»Halt an, halt an!« ruft Elena.

»Was ist los, eine Panne?« frage ich erschrocken.

»Nein, hier ist ein kühler Bach. Wir können uns super erfrischen«, klingt es an mein Ohr.

Gesagt, getan. Die Sonne brennt heftig, und so plätschern wir im klaren, kühlen Wasser und bespritzen uns gegenseitig. Eine Köstlichkeit, die wir in fernen Ländern wohl noch vermissen werden. Wie oft haben wir uns solche Momente gewünscht, wenn wir an unseren Arbeitsplätzen in die Hektik des Alltags eingespannt waren.

Termine, Pflichten, Geschwindigkeit. Als Folge des ungesunden Daseins stellten sich Nervosität, Herz- und Magenbeschwerden ein. Jetzt lassen wir erstmal die Seele baumeln und genießen das Leben. Man gönnt sich ja sonst nix.