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ÜBER DEN AUTOR
Sir Arthur Conan Doyle wurde am 22. Mai 1859 in Edinburgh geboren. Er studierte Medizin und praktizierte von 1882 bis 1890 in Southsea. Reisen führten ihn in die Polargebiete und nach Westafrika. 1887 schuf er Sherlock Holmes, der bald seinen »Geist von besseren Dingen« abhielt. 1902 wurde er zu Sir Arthur Conan Doyle geadelt. In seinen letzten Lebensjahren (seit demTod seines Sohnes 1921) war er Spiritist. Er starb 1930 in Crowborough/Sussex.
ÜBER DAS BUCH
Dr. Watson berichtet über die Abschiedsvorstellung des Meisterdedektivs Sherlock Holmes, der sich endgültig in den Ruhestand auf seinem Landgut zurückgezogen hat. Sieben frühere Fälle des exzentrischen Kriminologen ergänzen den Erzählband.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Wisteria Lodge
Die Pappschachtel
Der Rote Kreis
Die Bruce-Partington-Pläne
Der Detektiv auf dem Sterbebett
Das Verschwinden der Lady Frances Carfax
Der Teufelsfuß
Seine Abschiedsvorstellung
VORWORT
Die Freunde von Mr. Sherlock Holmes werden mit Genugtuung vernehmen, daß er nach wie vor gesund und munter ist, wenn ihm auch gelegentliche rheumatische Anfälle zu schaffen machen. Er hat viele Jahre auf einem kleinen Landgut in den Downs, fünf Meilen von Eastbourne entfernt, mit dem Studium der Philosophie und der Landwirtschaft verbracht. Während dieser Zeit der Ruhe hat er sich trotz fürstlicher Angebote geweigert, weitere Fälle zu übernehmen, da er beschlossen hatte, daß sein Rückzug ins Privatleben endgültig sei. Das Heraufziehen des Weltkrieges veranlaßte ihn indessen, seine außergewöhnliche Kombination von intellektuellen und praktischen Fähigkeiten in den Dienst der englischen Regierung zu stellen, was historische Resultate zeitigte, von denen in Seine Abschiedsvorstellung berichtet wird. Eine Reihe früherer Erlebnisse, die lange in meiner Mappe gelegen haben, sind dieser Geschichte beigesellt, um den Band zu vervollständigen.
JOHN H. WATSON, M. D. A1
WISTERIA LODGE
1. Das eigenartige Erlebnis des Mr. John Scott Eccles
In meinem Notizbuch finde ich vermerkt, daß es ein trüber und windiger Tag gegen Ende März des Jahres 1892 war. Während wir beim Mittagessen saßen, hatte Holmes ein Telegramm erhalten und rasch eine Antwort hingekritzelt. Er äußerte sich nicht dazu, aber die Angelegenheit schien ihn weiter zu beschäftigen, denn etwas später stand er mit nachdenklicher Miene vor dem Feuer, rauchte seine Pfeife und warf hin und wieder einen Blick auf die Nachricht. Plötzlich wandte er sich mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen mir zu.
»Ich würde doch sagen, Watson, daß man Sie als einen Mann von Bildung zu betrachten hat«, sagte er. »Wie würden Sie denn das Wort ›grotesk‹ definieren?«
»Seltsam – merkwürdig«, schlug ich vor.
Er schüttelte den Kopf ob meiner Definition.
»Es steckt mit Sicherheit noch mehr darin«, entgegnete er; »ein Unterton von Tragik und Schrecken schwingt da mit. Wenn Sie Ihre Gedanken zu einigen jener Erzählungen zurückschweifen lassen, mit denen Sie Ihre langmütige Leserschaft traktiert haben, wird Ihnen auffallen, wie oft das Groteske ins Verbrecherische umgeschlagen ist. Denken Sie nur etwa an jene Episode mit den Rotschöpfen. A2 Die hätte am Anfang kaum grotesker sein können, und doch lief sie zum Schluß auf den tollkühnen Versuch eines Bankraubs hinaus. Oder auch jene äußerst grotesk anmutende Angelegenheit mit den fünf Orangenkernen, welche in direkter Verbindung mit einem Mordkomplott stand. Mich macht dieses Wort hellhörig.«
»Steht es da drin?« fragte ich.
Er las mir das Telegramm vor.
Hatte soeben äußerst unglaubliches und groteskes Erlebnis. Darf ich Sie konsultieren?
SCOTT ECCLES
Postamt Charing Cross
»Mann oder Frau?« fragte ich.
»Ah, ein Mann natürlich. Eine Frau würde nie ein Telegramm mit bezahlter Rückantwort senden. Sie würde einfach herkommen.«
»Werden Sie ihn empfangen?«
»Mein guter Watson, Sie wissen doch, wie sehr ich mich langweile, seit wir Colonel Carruthers hinter Schloß und Riegel gebracht haben. Mein Geist ist wie eine Maschine, die leerläuft und sich selbst in Stücke reißt, weil sie nicht mit dem Räderwerk gekoppelt ist, für das sie konstruiert wurde. Das Leben ist banal; die Zeitungen sind geistlos; Wagemut und Romantik scheinen auf immer aus der Welt des Verbrechens entschwunden zu sein. Wie können Sie mich da noch fragen, ob ich gewillt bin, ein neues Problem in Augenschein zu nehmen, wie trivial auch immer es am Ende sein mag. Aber da ist, wenn mich nicht alles täuscht, ja unser Klient.«
Man hörte einen gemessenen Schritt im Treppenhaus, und einen Augenblick später wurde eine große, stattliche, auf imposante Weise respektabel wirkende Gestalt mit grauem Backenbart ins Zimmer geführt. In seiner gravitätischen Miene und seinem würdevollen Auftreten stand die Geschichte seines Lebens geschrieben. Von den Gamaschen bis zu der goldgeränderten Brille war er ein Konservativer, Kirchgänger und rechtschaffener Bürger, orthodox und traditionsverhaftet bis zum Äußersten. Aber irgendein bestürzendes Erlebnis hatte die ihm eigene Gemütsruhe gestört und in seinem wirr abstehenden Haar, auf den zorngeröteten Wangen und in seinem aufgescheuchten, erregten Gebaren Spuren hinterlassen. Er sprudelte sogleich sein Anliegen hervor.
»Mr. Holmes, ich habe ein äußerst eigenartiges und unerfreuliches Erlebnis hinter mir«, sagte er. »Nie in meinem ganzen Leben bin ich in eine solche Situation gebracht worden – eine äußerst unschickliche, äußerst empörende Situation. Ich muß auf einer Erklärung bestehen.« Er schnaubte und prustete vor Wut.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr. Scott Eccles«, sagte Holmes in beschwichtigendem Ton. »Darf ich zuerst einmal fragen, was Sie überhaupt zu mir führt?«
»Nun, Sir, die Sache schien mir nicht gerade ein Fall für die Polizei zu sein, und doch werden Sie, sobald Sie die Einzelheiten vernommen haben, zugeben müssen, daß ich sie nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte. Privatdetektive sind zwar eine Sorte Menschen, der ich nicht die geringste Sympathie entgegenbringe, aber da ich Ihren Namen früher einmal …«
»Schon gut. Und dann, zum zweiten, möchte ich wissen, weshalb Sie nicht sofort gekommen sind.«
»Wie meinen Sie das?«
Holmes blickte auf seine Uhr.
»Es ist jetzt Viertel nach zwei«, sagte er. »Ihr Telegramm ist ungefähr um ein Uhr aufgegeben worden. Aber ein Blick auf Ihren Aufzug genügt, um zu sehen, daß Ihre Verstörung vom Zeitpunkt Ihres Erwachens herrührt.«
Unser Klient fuhr sich mit der Hand über das ungekämmte Haar und betastete sein unrasiertes Kinn.
»Sie haben recht, Mr. Holmes. Ich habe keinen Gedanken an meine Toilette gewendet. Ich wollte nur so schnell wie möglich hinaus aus einem solchen Haus. Aber dann bin ich herumgerannt und habe Erkundigungen eingezogen, bevor ich zu Ihnen gekommen bin. Ich war beim Häusermakler, wissen Sie, und dort hat man mir gesagt, daß Mr. Garcias Miete ordnungsgemäß bezahlt sei und daß alles seine Richtigkeit habe mit Wisteria Lodge.«
»Nur gemach, Sir«, sagte Holmes lachend. »Sie sind wie mein Freund Dr. Watson, der die schlechte Angewohnheit hat, seine Geschichten am verkehrten Ende anzufangen. Bitte ordnen Sie Ihre Gedanken und teilen Sie mir dann schön der Reihe nach mit, welcher Art genau die Ereignisse waren, welche Sie dazu veranlaßt haben, sich zerzaust und ungekämmt, die Galastiefel und die Weste schief geknöpft, auf die Suche nach Rat und Beistand zu begeben.«
Unser Klient blickte mit zerknirschter Miene an seinem unkonventionellen Äußeren hinab.
»Ich muß einen äußerst unvorteilhaften Eindruck machen, Mr. Holmes, und ich wüßte nicht, daß mir zeit meines Lebens dergleichen schon passiert wäre. Aber ich will Ihnen die ganze sonderbare Geschichte erzählen, und danach werden Sie bestimmt zugeben, daß ich reichlich entschuldigt bin.«
Indes, seine Erzählung wurde noch im Keim erstickt. Draußen rührte sich etwas, und dann öffnete Mrs. Hudson die Tür, um zwei stämmige, beamtenhaft aussehende Individuen einzulassen, in deren einem wir Inspektor Gregson erkannten, den mutigen, tatkräftigen und – in seinen Grenzen – auch tüchtigen Polizeibeamten von Scotland Yard. Er schüttelte Holmes die Hand und stellte seinen Begleiter als Inspektor Baynes von der Constabulary A3 der Grafschaft Surrey vor.
»Wir sind gemeinsam auf der Jagd, Mr. Holmes, und unsere Fährte führt in diese Richtung.« Er richtete seinen Bulldoggenblick auf unseren Besucher. »Sind Sie Mr. John Scott Eccles vom Popham House in Lee?«
»Der bin ich.«
»Wir sind schon den ganzen Vormittag hinter Ihnen her.«
»Zweifellos haben Sie ihn aufgrund des Telegramms aufgespürt«, sagte Holmes.
»Ganz recht, Mr. Holmes. Wir haben im Postamt Charing Cross seine Witterung aufgenommen und sind dann hierhergekommen.«
»Aber weshalb sind Sie hinter mir her? Was wollen Sie von mir?«
»Wir wünschen eine Aussage von Ihnen, Mr. Scott Eccles, die Ereignisse betreffend, die gestern nacht zum Tode von Mr. Aloysius Garcia, wohnhaft auf Wisteria Lodge bei Esher, geführt haben.«
Unser Besucher hatte sich mit starrem Blick in seinem Stuhl aufgerichtet, und aus seinem fassungslosen Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen.
»Tot? Haben Sie gesagt, er sei tot?«
»Ja, Sir, er ist tot.«
»Aber wie? Ein Unfall?«
»Mord – so sicher wie nur je etwas auf Erden.«
»Allmächtiger Gott! Das ist ja furchtbar! Aber Sie wollen doch nicht – Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mich verdächtigen?«
»In einer Tasche des Toten hat man einen Brief von Ihnen gefunden, dem wir entnehmen, daß Sie vorhatten, gestern in seinem Haus zu übernachten.«
»Das habe ich auch getan.«
»Ach, haben Sie das, tatsächlich?«
Und schon wurde das amtliche Notizbuch gezückt.
»Warten Sie, Gregson«, sagte Sherlock Holmes. »Alles, was Sie wollen, ist doch eine schlichte Aussage, nicht wahr?«
»Und es ist meine Pflicht, Mr. Scott Eccles darauf aufmerksam zu machen, daß sie gegen ihn verwendet werden kann.«
»Mr. Eccles wollte uns gerade von dieser Sache berichten, als Sie ins Zimmer traten. Watson, ich glaube, ein Brandy mit Soda könnte ihm nichts schaden. Also, Sir, ich schlage vor, daß Sie von diesem Zuwachs an Publikum gar keine Notiz nehmen und Ihre Geschichte genau so vortragen, wie Sie es getan hätten, wenn Sie nie unterbrochen worden wären.«
Unser Besucher hatte seinen Brandy hinuntergestürzt, und Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Nach einem argwöhnischen Seitenblick auf das Notizbuch des Inspektors sprudelte er seine ungewöhnliche Aussage hervor.
»Ich bin Junggeselle«, begann er, »und da ich recht gesellig bin, pflege ich einen großen Freundeskreis. Dazu zählt auch die Familie eines ehemaligen Bierbrauers namens Melville, die in Albemarle Mansion in Kensington wohnt. An ihrer Tafel lernte ich vor einigen Wochen einen jungen Mann namens Garcia kennen. Soweit ich wußte, war er spanischer Abstammung und hatte irgend etwas mit der Botschaft zu tun. Er sprach perfekt Englisch, hatte angenehme Umgangsformen und war einer der bestaussehenden Männer, die ich mein Lebtag gesehen habe.
Irgendwie kam es, daß wir rasch Freundschaft miteinander schlossen, dieser junge Bursche und ich. Er schien von Anfang an Gefallen an mir zu finden, und gleich am Tag nach unserer ersten Begegnung kam er mich schon in Lee besuchen. Eins gab das andere, und zu guter Letzt lud er mich ein, ein paar Tage in Wisteria Lodge, seinem Haus, das zwischen Esher und Oxshott liegt, zu verbringen. Gestern abend fuhr ich also nach Esher, um dieser Einladung Folge zu leisten.
Er hatte mir seinen Haushalt schon vorher geschildert. Er lebe mit einem getreuen Diener zusammen, einem Landsmann, der für all seine Bedürfnisse sorge. Dieser Bursche spreche Englisch und führe ihm den Haushalt. Außerdem habe er einen wundervollen Koch – ein Halbblut, das er von einer seiner Reisen zurückgebracht habe –, der ein ausgezeichnetes Mahl zu bereiten verstehe. Ich erinnere mich noch an seine Bemerkung, was für ein sonderbarer Haushalt dies doch sei, so mitten im Herzen von Surrey, und ich gab ihm recht, nicht ahnend, daß dieser Haushalt sich noch als weit sonderbarer erweisen sollte, als ich je erwartet hatte.
Ich fuhr also dorthin. Das Haus, etwa zwei Meilen südlich von Esher, ist groß und liegt etwas abseits der Straße, mit einer geschwungenen, von hohen, immergrünen Hecken gesäumten Einfahrt. Es ist halb verfallen und in einem Zustand unglaublicher Verwahrlosung. Als mein Einspänner auf der grasüberwachsenen Einfahrt vor der fleckigen, verwitterten Eingangstür anhielt, kamen mir Zweifel, ob es klug war, einen Mann zu besuchen, den ich nur so oberflächlich kannte. Er selbst öffnete mir jedoch die Tür und begrüßte mich mit allen Anzeichen großer Herzlichkeit. Dann übergab er mich der Obhut seines Dieners, eines dunkelhäutigen, melancholischen Menschen, der mir meine Tasche abnahm und den Weg zu meinem Schlafgemach wies. Von dem ganzen Ort ging etwas Bedrückendes aus. Unser Abendessen verlief als ein tête-à-tête, und wiewohl mein Gastgeber sich alle Mühe gab, mich zu unterhalten, schien es, als ob seine Gedanken ständig abschweiften, und was er sagte, war so unklar und verworren, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Er trommelte unablässig mit den Fingern auf den Tisch, kaute an seinen Nägeln und ließ andere Zeichen nervöser Ungeduld erkennen. Das Essen selbst wurde weder gut serviert, noch war es gut zubereitet, und die düstere Präsenz des schweigsamen Dieners trug auch nicht gerade zu unserer Aufheiterung bei. Ich versichere Ihnen, ich habe mich im Laufe dieses Abends manches Mal nach einer Ausrede gesehnt, die mir erlaubt hätte, nach Lee zurückzukehren.
Da fällt mir etwas ein, was im Zusammenhang mit der Sache, in der Sie beide, Gentlemen, ermitteln, von Wichtigkeit sein könnte, wenn ich mir auch, als es passiert ist, nichts weiter dabei gedacht habe. Gegen Ende des Abendessens brachte der Diener eine Nachricht, nach deren Lektüre mein Gastgeber, wie mir schien, noch zerstreuter und seltsamer war denn zuvor. Er versuchte jetzt gar nicht mehr, den Schein einer Konversation aufrechtzuerhalten, sondern saß, eine Zigarette nach der anderen rauchend, ganz in seine Gedanken versunken da, erwähnte jedoch mit keinem Wort, was ihn beschäftigte. Als es etwa elf war, war ich froh, zu Bett gehen zu können. Einige Zeit später sah Garcia bei mir herein – das Zimmer war mittlerweile dunkel – und fragte mich, ob ich geläutet hätte. Ich sagte nein. Er entschuldigte sich für die späte Störung und erwähnte dabei, es sei schon fast ein Uhr. Danach nickte ich ein und schlief fest bis zum Morgen.
Und jetzt komme ich zu dem befremdlichsten Teil meiner Erzählung. Als ich aufwachte, war es heller Tag. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und sah, daß es kurz vor neun war. Ich hatte ausdrücklich darum gebeten, um acht Uhr geweckt zu werden, und diese Nachlässigkeit erstaunte mich aufs höchste. Ich sprang aus dem Bett und läutete nach dem Diener. Nichts rührte sich. Ich läutete noch einmal und dann noch einmal – mit demselben Ergebnis. Ich kam darauf zum Schluß, daß die Klingel defekt sein müsse. Hastig streifte ich meine Kleider über und stürmte in übelster Laune nach unten, um heißes Wasser zu verlangen. Was glauben Sie, wie überrascht ich war, als ich ganz einfach niemanden dort vorfand. Ich rief in der Eingangshalle. Keine Antwort. Dann rannte ich von Zimmer zu Zimmer. Alle verlassen. Am Abend zuvor hatte mir mein Gastgeber sein Schlafzimmer gezeigt. Ich klopfte also dort an. Keine Antwort. Ich drehte den Türknauf und trat ein. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt. Er war verschwunden, genau wie die anderen. Der fremdländische Gastgeber, der fremdländische Lakai, der fremdländische Koch, sie alle hatten sich im Lauf der Nacht in Luft aufgelöst! Dies war das Ende meines Besuches in Wisteria Lodge.«
Sherlock Holmes rieb sich schmunzelnd die Hände, während er diesen bizarren Vorfall seiner Sammlung seltsamer Geschehnisse einverleibte.
»Ihr Erlebnis ist, soweit ich weiß, vollkommen einzigartig«, sagte er. »Darf ich fragen, Sir, was Sie danach getan haben?«
»Ich war außer mir vor Wut. Mein erster Gedanke war, ich sei das Opfer irgendeines absurden Streiches geworden. Ich packte meine sieben Sachen, warf die Haustür hinter mir zu und machte mich, meine Tasche in der Hand, auf den Weg nach Esher. Dort sprach ich bei Allan Brothers, den wichtigsten Grundstücksmaklern des Dorfes, vor und erfuhr, daß die Villa durch sie vermietet worden war. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß das Ganze wohl nicht einfach zu dem Zweck inszeniert worden war, mich zum Narren zu halten, sondern daß es in erster Linie darum gegangen sein mußte, sich vor der Zahlung der Miete zu drücken. Wir haben Ende März, der vierteljährliche Zahlungstermin steht also vor der Tür. Aber diese Theorie erwies sich als falsch. Der Makler zeigte sich zwar sehr verbunden für meine Warnung, sagte mir aber, die Miete sei schon im voraus bezahlt worden. Darauf fuhr ich in die Stadt zurück und sprach bei der spanischen Botschaft vor. Der Mann war dort unbekannt. Als nächstes suchte ich Melville auf, in dessen Haus ich Garcia kennengelernt hatte, mußte jedoch feststellen, daß er noch weniger über ihn wußte als ich selbst. Und als ich schließlich Ihre Antwort auf mein Kabel erhielt, bin ich zu Ihnen gekommen, da Sie, wenn ich richtig orientiert bin, ein Mann sind, der in schwierigen Fällen Rat weiß. Nun entnehme ich aber dem, was Sie, Herr Inspektor, beim Eintreten gesagt haben, daß meine Geschichte eine Fortsetzung hat und daß ein tragisches Ereignis eingetreten ist. Ich kann Ihnen indes versichern, daß jedes Wort, das ich gesagt habe, wahr ist und daß ich, außer dem, was ich Ihnen erzählt habe, nichts, aber auch gar nichts über das Schicksal dieses Mannes weiß. Ich habe keinen anderen Wunsch, als dem Gesetz auf jede erdenkliche Weise behilflich zu sein.«
»Davon bin ich überzeugt, Mr. Scott Eccles, davon bin ich überzeugt«, sagte Inspektor Gregson in überaus liebenswürdigem Ton. »Ich kann nicht umhin zu sagen, daß alles, was Sie uns erzählt haben, durchaus mit den Fakten übereinstimmt, die wir bisher in Erfahrung bringen konnten. Zum Beispiel diese Nachricht, die während des Abendessens eingetroffen ist. Haben Sie zufälligerweise bemerkt, was weiter damit geschehen ist?«
»Ja, das habe ich. Garcia hat sie zusammengeknüllt und ins Kaminfeuer geworfen.«
»Was haben Sie dazu zu sagen, Mr. Baynes?«
Der Detektiv vom Lande war ein stämmiger Mann mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht, das lediglich von seinen zwei außergewöhnlich lebhaften Augen, die unter den üppigen Wülsten von Stirn und Wangen beinahe verschwanden, vor dem Eindruck von Plumpheit bewahrt wurde. Mit bedächtigem Lächeln zog er ein zerknittertes und verfärbtes Stück Papier aus der Tasche.
»Da war ein korbförmiger Feuerrost, Mr. Holmes, und Garcia hat das Papier darüber hinaus geworfen. Ich hab es unverbrannt dahinter hervorgeholt.«
Holmes lächelte anerkennend.
»Sie müssen das Haus sehr gründlich durchsucht haben, wenn es Ihnen gelungen ist, ein so unscheinbares Papierbällchen zu finden.«
»Das habe ich, Mr. Holmes. Das ist so meine Art. Soll ich es vorlesen, Mr. Gregson?«
Der Londoner Polizeibeamte nickte.
»Die Nachricht ist auf gewöhnlichem, cremefarbenem Papier ohne Wasserzeichen geschrieben. Es handelt sich um einen Viertelbogen, der durch zwei Schnitte mit einer kurzschneidigen Schere abgetrennt wurde. Er ist dreifach gefaltet und mit rotem Siegellack versiegelt, der in aller Eile appliziert und mit einem flachen, ovalen Gegenstand angedrückt worden ist. Adressiert ist die Nachricht an Mr. Garcia, Wisteria Lodge. Der Wortlaut ist der folgende:
Unsere Farben, grün und weiß. Grün offen, weiß geschlossen. Haupttreppe, erster Korridor, siebte rechts, grüner Boi A4. Gott schütze Sie. D.
Es ist eine Frauenhandschrift, geschrieben mit einer sehr spitzen Feder; die Adresse jedoch ist entweder mit einer anderen Feder oder nicht von derselben Hand geschrieben worden; sehen Sie, die Buchstaben sind kräftiger und fetter.«
»Eine höchst bemerkenswerte Nachricht«, sagte Holmes, als er sie überflog. »Sie haben bei deren Untersuchung eine Aufmerksamkeit für Details gezeigt, zu der ich Ihnen gratuliere, Mr. Baynes. Ein paar kleine Ergänzungen ließen sich vielleicht noch anbringen. Das ovale Siegel ist ohne Zweifel ein ganz kommuner Manschettenknopf; ich wüßte nichts anderes, was diese Form hätte. Bei der Schere handelt es sich um eine Nagelschere, denn so kurz die einzelnen Schnitte auch sein mögen, so läßt sich doch bei beiden dieselbe leichte Krümmung feststellen.«
Der Detektiv vom Lande schmunzelte.
»Ich war der Meinung, den letzten Tropfen Saft herausgepreßt zu haben, aber offensichtlich war noch ein bißchen was übrig«, sagte er. »Ich muß im übrigen gestehen, daß ich der Mitteilung selbst nicht eben viel entnehmen kann, außer daß da etwas im Busch war und daß, wie üblich, eine Frau dahintersteckt.«
Mr. Scott Eccles war während dieses Gesprächs unruhig auf seinem Stuhl hin und her gerutscht.
»Ich bin froh, daß Sie den Brief gefunden haben«, sagte er, »da er das, was ich Ihnen erzählt habe, bestätigt. Ich möchte nun aber doch darauf hinweisen, daß man mir noch immer nicht gesagt hat, was Mr. Garcia widerfahren ist und was aus seiner Dienerschaft geworden ist.«
»Was Garcia betrifft«, erwiderte Gregson, »das läßt sich rasch beantworten. Man hat ihn heute früh tot aufgefunden, auf der Allmende von Oxshott, beinahe eine Meile von seinem Haus entfernt. Sein Kopf war regelrecht zu Brei gehauen, durch wuchtige Schläge mit einem Sandsack oder einem ähnlichen, nicht scharfkantigen, sondern stumpfen Gegenstand. Es ist einsam dort, im Umkreis von einer Viertelmeile findet sich kein einziges Haus. Offensichtlich ist er zuerst von hinten niedergestreckt worden; sein Angreifer muß jedoch noch weiter auf ihn eingeschlagen haben, als er schon längst tot war. Eine ungeheuer wütende Attacke. Fußspuren oder andere Hinweise auf die Täter konnten wir keine ausmachen.«
»Ist er ausgeraubt worden?«
»Nein, es gab keine Anzeichen von Raub.«
»Das ist sehr schmerzlich – sehr schmerzlich und furchtbar«, sagte Mr. Scott Eccles mit kläglicher Stimme, »aber mich trifft es wirklich ganz besonders hart. Ich hatte doch nichts damit zu tun, daß mein Gastgeber sich auf einen nächtlichen Ausflug begeben und dabei ein so trauriges Ende gefunden hat. Wie kommt es denn, daß ich in diesen Fall hineingezogen werde?«
»Ganz einfach, Sir«, erwiderte Inspektor Baynes. »Das einzige Schriftstück, das wir in der Tasche des Toten gefunden haben, war ein Brief von Ihnen, in welchem geschrieben stand, daß Sie ihn besuchen würden, in der Nacht seines Todes. Durch den Umschlag dieses Briefes haben wir Namen und Adresse des Toten erfahren. Als wir dann heute morgen kurz nach neun bei seinem Haus anlangten, fanden wir weder Sie noch sonst jemand darin vor. Ich kabelte Mr. Gregson, er solle Sie in London aufspüren, während ich Wisteria Lodge unter die Lupe nahm. Darauf bin ich in die Stadt gefahren, um mich Mr. Gregson anzuschließen, und da sind wir nun.«
»Ich glaube, es wäre jetzt angebracht, der Sache mehr offizielles Gepräge zu geben«, sagte Gregson und erhob sich. »Wollen Sie so gut sein, Mr. Scott Eccles, uns zum Polizeirevier zu begleiten, damit wir Ihre Aussage schriftlich festhalten können?«
»Aber gewiß, ich komme sofort. Ihre Dienste, Mr. Holmes, möchte ich jedoch weiterhin in Anspruch nehmen. Ich wünsche, daß Sie weder Kosten noch Mühen scheuen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.«
Mein Freund wandte sich an den Inspektor vom Lande.
»Ich hoffe, Sie haben gegen meine Mitarbeit nichts einzuwenden, Mr. Baynes?«
»Ganz im Gegenteil, Sir, ich fühle mich hoch geehrt.«
»Ich habe den Eindruck erhalten, daß Sie in allem, was Sie bisher unternommen haben, sehr rasch und professionell vorgegangen sind. Darf ich fragen, ob es irgendeinen Hinweis darauf gibt, wann genau der Mann den Tod gefunden hat?«
»Er muß seit ein Uhr dort gelegen haben. Um diese Zeit hat es zu regnen angefangen, und sein Tod ist ohne jeden Zweifel vor dem Regen eingetreten.«
»Aber das ist doch völlig unmöglich, Mr. Baynes«, rief unser Klient. »Seine Stimme ist unverwechselbar. Ich könnte schwören, daß er es war, der um eben diese Zeit in meinem Schlafzimmer das Wort an mich gerichtet hat.«
»Bemerkenswert allerdings, jedoch keineswegs unmöglich«, entgegnete Holmes lächelnd.
»Haben Sie schon einen Anhaltspunkt?« fragte Gregson.
»Auf den ersten Blick erscheint dieser Fall nicht sonderlich kompliziert, wenngleich er einige neuartige und interessante Züge aufweist. Ehe ich mich jedoch darauf einlasse, ein eindeutiges und endgültiges Urteil darüber abzugeben, muß ich erst weitere Fakten in Erfahrung bringen. Übrigens, Mr. Baynes, haben Sie bei Ihrer Untersuchung des Hauses außer diesem Brief sonst noch etwas Bemerkenswertes gefunden?«
Der Detektiv schaute meinen Freund mit einem eigenartigen Blick an.
»Es gab da ein, zwei sehr bemerkenswerte Dinge«, erwiderte er. »Hätten Sie vielleicht Lust, mit mir hinauszufahren, sobald ich auf der Wache fertig bin? Dann könnten Sie mir sagen, was Sie davon halten.«
»Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock Holmes und läutete die Glocke. »Wollen Sie bitte diese Gentlemen hinausgeleiten, Mrs. Hudson, und seien Sie doch so freundlich und schicken Sie den Jungen los mit diesem Telegramm. Er soll fünf Shilling für die Rückantwort bezahlen.«
Nachdem unsere Besucher gegangen waren, saßen wir eine Zeitlang schweigend da. Holmes paffte heftig vor sich hin; seine Brauen über den wachsamen Augen waren zusammengezogen und sein Kopf in der für ihn so charakteristischen Weise energisch vorgereckt.
»Nun, Watson«, fragte er, indem er sich unvermittelt mir zuwandte, »was halten Sie von der Sache?«
»Was ich von dem Verwirrspiel mit Scott Eccles halten soll, das weiß ich überhaupt nicht.«
»Und das Verbrechen?«
»Nun, wenn man das Verschwinden der Gefährten dieses Mannes in Rechnung stellt, so würde ich meinen, daß sie wohl auf irgendeine Weise mit diesem Mord zu tun hatten und vor der Justiz geflohen sind.«
»Das ist gewiß ein möglicher Standpunkt. Sie müssen allerdings zugeben, daß es auf den ersten Blick höchst seltsam anmutet, daß diese zwei Bediensteten, falls sie sich gegen ihren Herrn verschworen haben, ausgerechnet diese eine Nacht, in der er einen Gast hatte, ausgewählt haben sollten, um ihn umzubringen. An jedem anderen Abend der Woche wäre er ihnen ja ganz allein ausgeliefert gewesen.«
»Aber warum sind sie dann geflohen?«
»Genau das ist die Frage. Warum sind sie geflohen? Ein gewichtiges Faktum. Ein anderes, nicht minder gewichtiges Faktum ist das merkwürdige Erlebnis unseres Klienten Scott Eccles. Nun, mein lieber Watson, sollte es wirklich die Grenzen menschlichen Scharfsinns übersteigen, eine Erklärung zu finden, die diese beiden gewichtigen Fakten umfaßte? Falls sie dann zudem noch so beschaffen sein sollte, daß sie auch diesen geheimnisvollen Brief mit seinem höchst kuriosen Wortlaut einbezöge, wohlan, dann könnte man sie gar als vorläufige Hypothese gelten lassen. Und sollten sich dann auch noch die neuen Fakten, auf die wir stoßen werden, alle in dieses Schema einfügen, dann könnte aus unserer Hypothese nach und nach eine Lösung werden.«
»Aber wie lautet denn unsere Hypothese?«
Holmes lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen in seinem Lehnstuhl zurück.
»Sie müssen zugeben, mein lieber Watson, daß die Idee, es könnte sich um einen Streich handeln, unhaltbar ist. Wie die weitere Entwicklung gezeigt hat, waren schwerwiegende Dinge im Gang; und die Tatsache, daß Mr. Scott Eccles nach Wisteria Lodge gelockt worden ist, steht in irgendeinem Zusammenhang damit.«
»Aber welcher Art könnte dieser Zusammenhang sein?«
»Lassen Sie uns einmal Schritt für Schritt vorgehen. Schon auf den ersten Blick hat man doch das Gefühl, daß an dieser seltsamen und plötzlichen Freundschaft zwischen Scott Eccles und dem jungen Spanier etwas faul war. Letzterer war es, der der Sache Dampf aufsetzte. Er stattete Eccles, der am anderen Ende von London wohnt, schon am ersten Tag, nachdem sie miteinander bekannt geworden waren, einen Besuch ab und blieb in engem Kontakt mit ihm, bis er ihn soweit hatte, daß er nach Esher kam. Nun, was wollte er von Eccles? Was konnte Eccles ihm schon bieten? Ich sehe nicht, was dieser Mann für einen Reiz haben könnte. Er ist nicht besonders intelligent – wohl kaum der ebenbürtige Gesprächspartner für einen gewitzten Südländer. Was war es also, das ihn für Garcias Pläne so besonders geeignet machte, daß dieser aus all den Leuten, die er kennengelernt hatte, gerade ihn auswählte? Besitzt er irgendeine herausragende Eigenschaft? Das möchte ich meinen. Er ist der Inbegriff englischer Respektabilität, und damit der geeignete Mann dafür, in der Rolle des Zeugen auf jeden anderen Engländer den gebührenden Eindruck zu machen. Sie haben ja selbst mit ansehen können, wie keiner der beiden Inspektoren auch nur im Traum daran gedacht hätte, seine Aussage anzuzweifeln, so ungewöhnlich sie auch war.«
»Aber was hätte er denn bezeugen sollen?«
»Nichts, so wie die Dinge jetzt liegen; aber alles, wenn sie einen anderen Verlauf genommen hätten. Das ist jedenfalls meine Auffassung von der ganzen Sache.«
»Ah, ich verstehe; er hätte ein Alibi liefern sollen.«
»Genau, mein lieber Watson; er hätte ein Alibi liefern sollen. Wir wollen einmal, rein spekulationshalber, annehmen, daß sämtliche Haushaltsmitglieder von Wisteria Lodge an irgendeinem Komplott beteiligt waren. Das Vorhaben, was immer es im einzelnen sein mag, sollte, sagen wir mal, vor ein Uhr ausgeführt werden. Nun ist es durchaus möglich, daß Scott Eccles durch irgendeine Manipulation an den Uhren dazu gebracht wurde, früher zu Bett zu gehen, als er meinte; auf jeden Fall ist anzunehmen, daß zu dem Zeitpunkt, da Garcia sich so viel Mühe machte, ihm einzureden, es sei ein Uhr, es in Wirklichkeit nicht später als zwölf war. Wenn es nun Garcia gelang, zu tun, was immer er tun wollte, und zu der besagten Zeit wieder zurück zu sein, dann konnte er jedwede Anklage parieren. Denn da war dieser untadelige englische Ehrenmann, der bereit war, vor jedem Gericht zu beschwören, daß der Beschuldigte die ganze Zeit über zu Hause gewesen war. Das Ganze war eine Vorsichtsmaßnahme für den schlimmsten Fall.«
»Ja, ja, das verstehe ich schon. Aber was ist mit dem Verschwinden der anderen?«
»Ich habe zwar noch nicht all meine Fakten beisammen, aber ich kann mir nicht denken, daß uns dies vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen sollte. Dennoch, es ist ein Fehler, den Tatsachen mit Behauptungen zuvorzukommen. Unmerklich biegt man sich dann die Fakten zurecht, damit sie besser zu den Theorien passen.«
»Und diese Botschaft?«
»Wie lautete sie noch? ›Unsere Farben, grün und weiß‹ – klingt nach Pferderennen. ›Grün offen, weiß geschlossen.‹ Das ist eindeutig ein Signal. ›Haupttreppe, erster Korridor, siebte rechts, grüner Boi.‹ Ein Stelldichein. Schon möglich, daß hinter alledem ein eifersüchtiger Ehemann steckt. Es war ohne Zweifel ein riskantes Unternehmen; sonst hätte sie nicht ›Gott schütze Sie‹ hinzugefügt. ›D.‹ – das könnte uns auf die Sprünge helfen.«
»Der Mann war Spanier. ›D.‹ steht vermutlich für Dolores, der Name ist in Spanien sehr häufig.«
»Gut, Watson, ausgezeichnet – nur leider völlig ausgeschlossen. Eine Spanierin würde einem anderen Spanier auf spanisch schreiben. Diese Mitteilung stammt also mit Sicherheit von einer Engländerin. Nun, im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als uns in Geduld zu fassen, bis dieser treffliche Inspektor wiederkommt, um uns abzuholen. Einstweilen aber wollen wir froh und dankbar sein, daß ein gütiges Geschick uns für ein paar flüchtige Stunden von den unerträglichen Strapazen des Müßiggangs erlöst hat.«
Noch ehe unser Polizeibeamter aus Surrey wieder zu uns zurückgekehrt war, traf die Antwort auf Holmes’ Telegramm ein. Holmes las sie durch und wollte sie schon in sein Notizbuch stecken, als sein Blick auf mein erwartungsvolles Gesicht fiel. Mit einem Lachen warf er sie mir zu.
»Wir bewegen uns in gehobenen Kreisen«, bemerkte er.
Das Telegramm enthielt eine Liste von Namen und Adressen:
Lord Harringby, The Dingle; Sir George Ffolliott, Oxshott Towers; Mr. Hynes Hynes, J. P., Purdey Place; Mr. James Baker Williams, Forton Old Hall; Mr. Henderson, High Gable; Rev. Joshua Stone, Nether Walsling. A5
»Dies ist ein sehr simples Verfahren zur Eingrenzung unseres Operationsfeldes«, sagte Holmes. »Zweifellos hat Baynes mit seinem Sinn für Methodik bereits einen ähnlichen Weg eingeschlagen.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Nun, mein lieber Freund, wir waren bereits zu dem Schluß gediehen, daß es sich bei der Botschaft, die Garcia bei Tisch erhielt, um eine Verabredung oder ein Stelldichein gehandelt hat. Nun denn, falls die naheliegende Lesart die richtige ist und man, um sich zu diesem Treffen zu begeben, eine Haupttreppe emporsteigen und die siebte Tür in einem Korridor aufsuchen muß, so ist es völlig klar, daß das betreffende Haus sehr groß sein muß. Und mit ebensolcher Gewißheit läßt sich sagen, daß dieses Haus nicht mehr als ein oder zwei Meilen von Oxshott entfernt sein kann, da Garcia in diese Richtung gegangen ist und, nach meiner Auslegung der Tatsachen, rechtzeitig in Wisteria Lodge zurück zu sein hoffte, um sich seines Alibis zu bedienen, das nur für die Zeit bis ein Uhr gelten würde. Da die Anzahl großer Häuser im engeren Umkreis von Oxshott begrenzt sein muß, habe ich die naheliegende Methode angewandt, den von Scott Eccles erwähnten Häusermakler anzufragen, ob er mir eine Liste davon zusammenstellen könnte. In diesem Telegramm hier sind sie nun alle aufgeführt, und in einem von ihnen muß das andere Ende unseres verschlungenen Fadens liegen.«
Es war kurz vor sechs Uhr, als wir in Begleitung von Inspektor Baynes im hübschen Dorf Esher in der Grafschaft Surrey eintrafen. Holmes und ich hatten uns für eine Übernachtung gerüstet und fanden im Bull behagliches Quartier. Sodann machten wir uns zusammen mit dem Detektiv auf den Weg nach Wisteria Lodge. Es war ein kalter, dunkler Märzabend; ein scharfer Wind wehte und peitschte uns den Nieselregen ins Gesicht; es paßte alles zusammen mit der öden Allmende, durch die wir unserem tragikumwitterten Ziel entgegenstrebten.
2. Der Tiger von San Pedro
Nach einem kalten und trübseligen Marsch von einigen Meilen kamen wir an ein hohes, hölzernes Tor, welches sich auf eine düstere Kastanienallee öffnete. Wir folgten der geschwungenen, überschatteten Einfahrt zu einem gedrungenen, finster wirkenden Haus, das sich nachtschwarz gegen den schiefergrauen Himmel abhob. Aus dem Fenster links neben der Eingangstür drang schwacher Lichtschimmer.
»Ein Constable hält die Stellung«, sagte Baynes. »Ich will mal eben ans Fenster klopfen.« Er stapfte über das Rasenstück und pochte mit der Hand gegen die Scheibe. Durch das beschlagene Glas hindurch konnte ich undeutlich erkennen, wie ein Mann aus seinem Sessel neben dem Kaminfeuer aufsprang, und gleichzeitig drang ein gellender Schrei aus dem Zimmer. Einen Augenblick später öffnete uns ein schwer atmender und totenblasser Polizist die Tür; die Kerze in seiner Hand zitterte und schwankte.
»Was ist los, Walters?« fragte Baynes barsch.
Der Mann wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
»Bin ich froh, daß Sie hier sind, Sir. Das ist ein langer Abend gewesen, und meine Nerven sind wohl auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Ihre Nerven, Walters? Ich wußte gar nicht, daß Sie so was haben.«
»Nun, Sir, das liegt an diesem einsamen, stillen Haus und diesem komischen Zeugs in der Küche. Und als Sie dann ans Fenster geklopft haben, da hab ich gedacht, es sei zurückgekommen.«
»Was sei zurückgekommen?«
»Wenn Sie mich fragen, Sir, dann war’s der Teufel. Es war am Fenster.«
»Was war am Fenster, und wann?«
»Das ist jetzt etwa zwei Stunden her. Es war eben dunkel geworden. Ich hab in meinem Stuhl gesessen und gelesen. Ich weiß nicht genau, was mich von meinem Buch aufblicken ließ, aber auf jeden Fall war da ein Gesicht, das mich durch die untere Fensterscheibe hindurch anstarrte. Guter Gott, Sir, das war vielleicht ein Gesicht! Das wird mich noch im Traum verfolgen.«
»Tz, tz, Walters; so redet doch kein Constable der Polizei.«
»Ich weiß, Sir, ich weiß; aber es ist mir wirklich durch Mark und Bein gegangen, das kann ich nun einmal nicht abstreiten. Es war weder schwarz noch weiß, Sir, noch sonst von irgendeiner Farbe, die ich kenne, sondern ein ganz komischer Farbton, wie Lehm mit einem Spritzer Milch darin. Und dann seine Größe, Sir – es war zweimal so groß wie Sie. Und wie es aussah – große starrende Glotzaugen und eine Reihe weißer Zähne wie ein hungriges wildes Tier. Ich sage Ihnen, Sir, keinen Finger konnte ich rühren und keinen Atemzug tun, bis es weghuschte und nicht mehr zu sehen war. Dann bin ich hinausgerannt und habe das Gebüsch durchsucht, aber Gott sei Dank war da niemand mehr.«
»Würde ich Sie nicht als tüchtigen Mann kennen, Walters, dann müßte ich Ihnen hierfür einen Rüffel geben. Und wenn es der Teufel in Person wäre, nie darf ein Constable im Dienst Gott danken, daß er ihn nicht dingfest machen konnte. Das Ganze war doch wohl nicht bloß ein Hirngespinst oder ein Anfall von Nervenschwäche?«
»Dies zumindest läßt sich sehr einfach feststellen«, sagte Holmes und zündete seine kleine Taschenlampe an. »Ja«, meldete er nach einer kurzen Untersuchung des Rasenstücks, »Schuhgröße zwölf A6, würde ich sagen. Wenn alles an ihm von derselben Größenordnung ist wie seine Füße, so muß es allerdings ein Riese gewesen sein.«
»Und was ist weiter mit ihm passiert?«
»Es macht den Anschein, daß er sich durch das Gebüsch zur Straße durchgeschlagen hat.«
»Nun gut«, sagte der Inspektor mit ernster und nachdenklicher Miene, »wer immer das gewesen sein mag, und was immer er gewollt hat, jetzt ist er jedenfalls nicht da, und es gibt Dringlicheres zu erledigen. Mr. Holmes, wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie nun durchs Haus führen.«
Eine eingehende Durchsuchung der verschiedenen Schlafzimmer und Salons hatte keine Ergebnisse gezeitigt. Offensichtlich hatten die Mieter wenig oder gar nichts mitgebracht und das Haus mitsamt dem ganzen Inventar, bis hin zu den geringsten Kleinigkeiten, übernommen. Eine ganze Menge Kleider mit dem Etikett von Marx & Co., High Holborn, war zurückgelassen worden. Telegraphische Nachforschungen hatten bereits ergeben, daß die Firma Marx über ihren Kunden lediglich zu sagen wußte, daß er stets pünktlich bezahlt hatte. An persönlichen Habseligkeiten fand sich allerlei Krimskrams, ein paar Pfeifen, mehrere Romane, zwei davon auf Spanisch, ein altmodischer Zündnadelrevolver und eine Gitarre.
»Das alles gibt nichts her«, sagte Baynes, der mit der Kerze in der Hand von einem Raum zum andern stapfte. »Jetzt aber, Mr. Holmes, möchte ich Sie bitten, Ihre volle Aufmerksamkeit der Küche zuzuwenden.«
Es handelte sich um einen hohen, düsteren, im rückwärtigen Teil des Hauses gelegenen Raum mit einem Strohlager in der Ecke, das offenbar dem Koch als Schlafgelegenheit diente. Auf dem Tisch stapelten sich Schüsseln mit Speiseresten und schmutzige Teller, die Überbleibsel des Mahles vom vorigen Abend.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Baynes. »Was halten Sie davon?«
Er hielt seine Kerze hoch und beleuchtete einen merkwürdigen Gegenstand, der hinten auf der Anrichte stand und so runzelig, verdorrt und verschrumpelt war, daß sich kaum feststellen ließ, was es einmal gewesen sein mochte. Es ließ sich bloß sagen, daß es schwarz und lederig war und eine gewisse Ähnlichkeit mit einer zwergenhaften menschlichen Gestalt aufwies. Bei näherer Betrachtung hielt ich es zuerst für einen mumifizierten Negersäugling, dann schien es mir mehr nach einem uralten, verhutzelten Affen auszusehen. Und ich blieb auch im Zweifel darüber, ob es menschlicher oder tierischer Natur war. Um seine Mitte war eine zweireihige Muschelkette geschlungen.
»Sehr interessant – wirklich sehr interessant!« murmelte Holmes, während er das unheimliche Relikt eingehend betrachtete.
»Sonst noch etwas?«
Wortlos ging Baynes zum Spülstein voran und hielt seine Kerze darüber. Darin lagen in wildem Durcheinander Rumpf und Glieder eines großen, weißen Vogels, den man mitsamt den Federn gewaltsam in Stücke gerissen hatte. Holmes deutete auf die Kehllappen an dem abgetrennten Kopf.
»Ein weißer Hahn«, sagte er. »Höchst interessant! Das ist wirklich ein sehr sonderbarer Fall.«
Sein schauerlichstes Schaustück hatte Mr. Baynes indes für den Schluß aufgehoben. Unter dem Spülstein zog er einen Zinkeimer hervor, der eine beträchtliche Menge Blut enthielt. Dann nahm er vom Tisch eine Platte, auf der ein Haufen verkohlter kleiner Knochenstücke lag.
»Etwas ist hier getötet und etwas ist hier verbrannt worden. Das hier haben wir alles aus dem Feuer gescharrt. Wir hatten heute früh einen Arzt hier. Er sagt, es sei nicht menschlicher Herkunft.«
Holmes lächelte und rieb sich die Hände.
»Inspektor, ich muß Ihnen wirklich gratulieren zu der Art, wie Sie einen so außergewöhnlichen und aufschlußreichen Fall angehen. Ihre Fähigkeiten – wenn ich dies sagen darf, ohne Ihnen zu nahe zu treten – scheinen Ihre Position bei weitem zu überragen.«
Inspektor Baynes’ kleine Äuglein funkelten vor Freude.
»Sie haben recht, Mr. Holmes; wir versumpfen hier in der Provinz. Ein Fall wie dieser ist schon eine Chance, und ich hoffe, daß ich sie nutzen kann. Was halten Sie von diesen Knochen?«
»Ein Lamm, würde ich sagen, oder ein Zicklein.«
»Und was ist mit dem weißen Hahn?«
»Merkwürdig, Mr. Baynes, höchst merkwürdig, wenn nicht geradezu einzigartig.«
»Ja, Sir, in diesem Haus müssen sich sehr seltsame Leute mit sehr seltsamen Gewohnheiten eingenistet haben. Einer davon ist tot. Sind seine Gefährten ihm nachgeschlichen und haben ihn umgebracht? Wenn ja, so sollten sie uns nicht entwischen, denn alle Häfen werden überwacht. Ich persönlich sehe die Sache allerdings anders. Weiß Gott, Sir, ich sehe diese Sache ganz anders.«
»Sie haben also eine Theorie?«
»Das habe ich, und ich werde sie auf eigene Faust anwenden, Mr. Holmes. Das bin ich mir schuldig. Sie haben einen bekannten Namen, ich muß mir erst noch einen machen. Ich möchte hinterher gern sagen können, ich habe den Fall ohne Ihre Hilfe gelöst.«
Holmes lachte gutmütig.
»Schon gut, Inspektor«, sagte er. »Gehen Sie Ihren Weg, und ich gehe meinen Weg. Meine Resultate stehen freilich jederzeit voll und ganz zu Ihrer Verfügung, falls Sie darauf zurückgreifen wollen. Ich denke, ich habe nun alles gesehen, was ich in diesem Hause sehen wollte; woanders kann ich meine Zeit wohl nutzbringender verwenden. Au revoir, und viel Glück!«
Aus einer Vielzahl unscheinbarer Anzeichen, die jedem anderen als mir wohl entgangen wären, schloß ich, daß Holmes auf einer heißen Spur war. Mochte er auch einem zufälligen Beobachter so teilnahmslos wie immer erscheinen, verrieten mir seine heller gewordenen Augen und die energischeren Bewegungen jedoch eine verhaltene Ungeduld und eine gewisse Angespanntheit, die keinen Zweifel daran ließen, daß er sein Wild aufgestöbert hatte. A7 Er sagte nichts, das war so seine Art; meine war es, daß ich keine Fragen stellte. Ich war es zufrieden, an der Hatz teilzunehmen und meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, wenn es galt, das Wild zu stellen, doch ich vermied es, dieses angespannt arbeitende Gehirn durch unnötige Unterbrechungen zu stören. Zu gegebener Zeit würde ich alles erfahren.
Ich wartete also, doch zu meiner ständig wachsenden Enttäuschung wartete ich vergeblich. Ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne daß mein Freund irgendwelche Schritte unternommen hätte. Einen Vormittag verbrachte er in der Stadt, wo er, wie ich beiläufig erfuhr, das British Museum besucht hatte. Von diesem einen Ausflug abgesehen, verbrachte er seine Tage mit langen, meist einsamen Spaziergängen, oder er plauderte mit einigen Klatschmäulern aus dem Dorf, mit denen er Umgang pflegte.
»Ich bin überzeugt, Watson, eine Woche auf dem Lande wird von unschätzbarem Wert für Sie sein«, sagte er. »Es ist so wohltuend, mal wieder die ersten grünen Triebe an den Hecken und die Kätzchen an den Haselsträuchern zu sehen. Mit einem Spaten, einer Botanisierbüchse und einem Pflanzenbestimmungsbuch versehen, kann man hier lehrreiche Tage verbringen.« Er selbst streifte tatsächlich solchermaßen ausgerüstet durch die Gegend; die Ausbeute an Pflanzen, die er des abends nach Hause brachte, nahm sich indes recht kläglich aus.
Auf unseren Streifzügen begegneten wir hin und wieder auch Inspektor Baynes, dessen dickes, rotes Gesicht sich zu einem Lächeln verzog und dessen Äuglein aufleuchteten, wenn er meinen Gefährten begrüßte. Er ließ wenig über den Fall verlauten, aber diesem wenigen konnte man entnehmen, daß auch er mit dem Gang der Dinge keineswegs unzufrieden war. Dennoch muß ich gestehen, daß ich ein wenig überrascht war, als ich fünf Tage nach dem Verbrechen meine Morgenzeitung aufschlug und da in großen Lettern geschrieben fand:
DAS RÄTSEL VON OXSHOTT
LÖSUNG IN SICHT
MUTMASSLICHER MÖRDER GEFFAST
Holmes fuhr wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf, als ich ihm diese Schlagzeile vorlas.
»Beim Zeus!« rief er aus. »Soll das heißen, daß Baynes ihn erwischt hat?«
»Allem Anschein nach«, erwiderte ich, indem ich die folgende Meldung überflog:
Großes Aufsehen erregte in Esher und Umgebung die Nachricht, daß gestern, spät abends, eine Verhaftung in Zusammenhang mit dem Mord von Oxshott erfolgt sei. Unsere Leser werden sich daran erinnern, daß vor einigen Tagen Mr. Garcia von Wisteria Lodge tot auf der Allmende von Oxshott aufgefunden wurde, wobei sein Leichnam Spuren brutalster Gewaltanwendung aufwies, und daß in derselben Nacht sein Diener und sein Koch die Flucht ergriffen, was darauf hinzudeuten schien, daß sie an dem Verbrechen beteiligt waren. Es wurden Vermutungen laut, die jedoch nie bewiesen werden konnten, der Verstorbene habe möglicherweise Wertgegenstände in seinem Hause verwahrt, deren Entwendung das Motiv für das Verbrechen gewesen sein könnte. Inspektor Baynes, in dessen Händen der Fall liegt, hat nichts unversucht gelassen, das Versteck der Flüchtigen ausfindig zu machen, wobei er sich von der wohlbegründeten Annahme leiten ließ, daß sie nicht sehr weit geflohen waren, sondern sich in irgendeinem für diesen Fall vorbereiteten Schlupfwinkel versteckt hielten. Die Entdeckung der beiden war indes von Anfang an abzusehen, da der Koch nach Aussagen von ein oder zwei Handelsreisenden, die ihn einmal zufällig durchs Fenster gesehen hatten, ein Mann von äußerst auffallender Erscheinung ist – es handelt sich um einen riesigen, monströs aussehenden Mulatten mit einem gelblichen Gesicht von stark negroidem Einschlag. Dieser Mann wurde nach dem Verbrechen noch einmal gesehen, da er die Unverfrorenheit hatte, noch an demselben Abend wieder in Wisteria Lodge aufzutauchen, wo er von Constable Walters entdeckt und verfolgt wurde. Inspektor Baynes, der davon ausging, daß dieser Besuch nicht ohne eine bestimmte Absicht erfolgt war und sich deshalb vermutlich wiederholen würde, ließ das Haus sogleich räumen, legte jedoch ein paar seiner Leute im Gebüsch in den Hinterhalt. Der Mann ging in die Falle und wurde gestern abend nach einem Handgemenge, in dessen Verlauf der Wilde Constable Downing eine üble Bißwunde beibrachte, festgenommen. Wie verlautet, soll der Gefangene dem Richter vorgeführt und ein polizeilicher Antrag auf Untersuchungshaft gegen ihn gestellt werden; man erhofft sich von dieser Festnahme Entwicklungen von großer Tragweite.
»Wir müssen unbedingt sofort zu Baynes«, rief Holmes und griff nach seinem Hut. »Wir können ihn gerade noch abfangen, ehe er aufbricht.« Wir eilten die Dorfstraße entlang, und, wie erwartet, trafen wir den Inspektor im Begriff, sein Quartier zu verlassen.
»Schon die Zeitung gelesen, Mr. Holmes?« fragte er und streckte uns ein Exemplar entgegen.
»Ja, Baynes, ich habe sie gelesen. Halten Sie mich bitte nicht für anmaßend, aber ich möchte Ihnen eine freundschaftliche Warnung erteilen.«
»Eine Warnung, Mr. Holmes?«
»Ich habe mich recht eingehend mit diesem Fall befaßt, und ich bin gar nicht überzeugt, daß Sie auf dem rechten Weg sind. Ich möchte nicht, daß Sie sich zu weit vorwagen, es sei denn, Sie sind sich ganz sicher.«
»Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Holmes.«
»Ich versichere Ihnen, ich will nur Ihr Bestes.«
Einen Moment lang schien es mir, als ob etwas wie ein Zwinkern über eines von Mr. Baynes’ winzigen Äuglein huschte.
»Wir hatten vereinbart, Mr. Holmes, daß jeder von uns seinen eigenen Weg verfolgt; und genau das tu ich auch.«
»Oh, sehr wohl«, sagte Holmes. »Nichts für ungut.«
»Schon recht, Sir; ich bin überzeugt, daß Sie es gut mit mir meinen. Aber jeder hat nun mal so seine eigenen Methoden, Mr. Holmes. Sie haben die Ihren, und, wer weiß, vielleicht habe ich die meinen.«
»Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren.«
»Ich will Ihnen gern das Neueste berichten, jederzeit. Dieser Bursche ist ein Wilder, wie er im Buche steht; stark wie ein Zugpferd und grimmig wie der Teufel. Er hat Downing fast den Daumen durchgebissen, bis sie ihn endlich überwältigt hatten. Er spricht so gut wie kein Wort Englisch, alles, was wir aus ihm herausbekommen, sind ein paar Grunzlaute.«
»öß«