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ÜBER DEN AUTOR
Steve Tesich wurde 1942 in Užice geboren und kam im Alter von vierzehn Jahren nach Indiana/USA. Er studierte russische Literatur an den Universitäten von Indiana und Columbia und promovierte 1967. Er schrieb zahlreiche Stücke und Drehbücher, u. a. das mit einem Oscar ausgezeichnete Drehbuch für den Film Breaking Away und für Garp und wie er die Welt sah. Steve Tesich starb 1996 im Alter von 53 Jahren.
ÜBER DAS BUCH
Ein letzter Sommer vor dem Erwachsenwerden: Daniel Price ist achtzehn und hat gerade die Highschool abgeschlossen. Die Zukunft wartet auf ihn – doch wie soll sie aussehen? Er vertreibt sich die Zeit mit Ringkämpfen und flieht, so gut es geht, vor den Konflikten seiner attraktiven Mutter mit seinem krebskranken Vater. Als er die schöne, unergründliche Rachel kennenlernt, scheint plötzlich alles möglich.
Für Sam, Julia und Marya
In Liebe und Dankbarkeit
Im Herzen der Menschen gibt es leere Orte,
und in sie dringt das Leid ein,
damit sie fühlbar zu existieren beginnen.
Léon Bloy
Er hieß Presley Bivens. Er kam aus Anderson, Indiana, er wog 76 Kilo, und er lächelte mich an. Er war schon zweimal hier gewesen, hatte beide Male gewonnen, und war wiedergekommen, damit es drei Siege in Folge wurden. Er entsprach überhaupt nicht dem, was ich mir unter einer Legende vorgestellt hatte.
Die Stadthalle war bis auf den letzten Platz ausverkauft, die Zuschauer tobten, die Cheerleader kreischten, aber er schien nichts von alledem zu hören. Er wirkte freundlich, entspannt, überhaupt nicht wie ein Gegner. Und er lächelte immerzu. Der Kampfrichter verwarnte ihn mehrmals wegen Passivität, aber eigentlich war er nicht passiv. Er hatte es nur nicht eilig. Er schien zu wissen, wie der Kampf ausgehen würde. Dass er gewinnen würde. Dass er schon gewonnen hatte. Was ihn anbelangte, war er schon wieder daheim in Anderson, Indiana, stand auf seinem Wohnzimmerteppich und blickte auf alles zurück, erinnerte sich daran, wie er mich besiegt hatte.
Es waren nur noch etwas über zwei Minuten Kampfzeit übrig, und ich lag sechs zu vier vorn, trotzdem flatterten nicht seine, sondern meine Nerven. Er lächelte einfach nur. Er hatte kleine runde Schweinsäuglein, die noch runder wurden, wenn er lächelte. Nichts an ihm deutete auf den größten Ringer hin, den Indiana je gesehen hatte. Seine Brust war flach, mit blondem Haarflaum bedeckt, seine Arme waren weich, seine Beine unterentwickelt, seine Haut blass. Das einzig Kräftige an ihm war sein Hals, ein massiver, Furcht einflößender Hals; Dinosaurier hatten solche Hälse. Sein kleiner runder Kopf saß auf diesem prähistorischen Hals wie ein Tennisball auf einem Hydranten. Er redete unablässig mit mir. Als ich mit meinem ersten Wurf punktete, sagte er mit seinem südlichen Indiana-Näseln, mit seiner hohen, gequetschten Stimme:
»Prima Griff, Kleiner. Astrein.«
Er nannte mich immer nur »Kleiner«. Er war so alt wie ich und nannte mich immer nur »Kleiner«. Er lag zurück, es blieben ihm kaum noch zwei Minuten, und er war entspannt. Ich gewann und er lächelte. Nein, er war überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte.
Die Zuschauer waren auf meiner Seite. Einige riefen meinen Namen. Los, Price. Gib’s ihm. Jetzt hast du ihn. Andere riefen den Namen meiner High School. Los, Roosevelt. Er gehört dir. Du hast ihn. Trainer French kniete am Rand der Matte und brüllte Anweisungen.
»Bleib von ihm weg! Fall nicht drauf rein! Lass dich nicht kriegen!«
In einem Bundesstaat mit wenigen Sportlegenden, die meisten davon Basketballspieler, war Bivens eine Ringerlegende. In seiner Gewichtsklasse war er zweimaliger Landesmeister, er war seit drei Jahren ungeschlagen und hatte immer durch Schultersiege gewonnen. Ich hatte schon lange, bevor ich ihm begegnete, von ihm gehört. Jeder, der je gegen ihn angetreten war, sagte dasselbe. Alle hatten gedacht, sie hätten ihn, sie lagen immer nach Punkten vorn, er war immer am Rande der Niederlage, und dann passierte etwas. Alle wussten über seinen Trick Bescheid. Trainer French hatte mich schon Wochen vor der Landesmeisterschaft davor gewarnt. Als wir dann in seinem Auto nach Indianapolis fuhren, redete er von nichts anderem.
»Du weißt, was er macht, also fall nicht drauf rein. Er hat nichts weiter als die Brücke. Die ist alles, was er hat. Also fall nicht drauf rein. Leg’s nur auf Punkte an. Verstanden?«
Die letzten zwei Minuten brachen an. Ich war Untermann. Der Kari pfiff. Ich entwischte und erzielte zwei weitere Punkte. Ich führte jetzt acht zu vier.
»Prima rausgewunden, Kleiner«, näselte Bivens. »Aalglatt.«
Er kam auf mich zu. Wir packten uns und kamen von der Matte ab. Der Kari trennte uns und schickte uns zum Mittelkreis zurück. Auf meinem Weg dahin zwinkerte er mir zu. Er wollte, dass ich gewann. Alle wollten, dass ich gewann. Einige wenige waren aus Anderson hergekommen. Sie hatten vor dem Kampf mit mir geredet; sogar die Leute aus seiner Heimatstadt wollten, dass ich gewann. Alle wollten, dass die Legende stürzte.
Ich musterte Bivens vom Rand des Mittelkreises aus. Er sah auf die Uhr. Nur noch knapp anderthalb Minuten. Er kam auf mich zu. Wir packten uns wieder. Er ließ sich plötzlich fallen und griff nach meinem Fußgelenk, und ohne nachzudenken, schob ich den Unterarm vor sein Gesicht, täuschte links an und zog rechts und erzielte mit einem weiteren Wurf noch zwei Punkte. Jetzt stand es zehn zu vier. Trainer French sprang auf. In seinen ganzen fünfundzwanzig Trainerjahren hatte er noch nie einen Landesmeister gehabt. Gleich war ich sein erster.
Bivens lag flach auf dem Bauch. Ich war über ihm. Er kämpfte sich auf die Knie. Mein rechter Arm umklammerte seine Taille. Er versuchte eine Wende, aber ich sah sie kommen und fing ihn ab. Ich steckte meinen rechten Arm zwischen seine Beine und hob ihn hoch. Mein linker Arm glitt um seinen Hals. Er lag jetzt auf dem Rücken. Ich war oben und wollte einen Schultersieg.
»Lass ihn los. Mach’s nicht!«, brüllte Trainer French. Ich hörte ihn ganz deutlich. Und dann merkte ich, dass die Zuschauer verstummt waren. Alle waren aufgestanden, gaben aber keinen Laut von sich. Trainer French brüllte weiter auf mich ein, doch ich schüttelte den Kopf. Ich wollte einen Schultersieg. Ich spürte Bivens’ Körper unter mir nachgeben. Eines seiner Schulterblätter berührte schon die Matte. Das andere kam ihr immer näher. Ich verlagerte mein Gewicht auf diese Schulter und spürte, wie sie sich senkte. Der Kari lag flach auf dem Bauch und spähte, wann die Schulter den Boden berühren würde.
Und dann stemmte Bivens sich plötzlich zur Brücke hoch. Die Bewegung war so schnell und so kräftig, dass mir keine Zeit blieb, darauf zu reagieren. Mein ganzer Körper hob sich, gleichzeitig verdrehte er seinen und erwischte mich ohne Halt. Schlagartig tauschten wir die Plätze. Er war oben und wollte einen Schultersieg. Ich war unten.
Ich kann immer noch gewinnen, dachte ich. Ich liege nach Punkten vorn. Sogar ein Wurf über den Rücken bringt ihm nur drei Punkte: Ich kann immer noch gewinnen. Ich rechnete hin und her, während ich mich verzweifelt bemühte, mit den Schultern nicht die Matte zu berühren. Sie waren ihr schon so nahe, dass ich die feuchte Wärme spürte, die von dem schweißgetränkten Kunststoff aufstieg.
»Fünfundvierzig Sekunden«, rief der Kari. Eigentlich durfte er uns nicht sagen, wie viel Zeit noch blieb, aber sogar er wollte, dass ich gewann.
Bivens hatte es immer noch nicht eilig. Sein Kopf lag auf meiner Brust, und er schien ein Nickerchen zu machen. Ich konnte mir nicht erklären, welche Kraft mich unten hielt. Ich spürte nicht, dass er sich irgend Mühe gab. Ich strengte mich fürchterlich an, er überhaupt nicht. Er hob den Kopf, legte das Kinn auf meine Brust und sah mich an. Unsere Gesichter berührten sich fast. Er lächelte mir zu. Quäl dich doch nicht so, schien er mir zu sagen, als ich mich mit aller Macht dagegen wehrte, zu Boden gedrückt zu werden. Warum wehrst du dich so heftig? Eine Niederlage ist gar nicht so schlimm. Wirklich nicht. Sie tut nicht weh. Er kam mir plötzlich völlig vertraut vor, schmerzlich vertraut. Ich kannte diese Augen. Dieses Lächeln. Und ich war sehr verlegen und schämte mich dafür, dass ich versucht hatte, ihn zu schlagen.
Ich sah weg und atmete aus, und im selben Augenblick verließ mich die Widerstandskraft. Ich sank in die Niederlage wie an den mir angemessenen Platz. Der Kampfrichter schlug mit der flachen Hand auf die Matte und verkündete damit das Ende des Kampfes.
Der alte Mercury von Trainer French roch nach verschüttetem Kaffee und Pfeifentabak. Auf dem Hinweg hatte ich ihm ein Versprechen abgenommen. Wenn ich gewann, durfte ich auf der Rückfahrt ans Steuer. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, das Auto zu fahren. Trainer French zog an seiner Pfeife, schüttelte den Kopf und trieb die Tachonadel über einhundertzehn. Er schien auf einen Unfall zu hoffen, damit sich dieser Schweinetag zu einer richtigen Katastrophe auswuchs. Er starrte in die Dämmerung, als hielte er nach einer Ausschau. Das Radio lief. Die Drifters sangen.
»There goes my baby
Moving on … down the line …«
Trainer French stellte das Radio ab.
»Verdammt noch mal, Price! Du hattest ihn! Ich sage dir, du hattest ihn! Verdammt noch mal!«
Er konnte es immer noch nicht glauben. Er stellte das Radio wieder an. So machte er es immer wieder. Wenn er etwas zu sagen hatte, stellte er es aus, ließ etwas Dampf ab und stellte es danach wieder an. Musik und Vorwürfe bei Tempo einhundertzehn auf Highway 41. Ich befingerte meine Silbermedaille und versuchte, es positiv zu sehen. Der zweite Platz war gar nicht so schlecht. Zweiter im ganzen Bundesstaat Indiana.
Wir rasten durch die Dämmerung und in die Nacht hinein. Trainer French stellte das Radio ab.
»Verdammt, Price. Du hast aufgegeben.«
So einfach war das. Ich hatte aufgegeben. Aber ich war überrascht, dass er es gemerkt hatte. Wenn man aufgibt, denkt man immer, das geschieht tief in der eigenen Seele, in die niemand hineinsehen kann. Aber Trainer French hatte hineingesehen.
»Wie kamst du dazu, einfach aufzugeben?«
»Ich weiß es nicht, Trainer.«
»Ich wünschte, du hättest das nicht getan. Ich wünschte wirklich, du hättest das nicht getan.«
Ich zuckte die Achseln.
»Du hattest ihn. Weißt du das?«
»Ja, ich … ich dachte, ich hätte ihn.«
»Ach was! Du hattest ihn schon. Du hattest ihn. Und weißt du, was du dann gemacht hast?«
»Ja, ich weiß, Trainer.«
»Du hast aufgegeben.«
»Ich weiß.«
»Ich wünschte, du hättest das nicht getan.«
»Ich habe nicht gewusst, dass ich’s tun würde, Trainer. Ich hab nur einfach … ich weiß nicht.«
»Du hättest jetzt das Auto fahren können, stimmt’s?«
»Ja.«
Er stellte das Radio wieder an. Trainer French redete, wie er arbeitete. Seine Ringkampfphilosophie basierte auf der Maxime: Man musste ein paar Griffe wirklich gut lernen und sie dann anwenden. Seine Äußerungen entsprangen und entsprachen dieser Philosophie. Fünfundzwanzig Jahre Trainerarbeit, und nie ein Landesmeister. Ich sah ihn an. Ich fragte mich, wie oft er diese Fahrt schon gemacht hatte, voller Hoffnung auf dem Hinweg, voller Verzweiflung und Enttäuschung auf dem Rückweg. Es würde kein nächstes Mal geben. Er ging in den Ruhestand.
Wir hielten bei einem Tankstellenrestaurant, um etwas zu essen. Wir bestellten uns beide einen Cheeseburger und einen Milchshake. Eigentlich ist es unmöglich, todunglücklich auszusehen, während man einen Milchshake durch einen Strohhalm schlürft, aber Trainer French arbeitete daran.
»Siehst du das hier?« Er wies mit seiner Pfeife in die Runde. Es war ein deprimierendes Lokal. Alle Gäste waren bleich und übergewichtig und trugen schlecht sitzende Kleidung. Alle aßen etwas, das nicht so gut schmeckte, wie sie es sich vorgestellt hatten. Wobei sie viele Servietten verbrauchten, wahrscheinlich, weil die umsonst waren. »Sieht doch aus wie ein mieser Schuppen?«
»Und ob.« Ich lächelte.
»Aber weißt du was? Dieser miese Schuppen würde wie das feinste Restaurant der Welt aussehen, wenn du die Landesmeisterschaft gewonnen hättest.«
Ich legte meinen Cheeseburger auf den Teller. Mir wurde klar, dass er in seinen langen Trainerjahren schon oft hier gehalten und genau diesen Satz zu anderen Verlierern gesagt hatte. Ich war jetzt Teil dieser Tradition. Sieger haben ihre eigenen Traditionen, und Verlierer haben andere. Er bezahlte, und wir gingen.
»Willst du fahren?«, bot Trainer French an.
»Ist schon gut, Trainer.«
Er fing wieder an zu rasen. In der Ferne sahen wir die ewigen Flammen der Ölraffinerien, die höchste und hellste gehörte zur Sunrise Oil Company. East Chicago, Indiana. Zuhause.
Ich dachte an meinen Vater. Schon seit etwa einem Jahr war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an ihn denken musste. Ich trug ihn in mir herum wie ein zusätzliches Organ, das ich nicht brauchte, aber versorgen musste.
Ich zuckte zusammen, als Trainer French das Radio abstellte.
»Sag’s mir, Price, ich will’s wirklich wissen. Was hat dich dazu gebracht?«
»Wozu, Trainer?«
»So aufzugeben.«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Das Bild meines Vaters wollte nicht verschwinden.
»Du brauchtest dich nicht auf die Matte drücken zu lassen.«
»Ich weiß.«
»Du hattest ihn.«
»Ja, ich weiß.«
»Du musstest nur noch dreißig Sekunden überstehen. Weiter nichts, stimmt’s?«
»Stimmt, Trainer.«
»Und dann hab ich dich gesehen. Ich hab gesehen, wie’s passiert ist. Ich hab gesehen, wie du aufgegeben hast. Warum hast du das gemacht, mein Sohn?«
»Ich …«
Aus dem Nichts heraus fing ich an zu schluchzen. Trainer French, weichherzig wie er war, sah aus wie vom Donner gerührt.
»He, nicht doch. Komm schon, lass. Du solltest nicht auf mich hören. Ich bin ein dummer alter Mann, der zu lange Trainer war. Was weiß ich schon? Ich weiß gar nichts. Lass doch …«
Ich konnte nicht aufhören. Hätte ich gewusst, dass ich weinen würde, hätte ich mir etwas überlegt, um aufhören zu können. Aber so war es für uns beide ein Schock. Er ließ für den Rest der Fahrt das Radio an.
»Sie können mich hier rauslassen«, sagte ich, als wir an der Aberdeen Lane vorbeikamen.
»Ich fahr dich nach Hause.«
»Ich kann hier aussteigen, Trainer. Wirklich.« Ich wollte noch nicht gleich nach Hause.
»Es sollte einfach nicht sein, das ist alles«, sagte er, als ich aus dem Auto stieg. Er versuchte zu lächeln. »Es gibt immer ein nächstes Mal.«
Und dann fiel ihm ein, dass er in den Ruhestand ging und ich Examen machte und es kein nächstes Mal geben würde. Er zwinkerte langsam, als ließe er die Jalousien herunter gegen alle Hoffnungen auf die Zukunft.
»Gute Nacht, Trainer.«
»Gute Nacht, Danny.«
Er fuhr langsam davon in seinen Ruhestand. Sein linkes Rücklicht brannte nicht.
Das Erste, was mir immer in der Aberdeen Lane auffiel, waren die Bäume. Ich hatte Fotos von Städten in Vermont und New Hampshire mit hohen Bäumen in jeder Straße gesehen. In East Chicago hatten wir nur die Aberdeen Lane. Entweder wollten die Bäume anderswo in der Stadt nicht wachsen, oder niemand pflanzte welche, oder wenn welche gepflanzt worden waren und wuchsen, dann wuchsen sie nicht so hoch, so ausladend, so schön. Sogar jetzt, Mitte März, mitten in der Nacht, wirkten die Bäume prächtig, richtig prächtig, obwohl sie noch kein Laub trugen und auch in nächster Zeit keines tragen würden. Das Licht der Straßenlaternen, das Licht aus den Häusern, das Licht von Fernsehern hinter Fenstern im ersten Stock fiel durch die kahlen Zweige, als ich langsam, schlurfend, den Bürgersteig entlangging.
Ich kannte niemanden, der in der »A« Lane wohnte. Wir wussten alle, denen dort ging es besser als den übrigen Einwohnern von East Chicago, sie hatten mehr Geld und blieben, nach den hellen Fenstern zu urteilen, abends länger auf. Die Häuser waren alle aus Ziegelsteinen gebaut, und die meisten hatten ein Obergeschoss; die Rasenflächen waren groß, ihr Gras grüner als anderswo, und etliche hatten unterirdische Rasensprenger. Ungefähr jedes zweite auf der Straße geparkte Auto war ein neuer Kombi.
Zuletzt hatte ich mich im Oktober längere Zeit in der Aberdeen Lane aufgehalten. Ich brauchte zwanzig Blätter zu einer Laubsammlung für den Biologieunterricht. Ich verbrachte einen ruhigen Nachmittag damit, Blätter vom Boden aufzuheben – Silberahorn, Zuckerahorn, Traubenrüster, Sumpfeiche, Maulbeerbaum. Der Tag prägte sich meinem Gedächtnis ein: der Frieden, den ich empfand, das Gefühl, Fortschritte zu machen, der Geruch des Herbstes und der Anblick fallender Blätter an einem windigen Tag.
Deshalb war ich absichtlich hier ausgestiegen, denn bevor ich nach Hause ging, wollte ich wissen, ob der Frieden, den ich an jenem Tag erlebt hatte, immer noch da war, um die Scham und den Schmerz meiner Niederlage zu mildern.
Ich versuchte, positiv zu denken. Ein zweiter Platz war nicht schlecht. Der Zweite im ganzen Bundesstaat Indiana. Überhaupt nicht schlecht. Ich stellte mir eine Schlange aus allen Ringern von Indiana in meiner Gewichtsklasse vor. Es war eine lange Schlange, die um den Block reichte, und in dieser langen Schlange war ich der Zweite von vorn. Ich musste nicht mit Druck auf mich rechnen. Wenn man Zweiter war, wurde nichts Besonderes von einem erwartet. Jeder würde bewundern, wie dicht ich herangekommen war, ohne danach zu fragen, wie weit ich es bringen würde. Für meine beiden Freunde, Larry Misiora und Billy Freund, beide Ringer, die es nicht mal über die Regionalliga hinausgebracht hatten, würde kein Abgrund der Überlegenheit zwischen uns klaffen. Es gab viele Punkte zu meinen Gunsten.
Ich überlegte, ob nur Verlierer sich bemühten, positiv zu denken. In meinem Hinterkopf flackerte das Bild meines Vaters. Ich konnte an andere Dinge denken und trotzdem dabei an ihn denken. Er war wie eine durchsichtige Folie, die sich allem, was ich sah, überlagerte, damit ich die Welt schließlich mit seinen Augen sah.
Ich blieb mitten zwischen zwei Querstraßen stehen. Das grüne Haus, das im Oktober zum Verkauf gestanden hatte, war immer noch zu verkaufen. Ich lehnte mich an den Stamm des Silberahorns und versuchte noch einmal, den Frieden vom Oktober einzufangen.
Ein Auto kam aus einer Querstraße, bog in die Aberdeen Lane, einer Einbahnstraße, und fuhr in die verkehrte Richtung. Ich trat hinter den Baum, um nicht vom hellen Licht der Scheinwerfer erfasst zu werden. Das Auto hielt auf der anderen Seite des Baumes; die Scheinwerfer blieben noch ein paar Sekunden an und verloschen dann. Ein Mann stieg aus dem Auto und streckte sich. Er stand direkt unter der Straßenlaterne und sah aus wie ein Schauspieler auf einer Bühne, der im Begriff stand, etwas zu sagen. Er wirkte nicht so alt, wie es seinem silbergrauen Haar entsprach, aber auch nicht so jung, wie er sich kleidete. Vielleicht fünfzig. Er sah zum grünen Haus hinüber, betrachtete prüfend ein Schlüsselbund in seiner Hand und ging dann über den Rasen zur Haustür. Nach vielem Stochern gelang es ihm, die Tür aufzuschließen.
»Er passt«, rief er.
»Schade«, erwiderte ein Mädchen im Auto. »Ich hab schon gehofft, wir müssen die Tür aufbrechen.«
Es war für mich zu spät, hinter dem Baum hervorzukommen. Sie hätten gedacht, ich spionierte ihnen nach. Also zog ich mich noch weiter zurück, damit sie mich nicht sahen.
Der Mann verschwand im Haus. Mehrere Lampen gingen an, darunter ein Scheinwerfer, der den Rasen beleuchtete.
Die Autotür ging auf, und ein Mädchen stieg aus. Türkisohrringe schimmerten im Dunkel. Sie zündete sich eine Zigarette an und warf das brennende Streichholz fort. Schwarze Haare, braune Haut, hohe Wangenknochen.
»Rachel«, rief der Mann im Haus.
»Stimmt, so heiße ich«, murmelte sie vor sich hin.
»Rachel!« Der Mann erschien in der Tür. »Kommst du?«
»Das tu ich ja gerade. Ich komme. Komme schon.« Sie hatte offenbar schlechte Laune. Ihre Hüften bewegten sich beim Gehen nicht.
Der Mann trat von der Tür zurück, um sie einzulassen. Sie ging an ihm vorbei, ohne stehen zu bleiben. Er sah ihr einen Augenblick lang nach, dann verschwand auch er.
Rachel, dachte ich. Ich hatte noch nie eine Rachel gesehen. Ich hatte ein Bewusstsein für Wörter und merkte mir, wann ich sie zum ersten Mal benutzte. Ich war siebzehn, es war der Sommer des Jahres 1960, und ich saß auf Mrs. Deweys Veranda, als ich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort »irrational« benutzte.
Ich ging. Als ich an der Ecke Aberdeen Lane und Northcote ankam, schaute ich mich um. Rachel und der grauhaarige Mann gingen zum Auto. Ich sah zu, wie sie Koffer und Kartons ausluden und ins Haus trugen, dann ging ich nach Hause. Hinter mir, unten bei der Stadtbücherei, ratterte ein Zug durch die Nacht. Die Lokomotivpfeife heulte auf. Ich erkannte an dem Geräusch, dass es der New York Central nach Osten war.
Irrational. Ich hatte das Wort erst einmal benutzt. Die Regel besagte, man musste ein Wort dreimal benutzen, bevor es einem gehörte.
Mein Vater saß am Küchentisch, als ich nach Hause kam. Er hatte die Deckenlampe tief zum Tisch heruntergezogen, und die schwache Birne war das einzige Licht im Haus. Meine Mutter schraubte 150-Watt-Birnen ein. Er nahm sie heraus und schraubte 60-Watt-Birnen ein. Wenn man irgendwo auf der Welt einen Strich gezogen hätte, die beiden hätten sich automatisch auf die gegenüberliegenden Seiten gestellt. Er löste das Kreuzworträtsel der Chicagoer Sun-Times.
»Hi, Dad.« Ich musste immer der Erste sein, der etwas sagte.
»Ja, hi.«
»Mom ist zur Arbeit?« Ich wusste, sie war zur Arbeit.
»Ja. Nachtschicht. Den ganzen Monat.«
Ich machte den Kühlschrank auf, aber ich hatte keinen Hunger. Wenn ich gewonnen hätte, hätte ich etwas gegessen.
»Deshalb müssen wir den Kühlschrank so oft abtauen. Du stehst da mit der offenen Tür.«
Ich machte die Tür zu.
»Ich hab verloren.«
»Was verloren?«, fragte er und wandte den Kopf um. In dem trüben Licht sah er jung aus. Ein kleiner Mann, in dessen kräftigen, dichten Haaren sich noch kein einziges graues fand. Er hätte ein Schuljunge sein können, der seine Hausaufgaben machte. Die Leute sagten, wir sähen uns ähnlich. Ich hatte das Gesicht meines Vaters und den Körperbau meiner Mutter. Um meine Seele stritten sie sich immer noch.
»Den Kampf. Ich habe den Kampf verloren. Ich bin Zweiter geworden.«
Er lächelte sein trauriges Lächeln und nickte. Genau dieses Lächeln hatte ich auf dem Gesicht meines Gegners gesehen. Ich wusste nicht, welchen Kampf mein Vater und ich miteinander austrugen, aber ich wusste, ich war wieder zu Hause und er hatte gewonnen, und ohne die Bedingungen unseres Kampfes zu kennen, schämte ich mich wieder dafür, dass ich versucht hatte, ihn zu besiegen. Zum Zeichen der Versöhnung zeigte ich ihm meine Verlierermedaille.
»So ist das Leben nun mal. Man verliert. Du wirst darüber hinwegkommen. Lass dich von deiner Mutter nicht klein machen wegen der Niederlage. Du weißt, sie wird es tun, wenn du sie lässt.«
Ich überlegte, unter die Dusche zu gehen. Wenn ich gewonnen hätte, hätte ich mich lange unter die heiße Dusche gestellt und den Kampf noch einmal durchlebt.
»Ich geh schlafen.«
»Ja, ich auch. Gleich«, sagte er, ohne aufzuschauen.
»Gute Nacht, Dad.«
»Ja, gute Nacht.«