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Aus dem Leben eines Teufels
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© 2014 Andreas Herteux
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback |
978-3-8495-9133-5 |
Hardcover |
978-3-8495-9134-2 |
e-Book |
978-3-8495-9135-9 |
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Prolog
Mit den Nerven ist es, wie mit einem unwillkommenen Gast, der genau in der Stunde erscheint, in der es am unpassendsten ist. Genau so ergeht es nun mir, der ich vor dem geschlossenen Tor und zugleich vor der Prüfung meines Lebens stehe. Es ist wahr, ich habe alles lange studiert und viel gelernt, manches auch kopiert und hie und da Stolz und Eigenwilligkeit demonstriert, es erscheint jedoch jede Selbstsicherheit nunmehr ein Relikt der eigenen Vergangenheit zu sein. Gleich werden sich die schweren Flügel öffnen und ich demonstriere das Ergebnis meiner praktischen Phase. Es gibt nur diese eine Möglichkeit. Aufstieg oder Verdammnis und ich will nicht fallen. Nein, nie möchte ich dort enden! Im Grunde weiß ich nichts über die Prüfer. Niemand weiß etwas über die Großunterhalter, wie sie sich nennen. Man selbst soll vom Lichte geblendet sein, während sie ihre Gesichter im Schatten verstecken. Sind diese Kreaturen überhaupt wie ich es bin? Oder schafft die Furcht falsche Ängste? Man hört nur ihre Stimmen, nur die Stimmen, das ist sicher. Schweigen, ich muss schweigen und nur hören! Kandidaten, die scheiterten, hat man nie wieder gesehen. Ihre Existenz hat sich in der Menge der Massen verloren. Ach, was rede ich mir ein? Sie wurden ins Elend gestoßen; bei unsereins Zustand und Ort zugleich.
Es gibt nur diese eine Möglichkeit und nun stehe ich hier in diesem endlosen Gang mit seinen unzähligen Türen und Toren links und rechts. Alles karg, jeder Meter wie jener zuvor. Wessen Geistes Kind der Erbauer wohl war? So viel Wiederholung, alles so groß. Ich fühle mich verloren.
Doch es geschieht etwas! Die besagten Tore öffnen sich, ganz langsam. Aus ihnen dringt dieses Licht hervor. Es ist so hell und blendet mich. Niemand ruft meinen Namen, doch ich weiß, dass ich gehen muss.
Hier stehe ich nun, alles kalt, geprägt vom stechenden Schein allein. Bin ich alleine? Soll ich das Schweigen zertrümmern? Mich vorstellen? Warum konnte ich überhaupt nichts sehen? Wieso raubt ihr mir die Sinne? Waren sie dort, in der Schwärze? Verschluckt von der Finsternis, die hinter der Quelle der Helligkeit darauf wartete, alles zu verschlucken? Ob ich überhaupt sprechen konnte? Oder war das bereits die erste Prüfung?
Auf einmal sprach eine dunkle, für Menschenohren maskuline, Stimme: „Ist er der Nächste?“ und ein noch tieferer Klang, so brummend, dass es einen schüttelte, erwiderte:
„Ja, er ist eingeweiht, kennt unsere Gebote und die Drohung des Elendes hat ihn beflügelt, gelobter Großunterhalter.“
Die dunkle Stimme erwiderte: „Welche Segnungen und welches Feld hat er erhalten?“ Eine dritte Stimme, in der man eine gewisse Weiblichkeit vermuten konnte, sprach: „Es sind die Möglichkeiten, gelobter Großunterhalter!“ Der dunklen Stimme war dies offenbar nicht genau genug und sie fragte: „Er möge antworten und seine Möglichkeiten artikulieren!“
Das sind die Momente, vor denen es einen jeden graut und doch, zu meinem Glück nicht vollends gelähmt, war mir eine Antwort möglich: „Gelobter Großunterhalter, man schickte mich zu den Menschen, gab mir wenige Einheiten, den ersten Grad und nun bin ich ehrfürchtig mit dem zurück, was ich bescheiden erreicht habe.“
Die dunkle Stimme sprach: „Ihm ist bewusst, dass wir die Verantwortung dafür tragen, Milliarden zu leiten, zu lehren und die Last des Momentes zu versüßen? Er spürt die Verantwortung, die Last, die Pflicht die Leichtfertigkeit zu verbannen und die Größe der Aufgabe stets demütig zu würdigen?“
Da war sie, die rituelle Begrüßung, die mir zeigte, dass weder mein Äußeres, noch die Berichte über mich, zu einer Ablehnung geführt hatten. Erleichtert sprach ich die Worte, die ich auswendig gelernt hatte:
„Meine Demut ist stärker als jeder Stolz und ich kleiner als der Wille, der alles führt. Leichtfertigkeit verachte ich und verbanne sie in das Elend. Ehrfürchtig will ich meinen Betrag leisten, sie zu leiten, lehren und ihnen die Last des Momentes zu versüßen. Ich erbete die Erlaubnis der ehrenwerten Großunterhalter mein erstes Werk darzubieten.“
„Es sei ihm gestattet. Er nenne Titel und Befund!“
„Genannt habe ich es ‚Klastermann’ und es ist ein Stück aus der Menschenwelt in der Tradition der ehrenwerten Großunterhalter.“
„Er möge beginnen!“
Die erste Hürde war gemeistert, denn es wurde mir erlaubt, den Wert meiner Arbeit und damit mein ganzes Herzblut zu demonstrieren. Zumindest einen Teil davon und während der Raum von den ersten Bildern erfüllt wurde, hoffte ich, innerlich zitternd, dass meine Schöpfung das Gefallen der Großunterhalter finden würde.
Klastermann
1. Kapitel
Guten Abend. Mein Name tut nichts zur Sache. Nur Schall und Rauch und weit stehend hinter meinem Tun. Sie müssen mir zuhören. Sie werden mir zuhören. Sie hörten mich schon immer. Sie glauben meinen Worten nicht? Nun, das ist keine Glaubenssache, sondern die Realität. Doch genug schwadroniert! Ich möchte ihnen eine Geschichte erzählen. Eine kleine Erzählung von den Übeln, die alle in sich tragen und für die man stets andere verantwortlich macht. Die Schwächen, deren Benennung Empörung erzeugt und Betroffenheit kaschiert. Ja, ja, ich kenne sie. Ich kenne euch alle. Doch, kommen wir zu meiner kleinen Geschichte!
Es war eines schönen Tages im Mai. Die Sonne strahlte, die Natur pulsierte, aber wen interessiert das schon? Immerhin scheint es ständig Mai zu sein. Das ist doch nichts Besonderes. Obwohl, wusstet ihr schon, dass die Zahl der Wonnemonate, welche die Menschen erleben werden, doch recht kümmerlich begrenzt ist? Nicht? Aber ich schweife ab.
Nun, es war Mai und da sah ich, in einer kleinen Großstadt, einen jungen Mann auf der Straße dahinschreiten. Die Gewöhnlichkeit stach geradezu aus ihm heraus und bedrohte mich anzufallen. Nicht klein, nicht groß. Nicht schön, nicht hässlich. Nicht dick, nicht dünn. Er hatte nicht mehr Grund Trübsal zu blasen, als jede andere Seele auch. Doch der Blick des jungen Mannes war leer und müde. Irgendetwas stimmte nicht und das weckte meine Neugier. Ich folgte ihm. Nein, keine Sorge, man entdeckt mich nicht. Dafür bin ich zu geschickt, ein unscheinbarer Schatten, der selbst der weiterlaufenden Himmelsscheibe perfide folgen könnte. Richtig, ein unerhörtes Beispiel, ich rede ja zu euch, da macht das wenig Sinn. Wie dem auch sei, der gute Mann trug den Namen Thorsten Müller und war Student der Medizin. Von dem Fachgebiet bin ich übrigens weniger begeistert. Verzögert es doch nur jenes, was die Natur von allen verlangt. Doch, zurück zu unserem Müller. Schnell merkte ich, dass sein Leben einem monotonen Rhythmus folgte:
Die Woche über besuchte er Vorlesungen und den Rest des Tages verbrachte er in seiner Studentenwohnung, die aus nichts mehr als einem kargen Zimmer bestand. Ganz alleine. Ich habe es beobachtet, denn dort hängt ein Spiegel und unsereins fällt es sehr leicht, die Menschen von der anderen Seite der Spiegel zu beobachten. An den Wochenenden fuhr er nicht nach Hause, das kannte er ja schon, sondern er versuchte auszugehen und Anschluss zu gewinnen, jedoch war er dabei nicht wirklich erfolgreich. Müller selbst wunderte sich darüber, war er zu Hause doch, seit Kindertagen, ein gern gesehenes Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, wenn er auch weniger an den Übungen, dafür jedoch am Stammtisch und den Festen regen Anteil nahm. Letzteres fehlte ihm, die Eltern eher weniger. Alles in allem nichts was herausragte, denn so mag es vielen gehen, die gerade erst aus dem Nest gefallen waren und sich nun in einer neuen Umgebung zurechtfinden mussten.
An diesem Punkt begann mich die ganze Sache bereits zu langweilen. Alles so gewöhnlich und ohne jeglichen Reiz. Durchschnitt, der irgendwann anderen Durchschnitt kennenlernen würde. Aus deren Vereinigung entsteht dann weiterer Durchschnitt und wird in die Welt getragen. Das weiß ich, aber der gute Thorsten wusste das nicht und so bildete er sich ein, unter einer gewissen Isolation zu leiden. Jeder Mensch reagiert auf solche Situationen auf seine individuelle Art und Weise und bei ihm war es der Selbstbetrug, der die Annahme in ihm zur Reife brachte, dass das, was am Zwischenmenschlichen fehle, durch ein tieferes Studium der Medizin kompensiert werden könnte. Nicht, dass er übermäßig begabt oder fleißig gewesen wäre, auch hatte er das Lernen gerade erst aufgenommen und noch keinerlei Einblick oder Verständnis für den Stoff, aber was sollte er sonst tun, um unverbindlich erste Kontakte zu knüpfen? In den knapp zwei Jahrzehnten des Dorflebens musste er sich kein Umfeld suchen, denn es war bereits da oder wuchs mit ihm. Der Preis der Fremde war erst einmal das Alleinsein. Irgendwann hätte Müller zweifellos den Anschluss gefunden, schließlich war er ein Durchschnittsmensch und kein natürlicher Außenseiter. Für den Moment aber, macht der gewählte Weg unseren Thorsten für die wenigen Studienkollegen, die er regelmäßig in den Vorlesungen traf, es waren keine kleinen Räume und selten saßen die gleichen Personen nebeneinander, nicht gerade attraktiver, denn eine Beschränkung menschlicher Interaktion auf reine Sachthemen kann gar vollkommen langweilig sein. Der ewige Kreislauf der Beschränktheit. Hundertmal gesehen, hundertmal gelacht.
Thorsten jedoch tangierte das kaum, hatte er sich doch in seinen Wünschen selbst beschränkt. Tiefer traf ihn ein Vorkommnis, das die Mauern seines Rückzugortes, sein Studium, kurz erschütterte. Es war an einem Tag, an dem vieles schon nicht funktionierte: Der Wecker, der Rasierer – es war wohl Stromausfall gewesen und auch die Straßenbahn musste, aufgrund einer getigerten Katze, die sich auf den Schienen niedergelassen hatte, eine deutliche Verspätung hinnehmen. Die Katze war übrigens ein guter Freund von mir und erfreut sich noch immer ihres Lebens, wie auch ich es tue.
Wie dem auch sei, der brave Student kam zu spät in die Vorlesung seines Professors. Wilhelm Klastermann war der Name. Eigentlich kein unsympathischer Bursche, aber wie das Leben so spielte, war der Höhepunkt seines Tages bisher der Abschiedsbrief seiner Ehefrau gewesen, die ihn für einen Älteren verlassen hatte. Eine Demütigung. Im Besonderen für einen, der sich den 60 Lenzen näherte. Man muss doch verstehen, dass sich derartiges auf die Laune niederschlägt. Aber das interessiert ja nicht. Eigentlich ist es kurz erzählt. Unser Student war zu spät und nicht gerade leise, als er in den Vorlesungsraum hineinstolperte, und der gute Professor Klastermann fühlte sich dadurch provoziert. Was kann da so ein armer Professor schon tun? Er holte den Störenfried an die Tafel und demütigte ihn, in dem er ein Stoffgebiet abfragte, das noch nicht Teil der Vorlesung war. So ungefähr eine halbe Stunde lang. Hinterher tat es Klastermann leid, nie zuvor hatte er so etwas getan, aber geschehen ist geschehen. Die Umstände eben. Die schlimmen Umstände. Nicht zu vergessen die schreckliche Kindheit. Nächsten Freitag wollte er sich entschuldigen. Nicht direkt, aber mit dem Hinweis auf seinen Irrtum über den durchgenommenen Stoff. So wäre das Gesicht gewahrt, dachte Klastermann.
Gut, es hat mich amüsiert und manch bösen Studenten auch, was man am Gelächter klar erkennen konnte. Doch gab es auch genug, die sich über den Professor empörten und Mitleid mit Thorsten Müller empfanden. Das wusste unser Student jedoch nicht. Er sah sich gedemütigt und hörte nur das Lachen. Das Entsetzen fühlte er nicht. Wie auch immer, dieses Erlebnis hatte keine neue Situation geschaffen, sondern nur die bestehende verschärft und so saß Thorsten wenig später wieder in seinem Zimmer und dachte, ohne jedoch wirklich zu reflektieren, und mit einer Überdosis Selbstmitleid intus, über sich und seine kleine Welt nach. Wie gerne hätte er dem Professor erwidert, doch wer erwartete schon so eine Situation? Überhaupt, verband er mit dem Namen „Klastermann“ bislang nur Gutes, denn auch in seinem Heimatort, einem kleinen Dorf namens Rodringbach, gab es diesen Familiennamen. Einer der Klastermänner betrieb sogar eine Firma, kurz KAMA genannt, die zu den größten Arbeitgebern der Region zählte, selbst sein Vater war dort beschäftigt, und zu den fleißigsten Sponsoren des Feuerwehrfestes gehörte. Besagte Menschen waren zwar, und das verrate ich hier ganz frank und frei, nicht verwandt mit dem Professor, aber ein Grund mehr dafür, warum Thorsten in dieser besonderen Situation förmlich überrumpelt und kaum zu einer Reaktion fähig war. Überhaupt sind solche Erlebnisse oft Schleusentore, denn generell war natürlich auch bei unserem jungen Studenten nicht alles, wie es eben im Leben so üblich ist, im Reinen. Weg war er von zu Hause. Die Eltern erwarteten den Erfolg. Ausreden zählten nicht. Die wollte niemand hören. Mittel bekam Müller genug, glücklich war er nicht. Unser Student jammerte, wollte das Paradies für sich und bettelte, bei welchen Göttern auch immer, um absolute Sorgenfreiheit. Jetzt und sofort. Wehleidiger Mensch. Waschlappen! Was haben Menschen schon durchgemacht? Man möchte ihn anschreien: Dir ist doch gar nichts Schlimmes widerfahren! Alles liegt noch vor dir und auch du wirst deinen Durchschnitt in deiner eigenen Welt verankern. Möchte man, tat ich aber nicht, sondern ich beschloss, die Spielregeln leicht zu verändern.
2. Kapitel
Einen Tag später wartete ich an einer schönen Straßenecke auf unseren Studenten. Da kam er auch schon aus dem Gebäude und wie erwartet, sah man ihm schon von Weitem an, dass er das gestrige Erlebnis gut überwunden oder verdrängt hatte. Sein neuer Computer war endlich da, auch wenn die Verbindung in die Welt, trotz aller Versprechen des Anbieters, immer noch nicht funktionierte und seine Fußballmannschaft war ebenfalls siegreich gewesen.
Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu, wollte passieren, doch ich hielt ihn mit meiner Hand an der Schulter fest. Erschrocken wandte er sich zu mir und sah mich fragend an. „Nun, mein junger Freund, warum so in Eile?“, fragte ich ihn, doch er sah mich nur ungerührt an. Ich lächelte, wartete vergeblich auf eine Antwort und sprach: „Junger Freund, ich hätte da etwas für Sie.“
Verwirrt blickte der Student zu Boden. Hatte er etwas verloren?
„Nein, nein. Sie haben weder etwas verloren, noch wurde etwas entwendet. Ich möchte Ihnen etwas geben. Einfach so, weil Sie mir so sympathisch erscheinen. Etwas, das Sie aus der Masse herausheben wird.“
Man sah Müller nun an, dass er leicht überfordert war und vermutete, dass es sich bei mir um einen besonders energischen Handelsvertreter handeln musste. Im gewissen Sinne ist diese Vermutung auch nicht sonderlich unzutreffend.
„Sagen Sie nichts, junger Mann. Haben Sie sich nicht auch schon einmal gewünscht, ein wenig mehr zu sein als all die anderen?“
Immer noch brachte der verwirrte Thorsten keinen vernünftigen Satz heraus. Ob es nun mein Charisma war oder die Situation selbst; es ist kein Geheimnis, dass dem Durchschnittsmenschen die besten Antworten immer erst nach dem Gespräch einfallen.
„Sehen Sie, mein Lieber, genau das meine ich: Sie stehen nun vor mir und können gar nicht reagieren, weil ich Sie so unredlich überfalle. Wie wäre es, wenn ich Ihnen diese Zeit schenken würde?“
„Bitte?“, sprach der Student und ich war froh, dass er seine Sprache wiedergefunden hatte.
„Oh, es ist ganz einfach. Im Moment sind Sie nur Teil einer Masse, ich aber verändere die Spielregeln. Manche Menschen brauchen etwas länger, um angemessen auf Situationen reagieren zu können. Ich könnte Ihnen diese Zeit schenken. Mit einem Fingerschnippen.“
Ich sah ihm direkt in seine Augen und er schien nichts verstanden zu haben.
„Es ist ganz einfach. Ein Fingerschnippen genügt und die Zeit bleibt stehen. Alles außer Ihnen wird eingefroren sein. So hätten Sie Zeit, über Ihre Worte oder Ihre Taten nachzudenken, solange Sie wollen. Anschließend lassen Sie es mit einem Fingerschnippen wieder laufen. Recht einfach, nicht?“
„Was? Sind Sie verrückt oder in irgendeiner Sekte?“, fragte er entgeistert. Natürlich war ich weder das eine noch das andere, wenngleich mich diese Feststellung auch durchaus amüsierte. Ob Thomas oder Thorsten; sie sind doch alle gleich. Also schnippte ich mit den Fingern und es ward still. Menschen verharrten in ihren Bewegungen ebenso wie die Wolken am Himmel. Kein Verkehr, kein Ton. Alles war still. Der Student sah sich staunend um, doch bevor er fertig war, fuhr ich mit der Produktbeschreibung fort.
„Wie Sie sehen, ist es ganz einfach. Einen Nachteil hat die Sache allerdings. Die Zeit, die Sie anhalten, müsste, und das ist nur eine reine Formalie, an anderer Stelle abgezogen werden. Da es nicht Ihre Lebensspanne sein soll, müssten Sie, während des Schnippens, einen Namen nennen. Dort buchen wir dann, nennen wir es eine ‚Kleinigkeit’ vom Lebenskonto ab. Nichts Weltbewegendes, aber es soll doch alles seine Ordnung haben?“
Ich schnippte wieder mit meinen Fingern und der Welt ward die Lebendigkeit zurückgegeben. Thorsten stand mit offenem Mund vor mir und brachte nur ein leises „wie?“ und „warum?“ heraus. Ich lächelte wiederum.
„Wie? Mit dem Finger und dem Namen. Warum? Weil ich die Spielregeln verändere. Ich mag Sie, junger Mann, und eine kleine Unterstützung hat doch jeder verdient, oder? Jedoch muss ich Sie nun fragen; sind Sie damit einverstanden, dass wir die Spielregeln zu Ihren Gunsten ändern?“
Thorsten nickte nur. Dieses konkludente Verhalten war für den Vertrag völlig ausreichend.
„Ach ja, mein Freund. Das Schnippen kann ich nur empfehlen, notwendig ist allein der Name.“
Während sich der liebe Student an den langweiligen Bewegungen erfreute, die er sonst keines Blickes würdigte, verschwandt ich wenig effektvoll und als Müller mich wieder in den Focus rücken wollte, war ich bereits verschwunden. Zurück blieb ein verwirrter junger Mann und ich war gespannt darauf, was er nun tun würde, denn aus diesem Grund war ich überhaupt vor Ort. Unterhalte mich, Mensch!
3. Kapitel
Ja, ich war gespannt darauf, was er nun machen würde. Ich hatte manch‘ Kandidaten, der anschließend in eine Kirche rannte und in Sekundenbruchteilen religiös wurde. Das war natürlich nicht Sinn der Sache. Andere habe ich persönlich begleitet und diese widerwärtigen Menschen haben mich gnadenlos ausgenutzt, manche hatten ein gewisses Mitteilungsbedürfnis. Nicht jedes Werk, das begonnen, wird am Ende auch aufgeführt. Nein, nein! Bei Thorsten würde ich warten. Vorhang auf, das Stück kann gespielt werden! Also wartete ich. Es war Dienstag, als ich ihn ansprach. Dem Mittwoch folgte ein ereignisloser Donnerstag und ich fragte mich ernsthaft, warum ich einen langweiligen Durchschnittsmenschen und keinen Exzentriker oder ein tief verzweifeltes Wesen gewählt hatte. In der Wohnung gegenüber lebte ein uralter Mann. Vermutlich wäre dieser Tattergreis, mit dem interessanten Namen Karl Eisen, geeigneter gewesen. Doch ich hatte gewählt und so hatten wir auch nicht gewettet! Die Zeit verging und tatsächlich, am Freitag schien es zu beginnen. Erst passierte wenig. Der übliche, langweilige Trott, hastig zur Universität und in die Vorlesung. Dank einer glücklichen Fügung waren auch nur noch Plätze in der ersten Reihe, die bei den Studenten, aufgrund der fehlenden Ablagemöglichkeiten für die Schreibutensilien, unbeliebt waren, frei. Dort musste sich der pflichtbewusste Student niederlassen und das auch noch in einer Vorlesung von Professor Klastermann. Thorsten sah sich um und nahm zur Kenntnis, dass der Saal zum Bersten gefüllt war. „Typisch!“, dachte er bei sich „überall wird an der Bildung gespart und hier wird man eingepfercht wie in einem Stall.“ Er blickte durch die Reihen. Manche Gesichter kannte er schon, zumindest von Weitem, andere waren ihm völlig fremd. Da hinten war auch wieder die hübsche Blonde und in der anderen Ecke ein ebenso interessantes Objekt, wenngleich mit roten Haaren. „Ja, zumindest die Frauen waren so schlecht nicht“, murmelte er in sich hinein, obwohl er bisher noch keiner näher gekommen war. Dies galt natürlich nur für die Zeit nach seinem Umzug, denn auch dahin gehend hatte Thorsten, in dieser Hinsicht wieder ganz der Durchschnittsmensch, seine ersten Liebeleien und seine ersten Erfahrungen bereits hinter sich. Nichts von großer, nichts von kleiner Bedeutung, nicht viel, eher wenig; jedoch die Erfahrungen in vertrauter Umgebung, die einen Jungen zum Mann machen. Feuerwehrfeste waren großartig! War nicht in wenigen Wochen wieder eines in seinem Heimatdorf? „So eine wie die Blonde da läuft da aber nicht herum“, murmelte er.
Doch genug der Blicke durch den Saal! Genau in diesem Moment betrat Thorstens, man verzeihe mir den spöttischen Unterton, Peiniger den Saal. Aus dem Augenwinkel nahm Klastermann Müller wahr. Eigentlich war der junge Mann erstaunlich oft präsent und hatte schon manch gute Frage gestellt.
„Nun gut!“, dachte der Professor bei sich. „Da ist er ja, stellen wir das kurz richtig und schieben es darauf, dass mir nicht bewusst war, dass wir noch nicht so weit mit dem Stoff waren.“
Oder aber sollte er es sein lassen und zur Tagesordnung übergehen? Er hatte durchaus ein schlechtes Gewissen, aber wen kümmerte das? Doch Klastermann wollte anständig sein. Schon damals im Krieg und viel zu lange zu seiner Frau. Nachdem der Professor seine Tasche abgestellt hatte, ging er auf Thorsten zu und wollte zu einem „Herr Müller“ ansetzen.
Doch betrachten wir das Ganze aus einer anderen Perspektive. Der arme Student saß nun in der ersten Reihe und sah seinen Peiniger, auch wenn die Pein bereits von einem mittelmäßigen Fußballspiel in das Reich des Vergessens gerückt werden konnte, langsam auf sich zukommen. Was wollte er? Dort weitermachen, wo er aufgehört hatte? „Nein!“, schrie Thorsten innerlich und laut hörte man nur ein Schippen und „Klastermann“.
Und es ward still geworden. Alles eingefroren, aber ganz ohne jegliche Kälte. Ein Standbild. Stille, noch viel stiller, als es Thorsten je erleben konnte. Keiner regte sich mehr, doch Thorsten hatte nur Augen für ihn: Klastermann. Es war vermutlich gar nicht dieser eine Vorfall vor kurzer Zeit, sondern es waren die vielen kleinen Dinge, die ihn in seinem Leben ärgerten. Irgendetwas machte ihn so richtig wütend. So komisch es auch klingen mag, aber obwohl das Leben erstarrt war, traute er sich kaum einen Laut zu machen oder sich gar zu bewegen. So sehr misstraute er der Situation, so unnatürlich erschien ihm alles. Träumte er? Würde er gleich erwachen? Wie war das noch? Die Zeit steht still? Langsam stand er auf. Klastermann stand wenige Meter von seinem Platz entfernt. Müller ging auf ihn zu, drehte sich nervös um und sah auf das gebundene Leben so vieler Studenten. Er war wütend, aber auch verwirrt. Was, wenn die Zeit plötzlich weiterlief? Was, wenn er sich alles einbildete? Was, wenn ihm in Wirklichkeit alle zusahen und nur er ein Wahrnehmungsproblem hatte? Dann aber begann der Unmut die Vorsicht zu überwinden. Stand da nicht der Mann, der ihn, den Studenten, der sich nie, zumindest nicht während seiner kurzen Studiendauer versteht sich, etwas hatte zuschulden kommen lassen, grundlos vorgeführt hatte? Wollte dieser bösartige Professor das nicht gerade wiederholen? Und überhaupt! Warum musste er sich immer alles gefallen lassen? Die Eltern diktierten genug, obwohl er volljährig war. Es gibt so viele Kleinigkeiten, die besser sein könnten und die sich besonders dann in Erinnerung bringen, wenn man mit dem Nachdenken bereits begonnen hatte. „Nein“, dachte sich Thorsten, „hier setzte ich ein Zeichen!“, sprintete nach vorne, öffnete den Gürtel des Professors, ohne jedoch mutig genug zu sein, ihm ins Gesicht zu blicken, zog ihm die Hose so herunter, dass sie, bei wieder einsetzenden natürlichen Verhältnissen, zu Boden gleiten musste, und rannte, da er im Innern immer noch die Angst verspürte, beobachtet zu werden, was ja nicht falsch war, sofort aus dem Saal.
Sein Herz klopfte. Alles war so surreal. Das ist doch ein Traum? Er schnippte und nach wenigen Sekunden hörte er ein lautes Gelächter und manchen Schrei des Entsetzens oder Erstaunens aus dem Saal. Da spürte er, dass er nicht träumte und Thorsten verließ die Universität mit einem Lächeln auf den Lippen – zumindest für den heutigen Tag.
4. Kapitel
Der Student hatte die Universität inzwischen verlassen und lief, halb ziellos, die Straße entlang. Er war der Herr über den Moment gewesen und die ganze Welt lag ihm zu Füßen. Er hätte alles mit dem alten Klastermann machen können. Absolut alles. Es tat gut, Macht über etwas zu haben.
Doch plötzlich regte sich etwas in ihm und manche längst vergessenen Bilder kamen hoch: Sein Zuhause, seine Eltern. Der Vater ein Buchhalter und die Mutter Hausfrau. Schlichte Bürgerlichkeit mit Wohlstand. Alle Zeit der Welt für das eine Kind. Ein Dorf, eine Gemeinschaft und er Teil davon. Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.
Hatten ihn die Eltern nicht zur Anständigkeit erzogen? War es richtig, sich so zu rächen, denn das war es ja; Rache. So langsam überwogen in Thorsten die Zweifel, ob er diese Macht, deren reine Existenz er inzwischen zwar akzeptierte, aber immer noch nicht fassen konnte, auf eine solche Art und Weise nutzten durfte. War es nicht falsch, aus niederen Motiven zu handeln? Machten das anständige Leute, also solche seiner Herkunft? Thorsten versuchte diese Gedanken beiseite zu wischen. Was zählte es, woher man kam? Ist es nicht wichtiger, wohin man geht?
Doch eine Sozialisation lässt sich nicht abschütteln wie Haare, die sich über Nacht für immer verabschiedet haben. Und studierte er nicht gerade deswegen Medizin, um den Menschen zu helfen und damit letztendlich ein guter Mensch zu sein?
Nein, vielleicht war diese Tat keine, auf die man stolz sein konnte. Aber was war schon geschehen? Ein Professor verlor seine Hose. Konnte das nicht jede Minute geschehen? Ein Loch riss aus, ein Bauch sprengte den Bund?
Thorsten versuchte sich selbst zu beruhigen und abzulenken. Der Student gierte nach anderen Gedanken. Warum überhaupt hatte er diese merkwürdigen Kräfte? Wer war dieser Mann, also unsereins? Merkwürdigerweise konnte er sich nicht wirklich an das Gesicht erinnern. Ein verrückter Forscher und er, der harmlose Müller, das Experiment? War es die Regierung? Oder gar eine überirdische Macht? Thorsten beschloss in alle Richtungen zu recherchieren. Was war der Sinn? Das verdrängte auch erst einmal die Schuld, die er sich selbst wegen des Professors einredete und nahm ihm die Frage ab, ob er sich nun gut oder schlecht fühlen sollte.
So grübelte er, bis er schließlich seine Wohnungstür, im ersten Stock eines furchtbaren Gebäudes in einer durchschnittlichen Wohngegend, erreicht hatte, trat ein und schloss die Rollläden. Dann öffnete er sie wieder. Der Sinn dahinter war schwer zu verstehen, jedoch geschah es auf diese wundersame Art und Weise. Er hätte auch brüllen können, denn sein einziger Nachbar, der in der Wohnung nebenan lebte, war bereits über 90 und in dieser Hinsicht sicher nicht sonderlich wehrhaft. Thorsten dachte nach. Auf welche Informationsquellen konnte er zurückgreifen, um mehr über dieses wundersame Phänomen zu erfahren? Hineinziehen wollte er niemanden, denn er war sich nicht sicher, ob man ihn nicht für verrückt erklären würde. Gab es wirklich einen Zusammenhang mit seiner Fähigkeit und dem Mann auf der Straße? In diesem Moment ließ ich den Studenten alleine. Es war doch immer dasselbe und ich verrate kein großes Geheimnis, wenn ich preisgebe, dass er in keiner Quelle, auf manch’ moderne hatte er im Moment nur begrenzt oder keinen Zugriff, etwas finden wird. So hatte ich die Spielregeln noch nie verändert und ein weiterer persönlicher Auftritt war nicht vorgesehen. Als ich den guten Müller daher am nächsten Tag wiedersah, war klar, dass er eine ähnliche Erkenntnis erworben hatte. Ein Ass konnte er jedoch noch stechen und das war die Unibibliothek, die auch sehr alte Bücher führte.
Sei es darum. Er musste seine kleinen Räumlichkeiten verlassen und das konnte nur unterhaltsamer sein als die Einsamkeit.
Der junge Student verließ gerade die Tür und er erschien auch nicht mehr in einem moralischen Dilemma zu stecken. Innerlich hatte Müller längst mit sich vereinbart, dass der kleine Streich an Klastermann eben nur ein kleiner Spaß war, der noch vielfach vergolten werden würde. Das war es. So war eben Thorsten. Die größten Dramen wurden offensichtlich klein, wenn er nur darüber geschlafen hatte.
Er ging in Richtung Kreuzung und wie immer war die Ampel gerade rot. Der Student beobachtete die Menschen neben ihm. Eine Mutter mit einem kleinen Kind an der Hand, ein alter Mann am Stock. Plötzlich riss sich das Kind von der Hand der Mutter und rannte auf die Straße und direkt vor einen LKW, der nicht mehr bremsen konnte. Der Schrei der Frau setzte an, er konnte jedoch nicht beendet werden, weil das Wort „Klastermann“ alles übertönte.
Und es ward still geworden. Interessiert beobachtete der Student das Szenario. Dort die Frau, der das Entsetzen ins Gesicht verewigt zu sein schien, hier der LKW, nur weniger als einen halben Meter vor dem Kind und schlussendlich er, der Herr über die Zeit. Bei seiner ersten Anwendung der seltsamen Kunst, hatte er sich noch gescheut aufrecht zu gehen, hatte die stetige Beobachtung oder Beendigung der Starre befürchtet. Jetzt aber ging er langsam in Richtung des kleinen Kindes. Es war ein Mädchen. Heutzutage weiß man das ja oft nicht so genau, nahm es, einer Puppe gleich, hoch und setzte es direkt neben der Mutter ab.
„Interessant“, dachte er. „Die Menschen fühlen sich weich und lebendig an. Sie sind wie in Eis gefangen, jedoch nicht starr.“
Anschließend sah Thorsten in das Gesicht der Mutter. „Hübsch, aber sehr erregt,“ schmunzelte er bei sich und streichelte über ihre Wange. Außerdem auch noch verheiratet, wie der Ehering verriet. Anschließend schnippte er mit den Fingern.
Die LKW-Bremsen quietschten, der Schrei der Mutter erklang. Der alte Mann, der nicht viel mitbekommen hatte, sah sich erschrocken um und schließlich kam der Laster einige Meter weiter, die dem kleinen Mädchen das Leben gekostet hätten, zum Stehen. Da erst registrierte die Frau, dass ihr Kind direkt neben ihr stand und nahm es sofort in die Arme. Auch der LKW-Fahrer war inzwischen ausgestiegen und konnte nicht fassen, was passiert war.
Thorsten jedoch lächelte und ging weiter. Einen kurzen Moment sah er zurück. Das Kind blickte ebenfalls in seine Richtung und für einen Bruchteil einer Sekunde meinte der Student, Dankbarkeit in den Augen der Kleinen erkennen zu können. Das jedoch konnte aber wohl kaum sein. Müller ging weiter. Einige Menschen liefen zusammen, doch das interessierte ihn nicht. Egal, es war auch so ein gutes Gefühl, das ihn durchflutete und es hielt auch noch eine ganze Weile an. Es konnte auch nicht durch den Umstand getrübt werden, dass er selbst in der Bibliothek nichts Interessantes fand, was seine neuen Fähigkeiten erklären konnten. Aber war das nach einer solchen Tat noch wichtig? Wie man wurde, wer weiß das schon, ist es nicht schwer genug zu wissen, wer man ist? Thorsten war zufrieden und ich war es, der unterhaltsamen Szenerie sei Dank, auch. Die neuen Spielregeln; mich dünkte er verstand.
5. Kapitel
Thorsten war mit sich zufrieden. Mehr noch, sogar sehr zufrieden, was in seinem Leben eher seltener vorkam. Die Rettung des kleinen Mädchens war außergewöhnlich; ja, wer außer ihm hätte sie schon vollbringen können? In einem gewissen Sinne war er ein Held und er gierte nach weiterem Ruhm. Vielleicht war das seine Bestimmung?
Doch die Gelegenheiten für wahres Heldentum waren selten. Vergeblich lief er durch die Straßen und hoffte darauf, spektakuläre Verbrechen zu verhindern und als tadelloser Recke in Erscheinung zu treten. In welcher Welt würden wir auch leben, wenn diese alltäglich wären?
Also musste er sich in den folgenden Tagen mit kleineren Taten vertrösten. Einer alten Frau rettete er den Hut, den der Wind schon weit hinfort geweht hatte und einem Jungen den Luftballon. Nein, das war nicht sonderlich herausragend, aber der imaginäre Balken, der das Wohlgefühl maß, stieg weiter an.
Doch auch zu Hause profitierte er von seinen neuen Fähigkeiten. Nun verlor er keine Zeit mehr mit Geschirrspülen oder Saubermachen. Auch für das Lernen war nun unendlich Zeit – ein wertvoller Vorteil gegenüber den Kommilitonen. Daran, dass er seine neuen Möglichkeiten auch während einer Prüfung hätte einsetzen können, daran dachte er nicht, aber das war auch kein wichtiges Detail. Ob er vielleicht seine Fußballmannschaft unterstützen sollte, indem er in den richtigen Momenten das Spiel unterbrach? Was er für Möglichkeiten hatte! Der junge Student war zufrieden und nur darauf kam es an.
Trotz seiner neuen Fähigkeiten ging er weiterhin jeden Tag zur Universität und hatte seinen alltäglichen Trott nicht verlassen. Es wäre allerdings eine Lüge, wenn man nicht auf eine Veränderung hinweisen würde, denn dank der veränderten Spielregeln, sah er vieles nun in einem neuen, so viel schöneren, Lichte. Eine Veränderung im Inneren bewirkt nicht selten eine Wahrnehmungsänderung im Äußeren. Damit erzähle ich aber nichts Neues. Wie dem auch sei! Um nicht der Langweile zu huldigen, lasse ich gewisse Details aus und in jedem Fall kam Thorsten zwei Tage später wieder, um sich jene Vorlesungen anzuhören, die von Professor Klastermann gehalten wurden. Sie waren nun einmal Teil des Semesterplanes. Leider war der Dozent erkrankt und der Student vermutete, inzwischen völlig ungerührt, vielleicht nicht zu Unrecht die „Blamage-Krankheit“, denn schnell brachte er in Erfahrung, dass der Ausfall bereits seit einer gewissen Begebenheit bestand. Während er das Gebäude wieder verlassen wollte, fielen im zwei interessante Plakate auf. Das erste handelte von der 1300-Jahrfeier der Stadt in wenigen Wochen. „Uninteressant“, dachte der junge Student. „Studenten-Fete im Club Falk!“, las er auf dem anderen. Bisher hatte Müller derartige Veranstaltungen immer gemieden, aber nun? Wenn es ihm zu albern wurde, genügte das Schnippen mit den Fingern! Wann war die Veranstaltung? Am Samstag? Ja, warum denn nicht? Was hatte er zu verlieren?
Vergnügt verließ Thorsten die Universität und machte sich auf den Weg nach Hause. Doch diese Strecke blieb nicht bar jeglichen Ereignisses, denn nur wenige Minuten später beobachtete er eine interessante Szene: Ein halbstarker Jugendlicher bedrohte, in einer kleinen Seitengasse, eine offenbar vollkommen perplexe Frau und forderte ihre Brieftasche. Der Student war hocherfreut, denn das war genau das Klischee, nachdem er am helllichten Tage gesucht hatte. Während der Halbstarke, der auch, man merkte es an der merkwürdig-verkrampften Haltung, noch nicht so oft ein Messer in der Hand gehabt haben dürfte, mit diesem ungelenk wedelte, erklang das bekannte Wort und es ward still geworden.
Gezielt und sicheren Schrittes ging Müller auf den Messerschwenker zu, nahm ihm die Waffe aus der Hand und wollte die Uhr gerade wieder ins Laufen bringen, als ihm einfiel, dass der wütende Mensch auch ohne Messer gefährlich sein könnte. Er musste ihn außer Gefecht setzen. Glaubte der junge Mann zumindest. Nur wie? Es war gar nicht so einfach, ein Held zu sein. Seile oder gar Handschellen hatte er nicht und schließlich kam er auf die Idee, den Täter auf die Straße zu schicken. Ganz so, wie man es in den Büchern liest und in den Filmen sieht. In dieser Hinsicht war er besonders von den Kometmann-Filmen begeistert, doch das ist wieder eine andere Geschichte. Summa summarum nahm er seine Faust hoch und schlug dem Halbstarken in das Gesicht. Einen richtigen Effekt sah er nicht, also wiederholte er es zweimal. Seine Hand schmerzte schon und er begann an seinen Kräften zu zweifeln. Da kam ihm eine Idee und sein Blick fiel auf eine der Mülltonnen, die ganz in der Nähe standen. Er rannte zu diesen, leerte den Inhalt auf die Straße und stülpte den leeren Behälter über den Angreifer. Dann entfernte er sich, so, dass man ihn nicht sah und die Zeit ging wieder ihren gewohnten Gang. Neugierig beobachtete er das Szenario. Der Halbstarke in der Tonne brach sofort zusammen. Die alte Frau, von der neuen Situation vollkommen verwirrt, erwachte aus der Schock-Starre der Bedrohung und schrie laut um Hilfe. Innerhalb kürzester Zeit waren mehrere Menschen zusammengelaufen um sich neugierig etwas genauer über die Gründe der lauten Artikulation zu informieren. Thorsten sah amüsiert zu, wie sie dem Angreifer die Tonne abnahmen. Weniger schön fand er das Gesicht des Messerschwenkers, das viele kreative Farben beinhaltete, während hie und da Blut floss. „Vermutlich bin ich doch nicht so schwach“, dachte er. Mitleid aber verspürte Müller nicht. Warum auch? Dann hatte er eben einen Kriminellen mit Gewalt von einem Raub, vielleicht einem Mord, abgehalten. So ist das eben in der Heldenbranche. Während inzwischen auch die Polizei eintraf und die völlig verwirrte Frau zu beruhigen versuchte, dachte der junge Student nach: „Schade“, seufzte er „auch jetzt wird keiner erfahren, was ich eben getan habe.“ Inzwischen führten die Beamten den Halbstarken ab und als dieser an Thorsten vorbei in das Dienstfahrzeug gezogen wurde, trafen sich die Blicke:
„Diese hasserfüllten Augen und dies deformierte Verbrecher-Visage. Es war wirklich gut, dass ich genauso eingegriffen habe.“
Selbstzufrieden, letztendlich, um nicht, obwohl nur einer unter vielen herbeigeströmten Menschen, als Zeuge befragt zu werden, setzte Müller seinen Weg fort und wiederum emfpand er den Tag als vollen Erfolg. Besser ging es eigentlich nicht.
An diesem Abend konnte der junge Student trotzdem nur schwer einschlafen. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf und alle drehten sich um seine neue Fähigkeit. Was hatte er nun für Möglichkeiten? Es war kaum zu fassen! Wenn er ein Kind vor dem sicheren Tod durch einen Verkehrsunfall retten und Raubüberfälle verhindern konnte, dann konnte er vielleicht noch viel mehr. Was, wenn man Kriege mit dem Wort „Klastermann“ beenden konnte? Was, wenn man ewig Zeit hätte, um Tausende Menschen vor einer Katastrophe oder Hungersnot zu retten? Thorsten malte sich diese Bilder aus, merkte jedoch bald, dass sie lediglich wie die Fotos waren, die man sich gezielt, um Momente einzufangen, anfertigen ließ: Schön, jedoch verschweigen sie das Davor und das Danach. Nein, für solche große Taten fühlte er sich noch nicht reif. Sie erschienen in der Praxis auch weitaus anstrengender als in Gedanken. Vielleicht mögen einst große Taten folgen; jedoch nicht so schnell. Vielmehr begann Müller, je gründlicher er darüber nachdachte, ein anderer Punkt zu stören:
Seine Fähigkeit war für die Wirkung beim Publikum eine denkbar undankbare, denn stets blieb er ein Held im Schatten. Nicht gesehen, nie bejubelt. Einen kurzen Moment dachte er noch darüber nach, schlief aber dann doch, innerlich ruhig und zufrieden, ein.