DIETER ROHRBACH

 

WILDES MADAGASKAR

 

Achtzehn Artikel, die uns ein großes Land besser verstehen lassen

 

 

 

©2013 Mafy Be Verlag www.mafy-be-verlag.de

Copyright der eBook-Ausgabe ©2014 Verlag Rad und Soziales

www.radtouren4u.de

 

 

Coverlayout: Sabine Geiger Fotografik und Werbeagentur. www.sgeiger-wa.de


 

Der Autor

Dieter Rohrbach. 1967 geboren, von Beruf Krankenpfleger für Intensivmedizin.

Hat Madagaskar seit 2004 regelmäßig bereist. Nachdem es auf dem deutschen Buchmarkt kaum Reiseführer gab, reifte der Entschluss, selber einen zu schreiben.

2012 Veröffentlichung des Reisehandbuches "Madagaskar erleben" (mittlerweile 2. Auflage).

Seit 2011 auch Organisation von Madagaskar-Reisen und individuelle Reiseberatung.

Kontakt zum Autor: dieterrohrbach@yahoo.de

 

Das Buch

Wildes Madagaskar: Achtzehn Artikel über ein großes und weitgehend unbekanntes Land. Texte, die dem Leser ein tieferes Verständnis für manche Eigenarten der roten Insel vermitteln und die als Ergänzung zum Reisehandbuch "Madagaskar erleben" dienen können. Spannende Themen wie: Postkoloniale Politik, Pädophilie und Prostitution, Woher kamen Sie?, Piraten und Piratenhändler, Der Raubbau an Edelhölzern usw. erzählen spannende Geschichten und viel über das abwechslungsreiche Land.


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Vorwort

Beim Verfassen meines Reisehandbuches „Madagaskar erleben" wurde mir an einigen Stellen klar, dass manche Themen einer sehr viel näheren Erörterung bedürfen und zu komplex sind, um sie mit ein paar Zeilen abzutun.

Die Natur eines Reisehandbuches zwingt zur kurzen, prägnanten Darstellung von Sachverhalten, viele Fragen bleiben dabei dennoch unbeantwortet oder werden gar neu gestellt. Dazu kommt, dass die Schwerpunkte eines Reisehandbuches gewisse „Unverbindlichkeiten" erzwingen, unschöne Erscheinungen werden nicht ganz so weit ausgeschmückt, um neugierige Reisende nicht von Anfang an zu vergrämen!

Es gibt jedoch Realitäten auf Madagaskar, die dem Reisenden, der genau hinschaut, nicht verborgen bleiben, sie liegen abseits der schönen Bilder von Baobabs, lachenden Kindern und sanften Lemuren. Denn Madagaskar ist - so sehr es uns als Reiseland fasziniert - ein bettelarmes Land mit „the worst economy in the world" und all den biblischen Plagen eines Entwicklungslandes! Der Reisende darf nicht erwarten, völlig losgelöst in einer eigenen, selbst finanzierten Seifenblase durch Madagaskar zu schweben: man muss gar nicht so genau hinsehen, um über kurz oder lang auf Dinge zu stoßen, die so gar nicht ins Bild eines Tropenparadieses passen mögen.

"WILDES MADAGASKAR" ist daher gedacht als Ergänzung zum Reisehandbuch "MADAGASKAR ERLEBEN" und enthält Texte und Betrachtungen, die erstens den Rahmen des Reisehandbuches gesprengt und zweitens zu viel Unruhe und dunkle Wolken hineingebracht hätten. Letztlich bin ich aber Optimist: ich glaube, dass die Madagassen einen Weg finden werden, der sie aus dem Elend heraus eine bessere Zukunft finden lässt. Denn ein ums andere Mal, jedes Jahr führt mich mein Weg zur roten Insel, die mir je länger je lieber geworden ist. Obwohl oder gerade weil ich bei jedem Besuch mehr hinter die Traumkulissen des Naturwunders Madagaskar schauen durfte. Und dabei viel Schönes und Scheußliches entdeckt habe!

Wer Madagaskar erleben will oder schon erlebt hat, wird die vorliegenden Betrachtungen und Exkurse richtig einordnen und werten können. Wer noch dabei ist, das Land kennen zu lernen, findet nützliche Ergänzungen und nachdenklich machende Dinge, die vielleicht nicht ganz in sein mühsam geformtes Bild passen. Die Texte an sich fußen natürlich auf selbst Erlebtem und umfangreichen Recherchen - hierbei bin ich insbesondere den Autoren Moritz August von Benyowski, Arkady Fiedler und Prof. Sergej Kulik verbunden, durch deren Reiseerinnerungen ich unschätzbare Informationen erhielt.

Die Menschen Madagaskars schließlich, die mir all die Bruchstücke geliefert haben, aus denen ich dieses Werk erstellt habe, sind zu zahlreich, um Sie alle zu nennen, ich sage daher nur

„Misaotra"!


 

Der biologische Genozid

Eine ökologische Katastrophe und ihre Folgen

Die Kolonisation Madagaskars war schwierig, kostspielig und letztendlich nicht wirklich erfolgreich. Betrachtet man die immensen Summen, welche Frankreich u. a. in den Bau des Canal des Pangalanes, der Eisenbahnlinien und der übrigen Infrastruktur verwendete, war die ganze Sache wenig ertragreich!

Zu Beginn des 20. Jhd. jedoch glaubten die Franzosen fest daran, das rückständige Volk der Madagassen durch neue, fortschrittliche Organisationsformen zur nutzbringenden Einkommensquelle der „Grande Nation" werden zu lassen. Dazu gehörte auch eine Kopfsteuer („capitation"), die jeder Madagasse zu entrichten hatte - die Steuer entsprach mehreren Monatslöhnen eines Arbeiters, bei Nichtentrichtung drohte Haft und/oder Zwangsarbeit! Besonders die Bewohner des heißen Südens stellten die Kolonialverwaltung dabei auf eine besondere Probe: Waren diese nicht nur besonders widerspenstig bei der Verpflichtung zur Zwangsarbeit, stellten ihre Siedlungsbauten ein fast undurchdringliches Hindernis dar: Opuntia vulgaris, auch Feigenkaktus und auf malagasy "raiketa" genannt, stellte traditionell die Umfriedung aller Dörfer im wilden Süden dar: die mächtigen Schutzwälle aus jahrhundertealten Kakteenwäldern waren eine Barriere, welche selbst die Franzosen zunächst nicht durchdringen konnten. Im Jahre 1922 begannen die Franzosen daher mit einer Maßnahme, die völlig neu und unerwartet war: biologische Kriegsführung! Da Opuntia vulgaris keine endemische Art darstellt und Verwandte in Südamerika besitzt, hatten aufmerksame Fachleute bald erkannt, dass es die natürlichen Feinde der Feigenkakteen in Madagaskar offenbar nicht gab. Dieser Feind war ein unscheinbares Insekt, die Cochenille-Schildlaus (Coccus cacti). Anfang 1923 gezielt aus Südamerika hergebracht und ausgesetzt, entwickelte sich die Schildlaus zum schrecklichsten Völkermörder, den Madagaskar bis heute zu erdulden hatte: Mit bis zu 100 Kilometern pro Jahr breiteten sich die Schädlinge aus, bis 1928 war ein Siebtel der gesamten Landesfläche Madagaskars nachhaltig geschädigt, pro Jahr verhungerten etwa 300.000 Zebus und eine nicht genau bezifferbare Zahl von Menschen, von den Folgen für die sekundäre Natur wie Vögel, Reptilien und Säugetiere ganz zu schweigen.

Denn die Schildläuse beschränkten sich in ihrem maßlosen Expansionsdrang nicht auf die Opuntien, sondern fielen auch über andere endemische Pflanzenarten her und vernichteten diese im Handumdrehen. Bis in die 40er Jahre hinein waren Hungersnöte im Süden fast die Regel, was gewiss nicht nur den ohnehin schwierigen Lebensbedingungen in dieser Region geschuldet ist. Denn die ortsansässigen Antandroy, Antanosy und Mahafaly lebten seit Jahrhunderten in der Dornenwüste und fanden unter normalen Bedingungen ihr Auskommen. Bis die Läuse kamen! Man kann durchaus sagen, dass sich Madagaskars Süden bis heute nicht von diesem grässlichen Anschlag erholt hat - zumindest zählt diese Region seit diesen Tagen zu den immer wiederkehrenden Brennpunkten von Hunger und Seuchen. Und wie zum Hohn zogen gewiefte französische Geschäftsleute auch aus dieser Katastrophe noch reichlichen Profit: vor allem Kinder wurden gezwungen, die Schildläuse von den Kakteen zu „ernten", um daraus den begehrten Farbstoff Cochenillerot zu gewinnen.

Wer sich heutzutage in den Süden Madagaskars begibt, dem fallen nicht nur die eigentümlichen Zeugnisse der hier lebenden Menschen - von den Stämmen der Mahafaly, Antandroy und Antanosy - sondern auch die stetigen Probleme auf, die die Bewohner zu ständiger Mangelwirtschaft zwingen. Wasser - in trinkbarer Qualität - stellt eine der größten Kostbarkeiten dar, die den Bewohnern zugeteilt werden kann. Viele Kilometer Wegstrecken sind notwendig, um die Menschen mit dem lebensnotwendigen Nass zu versorgen, in der Trockenzeit von September bis Januar, wenn praktisch alle größeren Flüsse des Südens zu erbärmlichen Rinnsalen verkommen, bleibt den Menschen keine andere Wahl, als in den sandigen, ausgetrockneten Flussbetten nach dem unverzichtbaren Wasser zu graben....

Infektionskrankheiten und Mangelerkrankungen vielfältiger Art gehören hier zum Alltag! Man fragt sich als Reisender in der Tat, was die Menschen überhaupt dazu bringt, sich ausgerechnet hier eine Heimat zu suchen: so märchenhaft und fremdartig uns vor allem die einzigartige Vegetation des Südens ins Auge fällt und unser Herz erfreut, so abweisend auf Menschen erscheint sie. Die Traditionen der ansässigen Stämme haben jedoch angepasste Methoden entwickelt, mit denen Mensch und Vieh dennoch über die Runden kommen. Hier wird deutlich, welch ungeheurer Schlag es für die Menschen war, als die Franzosen mit den Schildläusen kamen und alles verändert haben... So ist es dem Festhalten an der Tradition und der tiefen Verbundenheit zum Land zu schulden, dass immerhin mehrere Millionen Menschen und Zebus im heißen Süden leben.

Jedoch soll nicht verschwiegen werden, dass die Bewohner des Südens schon sehr früh begannen, aus ihrer Stammheimat auszuwandern, um in anderen Landesteilen ihr Glück zu machen. Besonders die Antandroy sind traditionell als Nachtwächter in ganz Madagaskar beliebt. Sie fürchten sich nicht in der Nacht, anders als die meisten anderen Volksstämme, denen die Nacht unheimlich und als Tummelplatz von Geistern und Dämonen suspekt ist. Und weil „Völkerwanderungen" immer auch eine Wanderung von Anschauungen und Ideen sind, verbreiten sich damit auch Sitten und Gebräuche, gute und weniger gute. Zu den weniger guten gehört das auch als „slash and burn" bekannte tavy, das Urbarmachen von unberührten Waldflächen durch Axt und Feuer. Hier könnte man einwenden, dass Madagaskar in der Vergangenheit durch derlei Tun schon stark verändert wurde, es heißt, das ganze Hochland sei einst bewaldet gewesen und von den Merina und Betsileo gezielt niedergebrannt worden, ein jahrelanges Feuer soll die Insel weithin erleuchtet haben. Allerdings ist der unberührte Waldbestand derart geschrumpft, dass viele Tiere bereits ausgestorben sind oder ihr Überleben bedroht ist. Vor allem die seltenen Trockenwälder des Westens mit ihrer eigentümlichen Fauna sind Rückzugsorte geworden, welche ständig vom Feuer bedroht sind. Es sind vor allem Immigranten aus dem Süden, die diese Tradition mitbringen, im heißen Süden verursacht tavy bei den dortigen Vegetationsverhältnissen längst nicht die selben langfristigen Schäden! Hier aber braucht der Wald, falls er sich überhaupt erholen kann, was nach Meinung von Fachleuten durchaus möglich ist, viele Jahre, um wieder zu grünen.

Ferner fallen den allmählich nach Norden wandernden Menschen des Südens auch allerhand Tiere zum Opfer, die von anderen Madagassen gemieden werden: hier seien die seltenen Landschildkröten an erster Stelle genannt, welche die Bewohner des Südens traditionell fangen und verzehren.

Wer den Süden Madagaskars nicht kennt, kann das Land nie in seiner Gesamtheit begreifen. Er begreift aber, dass die Menschen der roten Insel, obgleich sie zumindest die allgemeine Armut teilen, in dieser Hinsicht noch erhebliche Abstufungen haben! Nirgendwo sonst auf der großen Insel sieht man derart bitterarme Menschen, die Märkte sind eintönig und vor allem von Süßkartoffeln dominiert, es fehlt an fast allen technischen Mitteln, erbärmliche Hütten bieten den meisten Menschen notdürftige Behausungen. Der Reisanbau ist in weiten Teilen der Region unmöglich, selbst der Mais tut sich angesichts der ständigen Dürre schwer, oft bleibt den Menschen nichts anderes, als die Blätter der Opuntien zu verzehren, nachdem sie zuvor die Stacheln im Feuer abgebrannt haben, eine Technik, die sie sonst nur anwenden, um Futter für die Zebus zu gewinnen...