www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-00951-5
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
Fotos auf dem Schutzumschlag (v. l. n. r.): Mohammed Jalil/EPA/picturedesk.com; Baraa Al-Halabi/AFP/picturedesk.com; Ahmad Halabisaz Xinhua/Eyevine/picturedesk.com; Hintergrundbild Barbara-Maria Damrau/fotolia.com
Typografische Gestaltung und Satz: Michael Karner, Gloggnitz
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Vorwort
Das Morsi-Enigma
Eroberung eines Kartenhauses
Baghdad Memories
Muqtada al-Sadr und die hungrigen Wölfe
Die Angst vor den Schiiten
Ali ist »der Sinn«
Notstandsgesetz Nummer 49
Kreuzritter, Zionisten und Zoroastrier
Region in Angst
Der Chemiewaffen-Coup
Saudi-Arabiens Wahhabismus in der Sackgasse
Die Stunde der Saudologen
Mu’amara: Die Verschwörung
Die Träume des Abdulfattah al-Sisi
Ein Kalter Friede
Eine Liebe im Wandel der Zeiten
Unser iranischer Buhmann
Pragmatisch oder ideologisch?
Uran-Anreichern ist nicht wie Kuchenbacken
Kissingers Gedächtnislücke
Das Orakel von Osirak
Anmerkungen und Quellenangaben
Bitte lesen Sie dieses Vorwort, bevor Sie sich fragen, welch seltsamer Logik mein Analysen-Band folgt: Er beginnt mit dem Irak, führt über den Krieg in Syrien zur Nachfolgediskussion in Saudi-Arabien und der aktuellen Entwicklung in Ägypten und danach in den Iran und zur Atomproblematik. Und tatsächlich ist es von meiner Seite so gedacht: als Rundumschlag, der sich an einigen Brennpunkten des Nahen Ostens orientiert, aber mit den transnationalen Zusammenhängen im Blick und immer im Bemühen um historische Tiefe. So entstehen Beiträge, die selten monothematisch sind, oft sind sie im Bereich von regionalem Crossover anzusiedeln. Sie sind Hintergründe und Vorgeschichten zu dem, was Sie tagtäglich in den Nachrichten hören – dass die Welt nicht stehengeblieben ist, als ich dieses Buch abschloss, versteht sich von selbst.
Dass ich ein Buch mit diesen Analysen fülle, ist natürlich nicht nur eine Tugend, sondern auch eine Not: Ich könnte und wollte nicht mit meinen Kollegen und Kolleginnen konkurrieren, die in der Region leben, das tägliche Leben der Menschen kennen und in Reportagen viel besser beschreiben können als ich, die ich eine ferne Beobachterin und nur von Zeit zu Zeit im Nahen Osten bin. Aber ein bisschen Distanz, ein Schritt zurück, ist ja manchmal sogar gut, um das Ganze ins Auge fassen zu können. Nicht dass dann immer alles klar ist: Manchmal fühle ich mich wie der Feldherr alter Zeiten auf einem Hügel, der versucht, die Schlacht zu überblicken, und darauf wartet, dass sich die Gefechtsnebel lichten, damit er etwas besser sehen kann. Das tut er nur bedingt, vor allem kennt er nicht alle Details, die sich am Boden abspielen, aber er hat doch einen Überblick und kennt die Vorgeschichte. Leider ist die Schlacht-Metapher angesichts des Zustands »meiner« Region gar nicht so abwegig.
Seit Jahren schreibe ich diese Analysen für den »Standard«, für die gedruckte Zeitung, aber auch in einer eigenen Online-Schiene, aus der ich einige Themen übernommen und ausgearbeitet habe. Aber kein Artikel ist in genau dieser Form schon erschienen, alle wurden überarbeitet und zum Teil auf das Doppelte verlängert; auch die Irak-Kapitel aus dem »Standard«-Feuilleton, dem »Album«, die das Buch einrahmen, wurden noch einmal überholt. Im Irak war ich im Jahr 2006 als Vertreterin der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft und Geschäftsträgerin der Österreichischen Botschaft Bagdad, das fließt manchmal mit ein. Auch meine pädagogische Ader kann ich, fürchte ich, nicht immer ganz verleugnen, nach Jahren als Lehrbeauftragte für Moderne Geschichte und Politik des Nahen Ostens am Institut für Orientalistik der Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie Wien. Aus dieser Beschäftigung weiß ich auch, dass ein enormer Bedarf an Information über den Zusammenhang von Religion und Politik im Nahen Osten besteht. Das hat dazu geführt, dass etliche Themen, die mit dem politischen Islam zu tun haben, in dieses Buch eingeflossen sind. Das ist den derzeitigen Umständen in der Region geschuldet – man sollte sich jedoch nicht irreleiten lassen und glauben, dass das Leben der Menschen im Nahen Osten sich nur darum dreht. So ist es natürlich nicht. Und was nach Religion aussieht – wie etwa die sich nach 2003 und weiter nach 2011 auftuende Kluft zwischen Schiiten und Sunniten –, steht immer mit handfesten politischen Auseinandersetzungen in Zusammenhang. Was wiederum heißt, dass das, was wir als Auseinandersetzung mit einem radikalen Islam sehen, nicht immer so war und nicht immer so sein wird. Das ist ein Phänomen der Moderne. Dennoch ist es nützlich, wenn man etwas zu den historischen Hintergründen weiß, um zu verstehen, was da im Nahen Osten heute alles plötzlich, wie es auf Neudeutsch heißt, »aufpoppt«.
Noch ein Wort zu den Kapiteln, die sich mit Massenvernichtungswaffen und der nuklearen Frage im Nahen Osten befassen. Ich habe meine Dissertation über das irakische Atomprogramm und die Inspektionen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) geschrieben, Jahre danach ist auch ein Buch aus dieser Arbeit entstanden, das zu Jahresbeginn in einem wissenschaftlichen Verlag erschienen ist.1 Nach diesem Buch für Spezialisten war die Zeit reif, auch beim Buchschreiben wieder auf journalistischen Boden zurückzufinden. Es war immer mein Ehrgeiz, komplizierte Sachverhalte so zu erzählen, dass ein interessierter Leser und eine interessierte Leserin folgen können. Ein bisschen Durchhaltevermögen brauchen sie allerdings schon.
Die Danksagung ist nicht einfach, denn es sind so viele Personen, von denen ich über die Jahre in Gesprächen viel gelernt habe und noch immer lerne, Menschen aus der Region und Spezialisten aus anderen Ländern, die genannt werden müssten. Deshalb nur ein paar Namen von heimischen Freunden aus der akademischen Welt, angefangen vom Iranisten Bert Fragner und seinem Schüler Walter Posch, über den Arabisten Stephan Procházka und die Turkologin Gisela Procházka-Eisl, bis hin zu Freunden und Experten aus dem österreichischen Außenministerium, wie die Botschafter Friedrich Stift (Teheran) und Georg Stillfried (Kairo). Ihrer aller Rat ist punktuell auch in dieses Buch eingeflossen, das heißt aber nicht, dass sie für Fehler meinerseits verantwortlich wären. Am Schluss danke ich auch noch Barbara Köszegi vom Verlag für ihre Beharrlichkeit, ohne die ich das Buch nicht gemacht hätte.
Gudrun Harrer / Wien, im Juli 2014
Dieser Beitrag muss mit einem Geständnis beginnen. Ich habe in grauer Vorzeit einmal eine arabistische Diplomarbeit geschrieben und veröffentlicht, die sich mehr oder weniger mit dem befasste, was ich hier das Morsi-Mursi-Problem nennen möchte: Wenn in den Zeitungen »Mursi« steht, wird es Leser und Leserinnen geben, die sich fragen, ob der Mann nicht richtig »Morsi« heißt, und wenn die Zeitungen »Morsi« schreiben, wird es noch mehr geben, die darauf pochen, dass doch »Mursi« richtig sei. Es ärgert manche Leser so sehr, dass sie den Inhalt gar nicht mehr lesen können. Das ist schade, denn die Aufregung ist unangebracht. Im »Standard« hatte ich tatsächlich, als der damals zukünftige, nunmehr gestürzte Präsident Ägyptens erstmals in unser Bewusstsein und damit auf die Zeitungsseiten trat, Mursi geschrieben, unsere Korrespondentin aus Kairo jedoch Morsi, und die Kollegen aus der Außenpolitik haben das so stehen lassen. Ich habe nichts dagegen unternommen und ebenfalls diese Schreibweise übernommen, weil es mir irrelevant erschien – dass die englischen Medien eher zu Morsi tendieren und die deutschsprachigen zu Mursi, ist mir damals nicht aufgefallen, aber es stimmt wahrscheinlich. In diesem Buch bin ich wieder bei Mursi.
Meine Diplomarbeit hieß »Zur Wiedergabe arabischer Wörter in den deutschsprachigen Medien. Problematik, Praxis und Lösungsvorschläge.« Das perfekte Werk für jemanden, der unter Schlafstörungen leidet. Meine Lösungsvorschläge von damals halte ich heute selbst nicht ein. Der erste Satz der Einleitung stimmt allerdings noch immer: »Mit Staunen und Kopfschütteln nimmt der Zeitungsleser das Chaos in der arabischen Namensschreibung zur Kenntnis …« Die Arabisten putzen sich ab, denn sie haben ein perfekt funktionierendes Transkriptionssystem mit Sonderzeichen, die die in unserem Alphabet fehlenden Buchstaben für Konsonanten (zu den Vokalen später) wiedergeben, die es im arabischen Alphabet gibt. In der Zeitung haben wir das erstens nicht, und zweitens würden die Leser und Leserinnen auch nicht verstehen, was zum Beispiel mit einem Punkt oder einem Strich unter einem h gemeint ist.
Ich möchte das nicht weiter ausführen, nur so viel: Eines der Probleme besteht darin, dass es im Arabischen von etlichen Konsonanten auch »emphatische«, also betontere, verstärkende Varianten gibt. Das ss in unserer Schreibweise von Assad bezeichnet ein anderes s als das ss in Nasser. Und in beiden Fällen, Assad und Nasser, handelt es sich im Arabischen überhaupt nur um ein einfaches s, nicht um doppel-s. Da aber im Hochdeutschen ein s zwischen zwei Vokalen stimmhaft ausgesprochen wird, und da es sich bei den beiden s in Assad und Nasser um stimmlose s handelt, werden sie für gewöhnlich als doppel-s transkribiert. Da gibt es kein »richtig« oder »falsch«, sondern das ist eine Konvention. Die Transkription der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, an die sich die deutschsprachigen Arabisten halten, würde Nasser so wiedergeben: N, ein a mit einem Strich darüber (das bezeichnet ein langes a), ein s mit einem Punkt darunter (bezeichnet ein emphatisches s, das sad), ein i und ein r. Und ein Wissenschaftler würde dem Nasser auch die erste Hälfte seines zweiten Namens geben, nämlich Abd al-. Vor dem A von Abd würde er ein Zeichen machen, das Sie nicht einordnen können: für den Konsonanten ayn. Und dann würde er wahrscheinlich auch noch das l im Artikel al- an das n assimilieren, so wie es beim n, aber auch noch bei ein paar anderen Konsonanten, richtig ist, also Abd an-Nasir (inklusive des ganzen oben erklärten Sonderzeichentheaters) schreiben.
Und mit dem i in Nasser/Nasir sind wir bei den Vokalen und bei Mursi und Morsi. Im Arabischen werden die Kurzvokale nicht notiert beziehungsweise gibt es nur in Ausnahmefällen (etwa im Koran) Angaben für die »Vokalisierung«, kleine Zeichen über oder unter den Konsonanten. Das Arabische kennt nur drei kurze und drei lange Vokalphoneme, a, i, u. Aha, werden Sie sagen, Morsi ist also doch falsch. Aber: Die arabischen Vokalphoneme unterliegen in ihrer Realisation einer großen Variabilität, das heißt, phonetisch sieht die Lage wieder ganz anders aus als phonematisch. Man nennt diese Varianten »Allophone«. Diese Allophone werden durch die Konsonanten erzeugt, zwischen denen der Vokal zu liegen kommt, aber auch durch lokale arabische Dialekte.
Wenn ein u oder ein i zwischen emphatischen oder auch nur neben einem emphatischen Konsonanten zu liegen kommt, dann wird es phonetisch abgedunkelt, klingt dann eher wie o oder e. Beim Nasser ist es das emphatische s in der Mitte, bei Hosni der stimmlose pharyngale Dauerlaut h (ein mit Pressartikulation realisiertes h) am Beginn. Im Ägyptischen tendieren aber die kurzen u überhaupt zu o: So wird die Bewegung »Tamarrud« (Rebellion), die Mursi/Morsi zu Fall gebracht hat, von den meisten Korrespondenten »Tamarod« oder »Tamarrod« geschrieben (wobei hier das gerollte doppel-r zur Verdunkelung des u zu o beiträgt).
Wer jetzt noch dabei ist: Was ich sagen will, ist, dass es nicht um »richtig« oder »falsch« geht, sondern um phonematische oder phonetische Transkriptionen, und dass Transkriptionen ohne Sonderzeichen ohnehin immer nur ein unbefriedigender Kompromiss sind. Wenn wir die Vokale phonematisch treu transkribieren würden, dann wäre das natürlich auch das Ende von »Omar« und «Mohammed« – der übrigens auch ein Beispiel dafür liefert, dass das e phonematisch im Arabischen nicht nur eine Verdunklung von i, sondern auch eine helle Variante von a sein kann (also etwa Mohammäd). Muhammad muss er heißen, ein für allemal. Gut, werden Sie sagen, warum nicht? Aber was machen Sie dann, wenn sich der ägyptische Friedensnobelpreisträger ElBaradei selbst hochoffiziell »Mohamed« – noch dazu mit nur einem m – schreiben lässt? Gehen Sie hin und sagen, lieber Herr Doktor, Sie schreiben sich falsch? Und überhaupt ElBaradei, warum nicht al-Baradei? Wobei auch das Baradei nur eine grobe Annäherung an die arabische Wirklichkeit ist …
Sie sehen, das Scheitern ist programmiert. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie schwach ausgeprägt die Vokale manchmal sind, stammt aus der jüngsten Aktualität in Libyen. Da gibt es den General Haftar, der im Mai 2014 eine Offensive gegen die Islamisten startete, ganz nach dem Vorbild Sisis in Ägypten. Haftar ist nur eine der Schreibweisen: Von Hafter, Heftar bis zu Hufter werden Sie alles finden. In seinen amerikanischen Papieren heißt er Hifter. Und wenn Sie mich jetzt noch fragen, warum ich unseren Feldmarschall-Präsidenten Sisi und nicht – nach dem Assad-Modell (stimmloses s) – Sissi schreibe: Nach einem Jahr hat Sisi, wie die meisten Medien den Namen wiedergegeben haben, so etwas wie ein Gewohnheitsrecht. Ich werde nicht dagegen ankämpfen. Aber es gibt noch einen anderen guten Grund, der mit dem Deutschen zu tun hat: Da ist nämlich vor einem doppel-s der Vokal zwingend kurz, während unser Sisi ein langes i vor dem s hat. No, he is no sissy.
Es ist eben alles sehr kompliziert. Ich entscheide mich hier oft ganz einfach für eine Schreibweise, die ich für gebräuchlicher halte als eine andere, auch wenn dadurch Ungereimtheiten entstehen mögen. Und beim Transkribieren aus dem Persischen ist ohnehin wieder alles anders. Das heißt, ich kapituliere – und widme mich lieber den Inhalten.
Als am ersten Kriegstag im März 2003 nach etlichen vergeblichen Versuchen meinerseits, nach Bagdad telefonisch durchzukommen, bei den Freunden wider Erwarten doch noch das Freizeichen und gleich darauf die Stimme von S. ertönte, fiel mir nichts Besseres ein, als zu fragen: »Was macht ihr gerade?« Die nüchterne Antwort: »Na was schon: Wir schauen CNN!«
Satellitenschüsseln waren zwar verboten, aber S. hatte seit Jahren eine. Er wurde einmal verraten, aber die Sicherheitskräfte, die zu ihm ins Haus kamen, bestach er – Geld hatte er genug, denn er hatte einen Handel aufgezogen, eben mit jenen Satellitenempfängern, die er sich, in Teile zerlegt, aus Jordanien kommen ließ. Er war sehr erfolgreich. Unvergesslich der Besuch mit ihm beim damaligen chaldäischen Patriarchen, dem er gleich eine andiente.
Warum diese Episode wichtig sein soll? Ein paar Jahre früher hätte sich S. nicht freikaufen können, den Vorstoß beim Patriarchen hätte er nie gewagt. Die irakische »Republik der Angst«2, die die USA mit ihrem Einmarsch 2003 zerstören wollten, gab es längst nicht mehr. Es gab gar keinen Staat mehr, die zwölfjährigen internationalen Sanktionen, die nicht nur die Wirtschaft, sondern alle Bereiche des Lebens betrafen, hatten ihn aufgefressen. Die USA stießen 2003 ein Kartenhaus um. Der Autor von »The Republic of Fear«, Kanan Makiya (er schrieb unter dem Pseudonym Samir al-Khalil), hatte zu jenen Exil-Irakern gehört, die der willigen amerikanischen Regierung das Blaue vom Himmel versprachen: Empfang mit Rosen für die US-Soldaten, Einführung der ersten Demokratie im Nahen Osten. Am fünften Jahrestag der Invasion sagte Makiya in einem Interview zu mir: »Ich habe mich geirrt.« Dem Irak hatte er da längst wieder den Rücken gekehrt – wie hunderttausende Flüchtlinge auch, nur unter bequemeren Umständen.
Der irakische Staat war 2003 vor den Augen der USA kollabiert, es gab nichts, worauf man aufbauen konnte, keine Strukturen, keine Institutionen. Wäre das totale Abrutschen noch zu verhindern gewesen, wenn die Amerikaner nach einer ehrlichen Bestandsaufnahme ihre Politik der Realität angepasst hätten? Wenn die US-Armee Chaos und Plünderungen, die sofort einsetzten, verhindert hätten, wenn sie bereit gewesen wären, zuerst als Polizei und dann als »Nation Builder« zu fungieren?
Daniel Byman kommt in seinem Artikel von 2008, in dem er das Irak-Debakel »obduziert«,3 eher zu dem Schluss, dass es auch bei Vermeidung der katastrophalen US-Fehler schwierig geworden wäre. Nach den Erfahrungen der ersten Jahre »Arabischer Frühling« könnte man ihm insofern recht geben, als nun einmal mehr bestätigt ist, dass »freie« – wer ist schon frei nach Jahrzehnten unter solchen Regimen? – Wahlen jedenfalls kein Allheilmittel sind. Im Irak ließen die USA jedoch ohnehin erst zwei Jahre nach der Invasion wählen, als der Countdown zum Bürgerkrieg bereits begonnen hatte.
Und bei den USA waren es eben mehr als nur »Fehler«. Da war zu allererst einmal die Kriegsgrund-Lüge. Dazu kam eine seltsame Mischung aus Arroganz, Unwissen – und Kitsch, der sich europäischen Kriegsskeptikern gegenüber etwa so äußerte, dass diese ständig auf den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Europas durch die USA verwiesen wurden. Hatte der Irak etwa keinen Anspruch auf diese zivilisatorische Gnade? Als ob das so einfach wäre: Dort, wo die Amerikaner einmarschieren, wird alles gut.
Und dann zogen sie in den Irak ein und waren drei Wochen später in Bagdad, und da gab es jubelnde Iraker! Sie hatten also recht, und wir hatten unrecht. Ich erinnere mich an einen US-Diplomaten, der mir die Hand nicht mehr gab, nachdem ich den US-Triumphalismus nach »Kriegsende« kritisierte und schrieb, die USA sollten sich nicht täuschen: Sie hätten den Krieg nicht gewonnen, sondern dieser sei – vielleicht nur einstweilen – abgesagt worden. Dieser Diplomat ließ sich später nach Bagdad versetzen und nahm noch später wieder den Kontakt zu mir auf …
Es fällt ja nicht leicht, einer Supermacht wie den USA, 2003 noch unbestrittener die einzige Supermacht als heute, »Unwissen« zu unterstellen. Paul Bremer, der glücklose amerikanische »Vizekönig« in Bagdad, bekommt heute das ganze Fett als Scharlatan ab – aber entsandt und gewähren ließen ihn Vizepräsident Dick Cheney und Konsorten. Dieser Bremer also sagte 2003, als er die irakische Armee auflöste und den USA so mit einem einzigen Federstrich ein paar Millionen Feinde bescherte, er tue dies, um den Irakern unmissverständlich klarzumachen, dass Saddam Hussein Geschichte sei. »Saddams Armee« war tot.
An dem Tag, an dem diese Nachricht aus Bagdad kam, hatte ich zufällig mit einer kleinen internationalen Journalistengruppe einen Termin bei König Abdullah II. von Jordanien. Der, selbst ein Mann des Militärs, war bleich vor Entsetzen und Ärger. Ja wussten denn die Amerikaner nicht, dass die irakische Armee immer eine »nationale« gewesen war, eine, der Saddam Hussein nicht einmal richtig traute? Der Schlag, auf den Bremer so stolz war, richtete sich nicht gegen Saddam, sondern gegen die irakische Identität, den nationalen Zusammenhalt. Ich kann mich nicht mehr genau an seine Worte erinnern, aber König Abdullah sagte so etwas wie: »Jetzt ist es aus.«
Und das war es gewissermaßen auch. Die Amerikaner hatten die Iraker in Freunde und Feinde geteilt, und diese verhielten sich entsprechend. Das war, bevor die Amerikaner selbst Verbrechen an den »Undankbaren« begingen (Stichwort Abu Ghraib) und die geheimen Folterkerker bei ihren Freunden, den befreiten Schiiten, entdeckten. Aber es ist sinnlos, die unterschiedlichen »Body Counts« im Irak nach 2003 miteinander zu vergleichen, und schon gar, sie gegen die Opferzahlen Saddams aufzuwiegen. Es war eben nicht mehr die alte, sondern eine neue Hölle, die sich im Irak auftat.
Mein Freund S., der 2003 sofort gemeinsam mit seiner Frau mit voller Überzeugung für die US-Verwaltung in Bagdad zu arbeiten begann, wurde 2006, als ich für das österreichische Außenministerium als Sondergesandte und Geschäftsträgerin der Botschaft in Bagdad war, entführt. Mein finsterster Tag. Die Freunde kratzten das Lösegeld zusammen, S. war Sunnit, deshalb brachten ihn seine Entführer nicht um, sondern warfen ihn, nachdem sie das Geld erhalten hatten, immerhin nur aus dem fahrenden Auto. Er überlebte, nahm seine Familie und verließ das Land. Seine Entführer beschrieb er als völlig entkulturalisiert – er sagte, sie hätten nicht einmal ordentlich sprechen können, die verlorene Generation der Sanktionszeit –, junge Kriminelle, die ihre Taten mit einem sunnitischen Jihad gegen USA und Schiiten rechtfertigten.
Kanan Makiya hat 2012 die US-Regierung aufgerufen, militärisch in Syrien einzugreifen: Logischerweise berief er sich dabei nicht auf die US-Intervention im Irak 2003, sondern verwies auf das Versäumnis von US-Präsident George H. W. Bush, dem Vater des Kriegsherrn von 2003, im Jahr 1991: Wenn die USA damals den Golfkrieg in aller Konsequenz geführt und Saddam Hussein gestürzt hätten, wäre der Irak noch zu retten, die irakische Gesellschaft noch nicht so kaputt gewesen, argumentierte er.
Das mag richtig sein, aber wenn Kanan Makiya, Professor der Brandeis University, meint, Syrien durch eine US-Intervention das irakische Schicksal ersparen zu können, dann irrt er schon wieder. Denn Syrien ist nicht wie der Irak 1991, sondern die Tragödie, die sich heute in Syrien abspielt, hat 2003 im Irak begonnen. Im Irak führte der Kollaps des Staates zu dem, was in Syrien heute zum Kollaps des Staates führt: der Ausbruch des konfessionellen Wahnsinns. Und dieser Wahnsinn schwappt im Jahr 2014 wieder zurück in den Irak, der mit dem Vormarsch der Jihadisten des »Islamischen Staats« und ihren Verbündeten, den Altbaathisten und den Stammessunniten, erneut zum konfessionellen Schlachtfeld geworden ist.
Bush senior hat 1991 den Irak-Krieg »nicht zu Ende geführt«, wie es heißt: Einer der Gründe, und vielleicht der gewichtigste, war, den Iran nicht von Saddam Hussein befreien zu wollen, weswegen man ja 1991 dem besiegten Irak auch seine konventionellen Waffen nicht weggenommen hatte: Er sollte zumindest seine Grenzen verteidigen können. Es ist richtig, dass dieses Argument 1991, nur zwei Jahre nach Ayatollah Khomeinis Tod, schwerer wog als im Jahr 2003, als in Teheran seit sechs Jahren der kultivierte Gelehrte Mohammed Khatami Präsident war, der nach 9/11 brav mit den Amerikanern in Afghanistan kooperierte und dennoch 2002 in einer Rede von George W. Bush auf der »Achse des Bösen« landete. Jedenfalls kam die Geschichte so, wie sie kommen musste:
Der von einer tribal-mafiösen Herrschaft eines (nominell) sunnitischen Clans befreite Irak – die Hinrichtung des Despoten entgleiste zu einer Art schiitischem Racheritual – geriet rasch unter die kulturelle und politische Hegemonie der Mehrheitsgruppe, der religiösen Schiiten, mit ihrem einfachen Verständnis von »Demokratie« als einer Herrschaft der Mehrheit und mit ihren traditionellen Beziehungen zu Teheran. Diese waren keineswegs immer spannungsfrei, und die irakischen Schiiten sind auch alles andere als eine homogene Gruppe. Aber trotzdem: Das war ein ganz neuer Irak, einer, der aus dem sunnitisch-arabischen Orbit in den schiitisch-iranischen gekippt war.
So sahen es jedenfalls die arabischen Sunniten am Golf, in Jordanien – den »schiitischen Halbmond«, der nun über der Region hing, hatte König Abdullah zum ersten Mal so benannt – oder auch in Ägypten, wo Hosni Mubarak 2006 an der Loyalität der arabischen Schiiten zweifelte. Und Iran spielte auf dem irakischen Schachbrett natürlich auch seine eigenen Züge gegen die Amerikaner. Welche Genugtuung für die Iraner, die Supermacht so hilflos zu sehen.
Und aus aller Herren Länder setzten sich die sunnitischen Jihadisten in Richtung Irak in Bewegung – wo sie die Verlierer von 2003 einsammelten. Erst ab 2007, als sie in einem Albtraum des gegenseitigen Abschlachtens von Sunniten und Schiiten erwachten, begannen die »Aufständischen«, sich wieder von Al-Qaida abzuwenden.
Aber die Saat war gesät, sie blieb in der Erde, und mit Ausbruch des Aufstands in Syrien begann sie wieder zu sprießen. Schon Musab al-Zarqawi, der 2006 getötete Chef der irakischen Al-Qaida, hatte immer nicht nur für den Irak, sondern für den ganzen Raum gedacht, »Bilad al-Sham«, Großsyrien mit dem Westirak. Die Jihadisten in Syrien knüpfen direkt an Zarqawi an, wenn sie ihre Ablehnung der »Sykes-Picot-Grenzen« – der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen britisch-französischen Ordnung für die Region – proklamieren. Der erste Anlauf der Jihadisten im Irak scheiterte, jetzt kommt die nächste Chance. Syrien ist nur der Beginn. Auch der Libanon muss befreit werden, und Jordanien, die britische Kreation, Palästina ohnehin.
Der spätere Syrien-Vermittler Lakhdar Brahimi, der 2004 im Auftrag der UNO im Irak die erste Bildung einer (ernannten) Regierung leitete, hielt sich 2007 für ein Gastsemester in Princeton auf. Von dort aus kontaktierte er mit dem Irak befasste Bekannte – unter anderem mich – und fragte deren Meinung dazu ab, was die USA denn tatsächlich zum Einmarsch in den Irak veranlasst habe. 2011, zum zehnten Jahrestag von 9/11, stellte ich ihm in einem Interview seine eigene Frage, wollte wissen, zu welchem Schluss er gekommen sei. Er habe noch nie eine befriedigende Antwort gehört, sagte Brahimi. Das mache alles einfach keinen Sinn.
Zum zehnten Jahrestag wurden auch die Massenvernichtungswaffen wieder ausgegraben, die ja als Kriegsgrund vorgeschoben worden waren: der berühmte Atompilz, den es zu verhindern galt. Wenn das eine Verschwörung war, dann waren tatsächlich nur wenige beteiligt: Es heißt zum Beispiel, dass sich Bushs damaliger Außenminister Colin Powell von der Schande, mit der Präsentation seines »mobilen Biowaffenlabors« vor dem UNO-Sicherheitsrat Erfüllungsgehilfe geworden zu sein, persönlich nicht mehr erholt.
Die Frage lautet meist »What went wrong?«: Gemeint ist das Versagen der Geheimdienste, welche die Gefahr, die vom Irak ausging, überschätzt hätten. Aber man muss nicht so radikal sein wie Jeremy R. Hammond in »Die Lügen, die zum Irak-Krieg führten«4, um zu vermuten, dass eigentlich nichts schiefgegangen war: Es war kein »Versagen«. Es war eine äußerst erfolgreiche Desinformationskampagne.
Nicht die Realität erzeugte die Politik, sondern die Politik die Realität. Dass die Argumente schwach waren, zeigte nicht die Schwäche der USA – dass sie gar keine Argumente, die einer Überprüfung standhielten, brauchten, zeigte ganz im Gegenteil ihre Stärke. Der Legitimationsaufwand war gering: Die Aluminiumhülsen sind ungeeignet für ein Uran-Anreicherungsprogramm? Das Dokument, das beweist, dass der Irak in Niger Uran einkaufen wollte, ist plump gefälscht? Ändert das etwas daran, wie man Massenvernichtungswaffen buchstabiert? Mit I wie Irak?
Viel ist da noch aufzuarbeiten: In Wahrheit beginnt ja die Geschichte viel früher. Nur von 2003 ist immer die Rede, nicht aber davon, dass der Irak bereits im Dezember 1998, als US-Präsident Bill Clinton das Land mit der Operation Desert Fox abstrafte, keine Massenvernichtungswaffen und -programme mehr hatte, seit Jahren schon nicht mehr. Man müsste sich etwa noch einmal genauer das Jahr 1997 ansehen. Da bereitete das Iraq Action Team der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) einen umfassenden Bericht über die Zerschlagung des irakischen Atomprogramms vor. Die inhärente Botschaft des Berichts war, dass die »Abrüstungsphase« (wobei der Irak nie eine Waffe produziert hatte) vorbei sei. Trotz einzelner nicht völlig aufgeklärter Fragen meist nichttechnischer Natur (etwa der Verschleierungsmechanismen innerhalb des Regimes) sollte die zukünftige Hauptarbeit der IAEA-Inspektoren auf Kontrolle und Verifikation liegen – damit sich an diesem atomaren Null-Status nichts ändere.
Die US-Diplomatie begann gegen diese Linie des Berichts Sturm zu laufen, der IAEA wurde wenig subtil mit Konsequenzen gedroht. Für jedes Argument der IAEA war sofort ein US-Gegenargument da – prompt geliefert von den Geheimdiensten. Der damalige US-Staatssekretär für Non-Proliferation, Robert Einhorn, der 1997 einer derer war, die Druck auf die IAEA erzeugten, bestätigte mir »a kind of perverse role by policy makers who thought they were doing fairly innocent things«. So begann die Produktion politisch gewünschter Geheimdienstinformation.
Die politische Motivation der USA ist nachzuvollziehen: Der Irak unter Saddam Hussein sollte »eingefroren« bleiben, ein IAEA-Bericht, der einen Abschluss einer Abrüstung auch nur andeutete, war kontraproduktiv. Aber wann hat sich der Untermauerungsapparat, der für diese Politik gebraucht wurde, verselbstständigt? Ab wann haben die Produzenten der Informationen selbst daran geglaubt? Oder haben sie das ohnehin nicht? Es war ein gewisses Risiko für die USA, 2002 noch einmal eine Inspektionsphase zuzulassen: Aber auf Saddam Hussein war insofern Verlass, als er vielleicht den Amerikanern gegenüber, aber bestimmt nicht bei seinem Nachbarn Iran, die Hosen völlig heruntergelassen hätte, um es einmal salopp zu sagen. Weil da nämlich nichts darunter gewesen wäre. Das will kein Diktator herzeigen. Und diesen Abklatsch seines früheren Selbst haben die USA im April 2003 gestürzt, nicht den mächtigen Saddam der 1980er Jahre.
Eines der Anliegen des damaligen österreichischen Außenministers Michael Spindelegger war, sich um die Christen im Nahen Osten zu kümmern. Das ist ein durchaus nobles Ziel, bei dem man aber auch nicht vergessen darf, dass es indirekt einem von islamischen Extremisten erhobenen Vorwurf gegen die orientalischen Christen Auftrieb gibt: dass sie in ganz enger Verbindung mit »außen« stehen, dass sie die Vorhut kolonialistischer oder imperialistischer Kräfte sind, die neben ihren finsteren politischen Plänen auch ein Projekt der Rechristianisierung – so dumm sind auch die Extremisten nicht, dass sie nicht wüssten, dass die Christen vor den Muslimen da waren – in petto haben. Im November 2011 war Spindelegger während eines Bagdad-Besuchs auch bei einem chaldäischen Bischof, der sich vom heiligen Michael aber partout nicht retten lassen wollte: Er bestritt, dass es den Christen im Irak so schlecht gehe wie allgemein kolportiert. Bei mir rief das eigene Erinnerungen zurück, wie das damals war in Bagdad.
»Damals« war 2006, und der Irak war dabei, in einen Bürgerkrieg abzurutschen. Das war in diesem Ausmaß nicht vorauszusehen gewesen, als mich Außenministerin Ursula Plassnik im Dezember 2005 von der Zeitung wegholte und als Sondergesandte in den Irak schickte. Aber trotz der scheußlichen Sicherheitslage versuchte ich meinen diplomatischen Pflichten nachzukommen. Und weil ich alles so machen wollte, wie es sich gehört – ganz typisch für Quereinsteiger –, setzte ich auch den päpstlichen Nuntius auf meine Besuchsliste.
Dieser stand damals nach einem Aufenthalt von fünf Jahren in Bagdad kurz vor seiner Abreise nach Italien – er wurde dann auch nicht ersetzt – und verließ kaum noch die Nuntiatur, die in einer sehr unruhigen Gegend lag, in der es fast täglich zu Angriffen kam. Der Komplex präsentierte sich als eine kleine Festung: Es war schon ein Autobombenanschlag auf das Haus verübt worden. Als wir – ich in dem mittleren von drei gepanzerten Fahrzeugen mit sechs Security-Leuten – nach dem Besuch wieder abfahren wollten, saßen wir erst einmal fest und konnten die Anlage längere Zeit nicht verlassen, weil die Umgebung zu unsicher war.
Das Gespräch mit dem Nuntius begann mit einer großen Klage, allerdings gegen die Amerikaner. Der Gesandte des Papstes wurde von ihnen, wie man so schön sagt, nicht einmal ignoriert, er hatte weder den damaligen US-Botschafter noch dessen Vorgänger je gesehen. Das Verhältnis war so schlecht, weil sich die US-Truppen während der Invasion im April 2003 geweigert hatten, die Nuntiatur als Botschaft anzuerkennen – sie erklärten sie zum »Liaison Office« des Vatikan. Warum sie das taten, konnte ich nie erfragen.
Der Nuntius erzählte von den Angriffswellen gegen Christen und deren Kirchen – im Januar 2006 war es die fünfte gewesen. Damals hatte man beschlossen, dass die Pfarren die beschädigten Kirchen nicht mehr immer gleich wieder herrichten lassen würden. Nicht nur, weil ja ohnehin ein neuer Schaden drohte, sondern auch, weil das eine Einladung für Kidnapper war: Wenn die christlichen Gemeinschaften genug Geld hätten, ihre Kirchen zu reparieren, dann werde wohl auch genügend da sein, um Lösegelder für Entführte zu zahlen. Als besonders schlimm schilderte der Nuntius die Situation in Mossul: Dort hätten sunnitische Extremisten die Losung ausgegeben, dass man keine Häuser von Christen kaufen solle – man werde sie ohnehin bald gratis bekommen.
Der Nuntius bekannte aber auch ganz offen, dass die Christen unter der Tatsache litten, dass sie unter Saddam Hussein relativ gut gestellt waren – soweit man das von irgendjemand sagen konnte. Sie waren gut repräsentiert in staatserhaltenden Berufen, Saddam hatte sie erfolgreich kooptiert. Ähnlich wie in Syrien gelang es dem Regime, sich den Christen als Bollwerk gegen den islamistischen Extremismus zu verkaufen – und ganz gelogen war das ja nicht. Nach dem Untergang Saddams mussten sie nun dafür bezahlen, wobei sie absurderweise gleichzeitig auch den Eroberern zugerechnet wurden, als deren »fünfte Kolonne«. Die Christen, die für den Staat arbeiteten, waren nach 2003 oft Ziel von Fememorden; kurz vor meinem Besuch war eine etwa 70-jährige geistliche Schuldirektorin erschossen worden. Von der irakischen Regierung war laut Nuntius kein Schutz zu erwarten, auch die neue Verfassung und das neue Familiengesetz waren in dieser Beziehung eine große Enttäuschung. Vor allem beklagte er sich aber darüber, dass alle Unannehmlichkeiten und Angriffe, die die Christen von sunnitischen und schiitischen Islamisten zu erleiden hätten, vom Staat, auch vom irakischen Außenministerium (das ja nicht von Islamisten, sondern von einem Kurden geführt wurde), systematisch heruntergespielt würden.
Die Tendenz, die Probleme zu beschönigen, hat sich erhalten – wobei die Sicherheitslage 2011, als Spindelegger in den Irak fuhr, mit der 2006 natürlich gar nicht zu vergleichen war, dagegen herrschte 2011 ja fast himmlischer Friede. Aber dass ein Priester – wie der von Spindelegger besuchte Auxiliarbischof in Bagdad – sich so gar nichts zu sagen traute gegen die staatliche Autorität, sondern versicherte, dass eigentlich ohnehin alles bestens sei, das erinnerte eher schon wieder an Saddams Zeiten. Das war damals ganz typisch.