Liane Holliday Willey
Ich bin Autistin – aber ich zeige es nicht
Leben mit dem Asperger-Syndrom
Mit einem Vorwort von Tony Attwood
Aus dem amerikanischen von Katrin Götz
Copyright © 1999 Liane Holliday Willey; Foreword copyright © 1999 Tony Attwood
This translation of Pretending to be Normal is published by arrangement with Jessica Kingsley Publishers Ltd.
Copyright der eBook-Ausgabe © 2013 Verlag Rad und Soziales
www.autismus-buecher.de
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Pretending to be Normal
Die deutsche Buchausgabe ist mit der ISBN 978-3451053009 im Herder Verlag erschienen
Die Autorin
Liane Holliday Willey ist eine der führenden Kapazitäten zum Thema Asperger-Syndrom. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin lebt in Michigan, USA, und arbeitet dort als Hochschullehrerin.
Das Buch
„Meine Tochter hat Asperger!" Liane Willey hatte von dieser Krankheit noch nie gehört, und nun erfährt sie: Unter Asperger oder „High-function-Autismus" leiden viele Menschen, ohne es zu wissen - „besondere" Menschen, die zu zurückgezogenem oder egozentrischem Verhalten neigen, die oft hoch begabt sind, aber an Selbstwertproblemen, Überempfindlichkeit, Unsicherheit, Verzweiflung leiden. Sie fühlen sich mitunter wie „Ausländer im eigenen Land" oder wie „Außerirdische, die auf einem falschen Planeten gelandet sind". Die Diagnose ihrer Tochter verändert ihr Leben, denn Liane Willey begreift, dass sie seit Jahrzehnten mit den gleichen Symptomen zu kämpfen hatte: „Ich kann die Erleichterung nicht ausdrücken, die ich empfand, als ich schließlich realisierte, dass meine Tochter und ich nicht an einer Geisteskrankheit oder einer gespaltenen Persönlichkeit litten oder etwas Ähnlichem. Wir haben Asperger. Damit können wir leben! Wir können unsere Ziele und Träume erreichen, und wir können unser Leben weiterführen - mit Optimismus und Hoffnung. Wie aufregend die Erkenntnis, dass ich ganz einfach Dinge anders sehe, anders auffasse, anders empfange als andere und dass das so in Ordnung ist. Es ist meine Normalität."
Liane Willey erzählt ihre Lebensgeschichte von der frühen Kindheit über die Schul- und Collegezeit bis zum Leben als Berufstätige und Mutter von drei Kindern. Sie macht deutlich, wie die Welt von einer „Aspie" erlebt wird - von den Strategien, mit denen es ihr gelang, ihren eigenen Weg zu finden, aber auch von dem oft erheblichen Leidensdruck, der damit einherging.
In einem Anhang folgen praktische Hinweise „von immenser Präzision, was die Vorschläge (und Erfahrungen) angeht, im Alltag Probleme zu bewältigen, die sich einem Menschen mit Asperger-Autismus stellen" (Ulrich Rabenschlag).
Ein persönliches Buch, das die Menschen, die Asperger haben - einer großen europäischen Studie zufolge in Deutschland pro Jahrgang ca. 5000 Menschen -, in ihrer Besonderheit versteht und ihnen Achtung und Sympathie entgegenbringt. Ein spannender Fallbericht nicht nur für Betroffene, sondern auch für Eltern, Erzieher, Lehrer, Psychologen und Ärzte.
Inhaltsverzeichnis
Nichts, was ich jemals tue, sehe, fühle - überhaupt nichts, was mir in meinem Leben jemals begegnen wird, wird für mich so wichtig sein, wie es meine Kinder für mich sind, Lindsey Elizabeth, Jenna Pauline und Meredith Madeline. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Lianes Autobiographie wird es anderen Menschen erlauben, die Welt so zu sehen, wie sie jemand sieht, der das Asperger-Syndrom hat. Aufgrund dieser Erkrankung ist sie eine verwirrte Fremde in unserer sozialen Welt. Eloquent beschreibt sie sich selbst als eine derjenigen Leute, „die nie wirklich ihren Weg gefunden haben, aber auch nicht wirklich von ihrem Weg abgekommen sind". Sie hat eine Tochter mit dem Asperger-Syndrom, und die Diagnose ihres Kindes hat dazu geführt, dass sie ihre eigene Erkrankung erkannt hat. Liane bringt ihren Kindern heute die gleichen Strategien bei, die sie sich selbst angeeignet hat, um sich in unserer, wie sie sagt, „normalen Welt" zurechtzufinden. Der große Vorzug ihres Buches über das Asperger-Syndrom liegt darin, dass anderen Menschen mit dem Asperger-Syndrom die Gelegenheit gegeben wird, ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Erfahrungen wiederzuerkennen. Sie ist eine Mitreisende für diese Menschen. Und sie gibt reichlich Anlass dazu, auf eine bessere Zukunft zu hoffen, denn es ist ihr gelungen, einen Partner zu finden, der sie versteht und unterstützt. Sie hat eine erfolgreiche berufliche Karriere hinter sich und sie geht davon aus, dass „sich die meisten meiner Asperger-typischen Symptome weiterhin langsam zurückbilden werden".
Den Familien und Freunden von Menschen mit dem Asperger-Syndrom wird die Möglichkeit geboten, ein Kind oder einen erwachsenen Menschen mit einer neuen Perspektive zu sehen, besonders wenn ihnen diese Menschen bisher ihren Standpunkt nicht so schlüssig vermitteln konnten. Liane wird ihr Sprachrohr sein, und besonders Eltern werden jede einzelne Seite ihrer Autobiographie voller Spannung umblättern, um zu erfahren, was als Nächstes geschehen ist, wie sie es geschafft hat, mit den Ereignissen fertig zu werden, damit sie dieses neu erworbene Wissen für das Verständnis ihrer eigenen Söhne oder Töchter nutzen können. Ich empfehle Lehrern dieses Buch wärmstens, weil es ihnen Erklärungen für bisher wenig verständliche Verhaltensweisen liefert, die ihnen zunächst vielleicht unangepasst erschienen oder schlichtweg nicht normal vorkamen. Für Spezialisten und Therapeuten, die diese Kinder diagnostizieren und behandeln, wird das Buch ein Schatzkästchen voller Einblicke und Informationen sein. Ich selbst werde Liane häufig zitieren, um das Syndrom gut verständlich zu erklären. Ich werde ihre Strategien anwenden, um meinen Patienten, die ich betreue, dadurch zu helfen. Es ist interessant, dass Liane am Ende ihres Buches sagt: „Trotz all dieser Schrecken wünsche ich mir nicht wirklich die Heilung des Asperger-Syndroms herbei. Wonach ich mich sehne, das ist die Heilung von einer weit verbreiteten Krankheit, unter der so viele leiden; die kranke Vorstellung, sich immerzu mit den normalen Menschen vergleichen zu wollen und dabei perfekte und absolute Maßstäbe anzulegen, die fast niemand erfüllen kann." Es lohnt sich zweifellos, über die weit reichenden kulturellen und philosophischen Implikationen dieser Aussage nachzudenken.
Als Liane mir ihr Manuskript geschickt hat, hatte sie einen Notizzettel beigelegt, auf dem stand: „Ich hoffe, Ihnen gefällt das Buch. Viele Grüße von Ihrer Freundin Liane." Ich fühle mich nicht nur geehrt, als ein Freund von ihr angesehen zu werden, sondern ich halte sie für eine Heldin, deren Buch für viele Tausend Menschen in der ganzen Welt eine Inspiration sein wird.
Dr. Tony Attwood, Februar 1999
So viele Menschen haben mein Leben durch ihre Güte verändert, meist ohne es überhaupt zu wissen. Wenn es ihre Unterstützung nicht gegeben hätte, dann würde ich heute immer noch vorgeben, jemand anderes zu sein, der ich nicht bin. Meinen allerherzlichsten Dank an
•Tony Attwood dafür, dass er sich um alle Menschen mit dem Asperger-Syndrom verdient gemacht hat.
•alle meine Freunde mit dem Asperger-Syndrom, die ich über die OASIS-Webseite kennen gelernt habe, denn sie haben mir so viel von dem beigebracht, was ich jetzt weiß.
•Sarah Abraham und Lisa Dyer für ihre unerschöpfliche Unterstützung und unzählige richtungsweisende Hinweise.
•Pfarrer Richard Curry, weil er mir gezeigt hat, wie ich meinen Glauben finden kann.
•meinen liebsten Freund Oliver Weber für sein Lachen und seine tollpatschigen Umarmungen.
•Maureen Willey ganz einfach dafür, dass sie meine Schwester ist.
•Margo Smith dafür, dass sie meine Freundin ist.
•meine Mutter Janett Holliday dafür, dass sie mir meine Hartnäckigkeit, viel Kraft und Mut gegeben hat.
•meinen Vater John T. Holliday dafür, dass er mir beigebracht hat, wie man unabhängig, redlich und ehrenhaft denken kann.
•meinen Mann Thomas Willey, der immer meine Hand hält, unabhängig davon, was ich gerade tue und wie ich mich dabei verhalte.
•meine kostbaren und wunderbaren Töchter Lindsey, Jenna und Meredith dafür, dass sie mir die Stärke geben, die mich immer neu belebt, die Lebensfreude, die meine Seele beflügelt, und die Liebe, die mein Herz wissen lässt, dass ich mich nicht mehr verstellen muss, sondern dass ich einfach ich selbst sein kann.
Und zum Schluss in tiefster Dankbarkeit Gott im Himmel, der für mich da war, als ich ihn anrief.
Tony Attwood schreibt in seinem Buch Asperger’s Syndrome: A guide for Parents and Professionals (1998; dt. 2000), dass vielen Erwachsenen erst klar wird, dass sie unter dem Asperger-Syndrom leiden, wenn sie durch die Diagnose eines Familienangehörigen auf das Krankheitsbild aufmerksam gemacht werden. So ist es in unserem Fall auch gewesen. Bei meiner sieben Jahre alten Tochter ist vor einem Jahr ein Asperger-Syndrom (AS) festgestellt worden. Ihre Diagnose eröffnete für meine Familie und mich neue Möglichkeiten, wie wir unsere Selbstkenntnis ausweiten konnten. Wir hatten zuvor noch nichts über das Asperger-Syndrom gehört, aber sobald wir etwas darüber wussten, begannen wir die Asperger-typischen Eigenschaften und Merkmale in vielen Familienmitgliedern wiederzuerkennen, mich selbst eingeschlossen.
Bis heute bin ich auf AS nie formal getestet worden. Bis heute habe ich niemanden in der Gegend, in der ich lebe, gefunden, der Erwachsene auf das Asperger-Syndrom hin evaluieren kann. Aber das ist auch ganz in Ordnung so. Ich brauche eigentlich keine Diagnose, um mir zu bestätigen, was ich schon weiß. Was ich benötige, das ist ein größeres Wissen darüber, wie ich meiner Tochter weiterhelfen kann, das sind Informationen darüber, wie ich mich selbst weiterentwickeln kann und wie ich der Öffentlichkeit dabei helfen kann, das Asperger-Syndrom zu verstehen. Ich hoffe, dass das Buch allen, die es lesen, dabei helfen wird, die Entdeckungsreise zu beginnen - entweder ihre eigene oder die einer Person, die ihnen nahe steht.
Das Feld der Erkrankungen im Formenkreis des Autismus ist weit. Innerhalb seiner Grenzen findet sich ein weites Spektrum an Dingen, die jemand kann, und Dingen, die jemand nicht kann, ein breites Spektrum unterschiedlicher Merkmale. Die Diagnose ist fließend, sie hat keinen definierten Anfang und kein festes Ende. Wissenschaftler sind sich unschlüssig über die Ursachen für den Autismus. Erzieher diskutieren darüber, wie man am besten damit umgehen kann. Psychologen wundern sich immer wieder darüber, wie sie eigentlich zwischen den vielen Unterformen unterscheiden sollen. Eltern sind sich darüber im Unklaren, wie sie mit der einen vorliegenden Unterform umgehen sollen. Und die Menschen, die an einer Erkrankung aus dem autistischen Formenkreis leiden, haben häufig gar keine Stimme. Der Autismus betrifft viele und ist dennoch eine der am häufigsten missverstandenen Erkrankungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
In diesem Buch wird in die Welt des Autismus geblickt, und es wird das Asperger-Syndrom ausführlich vorgestellt. AS ist eine relativ neue Diagnose im autistischen Formenkreis, die erstmals von Hans Asperger 1944 beschrieben worden ist und ihre Bekanntheit erst erlangt hat, als Forscher wie Uta Frith, Loma Wing und Tony Attwood in den 1990er Jahren die internationale Aufmerksamkeit darauf gelenkt haben. Menschen mit dem Asperger-Syndrom haben, genau wie Menschen mit anderen verwandten Autismusformen, Defizite im sozialen Umgang, in ihrer Kommunikation und ihrem Einsichtsvermögen, auch wenn dies nur in einem geringerem Ausmaß der Fall ist. Gemäß den durch Gillberg und Gillberg (1989) eingeführten diagnostischen Kriterien sind folgende Eigenschaften für Patienten mit dem Asperger- Syndrom charakteristisch: Defizite im sozialen Umgang, eingeschränkte Interessen, bestimmte sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Eigenarten in der Sprachentwicklung, nonverbale Kommunikationsschwierigkeiten sowie eine motorische Ungeschicklichkeit. Hierbei muss aber darauf hingewiesen werden, dass man sich unbedingt klar machen sollte, dass jedes dieser Symptome sich unterschiedlich und ganz und gar einzigartig manifestieren kann, je nachdem, was für Fähigkeiten die betroffene Person besitzt. Innerhalb des Asperger-Syndroms gibt es starke Unterschiede in der Ausprägung der Symptome. Bei vielen Menschen wird nicht erkannt, dass sie unter dem Asperger-Syndrom leiden, sie werden diese Diagnose niemals erhalten. Sie werden mit anderen Diagnosen oder ganz und gar undiagnostiziert weiterleben. Wenn die Dinge gut gelaufen sind, werden sie als ausgesprochene Egozentriker unter uns leben, von denen wir uns aufgrund ihrer ungewöhnlichen Eigenarten und ihrer schier endlosen Kreativität hinreißen lassen. Sie erfinden vielleicht technische Spielereien, die uns staunen machen und uns das Leben erleichtern sollen. Sie sind diejenigen, die als Genies neuartige mathematische Formeln entdecken, als begabte Musiker und Autoren und Künstler unser Leben so sehr beleben. Wenn die Dinge relativ neutral verlaufen sind, dann werden sie als Einzelgänger leben, die nie so richtig wissen, wie sie andere grüßen sollen, als Entrückte, die sich nicht sicher sind, ob sie andere überhaupt grüßen wollen, als Sammler, die jeden auf dem Flohmarkt mit Namen und Geburtsdatum kennen, und als Nonkonformisten, die ihre Autos mit politischen Aufklebern bedecken, und auch ein paar Universitätsprofessoren werden dabei sein. Am meisten werden uns diejenigen auffallen, die als einsame Seelen versuchen in unseren persönlichen Bereich einzudringen, die regelmäßig bei jeder abendlichen Tischgesellschaft ganze Unterhaltungen mit zehn Tischen weit entfernten Gruppen führen oder die wie Roboter sprechen. Es sind die Charaktere, die darauf bestehen, tagein, tagaus die gleichen Socken anzuziehen und immer das gleiche Frühstück zu essen; es sind die Menschen, die nie wirklich ihren Weg gefunden haben, aber auch nicht wirklich von ihrem Weg abgekommen sind.
Die Prognose für Menschen mit dem Asperger-Syndrom ist recht unterschiedlich. Es hängt nicht nur viel von den Fähigkeiten der betroffenen Person ab, sondern auch davon, wie gut das Interventionsprogramm mit den Bedürfnissen des AS-Patienten zusammenpasst. Es hängt von der Unterstützung jedes Einzelnen in der persönlichen Umgebung ab und von dem fortwährenden Einfluss der betreuenden Ärzte und Lehrer. Daher ist eine Prognose sehr relativ, und ich würde ausgehend von dem Grad der Betroffenheit durch das Asperger-Syndrom niemals versuchen zu quantifizieren, wer eine bessere Lebensqualität haben wird. Wenn wir Menschen mit dem Asperger-Syndrom nur ändern wollen, damit wir sie besser in die Gesellschaft einfügen können - ein in sich bereits dürftiges und undurchsichtiges Konzept -, gehen wir dann vielleicht in die falsche Richtung? Menschen mit dem Asperger-Syndrom sollten uns eigentlich viel Anlass dazu geben, dass wir sie, so wie sie jetzt sind, wertschätzen. Niemals sollten wir uns wünschen oder von ihnen verlangen, dass sie versuchen, so zu werden wie die sozial Bestangepasstesten unter uns. Wir sollten nur das anstreben, was ihnen dabei helfen kann, ein in jedem Sinne produktives, lohnendes, erfülltes Leben zu führen. Uns würde zu viel entgehen und sie würden noch mehr aufgeben, wenn unser Ziel höher oder tiefer gesteckt wäre.
Vielleicht drückt Tony Attwood (2000) diesen Gedanken am besten aus, wenn er über Menschen mit dem Asperger-Syndrom sagt: „... sie sind wie leuchtende Sterne am Himmel unseres Lebens. Unsere Zivilisation wäre eintönig und sehr langweilig, wenn wir nicht die Menschen mit AS unter uns hätten und sie und ihre Art in Ehren halten würden."