Hanser Berlin E-Book
Susanne Kippenberger
Das rote Schaf
der Familie
Jessica Mitford
und ihre Schwestern
Hanser Berlin
Die Autorin dankt für die großzügige Unterstützung von
Villa Aurora
Spreewald Literatur-Stipendium
Tyrone Guthrie Centre
Soweit nicht anderweitig in den Anmerkungen angegeben, wurden alle Zitate aus veröffentlichten wie unveröffentlichten englischen Quellen von Barbara Schaden ins Deutsche übersetzt. Einige wenige Zitate in ursprünglich alter Rechtschreibung wurden an die sonst durchgängig verwendete neue Rechtschreibung angeglichen.
Abdruck der Auszüge aus Diana Mosleys Briefen mit frdl. Genehmigung des
Estate of Diana Mosley c/o Charlotte Mosley.
Abdruck aller Zitate von Deborah Devonshire (neben denen aus Wait for Me!),
Lord Redesdale, Lady Redesdale, Nancy Mitford, Pamela Mitford und
Unity Mitford mit frdl. Genehmigung des Chatsworth House Trust c/o Rogers,
Coleridge & White Ltd., 20 Powis Mews, London W11 1 JN, UK.
ISBN 978-3-446-24698-0
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Oben: ©The Illustrated London News Picture
Library, London, UK/Bridgeman Art Library.
Unten: mit frdl. Genehmigung von
Constancia Romilly & Benjamin Treuhaft.
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Benjamin,
Ritter und Retter des Internets
If you want to sing out, sing out
And if you want to be free, be free.
Cat Stevens, Harold and Maude
Der Triumph des Lachens
1 Die Mitfords im Wunderland
2 Swinbrook
3 Sturm and Drang
4 Ich kann, ich soll, ich werde
5 Amerika? Amerika!
6 Kriegsdienst
7 30. November 1941
8 Go West!
9 Endstation Sehnsucht: Oakland
10 Unamerikanische Umtriebe
11 Going Home Again
12 Hons and Rebels
13 American Ways
14 Frühling in der Luft
15 Die »Me Decade«: Die 1970er Jahre
16 Die Schmutzaufwühlerin
17 Ein englisches Herz
18 Die Regentin von Oakland
19 Es ist so komisch zu sterben
Dank
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Bildnachweis
Ihre beste Freundin war ein Schaf. Wenn sie durchs Dorf lief, hoppelte Miranda neben ihr her, wenn die Tochter aus gutem Hause sonntags in die Kirche musste, wartete das Tier auf dem Friedhof auf sie, und wenn die Familie in ihr Stadthaus zog, hätte das Mädchen ihre wuschelige Freundin am liebsten in den Koffer gepackt und mitgenommen. »Das liebe Ding wäre so begeistert«, versuchte Decca ihre Mutter zu erweichen: »Sie war noch nie in London.« Manchmal schlief das Schaf sogar im Kinderbett (heimlich, der Vater wäre sonst explodiert), und wenn Miranda zum Scheren musste, litt Decca fast mehr als ihr Zögling: ein Waisenkind, das sie mit der Milchflasche aufgepäppelt hatte.
»Miranda war das Licht meines Lebens«, schrieb Jessica Mitford, die alle nur Decca nannten, Jahrzehnte danach. Die Einzige, mit der sie kuscheln konnte. Mutter Mitford nahm ihre Töchter nie in den Arm. Für Zuwendungen jeder Art war das Kindermädchen zuständig.
Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, in Oxfordshire, am Rande der Cotswolds, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur Schwestern und Tiere: Hamster, Ziegen, Hühner, Schlangen, Kühe, Tauben, Schildkröten, Mäuse, Ponys, Meerschweinchen, Hunde en masse – und sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von sechzehn Jahren, gefangen in einer eigenen Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.
Die beiden, das Mädchen und das Schaf, hatten durchaus Ähnlichkeit. Eigenwillig und entschlossen, ließen sie sich von nichts und niemand bremsen. Miranda, Stirn voran, schubste Menschen und Möbel, die ihr in die Quere kamen, einfach aus dem Weg. Decca ging etwas strategischer vor. Als Zwölfjährige, nach dem endgültig gescheiterten Versuch, doch noch eine Schule zu besuchen, erklärte sie ihrer Familie, dass sie Vorsorge treffen würde, falls sie später einmal weglaufen müsse. Die pragmatische Rebellin eröffnete ein »running away account« bei Drummonds, der vornehmen Londoner Privatbank der Familie, die sich höflichst bei der Halbwüchsigen dafür bedankte, dass diese ihr »Weglaufkonto« bei ihnen eröffnet hatte, das fortan ganz offiziell unter diesem Namen geführt wurde. Bis sie tatsächlich das ersparte Geld nahm, um wegzurennen und mit Esmond Romilly, ihrem Vetter zweiten Grades, in den Spanischen Bürgerkrieg zu ziehen. 1937 war das. Da war sie neunzehn Jahre alt.
Eben noch Debütantin der Londoner Gesellschaft, heiratete die Minderjährige das Enfant terrible Esmond, bekam ein Kind von ihm und verlor es wieder, ging mit ihrem Mann nach Amerika, arbeitete dort als Modeverkäuferin und Barkeeperin, wurde mit vierundzwanzig Jahren Kriegswitwe und bald darauf das, was sie schon lange werden wollte: Mitglied der Kommunistischen Partei. In den 1940er, 1950er Jahren, lange bevor die Bürgerrechtsbewegung richtig in Bewegung kam, setzte sie sich für die Rechte von Schwarzen ein, wurde vom FBI überwacht und vor den gefürchteten Hexenausschuss, das House Un-American Activities Committee, geladen. Eine Pionierin des neuen, persönlichen Journalismus, schrieb die englische Aristokratin mit amerikanischem Pass ebenso witzige wie engagierte Artikel und Bücher über die Gesellschaft und die Institutionen ihrer Wahlheimat. Fast ein Jahr lang stand The American Way of Death (Der Tod als Geschäft), ein ebenso komisches wie entlarvendes Werk über die Machenschaften der Bestattungsbranche, auf der Bestsellerliste, machte sie Mitte der 1960er Jahre zur Berühmtheit in den USA und zur viel gefragten Rednerin: So provokant und unterhaltsam wie Jessica Mitford sprach keiner. Auf ihren Tourneen durch die Universitäten lagen ihr die Studenten zu Füßen, vor allem – das war ihre Lieblingsstelle – wenn sie vorführte, wie Leichen einbalsamiert werden, wobei sie ganz ähnliche Grimassen schnitt wie als Kind für Miranda. Sie war die geborene Performerin, das Leben: eine Bühne. Mit größtem Vergnügen schmiss sie sich in jeden politischen oder sonstigen Kampf, sie liebte Konflikte, gern mit Krawall. A Fine Old Conflict hieß der Titel ihrer zweiten, 1977 erschienenen Autobiographie. Das rote Schaf wollte sie ihre erste nennen. Schwarze Schafe gab es in ihrer Familie schon genug.
Decca, 1917 geboren, war die zweitjüngste der sechs Mitford-Schwestern, Nancy, Jahrgang 1904, die älteste und bissigste. Mit ihren amüsanten autobiographischen Romanen machte die Grande Dame der literarischen High Society ihre exzentrische Familie im ganzen Land bekannt; nach dem Krieg lebte sie, politisch liberal bis konservativ, als Schriftstellerin und Geliebte eines französischen Politikers in Paris.
Pamela, die schlichteste und häuslichste der Schwestern, von diesen deshalb nur »Woman« genannt, war die Einzige, wie Decca einmal bemerkte, deren Kindheitstraum nicht wahr wurde: Die Zweitälteste wollte Pferd werden. Irgendwie kam Pam dem Traum aber doch ziemlich nahe, lebte mit Hunden und Pferden auf dem geliebten Land, wo sie so gern am Herd stand wie Schwester Decca am Schreibtisch saß.
Diana, die eleganteste, klügste, belesenste der sechs schönen Schwestern, heiratete 1929 mit neunzehn Jahren auf der Traumhochzeit des Jahres den Guinness-Erben, um ihn, vier Jahre und zwei Kinder später, für Oswald Mosley zu verlassen, den Führer der faschistischen Partei Großbritanniens. Bei ihrer Hochzeit 1936 in Berlin war Goebbels Gastgeber und Hitler Ehrengast, während des Kriegs wurde das Paar prophylaktisch festgenommen und ein paar Jahre lang inhaftiert; nach 1945 lebten sie, in England geächtet, als Mitglieder des Jetsets in Paris. Diana schwärmte bis zu ihrem Tod von Hitlers blauen Augen, während ihr Mann auf ein politisches Comeback hoffte.
Unity Valkyrie, in einem kanadischen Ort namens Swastika (»Hakenkreuz«) gezeugt, wurde, durch Schwager Mosley angesteckt, feurige Anhängerin Hitlers und setzte sich so lange in dessen Münchener Stammlokal, bis der »Führer« sie endlich ansprach. Fortan innige Freunde, fuhren sie gemeinsam zu Parteitagen und den Festspielen nach Bayreuth, gern empfing Hitler sie, auch mit ihrer Familie, zum Tee. 1939, als der Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien ausbrach, schoss sie sich im Englischen Garten in München in den Kopf, überlebte, mit kindlichem Gemüt und von der Mutter gepflegt, bis sie neun Jahre später starb.
Deborah, die Jüngste und die Einzige, die heute noch lebt, wurde, was sie nach Auskunft von Decca schon als kleines Mädchen werden wollte: Herzogin. Als Duchess von Devonshire und clevere Geschäftsfrau machte sie Schloss Chatsworth zu einer der größten Touristenattraktionen im Land. Ihrem Freund Lucian Freund, von dem sie sich in seiner gewohnt erbarmungslosen Art porträtieren ließ, brachte Debo immer Eier von eigenen Hühnern nach London mit. Für historisches Geflügel hatte die passionierte Jägerin von klein auf eine große Leidenschaft.
Und mittendrin: Tom, der einzige, hochmusikalische Bruder, der früh aus dem Alltag der Schwestern ins Internat verschwand, bevor er nach Deutschland und Österreich ging, um Deutsch zu lernen, Klavier zu spielen und schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen: Decca schwor, dass er den Kommunisten nahestand, Diana, dass er Faschist war. Auf jeden Fall zog er als Soldat, der er zur Überraschung der Familie gern war, nicht gegen die Deutschen in den Krieg; in Burma ist er 1945 gefallen. Das war auch das Ende dieser Adelslinie: Nur ein Sohn konnte den Titel, Lord Redesdale, erben, der damit an einen Verwandten fiel, zusammen mit dem Sitz im Oberhaus.
»Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere«, hat der Vater der Sippe einmal gestöhnt. Ganz so normal war der zweite Baron Redesdale freilich nicht, eher ein exzentrischer und reaktionärer Poltergeist, ein Macho mit ausgeprägtem Sinn für Humor. Er interessierte sich vor allem für die Jagd und das Häuserbauen, seinen Londoner Herrenclub und das Oberhaus. Ursprünglich ein leidenschaftlicher Deutschenhasser, war auch er von Hitler fasziniert, bevor er sich mit Kriegsbeginn wieder seiner patriotischen Pflichten besann, während seine Frau weiter für den »Führer« schwärmte. Daran ist ihre Ehe zerbrochen.
In Großbritannien sind die Mitfords so bekannt wie bei uns die Familie Mann. Nur noch berüchtigter. Nach Deccas Tod schrieb Debo ihrer Schwester Diana, in den Nachrufen seien die Mitford Sisters »abwechselnd als Berühmt, Berüchtigt, Begabt, Glamourös, Unberechenbar, Stürmisch, Umjubelt, Verrufen, Rebellisch, Farbenfroh & Eigensinnig« beschrieben worden. »Also such Dir was aus.« Vor allem in den 1930er Jahren sorgten sie ständig für Skandale und Schlagzeilen, so dass ihre Mutter irgendwann seufzte: »Wenn ich ›Tochter eines Peers‹ in einer Schlagzeile lese, dann weiß ich gleich: Es geht um eines von euch Kindern.« Ihre Geschichte ist auch eine Mediengeschichte. Denn wer glaubt, die Promiberichterstattung sei eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, wird von den Mitfords eines Besseren belehrt. Sensations- und glamourlüsterne Journalisten stürzten sich in Horden auf die Schwestern.
Sie haben es gehasst und genossen, die legendären Mitford Sisters zu sein, haben die Aufmerksamkeit der Medien für eigene Zwecke genutzt und selber fleißig am Mythos mitgeschrieben. Heute füllen sie in den britischen Buchhandlungen ganze Regale mit Biographien und Autobiographien, Briefbänden und Romanen, Sachbüchern und Kochbüchern, noch zu Lebzeiten lieferten sie den Stoff für Fernsehspiele, Dokumentationen, ja, sogar ein Musical. »Die Mitford-Industrie« haben sie selbst das Phänomen genannt. Mitford Sister schien fast so etwas wie ein Beruf, ein Lebensinhalt zu sein. Als Decca 1977 in der populären BBC-Musiksendung Desert Island Discs zu Gast war, wurde sie als »Mitford-Schwester, Schriftstellerin« vorgestellt. Diana, 1989 eingeladen, war »Mitford-Schwester, Gattin von Sir Oswald Mosley«.
In England kann man der Familie gar nicht entkommen. Selbst die Queen ist der Mitford-Mania verfallen. Zumindest in der Fiktion von Alan Bennetts Erzählung The Uncommon Reader (Die souveräne Leserin). Da entdeckt die Königin im Bücherbus der Bezirksbibliothek durch einen glücklichen Zufall Nancy Mitfords Familienroman The Pursuit of Love (Englische Liebschaften). »Hat ihre Schwester nicht diesen Mosley geheiratet?«, fragt die Queen den Bibliothekar. »Und die Schwiegermutter einer weiteren Schwester war meine Oberhofmeisterin? … Und dann war da natürlich noch dieser eher traurige Fall, die ein Techtelmechtel mit Hitler hatte. Und eine wurde Kommunistin.« Also legt sich die Queen mit dem Roman ins Bett und steht so schnell nicht mehr auf. Als ihr Mann sie durch die Tür laut lachen hört, kommt er besorgt herein und fragt, ob alles in Ordnung sei. In bester Ordnung! Auch am nächsten Tag bleibt die Königin im Bett liegen und schützt eine Erkältung vor, um die Mitford-Saga ungestört zu Ende zu verschlingen. Danach kann sie vom Lesen nicht mehr lassen.
Und in Deutschland? Trotz der engen politischen Verbindungen von Diana und Unity: nichts. Das zumindest war der Stand zu Beginn dieses Projekts. 2010 waren die Bücher, die es einmal auf Deutsch gab, vergriffen – darunter Deccas Bestseller über die Bestattungsindustrie, Nancys Romane und Karlheinz Schädlichs Sammelbiographie über die Schwestern; der Graf Verlag hatte noch nicht mit der Neuauflage von Nancys Büchern begonnen, Deccas Erinnerungen an Kindheit und Jugend waren noch nicht im Berenberg Verlag erschienen.
Dieses Buch ist nicht »Die Biographie« Jessica Mitfords, wie gleich mehrere Autoren ihre Bücher über Schwester Nancy nannten. Ich werde die Mitfords auch nicht neu erfinden. Dazu ist das Leben und Treiben der Familie längst viel zu gut dokumentiert – »die bekannteste und exzessivst beschriebene Kinderstube des 20. Jahrhunderts außerhalb des Buckingham Palace« hat der Guardian sie einmal genannt – und fiktionalisiert. Wobei oft schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere beginnt. »Dichtung und Wahrheit bei den Mitfords« hat Deccas Schwager Bryan Guinness einen Text über die Familie betitelt. Nancy hat sich gleich für die Romanform entschieden, wobei ihre satirisch zugespitzten Schilderungen der Familie von dieser zwar als übertrieben, aber im Prinzip als realistisch beurteilt wurden.
Aus Familiengeschichten wurden Legenden, und je mehr Zeit verstrich, je häufiger sie erzählt wurden, desto unmöglicher wurde es, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Am Ende ist es eine Frage des Glaubens, welche Version man für die realistischste hält. So erzählt Decca in ihrer 1960 erschienenen Autobiographie Hons and Rebels (Hunnen und Rebellen) – den Titel Das rote Schaf hatte sie auf Wunsch des Verlegers wieder verworfen –, wie sie sich als Kind bockig der Aufgabe verweigerte, eine Geschichte nachzuerzählen. Als die Mutter sie anflehte, irgendetwas müsse sie doch behalten haben, presste sie sich trotzig ein »the« ab. Genau so steht es auch in den Memoiren ihrer Schwester Debo – nur ist Unity dort die störrische Schülerin.
Man kann diese Episode auch als Beleg dafür lesen, wie ähnlich sich die Schwestern trotz ihrer politischen Differenzen in vielem waren: der scharfe Humor und die Lust, andere auf den Arm zu nehmen, die Eloquenz und Schlagfertigkeit, die Furchtlosigkeit und starrsinnige Entschlossenheit, die Leidenschaft des Briefeschreibens, überhaupt, die Begabung zum Schreiben, das Talent zum Fies-Sein und zur Freundschaft, der Hang zum Extremismus und ihre grenzlose Loyalität.
Auch der Drang, der Familie zu entfliehen, war ihnen gemeinsam. Was noch lange nicht bedeutet, dass sie tatsächlich voneinander losgekommen sind. Sie sind in die Welt hinausgezogen, haben Pferde gezüchtet, Bücher geschrieben und Kinder gekriegt, Ehen und Affären gehabt, Freundschaften wie Gärten gepflegt, politische Kämpfe ausgefochten und viele, viele Partys gefeiert. Und doch haben sie sich etwas Kindliches, oft auch Kindisches bewahrt, waren noch im hohen Alter die Mädchen, als die sie zusammen aufgewachsen sind. Eine Mitford zu sein, meinte Deccas amerikanischer Lektor Robert Gottlieb über seine Autorin, »ist wesentlicher Bestandteil ihres Erbguts, hat alles geprägt, was sie getan hat. Und sie besitzt die Tatkraft der Familie, die Ungeheuerlichkeit der Familie, die Unbefangenheit der Familie, die Gnadenlosigkeit der Familie und den Humor der Familie.«
Einmal Mitford, immer Mitford. Das Freifräulein mochte die Festungsmauern der Kindheit sprengen, aber deren Steine bildeten das Fundament ihres Lebens. Entkommen ist Decca ihrer Herkunft, ihrer Kultur und vor allem dem komplexen Kosmos Familie nie. Ihr englischer Upperclass-Akzent, den abzulegen sie sich anfangs in Amerika solche Mühe gab, wurde im Laufe der Jahrzehnte eher stärker. Selbst wenn ihre englische Familie in ihrem täglichen Leben in Amerika keine Rolle spielte, als emotionale Kraft behielt sie eine enorme Wucht. Auch im Streit und im Schweigen waren die Schwestern einander so eng verbunden, dass Decca es schwierig, ja, unmöglich fand, ihrem eigenen Ehemann zu erklären, was Nancy, Debo und die anderen ihr bedeuteten. Nachdem sie der ländlichen Langeweile der Cotswolds erst einmal entflohen war, schreibt Peter Sussman, der Herausgeber ihrer Briefe, »verbrachte sie den Rest ihres glanzvollen Lebens und ihrer Laufbahn – und das betrifft auch ihre umfangreiche Korrespondenz – in einer Art fortgesetzter Konversation, oder Auseinandersetzung, mit ihrer privilegierten Erziehung, ihrer ungebärdigen Familie und den stürmischen Leidenschaften der Zeit, in der sie aufwuchs«.
Das rote Schaf der Familie ist nicht die – es ist eine Biographie über Jessica Mitford (eine andere, Leslie Brodys Irrepressible, mit Fokus auf ihr Leben in Amerika, ist 2010 erschienen). Warum von den sechs Schwestern gerade sie? Weil Decca für mich nicht nur die faszinierendste, sondern auch die sympathischste ist. »Die Beste von allen« hat ein Journalist sie genannt. Die originellste der Schwestern war sie auch. Kein Wunder, sagt ihre Freundin, die Londoner Literaturagentin Mary Clemmey, dass die Ohio State University jeden Fetzen Papier von ihr aufbewahrt. »Bei ihr waren selbst die Einkaufszettel eigenwillig.«
Als ihr Freund Philip Toynbee einmal gefragt wurde, ob er Decca mit einem Wort – »in a nutshell« – beschreiben könne, konnte der nur lachen. In eine Nussschale passte sie nicht rein, Decca war eine komplexe Figur, überlebensgroß. Wobei Toynbee sie dann doch in einem Satz zusammenfasste: »Ich würde sagen, dass eine Clownin aus der englischen Upperclass mit sehr, sehr linken Ansichten, die in Kalifornien lebt und wie eine typische Oaklander Hausfrau aussieht, durchaus etwas Exzentrisches hat.« »Eine Naturgewalt«, so beschreibt sie ihr Freund Doug Foster. Jessica Mitford war immer für eine Überraschung gut. Contrastiness, »Gegensätzlichkeit«, ist das Wort, das ihr Mann Bob Treuhaft für sie geprägt hat – ein Leben voller munterer Widersprüche, eine Achterbahnfahrt zwischen englischen Gartenpartys und Berkeleys Studentenbewegung, zwischen Lunch mit Liz Taylor und dem Kampf an der Seite der Black Panther. Sie, die so schlampig und so aufmüpfig war, sich über alles und jeden lustig machte und für ein paar Lacher alles tat, war bis 1958 treues, diszipliniertes Mitglied der ziemlich humorlosen Kommunistischen Partei, gegenüber der sie auch nach ihrem Austritt noch extrem loyal blieb. Unrecht brachte sie auf die Palme, in Bezug auf die unmenschliche Diktatur in den Ostblockstaaten zeigte sie sich jedoch merkwürdig blind. Und sie, die sich so unermüdlich für die Rechte der Schwarzen einsetzte, interessierte sich nicht weiter für das Schicksal von Hispanics und anderen Minderheiten. Pünktlichkeitsfanatikerin und Freiheitsadvokatin ist sie gewesen, Trinkerin und Kämpferin für Gerechtigkeit, Kettenraucherin und besessene Briefeschreiberin, Klatschtante, Clown und Agent provocateur. Eine bodenständige Grande Dame, wie der San Francisco Chronicle sie beschrieb, frech, launisch, fröhlich, ungeduldig, gastfreundlich, verbohrt.
Zu den Widersprüchen ihres Lebens gehört auch das unterschiedliche Verhältnis zu ihren beiden Nazi-Schwestern. Von Unity, die keine Gelegenheit ausließ, ihren Schwarm Adolf Hitler zu feiern, hat Decca immer mit großer Zärtlichkeit gesprochen, ihr bis zu ihrem Tod geschrieben. Diana dagegen, einst ihre Lieblingsschwester, hat sie regelrecht gehasst, hat sie für Hitlers Terror und den Tod ihres ersten Mannes verantwortlich gemacht und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen.
»Kein Aber«, hatte Decca für ihre Trauerfeier angeordnet. Keiner sollte sagen: »Wir haben sie sehr geliebt, aber …« So soll dies denn kein Buch des »Abers«, sondern ein Buch des »Unds« sein. Decca selbst war eine Meisterin in der Kunst des fröhlichen Paradoxes.
Sie war die geborene Rebellin, der wandelnde Protest. Als Teenager fing sie an, sich über das Unrecht in der Welt zu empören, und hörte nicht mehr auf, bis sie starb. Dabei hat sie durchaus das Zeug zur Terroristin gehabt, hatte vor allem in jungen Jahren etwas Fanatisches, Wütendes, Kriminelles an sich. Als Teenager wollte sie Piratin werden; damals, so ihr Freund Philip Toynbee, hätte der Unterschied selbst zu den liberalsten Mädchen ihrer Schicht nicht größer sein können: »Sie waren von Decca so verschieden wie ein christlicher Sozialist von einem Nihilisten mit Bombe.« Was sie davor bewahrte, Terroristin zu werden, waren ihre Bodenständigkeit und Menschlichkeit, ihr trockener Humor und ihre Lebenslust.
Gefragt, was ihnen als Erstes einfällt, wenn sie an Decca denken, sagen denn auch die meisten ihrer Freunde: ihr Witz und ihre Schlagfertigkeit. Gerade unter den politischen Tieren machte sie das zur Rarität. »Ihr größtes Verdienst war wohl die Lebensfreude, die sie unter den trübseligen amerikanischen Linken verbreitete«, schrieb ihr Freund Alexander Cockburn, der als Kind kommunistischer Eltern diesen düsteren Ernst nur allzu gut kannte.
Freiheit war das, wofür Decca vor allem kämpfte. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, war schließlich die prägende Erfahrung ihrer Jugend gewesen. Für Meinungs- und Pressefreiheit hat sie sich eingesetzt; für die Freiheit, zu wohnen, wo man wohnen, zu essen, wo man essen möchte, egal, welche Hautfarbe man hat. Es ist kein Zufall, dass sie in dem Land geblieben ist, das sich so viel auf seine Freiheit zugutehält wie kein anderes. Allerdings gab sie sich nicht mit dem Mythos zufrieden, überprüfte ihn permanent an der Realität.
Vor allem hat sie sich die Freiheit genommen, Jessica Mitford zu sein. Sie tat, was sie wollte, sagte, was sie dachte, und scherte sich nicht darum, was andere davon hielten. Peinlich ist ihr nichts je gewesen. »Decca sein«: Das, so ihr Freund Bob Scheer, war ihr größtes Verdienst.
Hier ist eine Frau, die eins war mit sich, die schrieb, wie sie sprach, frisch und lebendig, und sie sprach mit jedem auf die gleiche Art, egal, wie jung, wie reich, wie gebildet, ob Arbeiter oder Graf, sie sprach mit ihnen als Decca Mitford. Nicht zufällig wurden ihre Freunde und Fans am Ende ihres Lebens immer jünger: Decca ist eine Frau ganz von heute. Ihre Art des Schreibens – schnell und persönlich – passt perfekt ins Zeitalter des Internets, hätte sie länger gelebt, wäre sie sicher Bloggerin geworden. Die zufällige Entdeckung des Faxgeräts war für sie ein Himmelsgeschenk, fortan schossen die Briefe nur so hin und her. Was hätte sie mit ihrem Kommunikationsbedürfnis und ihrer Ungeduld erst mit E-Mails, WhatsApp oder Twitter gemacht.
Einer ihrer jungen Fans ist J.K. Rowling gewesen, ja, vielleicht gäbe es ohne Jessica Mitford Harry Potter nicht. Als Vierzehnjährige bekam Rowling Deccas Autobiographie von ihrer Großtante geschenkt. Danach war es um sie geschehen. Die Jugendliche erklärte die adelige Rebellin sofort zu ihrer Heldin, noch heute nennt sie Decca die für sie wichtigste Schriftstellerin. »Ich glaube, ich habe alles gelesen, was sie geschrieben hat.« Rowling bewundert sie für ihren Mut und Witz und Stil, dafür, dass sie »einigen ihrer jugendlichen Eigenschaften nie entwachsen ist, ihrer politischen Einstellung immer treu blieb« – so groß ist ihre Bewunderung, dass sie ihre eigene Tochter Jessica nannte.
Jessica Mitford ist eine Entdeckung wert. Wann, wenn nicht jetzt. Sie ist eine der faszinierendsten, hierzulande praktisch unbekannten Frauenfiguren des 20. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das sich mit all seinen Konflikten und Facetten auf einzigartige Weise in ihrer Biographie bündelt. Englische Aristokratie und High Society, Kommunismus und Faschismus, Kapitalismus und New Deal, Spanischer Bürgerkrieg und Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg und Vietnamkrieg, McCarthyismus und Bürgerrechtsbewegung, Free Speech Movement und Black Panther, all das hat Jessica Mitford nicht nur selbst erlebt, sondern auf ihre ganz eigene Weise mitgeprägt.
Sie war, so ihre Freundin Mary Clemmey, Kapitän ihres eigenen Schiffs. Es ist ein Piratenschiff gewesen, mit dem sie durchs Leben steuerte, es hatte schon Fracht geladen, als sie das Ruder übernahm. Einiges davon hat sie über Bord geworfen, viele neue Passagiere hat sie an Bord genommen – Menschen waren für sie das Allerwichtigste. Aber ein Teil der alten Fracht fuhr weiter mit – ihr langes, trotz aller politischen Enttäuschungen und persönlichen Tragödien glückliches, selbstbestimmtes Leben lang.
Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Schreiben ist für mich eigentlich immer der Versuch, zu verstehen. Bei den Mitfords bin ich da zuweilen an meine Grenzen gestoßen. Manchmal blieb nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: curiouser and curiouser, seltsamer und seltsamer …