Angeregt durch die Einteilung der Welt in vier Elemente hat der Autor seine Essays unter vier Begriffe zusammengefasst: Lehm, Glut, Tinte und Äther. Der letzte Essay dreht sich um die Quintessenz des Ganzen.
„Lehmig“ sind die Texte, die sich mit Handfestem, Materiellem, beschäftigen, „glutvolle“ handeln von Begeisterung und Bewegung, „tintige“ selbstredend von Literatur und im „Äther“ geht es um Ideen, Fantasien und Zahlen. Die Quintessenz wird an dieser Stelle nicht verraten.
Schenkels Sujets sind überaus vielfältig: ein altes Haus, der Schnee von morgen, Bogenschießen und Radfahren, Zauber und Fluch von Bibliotheken und warum Märchen gut tun. Zahlenmystik und fliegendes Geld begegnen sich auf der Einbahnstraße Walter Benjamins. Es sind Essays, die scheinbar leicht daherkommen, den Leser unterhalten und dabei zum Nachdenken anregen. Mit Wortwitz und Hintersinn steigern sie unsere Neugier auf die Welt.
Elmar Schenkel wurde 1953 in Lippetal bei Soest geboren. Er studierte Anglistik, Romanistik und Japanologie und ist heute Professor für Anglistik in Leipzig. Mitherausgeber der Literaturzeitschriften Nachtcafé und Chelsea Hotel. Übersetzer englischsprachiger Lyrik, seit einigen Jahren auch tätig als Maler. Schenkel schrieb Reiseliteratur, Romane, Essays, Gedichte und ein Kinderbuch. Letzte Publikationen: Cyclomanie – Fahrrad und Literatur, die Essaybände Vom Rausch der Reise sowie Zahlen und Gärten und Reisen in die ferne Nähe (ein Reisetagebuch).
Elmar Schenkel
Die Stille und der Wolf
Essays
persona verlag
Vorwort
I. Lehm
Das alte Haus
Herbst und Laub
Glückspilz
Pfütze und Unsterblichkeit
Schnee von morgen
Porzellan und der Traum vom Ewigen Leben
Verlorene Formen
Das Brett als Mikrokosmos
Das unsichtbare Buch
II. Glut
Cyclosophie – Was hat das Fahrrad mit Philosophie zu tun?
Der gestohlene Rucksack
Zweimal Kabelbinder
Der Bogenschütze
Vom Glück der Wiederholung
Die Kunst, das Paradies und die Unsicherheit. Über Farbe
Vom Nutzen und Nachteil des Sammelns. Ein Dialog
Das Wir
III. Tinte
Balzac oder das Evangelium des Kaffees
Verweile doch: Die Bibliothek, das Paradies und der Tod
Literarisches Bogenschießen
Begegnung auf der Einbahnstraße
Mark Twain als Erfinder des Brettspiels Memory Builder
Warum Märchen gut tun
Der Name der Rose: Literarische Blumen
Essen und Essay
Die Tragik der Dichterlesungen
IV. Äther
Die erste Erinnerung
Die Macht des Verborgenen. Überlegungen zum Geheimnis
Über Namen und Namenlosigkeit
Im Zeichen der Vier
Pickelhaube und Pirouette. Ein Zahlenspiel
Der neue Altar
Das fliegende Geld
Zeit über Kreuz. Über Zeit, Beschleunigung und Fledermäuse
Die Stille und der Wolf
V. Quintessenz
Alles Käse!
Textnachweis
Verwendete Literatur / Quellen
Impressum
Heute Nacht erreichte mich die Stille wieder. Es ist interessant, dass der Schlaf keine Stille kennt. Wir träumen, wir wälzen uns herum, wir knirschen mit den Zähnen. Erst wenn wir wach sind, werden wir still, oder besser, wir werden uns der Stille bewusst. Dann beginnt sich allerdings im Kopf ein Karussell zu drehen oder, um im Bild dieses kleinen Buches zu bleiben, der Wolf zu heulen. Komisch jedoch, wie wenig man in der Lage ist, Unterscheidungen zu treffen oder Dinge zu gewichten. Heute Nacht etwa beschäftigte mich – welch ein Unterschied schon zwischen „etwas beschäftigt mich“ und „ich beschäftige mich mit etwas“ liegt! Ein Philosoph hat sich im Übrigen auch mit dem Unterschied zwischen „ich träumte“ und „mir träumte“ beschäftigt – heute Nacht also: eine Quittung, die nicht vollständig war und eher hätte eingereicht werden müssen und bei der es um eine Summe von 130 Euro ging, und danach die Frage, wie ist das Universum eigentlich entstanden: durch einen Knall oder durch eine Melodie? Der Kampf wogte hin und her, mal siegte der Kosmos (so wie ihn die Feder von J. R. R. Tolkien zeichnete), mal die Quittung, die mir mit einem schäbigen Grinsen die Erniedrigungen aufzählte, die ich mir bei der Verwaltung wegen meiner Verspätung einholen würde, möglicherweise auch weil die Quittung durch das lange Herumtragen zerknittert war und daher meinen Ruf bei der besagten Verwaltung als zerknirschter Zerknitterer festigen würde. Kurz darauf hatte aber der Kosmos wieder die Oberhand. Ich hörte schon die Melodie, mit der das Silmarillion anhebt, Ilúvatar hat sie vorgegeben, es summt sich etwas in den Schlaf hinein, eine Harmonie der Dinge, doch da erhebt sich Melkors dissonante Stimme und das Ungeheuer wedelt mit einer Quittung. Dem Schöpfer aber gelingt es, die Dissonanz dieses Gewedels, dieser schnarrenden Stimme umzuweben in einen anderen, gar höheren Gesang, ich drehe mich um, es will weiterschlafen in mir, doch wieder mischt sich der unsägliche Melkor ein, und der alte Ilúvatar muss zu stärkeren Mitteln greifen, um die neue Dissonanz zu bewältigen. Diesmal erschafft er sich den Menschen dafür: die große Antwort auf die kosmische Dissonanz. Und der Mensch erschafft sich die Bürokratie und die Bürokratie erfindet die Quittung. Dieser Zettel ist keine große Antwort, sie ist ein kleines Übel. Groß und klein? Was für eine Bedeutung hat solch ein Wortpaar in der Nacht? Die Nacht verzerrt, sie stellt die Optik fortwährend um, als wolle sie unsere seelischen Augen trainieren. Nachts fehlen uns die Normen, die Gewichte, mit denen der Apotheker hantiert, wir wissen nicht mehr, wie lang ein Meter ist (er ist irgendwo in Paris versteckt, wen interessiert das). Eine Feder wiegt so viel wie ein Pferd, ein Jumbojet weht durch die Nacht wie Papier. Ich erinnere mich an frühe Träume, in denen die reine Schwere auf mich zukam. Ja, wir sind schon am Träumen. Der Traum ist die Antwort des nächtlichen Menschen auf die Dissonanz der Tage. Wenn man nachts aufwacht, hat man nicht das Gefühl, geschlafen zu haben. Man wälzt sich einfach wieder hin und her. Schlaflosigkeit ist eine der großen Quellen der Literatur. Charles Dickens ging nachts, wenn er nicht schlafen konnte, ins finstere London und machte Entdeckungen, über die er später schreiben sollte, auch als Essayist. Das italienische Wort saggio, das für Essay steht, das französische essai, geht zurück auf lateinisch exagium, das so viel bedeutet wie Wägen und Abwägen.
Mit meiner Verlegerin und Lektorin Lisette habe ich lange gewägt und gewogen. Solches Tun spiegelt sich in der Serie von Titeln, die das Unbewusste oder der Zufall hervorbringen. Schreibend kümmert man sich nicht um Überschriften oder Gliederungen. Da muss erst die behutsame Hand oder das kluge Nachfragen der Leserin eingreifen, und schon sieht man sich als Autor neuen Herausforderungen gegenüber. Gibt es ein, zwei, drei Worte oder einen Satz, der das, was man drauflosgeschrieben hat, zusammenfasst? Kann ich durch die Anordnung diesen Satz ausdrücken, den es so vielleicht gar nicht gibt?
Es fiel uns auf, dass die Stücke am Ende doch den Gesetzen des Universums unterliegen, das aus vier, manchmal fünf Elementen besteht – nach alter Sage zumindest. An die haben wir uns gehalten und sie ein wenig übersetzt, sodass aus den bekannten vier Elementen nun Glut und Lehm, Äther und Tinte wurden. Kaum hatte sich dieser Gedanke einer Gliederung durchgesetzt, änderten die noch zu schreibenden Texte ihre Richtungen, und einer von ihnen schwang sich gar als fünftes Element, als Quintessenz, auf. Auch der Titel brauchte lange auf seinem Weg durch das Unwägbare. Kaum stand der eine fest, kam die Mail des Autors, es doch mit einem anderen zu versuchen. Mal war es „Zeit über Kreuz“, dann „Fledermauszeit“ und nun ist es (zum Beispiel) der Unterschied von Tag und Nacht, die nächtliche Sichtweise am Tag, die des Tages in der Nacht.
Um die Entdeckungen, die dabei zu machen sind, geht es mir. In der Nacht ist man kein Essayist, aber ohne die Nächte mit ihrer Stille und ihrem Geheul gibt es keine Essays.
Der Mensch vergeht – schnell. Alte Häuser vergehen – etwas langsamer. Kirchen halten am längsten. Selbst wenn sie verschwunden sind, werden sie oft wieder aufgebaut – wohingegen die wenigsten Burgen, Banken oder Bahnhöfe wiederauferstehen. Wer also aus dem Mittelalter in unsere Zeit kommt, würde sich an den Kirchen orientieren können. Zugleich sind es ja die Bauten, die am ehesten mit dem Geist und dem Gefühl verbunden sind, und gerade nicht Fabriken oder andere Brennpunkte des Materiellen. Der Mensch baut dem Geist, der doch so schlecht greifbar ist, das dauerhafteste Gebäude, und was soll damit gesagt sein? Am besten überleben Ideen, ob in gedruckter, gesprochener oder gebauter Form. Noch heute reden wir von Philosophen, die vor 2500 Jahren gelebt haben, sie sind weiterhin Säulen in unserem Geistesleben, auch wenn sie immer mal neu dekoriert werden.
Auch im Kleinen, in meinem Heimatdorf, lässt sich verfolgen, wie der Geist zusammen mit dem Gebäude überlebt oder von sich reden macht. Mein Vetter kam aus Indien zu Besuch und wollte sein Geburtshaus sehen, eine ehemalige Kneipe und zuvor die Post im Dorf. Ein marodes Fachwerkhaus gleich am Kreisverkehr zwischen Soest und Hovestadt. Nachdem die Familie meines Vetters das Haus in den 1950ern verlassen hatte, wurde es eine Kneipe, in den 1990ern geschlossen, dann zu einem Biker-Café umgebaut, wieder geschlossen und war dabei, in einen seligen Schimmelschlaf zu sinken, wobei sich das Fachwerk bog und der Inhalt allmählich versumpfte.
Dann kam der Prinz, der das angestaubte Dornröschen wachküsste, in Gestalt eines wohlhabenden Mannes, der es sanieren wollte. Zuvor hatte er ein ganzes Schloss saniert. Es war seine Lebensaufgabe, seine große Liebe, alte Gehäuse wieder aufzurichten. Darin war er wie ein Arzt und darum verstand er sich auch auf Anhieb mit meiner Schwägerin, einer Heilpraktikerin, als wir alle zusammen die alte Post besichtigten. Wie strömte das Gedächtnis meines siebzigjährigen Vetters! Lange diskutierten wir die Inschrift im Holzbalken draußen, aus der hervorging, dass das Haus in jener Zeit erbaut wurde, als das Dorf einmal kurzfristig französisch war: 1804 – da herrschte Napoleons Bruder über Westfalen. Soll man die Mauer zum Pfarrhof abreißen, kann man bei einer Fachwerkfüllung den Lehmverputz lassen? Fragen an die Zukunft mischen sich mit Fragen über die Vergangenheit. Wer hat hier seit 1850 gewohnt? Seit wann gab es eine Poststelle? Mein Vetter erinnert sich plötzlich an die Telefonnummer der Post: „Herzfeld 234“, und es ist wie ein Mantra. („Hallo, hier ist Herzfeld 234. Können Sie uns sagen, was wir nach dem Urknall machen sollen?“) Unten saßen die Postboten und sortierten Briefe, ich stelle sie mir vor wie bei Jacques Tatis Schützenfest.
Einer von ihnen, der einarmige Geibel, wurde wegen Unterschlagung von Geldern verdächtigt. Daraufhin legte sich der Polizeidiener über die Poststelle, bohrte ein Loch durch den Boden und beobachtete diesen Geibel tagelang. Er konnte ihm nichts nachweisen, doch eines Tages musste der Postbote doch sitzen, ein Jahr lang. Der kleine Reinhold, mein Vetter, sollte abends um acht ins Bett. Das war langweilig, zumal es unten in der Gaststube, die seine Mutter betrieb, noch ordentlich rumorte. Also bohrte auch er sich ein Loch in den Boden und schaute den Leuten tief ins Glas. Wenn der Gesangverein probte, ließ er sich von den Männern eine Leiter nach ganz oben aufstellen, und dann wurde der Dachboden durchforstet. Da lag Zeug von 1850 herum, während es unter ihm aus den Kehlen ebbte und wogte: „Kein schöner Land“. Als er mit acht sein eigenes Zimmer bekam, hing sogleich ein Schild an der Tür: „Büro Reinhold Pingel“.
Auch wir steigen hinauf, zuerst in den Tanzsaal, in dem auch einmal ein Stück mit Namen „Titanic“ aufgeführt wurde, dann mit Leitern auf den Boden. Der ist vollgemüllt mit Aktenordnern. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, es handelt sich um Steuerunterlagen des Vorbesitzers, der zudem mein Klassenkamerad war und hier die Sauen aufzählt, die er gemessen und gewogen hat. Günther brachte mir die erste Bluna meines Lebens ins Haus, das werde ich ihm nie vergessen. Eine Zeit lang arbeitete er als Verkäufer der Bildzeitung, eine große rote Tasche zeugt noch von der Zeit, sie geht mit nach Indien. Ein paar Bücher: eine Beethoven-Biographie, die Memoiren eines CDU-Kreischefs, das Neue Testament sowie Otto Schellbach, „Mein Erfolgssystem“ (aus den fünfziger Jahren) – vielleicht hat es Günther beherzigt? Ein guter Spruch darin an unsere Burnout-Generation: „Haste nie und raste nie, dann haste nie Neurasthenie.“
Hier finden wir noch ein halbes Brett mit dem Wort „Männer“ in Fraktur. Weiter oben, auf einem weiteren, fast unsichtbaren Dachboden, stellt sich heraus, dass dies kein Schild für die Toilette ist, sondern Teil eines anderen: „Männer-Gesangverein“. Und diese Frakturschrift schrieb im Dorf damals nur mein Vater. Er war Malermeister und Schildermaler. Reinhold erinnert sich: Als Stalin starb, sagte der Postbote Lutterbüse: „Das Schwein ist tot.“ Der Neunjährige, der dies gehört hatte, ging in die Schule und rief: „Stalin das Schwein ist tot!“, woraufhin die Lehrerin sagte: „So was sagt man nicht“, und der Unterricht begann. Auch mit den Handschellen seines Stiefgroßvaters, des Polizeidieners, haben sie gespielt und einmal haben sie sie so hoch geschleudert, dass sie auf einem Telegrafendraht hängenblieben – und zwar jahrelang. Eines Tages warf ein Sturm sie herab, da waren die Fesseln ganz verrostet. Das sind die Geschichten, bei denen es in den Augen des Sanierers glimmt und glänzt, das wünscht er sich: dass er einerseits baut und bessert, andererseits all dies verbunden ist mit Erzählungen. Denn es sind letztlich die Erzählungen, die dafür sorgen, dass ein Haus, ein Name überlebt. Erst im Erzählen wird der Sinn sichtbar, das Sprechen enthält ein Versprechen: Ich vergesse dich nicht.
Der Gegenstand, der mir dieser Tage auffiel, ist eigentlich auf immer ins Poesiealbum verdammt worden, und ich frage mich, wieso er mir gerade dieses Jahr so augenscheinlich und ohrenwirklich wurde.
Eines Tages wachst du auf, die Sonne scheint nach alter Weise, aber es wehen spiralige Winde und du hörst ein Rascheln und Rauschen in der Luft. Wenn du auf die Straße gehst, siehst du, dass die Winde regelrechte Formen angenommen haben. Nie zeigt sich ihr dämonischer Charakter besser als an diesen wenigen Tagen, in denen das Laub vom Himmel fällt und sich in quirligen Paraden und stürmischen Festversammlungen auf der Erde herumtreibt. Es ist auch etwas Halluzinogenes im Spiel; nicht umsonst stammt das deutsche Rausch von einem Wort ab, das genau diesen Höreffekt beschreibt: eine Art Störsender macht sich breit und verändert die Stimmung.
Solange die Blätter am Baume rauschen, machen sie treffliche romantische Musik. Sobald sie aber am Boden treiben und sich an ihm reiben, wie trockene Haut, ist ihr Geräusch eher besenartig. Allerdings ist es ein tanzender Besen, der mal hier, mal da aufsetzt, sich wieder enthebt, um bald darauf mit aller Macht zu einem wirbelnden Rondo anzusetzen. Dieses Besenballett fordert sämtliche deutsche Besen heraus, die alsbald aus den Häusern hinausstürzen, um dem Spuk ein Ende zu machen. Dann wird geharkt und gefegt, dass es Rumpelstilzchen eine Ehre macht. Als der Galizier Joseph Roth in Deutschland ankam, wunderte er sich sehr, warum hier so viel gefegt wurde.
Das Laub bringt es an den Tag, was da im Deutschen lungert: Am deutschen Besen sollte schon öfter die Welt genesen. Ich für mein Teil würde das meiste dem Wind überlassen (außer das glitschige Laub) und mich lieber erfreuen an diesem kosmischen Spektakel, wenn die Blätter plötzlich aussehen wie das Holz, an dem sie wuchsen. Sie laufen herum auf den Straßen und in den Gassen wie Halloween-Kinderbanden, sausen in Geschäfte und Lokale, deren Eingänge sie mit wunderbaren Teppichen auslegen. Es ist eine kleine Revolte im Gang: der Übergang der Jahreszeiten. Und so wie der Winter durch den Karneval verabschiedet wird, so wird der Sommer es mit diesem Blätterfasching.
Jeden Tag radle ich an der Deutschen Nationalbibliothek vorbei, doch in diesen Tagen werden die Blätter, die sich in ihr befinden, spöttisch parodiert von den Haufen Herbstlaubs, die sich vor ihr aufwölben. Hier haben die Bäume ihr über das Jahr Geschriebenes einfach fallen lassen. Keiner käme auf die Idee, die Blätter mit Titeln oder Autorennamen zu versehen, wie es drinnen geschieht. Welch Eitelkeit hinter den Mauern, welch Großzügigkeit und verschwenderisch-glückliche Einstellung vor ihnen!
Die Bäume aber wechseln die Konfession. Waren sie im Sommer noch ganz dem Katholizismus zugewandt mit ihren Gesängen, ihrem Weihrauch und ihrem päpstlichen Blick, so erscheinen sie jetzt ganz und gar protestantisch: karg, nüchtern, der reinen Botschaft zugewandt, eher Gravur als Gemälde, eher Text als Gesang. Aber schau einmal in einer klaren Herbstnacht durch das kahle Geäst in den Himmel – und du siehst, dass die Blätter nun leuchten und funkeln. Der Baum schmückt sich mit Fixsternen, im Winter werden Galaxien sein Laub sein. Derweil treiben die braunen und scheckigen Blätter wie verlorene Ablässe herum, sind Reliquien einer aufgegebenen Religion, die keiner mehr will. Umso freier sind sie geworden. Ein Außerirdischer, der dieses Treiben zum ersten Mal sähe, wäre sicherlich verwirrt: wozu erst dies grüne Sprießen, dann das Abwerfen? Für wen? Wofür? Er müsste eine Weile bleiben und sehen, was mit den Blättern weiter geschieht, wie sie sich mit Nässe aufsaugen und kleine glitschige Badvorleger oder Teppiche bilden, auf denen die Großen dieser Erde ins Rutschen kommen. Wie sie sich nach und nach auflösen, etwa zu der Zeit, wenn die Menschen ihre Friedhöfe aufsuchen, und wie sich einige trotz der ersten Schneefälle eine Nische bewahren.
Was wäre denn, wenn statt Schnee nur noch Laub fiele, immer wieder Laub, Laub, Laub? Wie wir uns morgens aus unseren überblätterten und überlaubten Häusern herausarbeiten müssten, wie die Kinder sich Buden bauen würden, reinste Laub-Iglus. Die Religion eines solchen Landes würde sicherlich einem sagenhaften Ur-Laub ihre Tempel und Altäre errichten. Die Kleider wären aus Laub herzustellen, wir gingen wie die Wilden Männer und Frauen der Wälder.
Ich will nicht weiter darüber nachdenken, sondern mich lieber dem Schauspiel der tanzenden Blätter widmen: so etwas hält doch weit und breit nur unser Planet bereit, mögen die anderen sich mit Eruptionen, Eisbergen und Lavaströmen brüsten. Das ist aber das Schönste: sich hinzusetzen und nur diesem Treiben zuzusehen. Das ist wie ins Kaminfeuer starren, und die Blätter sind ja nur Zwischenzustände zwischen dem ersten und dem letzten Feuer, aber was für zauberhafte. So müssten wir wie die Bäume unser Wissen und Können fortwerfen und uns wie ihre Derwische, die Blätter, nur noch bis zum Schwindel drehen. Wenn wir das nicht tun wollen, so sollten wir wenigstens das Laub aus dem Poesiealbum herausholen.
Ein Jahr, ohne in die Pilze zu gehen, ist ein verlorenes Jahr, sagte meine Frau, und so zogen wir in diesem Oktober in die Dübener Heide, begleitet von ihren wissenden Eltern. Es regnete, aber es war nicht zu kalt, sodass auf gute Beute zu hoffen war. Ich bin ja nicht mit Pilzen aufgewachsen. Meine Mutter kam aus dem Ruhrgebiet und ihre Naturkunde war eher auf den Garten beschränkt. Mein Vater hatte in der knappen Freizeit anderes zu tun (Bogenschießen, Basteln), auch wenn er sich in der Natur gut auskannte. Pilze tauchten allenfalls auf dem Sportplatz auf, sichere Anzeiger in der Uhr der Jahreszeiten, die für uns Kinder doch sehr aufregend war. Sie traten auf mit dem Geruch von Dung auf den Feldern, von brennendem Stroh, einer gewissen Feuchtigkeit in der Luft. Und geheimnisvoll lugten sie aus der Erde, wie Augen eines großen unterirdischen Wesens, das einmal im Jahr die Dinge da oben ins Visier nimmt. Zumal sie über Nacht kamen und wie Reste der Kleidung von Gespenstern zurückblieben, Geisterschuhe gar.
Wir zertraten am liebsten die Boviste auf dem Sportplatz, die mit einem groben Puff in die Luft gingen. Wir nannten sie Stinkmorcheln, aber es waren keine, sie waren nur Staubwolke, und wir spielten dann weiter Fußball. (Da ich Verteidiger war und Bällen möglichst aus dem Weg ging, hatte ich glücklicherweise genügend Zeit, mich weiterhin mit diesen Puffern zu beschäftigen − mochten die Eigentore fallen, wie sie wollten.)
Als ich nach Ostdeutschland zog, fiel mir auf, dass man hier eine engere Beziehung zu den Pilzen pflegt – was sich schon in dem Ausdruck zeigt: Man geht „in die Pilze“, nicht „Pilze suchen“. Ebenso gibt es im Russischen eine Bezeichnung, die volkstümlich-traditionell ist, chodit’ po griby (in die Pilze gehen), und, chodit’ za gribami, die die gegenwärtige Hochsprache benutzt.
Als ich meiner Russischlehrerin von unserem Pilztrip erzählte, sagte sie, man habe ihr zu verstehen gegeben, dass man in Deutschland höchstens ein Kilogramm pro Kopf sammeln dürfe, und deshalb seien sie noch nicht sammeln gegangen.
Wir wussten nichts von diesen Verboten, als wir an diesem Herbstsamstag mit unseren Körben loszogen. Der genaue Ort wird hier nicht angegeben, denn Pilzsucher sind ganz schöne Geheimniskrämer. Jeder hat so seine eigenen todsicheren Ecken. (In diesem Fall verrate ich nur, weil es mir gestattet wurde, zwei bildstarke Namen: Eisenhammer und Lutherstein.) Ja, es war ein nasser Tag. An einigen Waldwegen standen schon Autos, die der Konkurrenz. Wir verteilten uns im Wald und begannen die alte Form der Kommunikation zu proben, die wir Menschen schon seit unseren frühesten Tagen des Sammelns und Jagens eingesetzt haben – Schreie, Pfiffe, Heultöne, Gesang. Jeder für sich, jeder für alle. Das Verirren und Verlorengehen im Wald, das noch in einigen Märchen nachhallt, muss eine uralte Erfahrung sein. Auf diese Weise dürfte so manch neue Gemeinschaft aus Verlorenen entstanden sein, die sich mit Fremden zusammentun mussten: Kulturaustausch durch Verirrung. Wenn bei Massenveranstaltungen Kinder verloren gehen, löst dies älteste Ängste bei Kindern wie Eltern aus. Doch wo waren die Lautsprecher damals im Wald, mit denen man heute die Verlorenen ruft? Hier half nur eine Waldsprache, vielleicht etwas wie das Pfeifen der Eingeborenen der Kanarischen Inseln.
Ich ging vor mich hin, verlor die anderen aus dem Blick und versank ganz in einem magischen Reich. Die grüne Dunkelheit, das rinnende Nass, das Glitzern durch vereinzelte Sonnenstrahlen schufen eine starke Bühne für leuchtende Objekte, die wie Giftpfeile aus dem Boden schossen, für rotgefleckte und gelb wie Safran leuchtende Gestalten. Sie schienen nur auf ihren Auftritt zu warten, diese Schauspieler der unterirdischen Welt. Manchmal knackte es im Gebüsch, war es ein Tier oder einer meiner Spezies? Hier stand eine Fichte, aus der es hohl klopfte. Ein einsamer Specht berauschte sich bis zur Trance an seiner Trommel. Dort ein verlassener Hochstand, von grünen Ranken niedergezogen, aus dem Gleichgewicht gebracht wie bei einem ungleichen Kräftemessen in einer bayrischen Wirtsstube: die Rechtecke und Quadrate des Stangenbaus hoffnungslos zu Rauten geworden oder eingeknickt; Buchstaben, die auf Krücken standen.
Hie und da fand ich einen essbaren Pilz, eine Marone, eine Ziegenlippe, einen Röhrling und Ähnliches, bis ich plötzlich vor einem Haufen gefällter Bäume stand. Sie bildeten eine Art Insel im Wald. Am Fuße eines Baumes wuchs ein blumenkohlartiges Gebilde, als sei eine weiße Rüsche vom Himmel gefallen. Es war ein gummiartiges Gewächs, nein, das konnte kein essbarer Pilz sein, aber ich schnitt zum Spaß ein Viertelchen ab. Dann merkte ich mir einige Stellen, wie etwa den Hochstand, und fand bald hinter einer Senke meine Familie wieder. Wir tauschten die ersten Exemplare aus, doch als ich meinen Gummikohl herauszog entfuhr ihnen ein Aufschrei: „Das ist ja die Krause Glucke!“ Sie hätten auch Fette Henne sagen können oder Sparassis crispa. Aber sie sagten: „Warum hast du nicht die ganze Glucke mitgebracht?“
Man hat Glück, aber weiß es nicht, und so geht man an den besten Dingen und Menschen ahnungslos vorbei. Andere wissen, aber haben kein Glück. Ich wusste nun auch, und so verließ mich das Glück. Ich zog wieder los, angestachelt von meinen Mitsuchern, um die Stelle wieder zu finden, stolperte dreimal über dieselben Stämme, fand sogar den Hochstand wieder, dem die Geometrie noch weiter entzogen worden war, sah wieder die leuchtenden Giftsterne im Schatten, den milchiggrünen Waldrand mit seinen Regenvorhängen. Doch von der magischen Insel, auf der die Krause Glucke wohnte, war nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden wie Atlantis, ja, wie alle Utopien. Auf der Suche nach ihr, in der ich mein Glück vermeinte, missachtete ich die anderen Pilze, den weiteren Wald, ich stapfte pausenlos hin und her, drehte mich im Kreis wie die Israeliten auf der Suche nach dem Gelobten Land – der Krausen Glucke war das alles egal. Meine Glückssuche endete gar in einer Verirrung, sodass ich am Ende auf einer wildfremden Straße herauskam und von den anderen Mitsuchern weit und breit nichts mehr zu hören war. Es tauchte schon ein Forsthaus auf, Holzwege ohnehin, dann Autos, andere, fremde Pilzsucher, und nur mit großer Mühe gelang es mir, und mit Verspätung, die Familie wieder zu finden.
Mir wurde klar, dass man Glück haben kann, auch wenn es nur ein kleinerer Teil davon ist, dass man aber das große Glück, das krause Gluck, nicht erzwingen kann. Versucht man dies, so wie es mit vielen Utopien der Fall war und ist, macht man sich zum Tölpel; ungläubig schaut man zu, wie der Mensch sich wieder einmal über das Ohr haut.
Gestern Abend, nach einem wunderbaren Sommerregen, der die Wege in Archipele verwandelte und die Wiesen wässerte, wie es nur ein gewissenhafter Gärtner macht, als die warme Feuchtigkeit den Duft des Heus und der Kräuter versprühte, da sah ich herrliche Pfützen aufblitzen. Und ich erinnerte mich daran, dass mir einst ein Freund, als wir etwas über Pfützen bei Chesterton lasen, verriet, er plane einen Artikel über Pfützen in der Literatur. Das ist nun schon fünfzehn Jahre her und nichts ist bislang geschehen. Der Plan war lobenswert wie eine Pfütze und musste daher ebenso schnell verschwinden.
Nicht anders werde ich es halten können, denn allzu schnell verschwindet eben das, was ich so ausführlich beschreiben wollte. Eine Nacht, ein paar Sonnenstrahlen, und alles löst sich auf in den Kreislauf aller Dinge. Die Pfütze ist demnach flüchtig. Man stellt ihr keine Wegweiser hin, man gibt ihr keine Namen, man unternimmt keine Ausflüge zu ihr, außer es handelt sich um jene großen Pfützen, die wir See nennen. Die werden allerdings von unterirdischen Zuläufen gespeist. Unsere Lieschen-Müller- und Otto-Normalverbraucher-Pfützen verabschieden sich dagegen, sobald das Wetter umschlägt. Sie sind etwas wankelmütig und verstehen sich als Kleinstgewässer. Es liegt viel Bescheidenheit in ihnen. Sie wollen nicht konkurrieren mit Tümpel, Teich oder Weiher, gar mit Talsperre, See oder Nildelta. Wer sich ihnen als Kleinstwesen nähert, weiß jedoch, wie viel sie mit den Großen gemeinsam haben. Sie bilden ein eigenes Mikroklima, sie dichten sich durch Tonteile nach unten hin ab und wirken auf ihre nächste Umgebung durch Spritzer und Kanäle.
Der Engländer Luke Howard gab den Wolken eine Klassifikation, die Goethe wiederum zu Gedichten verleitete. Wer wird den Pfützen eine solche Aufmerksamkeit gewähren? Ich bin mir sicher, man kann in ihnen ebenso den Cirrus entdecken als Federpfütze, wie auch den Stratus als Schichtpfütze, den Cumulus als Haufenpfütze und den Nimbus als Regenpfütze.
Für viele sind Pfützen jedoch nur ein Hindernis. Man beschmutzt sich und Wagen versinken in ihnen; der Legende nach auch Menschen. In einem englischen Reim verschwand ein Doktor Foster zur Hälfte in einer Pfütze, nicht weit von Gloucester.
Ein guter Teil der Zivilisation bestand und besteht darin, Pfützen zu vermeiden oder auszumerzen. Das begann schon im 16. Jahrhundert, als der englische Pirat, Spion, Dichter und Entdecker Sir Walter Raleigh der Königin Elisabeth I. seinen Mantel über eine Pfütze ausbreitete, damit sie trockenen Fußes darüber gehen könne. Ein Mantel dürfte im Übrigen ein gutes durchschnittliches Maß für eine Pfütze darstellen. Pfützen sind ja durchaus wie liegengebliebene Mäntel, die keiner haben will, das Wetter hat sie irgendwo hingeworfen. Sie sind schmuddelig und nass und taugen nicht einmal für die Altkleidersammlung. Dafür haben sie die Fähigkeit, mit der Landschaft zu verschmelzen. Es macht sie den Geistern verwandt, die als Nebel zwischen den Bäumen hängen und verschwinden, sobald man näher hinschaut. Nein, Grabsteine sind sie nicht, hier will sich niemand verewigen oder andere an ihn denken lassen. Vielmehr sind sie Wunder der Camouflage und Mimikry. In den Städten passen sie sich den Läufen des Asphalts an, sie suchen Schlaglöcher auf und bilden Sekundenseen nach einem Platzregen.
Da sie sich so gut zu tarnen wissen, trauen wir ihnen nicht. Wo die Erwachsenen Misstrauen hegen, liegt meist etwas vor, das uns als Kinder erregte und hellhörig machte. Während die Eltern sich nach dem Wolkenbruch um Dächer, Fenster und Blumen sorgten, stürzten die Kinder in die Welt der Pfützen, die sich so plötzlich gebildet hatte. So wünschte man sich begeisterte Gedichtleser, die sich auf die Worte stürzen, welche die Dichter ihnen bereitet haben. Und sind Pfützen nicht Gedichte? Verdichtung und Evaporation in einem? Hier und da hingeworfene Wortlachen, über die wir hinwegspringen, und wenn wir in sie hineinstolpern, umso besser! Manche hängen mit anderen zusammen, die meisten sind für sich und warten auf den nächsten Reinfall. Wie Gedichte neigen sie dazu, vergessen zu werden, und erst beim nächsten großen Regen wird man sich ihrer erinnern.
Dass Kinder Pfützen mögen, wusste auch der Autor der Geschichten um Doktor Dolittle, der mit den Tieren sprechen konnte. Sein Dorf heißt Puddleby-on-the-Marsh, Pfützingen-in-der-Marsch. Pfützen stellen wenig moralische Ansprüche, sie erziehen nur insofern, als man sich mit ihnen arrangieren muss. Sie fordern den Sinn für Geometrie und Entfernungen ebenso heraus, wie sie die falsche Einschätzung mit einer nassen Überraschung belohnen. Im Herbst erinnern sie spritzend und plätschernd an die Freuden des Sommers. Sie bleiben nur kurz; wollen sie überhaupt bleiben? Sind sie nicht der Inbegriff von Sterblichkeit? Sie stören reibungsloses Fahren und Gehen und sind daher schon immer ein Dorn im Auge des Menschen. Mit Kies und Sand, Asphalt und Teer werden sie eingeebnet. Wo die Erde zusehends versiegelt wird, gibt es immer weniger Pfützen. Und das ist schade. Denn sie bringen den Himmel auf die Erde herab, in ihnen leuchten die Wolken wie die Sonne und der nächtliche Mond. Wir schauen vor unsere Füße und sehen, dass wir eigentlich immer schon im Himmel sind. Es ist kein Wunder, dass der oben erwähnte Chesterton sich auch mit Pfützen befasste. In seinem Roman Manalive (Menschenskind!