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Sandra Brown

Kalter Kuss

Thriller

Deutsch von Christoph Göhler

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»Low Pressure« bei Grand Central Publishing, New York.

Copyright © der Originalausgabe 2012
by Sandra Brown Management, Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de,
unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/Anja Weber-Decker
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15148-5
V003

www.blanvalet.de

Für Mary Lynn und Len Baxter
in immerwährender Dankbarkeit für euer Vertrauen in mich,
eure fortwährende Freundschaft und eure bedingungslose Liebe.

A.K.A.

Prolog

Die Ratte war tot, aber deshalb nicht weniger gruselig, als wenn sie lebendig gewesen wäre.

Bellamy Price presste beide Hände auf den Mund, um ihren Aufschrei zu ersticken, und wich ängstlich von dem Geschenkkarton zurück, der in Hochglanzpapier mit Satinschleife verpackt gewesen war. Das Tier lag, den langen rosa Schwanz um den fetten Leib geschmiegt, auf einem Bett aus silbern glänzendem Seidenpapier.

Schließlich stieß Bellamy mit dem Rücken gegen die Wand und rutschte daran nach unten, bis ihr Hintern auf dem Boden aufkam. Sie sackte vornüber, löste die Hände von ihrem Mund und schlug sie vor die Augen. Doch sie war so gelähmt vor Angst, dass sie nicht einmal weinen konnte. Das Schluchzen klang trocken und heiser.

Wer würde ihr einen so gemeinen Streich spielen? Wer? Und warum?

Wie im Schnelldurchlauf spulte ihr Gehirn die Ereignisse des vergangenen Tages ab.

»Sie waren der Wahnsinn!«

»Danke.« Bellamy bemühte sich, sich nicht von der im Stechschritt marschierenden PR-Agentin des Verlages abhängen zu lassen, die ein Tempo vorlegte, als hätte sie ihre Frühstücksflocken mit Speed gezuckert.

»Die Sendung ist um diese Uhrzeit die Nummer eins.« Ihr maschinengewehrschnelles Mundwerk hielt mühelos mit dem Stakkato ihrer High Heels mit. »Sie liegen meilenweit vor allen anderen Kanälen. Wir reden hier von über fünf Millionen Zuschauern. Und einer Superquote landesweit.«

Dabei hatte Bellamy genau das vermeiden wollen. Trotzdem sparte sie sich die Mühe, das klarzustellen. Schon wieder. Zum x-ten Mal. Weder die Presseagentin noch ihr Agent Dexter Gray konnten verstehen, warum sie die Publicity ausschließlich auf ihren Bestsellerroman und nicht auf sich selbst richten wollte.

Die rechte Hand fest um ihren Ellbogen geschlossen, führte Dexter sie durch die Marmorlobby des New Yorker Wolkenkratzers. »Du warst fantastisch. Makellos, aber warmherzig. Menschlich. Wahrscheinlich hast du mit diesem einen Interview tausend Exemplare von Kalter Kuss verkauft, und allein darum geht es.« Er führte sie in Richtung Ausgang, wo sich der uniformierte Portier an den Mützenschirm tippte, als Bellamy an ihm vorbeiging.

»Ihr Buch hat mich nächtelang wachgehalten, Miss Price.«

Sie hatte kaum Zeit, ihm zu danken, bevor sie durch die Drehtür geschoben wurde und sich draußen auf der Plaza wiederfand. Jubel brandete unter den Zuschauern auf, die sich versammelt hatten, um einen Blick auf die morgendlichen Studiogäste zu erhaschen, wenn sie das Fernsehstudio betraten oder verließen.

Die PR-Agentin war ganz aus dem Häuschen. »Dexter, Sie helfen ihr bei den Leuten hier. Ich hole einen Fotografen. Daraus lässt sich fernsehmäßig noch mehr machen.«

Dexter, der den Unwillen seiner Klientin spürte, stellte sich auf die Zehenspitzen und sprach direkt in Bellamys Ohr, um gegen den Krach der vormittäglichen Rushhour in Midtown Manhattan durchzudringen. »Du solltest die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Bücher signieren. Die meisten Autoren arbeiten ihr ganzes Leben für so was …«

»Und werden doch nie so von der Presse umworben«, beendete sie den Satz für ihn. »Tausende von Autoren würden ihren rechten Arm für so einen Augenblick geben. Das hast du mir schon erklärt. Wiederholt.«

»Und ich kann es nur immer wiederholen.« Er tätschelte ihren Arm, während er sie auf die Wartenden zuführte, die gegen die Barrikaden drängten. »Lächeln. Dein bewunderndes Publikum erwartet dich.«

Leser, die im Handumdrehen zu Fans geworden waren, bettelten lärmend darum, ihr die Hand schütteln zu dürfen und ihre Ausgaben von Kalter Kuss signiert zu bekommen. So liebenswürdig wie nur möglich dankte sie ihnen und lächelte in die Handykameras.

Während ihre Hand noch von einem enthusiastischen Fan auf und ab gepumpt wurde, bemerkte sie aus dem Augenwinkel Rocky Van Durbin. Der Reporter für das Boulevardblatt EyeSpy stand leicht abseits der Menge und erteilte dem Fotografen an seiner Seite mit einem selbstgefälligen Lächeln Anweisungen.

Van Durbin war es gewesen, der sie enttarnt und mit hämischer Freude enthüllt hatte, dass sich hinter der Autorin T. J. David, die mit ihrem ersten Buch in der literarischen Welt wie auch in Hollywood Aufsehen erregt hatte, in Wahrheit Bellamy Price verbarg, eine attraktive dreißigjährige Frau:

»Warum die gebürtige Texanerin – blauäugig, langbeinig und kurvenreich, und möchten wir sie nicht genau so haben? – sich hinter einem unverfänglichen Pseudonym verbergen wollte, bleibt unerfindlich. Aber trotz dieser koketten Geheimniskrämerei ist Kalter Kuss an die Spitze der Bestsellerlisten geschossen, und seither hat Miss Price offenkundig beschlossen, das Versteckspiel aufzugeben und ihre Prominenz zu genießen. Sie hat Sporen und Hut ablegt, Texas den Rücken gekehrt und residiert inzwischen in einem Penthouse an der Upper West Side mit Blick auf den Central Park, wo sie in ihrem unerwarteten Ruhm badet.«

Das meiste davon war frei erfunden und gerade so dicht mit Halbwahrheiten durchwebt, dass es nicht als üble Nachrede bezeichnet werden konnte. Bellamy hatte tatsächlich blaue Augen, aber sie war nicht besonders langbeinig, wie die Beschreibung vermuten ließ, sondern durchschnittlich groß. Und als kurvenreich konnte man ihren Körper ganz bestimmt nicht bezeichnen.

Einen Cowboyhut hatte sie wirklich, aber sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr aufgesetzt. Und nicht genug, dass sie keine Sporen besaß, sie kannte auch niemanden, der welche gehabt hätte. Außerdem war sie nicht aus ihrem Heimatstaat geflüchtet, wie Van Durbin andeutete, sondern schon vor mehreren Jahren und damit lange vor der Veröffentlichung ihres Buches nach New York gezogen. Sie lebte tatsächlich an der Upper West Side gegenüber dem Park, aber nicht in einem Penthouse.

Aber die ungeheuerlichste Falschinformation war Van Durbins Behauptung, sie würde ihren Ruhm genießen, der sie, wie sie empfand, eher ins grelle Scheinwerferlicht rückte, als mit mildem Glanz umgab. Und dieses Scheinwerferlicht war noch gleißender geworden, seit Van Durbin einen zweiten, auf der Titelseite abgedruckten Artikel verfasst hatte, in dem er eine weitere verblüffende Tatsache enthüllt hatte.

Kalter Kuss war zwar als Roman veröffentlicht worden, doch es handelte sich dabei um eine wahre Geschichte. Ihre wahre Geschichte. Ihre wahre, tragische Familiengeschichte.

Diese Enthüllung hatte sie in Lichtgeschwindigkeit in eine völlig neue Dimension des Ruhmes befördert. Wovor es ihr graute. Sie hatte Kalter Kuss nicht geschrieben, weil sie reich und berühmt werden wollte. Das Schreiben war ein therapeutischer Akt gewesen.

Natürlich hatte sie gehofft, dass der Roman verlegt, gelesen und von Kritikern und Lesern wohlwollend aufgenommen würde, aber sie hatte ihn extra unter einem geschlechtsneutralen Pseudonym veröffentlicht, um genau dieses Rampenlicht zu meiden, in dem sie sich jetzt wiederfand.

Kalter Kuss war schon vor dem Erstverkaufstag mit Spannung erwartet worden. Weil der Verlag von Anfang an an den Titel geglaubt hatte, hatte man viel Geld in die Werbung gesteckt und in allen größeren Städten Plakatwerbung geschaltet, begleitet von Anzeigen in Zeitschriften, Zeitungen und im Internet. Schon Monate vor der Veröffentlichung wurde in allen sozialen Netzwerken über den Roman diskutiert. Die Kritiken waren hymnisch. T. J. David wurde mit den besten Autoren im Belletristik- wie im Sachbuchbereich verglichen. Geschützt durch ihr Pseudonym, hatte Bellamy den Erfolg des Buches miterlebt.

Doch seit Rocky Van Durbin den Geist aus der Flasche gelassen hatte, war er nicht wieder einzufangen. Wahrscheinlich waren ihr Verleger und Dexter und jeder andere, der vom Verkaufserlös profitierte, insgeheim überglücklich, dass ihre Identität und der biografische Hintergrund des Romans gelüftet worden waren.

Damit hatten sie nicht nur ein Buch, das sie promoten konnten, sondern auch ein Gesicht, das sie »den Traum jedes PR-Agenten« getauft hatten.

Ihrer Beschreibung nach war sie attraktiv, gebildet, höflich und gewandt, nicht so jung, als dass man sie für oberflächlich gehalten hätte, aber auch nicht so alt, dass sie langweilig gewesen wäre, eine zur Bestsellerautorin gewordene Erbin aus gutem Hause. Es gab bei ihr unzählige »Anker«, an denen sich eine Story festmachen ließ, und der wichtigste davon war wohl ihr ursprünglicher Wunsch, anonym zu bleiben. Ihr Versuch, sich hinter einem falschen Namen zu verstecken, hatte sie letzten Endes noch interessanter gemacht. Rocky Van Durbin genoss den Medienrummel um sie, den er selbst angeheizt hatte, und fütterte, als könnte er nicht genug von ihr bekommen, täglich die unersättliche Neugier des Publikums mit winzigen Informationshäppchen, die entweder schlicht unwahr, rein spekulativ oder grotesk übertrieben waren.

Sie gab weiter Autogramme und ließ sich mit ihren Fans fotografieren, als hätte sie ihn nicht gesehen, aber das half ihr nicht. Rücksichtslos schob er sich durch die Menge auf sie zu. Dexter hatte ihn bemerkt und warnte sie flüsternd: »Lass dich nicht von ihm aus dem Konzept bringen. Die Leute sehen dir zu. Nichts würde ihm besser gefallen, als dich zu einer Bemerkung zu verleiten, die er dann aus dem Zusammenhang reißen und irgendwo zitieren kann.«

Als ihr der sogenannte Journalist Auge in Auge gegenüberstand und sie ihn unmöglich noch länger ignorieren konnte, lächelte er sie mit schiefen gelben Zähnen an, die er in ihrer Fantasie jeden Morgen frisch anspitzte, um sein Wolfslächeln zu schärfen.

Nach einer ausgiebigen Inspektion fragte er: »Haben Sie abgenommen, Miss Price? Mir ist aufgefallen, dass Sie dünner aussehen.«

Vor ein paar Wochen hatte er sich noch über ihre kurvenreiche Figur ausgelassen. Morgen würde sie an einer Essstörung leiden.

Ohne seine hinterhältige Frage auch nur zur Kenntnis zu nehmen, unterhielt sich Bellamy weiter mit einer Frau in einem Ohio-State-Sweatshirt, die sich einen Freiheitsstatuen-Reif aus grünem Schaumgummi in die Haare gesteckt hatte. »Wir lesen Ihr Buch gerade in unserem Buchclub«, erklärte ihr die Frau, während sie gemeinsam für einen Schnappschuss posierten, den ihr nicht minder begeisterter Ehemann schoss.

»Das freut mich außerordentlich.«

»Die anderen werden mir nicht glauben, dass ich Ihnen wirklich begegnet bin!«

Bellamy dankte ihr noch einmal und ging langsam weiter. Van Durbin hielt unbeirrt mit ihr Schritt und kritzelte dabei wie wild in sein kleines Notizbuch. Dann schob er sich zwischen sie und den nächsten wartenden Fan und fragte: »Wen sehen Sie bei der Verfilmung in den Hauptrollen, Miss Price?«

»Da sehe ich niemanden. Ich bin nicht im Filmgeschäft.«

»Sie werden es aber bald sein. Es weiß doch jeder, dass die Filmproduzenten Schlange stehen, um Sie für eine Option auf Kalter Kuss mit Geld zu überschütten. Wie man hört, haben schon einige prominente Schauspieler und Schauspielerinnen ihren Namen in den Ring geworfen. Noch nie waren die Besetzungscouches so durchgelegen.«

Sie warf ihm einen angewiderten Blick zu.

»Keine Meinung zu diesem Thema?«

»Gar keine«, sagte sie mit Nachdruck, um alle Nachfragen zu unterbinden. Genau in diesem Moment zwängte sich ein weiterer Mann zwischen zwei jungen Frauen durch und streckte ihr ein Exemplar ihres Buches entgegen. Bellamy erkannte ihn auf den ersten Blick. »Aber hallo, ähm …«

»Jerry«, ergänzte er mit breitem Lächeln.

»Jerry, genau.« Er hatte ein offenes, freundliches Gesicht und dünnes Haar. Er war schon zu mehreren Autogrammstunden gekommen, und bei einer Lesung in einer Buchhandlung auf dem Campus der NYU hatte sie ihn ebenfalls bemerkt. »Danke, dass Sie heute Morgen hergekommen sind.«

»Ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen, Sie zu sehen.«

Sie signierte mit ihrem Namen auf dem aufgeschlagenen Titelblatt. »Und wie viele Exemplare haben Sie inzwischen gekauft, Jerry?«

Er lachte. »Ich lege mir einen Vorrat an Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken zu.«

Vermutlich sonnte er sich außerdem gern im Abglanz irgendwelcher Stars. »Also, vielen Dank, auch im Namen meines Verlegers.«

Sie ging weiter, doch während Jerry wieder im Gedränge verschwand, schubste Van Durbin rücksichtslos die Wartenden beiseite, um mit ihr auf einer Höhe zu bleiben. Seiner Frage nach einer möglichen Buchverfilmung konnte sie genauso wenig entkommen.

»Kommen Sie, Miss Price. Geben Sie meinen Lesern wenigstens einen winzigen Hinweis darauf, wen Sie sich in den Hauptrollen vorstellen könnten. Wen sehen Sie in den Rollen der Familienmitglieder?« Er beugte sich zwinkernd vor und setzte leise nach: »Und wer könnte den Killer spielen?«

Sie strafte ihn mit einem scharfen Blick.

Grinsend drehte er sich zu seinem Fotografen um. »Ich hoffe, du hast das drauf.«

Der restliche Tag verlief nicht weniger hektisch.

Sie hatte mit Dexter an einer Verlagskonferenz teilgenommen, bei der über den Veröffentlichungstermin der Paperback-Ausgabe von Kalter Kuss entschieden werden sollte. Nach langem Meinungsaustausch wurde beschlossen, dass weitere Ausgaben frühestens in sechs Monaten erscheinen sollten, nachdem sich der Titel im Hardcover und als E-Book so gut verkaufte.

Von der Konferenz aus waren sie direkt zu einem Mittagessen mit einem Filmproduzenten gefahren. Nachdem sie in dessen Hotelsuite ungestört Hummersalat und geeisten Spargel gespeist hatten, hatte er ernsthaftes Interesse an der Verfilmung ihres Romans geäußert und ihr garantiert, dass er das Buch möglichst werkgetreu verfilmen lassen würde, falls sie ihm die Rechte verkaufte.

Nachdem sie das Hotel verlassen hatten, meinte Dexter im Scherz: »Dein Freund Van Durbin wäre bestimmt hellauf begeistert, wenn er von diesem Treffen wüsste.«

»Er ist nicht mein Freund. Eigentlich hätte die wahre Identität von T. J. David ein Geheimnis bleiben sollen. Wen hat Van Durbin eigentlich bestochen, um an meinen Namen zu kommen?«

»Vielleicht einen Verlagspraktikanten oder eine Assistentin irgendwo in der Vertragsabteilung. Es hätte jeder sein können.«

»Auch jemand in deiner Agentur?«

Er tätschelte ihre Hand. »Das werden wir wohl nie erfahren. Was tut es auch noch zur Sache, wer es war?«

Sie seufzte resigniert. »Nichts. Der Schaden ist schon angerichtet.«

Er lachte. »Wobei es Auffassungssache ist, ob das wirklich ein ›Schaden‹ war.«

Als Dexter sie vor ihrem Wohnhaus abgesetzt hatte, hatte er sie noch gewarnt: »Morgen steht uns wieder ein turbulenter Tag bevor. Ruh dich heute Abend aus. Morgen früh um sieben hole ich dich ab.«

Sie hatte ihm versprochen, bald ins Bett zu gehen, und ihm dann kurz nachgewunken, bevor sie in die Lobby ihres Apartmenthauses getreten war. Der Portier hatte ihr vom Empfang aus zugerufen: »Da hat jemand ein Paket für Sie abgegeben.«

Es hatte so unschuldig ausgesehen, als sie es zusammen mit einem Stapel Briefen auf ihrem Esstisch abgestellt hatte. Der Karton war mit durchsichtigem Klebeband versiegelt gewesen. Ihr war aufgefallen, dass auf dem Adressaufkleber ihr Name und ihre Adresse, aber keine Angaben über den Absender standen. Das war zwar eigenartig, dennoch hatte sie sich nichts weiter gedacht, als sie das Klebeband aufgetrennt, die Laschen zurückgeklappt und die kleine, als Geschenk verpackte Schachtel herausgehoben hatte.

Nichts hätte sie auf die grässliche Überraschung vorbereiten können, die sie darin erwartete.

Jetzt saß sie auf dem Boden, den Rücken an die Wand gepresst, und senkte langsam die Hände von den Augen, um auf die Schachtel zu starren, aus der oben das Seidenpapier quoll. Dass die festliche Verpackung so gar nicht zu dem Inhalt passte, war bestimmt als Witz gemeint.

Ein Witz? Nein. Das hier war ganz und gar nicht komisch. Sondern bösartig.

Trotzdem wollte ihr niemand einfallen, den sie beleidigt hätte oder der sie derart hassen könnte. Würde Rocky Van Durbin, der mit zweitem Namen bestimmt Schmierfink hieß, sich zu einem so gemeinen, niederträchtigen Akt hinreißen lassen, ihr eine tote Ratte zu schicken?

Langsam schob sie sich mit dem Rücken an der Wand hoch, um beim Aufstehen nicht ins Straucheln zu kommen. Im Stehen konnte sie die Ratte in ihrem Nest aus Glanzpapier liegen sehen. Sie bemühte sich, alle Gefühle auszuschalten, damit sie das Tier überhaupt ansehen konnte. Aber sosehr sie den Kadaver auch objektiv zu betrachten versuchte, der Anblick war so grotesk, dass jedes einzelne Detail umso deutlicher herausstach.

Sie schluckte die Magensäure hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg, strich die Gänsehaut auf ihren Armen glatt und sammelte ihre ganze Willenskraft. Schließlich war das nur ein totes Nagetier. In den U-Bahnhöfen wimmelte es nur so von Ratten. Sie hätte nie so schockiert reagiert, hätte sie so ein Tier über die Gleise laufen sehen.

Sie würde einfach den Deckel wieder auf die Schachtel setzen und sie dann zum Müllschlucker am anderen Ende des Hausgangs tragen. Dann wäre sie das Tier los; statt sich von dem geistlosen Witzbold kopfscheu machen zu lassen, würde sie die ganze Episode vergessen und einfach weiter ihren Geschäften nachgehen.

Innerlich gestählt, setzte sie entschlossen einen Fuß vor den anderen, bis sie wieder am Tisch stand.

Und in diesem Moment zuckte die Ratte mit dem Schwanz.

1

Knurrend griff Dent nach dem Telefon: »Was ist?«

»Du liegst noch in der Falle?«

»Wie spät ist es?«

»Du hörst dich betrunken an.«

»Muss ich denn nüchtern sein?«

»Wenn du den Job willst, schon.«

»Heute?«

»Sobald du hier sein kannst.«

»Ich hab befürchtet, dass du das sagen würdest. Lohnt sich der Aufwand überhaupt?«

»Seit wann kannst du es dir leisten, eine Tour abzulehnen?«

»Okay, okay. Wie viel?«

»Zweitausend hin und zurück.«

»Wohin?«

»Houston Hobby.«

»Über Nacht?«

»Nein.«

Dent setzte sich auf, schwang die Füße auf den Boden und versuchte festzustellen, wie nüchtern er war. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und ließ dann die Hand flach auf dem umnebelten Schädel liegen. »Zweifünf plus Treibstoffkosten.«

»Der Typ ist krank. Er muss zur Chemo ins Krankenhaus von Anderson.«

»Zweitausendfünfhundert plus Treibstoffkosten.«

Ein unverständliches Brummeln, in dem nur das Wort »gierig« zu verstehen war, dann: »Ich glaube, das lässt sich machen.«

»Tu das, und die Sache ist geritzt. Wie ist das Wetter so?«

»Heiß, schwül, Texas im Mai.«

»Niederschlag?«

»Möglicherweise vereinzelte Gewitter am späten Abend. Nichts, was sich nicht umgehen ließe, nichts wirklich Wildes.« Nach kurzem Zögern: »Und du kannst wirklich fliegen?«

»Tank die Maschine auf.«

Auf dem Weg zum Bad verhakte er sich mit dem nackten Fuß im Kabel der Schwanenhalslampe und riss sie vom Nachttisch. Sie landete klappernd auf dem Boden, aber wenigstens blieb die Birne heil. Er kickte die Lampe und einen Haufen schmutziger Kleidungsstücke beiseite und taumelte weiter ins Bad, wo er das kalte grelle Licht verfluchte, kaum dass er es eingeschaltet hatte.

Er rasierte sich nach Gefühl unter der Dusche, beugte sich beim Zähneputzen tief über das Waschbecken und beschloss, die Haare in der Luft trocknen zu lassen, statt sie zu föhnen. Diese Art der Körperpflege brachte einige Unannehmlichkeiten mit sich, aber alles war besser, als in den Spiegel zu schauen.

Ins Schlafzimmer zurückgekehrt, legte er seine Pilotenuniform an: Jeans, weißes Leinenhemd, schwarze Krawatte, locker unter dem offenen obersten Hemdknopf geknotet. Er rammte die Füße in die Stiefel und nahm Brieftasche, Schlüssel und Pilotenbrille vom Nachttisch. In der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu der nackten Frau in seinem Bett um. Sie – ihr Name wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen – war immer noch mehr oder weniger bewusstlos. Er spielte mit dem Gedanken, ihr einen Zettel zu schreiben und sie zu bitten, die Tür abzuschließen, wenn sie die Wohnung verließ.

Dann tasteten seine blutunterlaufenen Augen die Räumlichkeiten ab, und er dachte sich: Wozu? Hier gab es nichts, was ein Dieb stehlen wollte.

Die morgendliche Stoßzeit war vorbei und der Verkehr halbwegs flüssig. Das einzige Überbleibsel aus Dents früherem Leben war rot und mit einem getunten 530-PS-Motor mit Sechsganggetriebe, langen Fächerkrümmern sowie einem Corsa-Titanauspuff ausgestattet. Auf jedem freien Straßenabschnitt jagte er die Corvette auf über 130 Stundenkilometer hoch und die Stadtgrenzen von Austin hinaus, bis er den kleinen Privatflugplatz erreicht hatte.

Er hätte seine Maschine auf einem schickeren Flugplatz mit einem richtigen Tower unterbringen können, aber er hatte moralische Verpflichtungen. Außerdem passte ihm der Platz ganz gut.

Die Maschine stand bereits auf dem Vorfeld, vor einem einsamen Wellblech-Hangar. Der Platz hatte schon bessere Tage gesehen. Vor gut zwanzig Jahren zum Beispiel, als Dent zum ersten Mal hier aufgetaucht war.

Rund um die Fundamente der rostigen Wände des Hangars wucherte ein fransiger Saum aus wilder Mohrenhirse. Der ausgebleichte orangerote Windsack war der einzige, den Dent je hier gesehen hatte, und wahrscheinlich noch derselbe, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Mast gezogen worden war.

Im Hintergrund stand, wie ein Fremdkörper inmitten des heruntergekommenen Ambientes, das von Galls verbeultem Pick-up vervollständigt wurde, ein glänzend schwarzer Cadillac Escalade mit dunkel getönten Fenstern.

Dent fuhr die Corvette in den Hangar, brachte sie mit quietschenden Reifen zum Stehen, stellte den Motor ab und stieg aus. Gall saß hinter dem mit Papieren überhäuften Schreibtisch in seinem Büro, das aus einer trüben Glaswand mit Blick auf den Rest des Hangars und drei weiteren Wänden aus unlackierten, untapezierten Gipskartonplatten bestand. Das Geviert war keine zehn Quadratmeter groß und platzte aus allen Nähten.

Landkarten, Diagramme, topografische Karten und vergilbte Zeitungsartikel aus dem Bereich der Luftfahrt hingen an den mit Reißzweckenlöchern perforierten Wänden. Uralte Flugzeugzeitschriften mit welligen Titelblättern stapelten sich auf jeder freien Fläche. Auf einem rostigen, verbeulten Aktenschrank hockte ein ausgestopfter Waschbär mit Spinnweben über den Glasaugen und räudigem Fell. Der darüberhängende Kalender stammte aus dem Jahr 1978 und zeigte Miss März, die nichts als ein einladendes Lächeln und einen geschickt platzierten Schmetterling trug.

Sobald Dent eintrat, stand Gall auf. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, nahm er Dent ausgiebig in Augenschein, grunzte dann in unverhohlenem Missfallen und rollte die nicht angezündete Zigarre vom einen tabakfleckigen Mundwinkel in den anderen. »Du siehst aus wie frisch aus dem Gully.«

»Hast du mein Geld?«

»Klar.«

»Dann spar dir die Beleidigungen und lass uns zur Sache kommen.«

»Nicht so schnell, Meister. Ich habe diesen Flug ausgehandelt und bin daher für die Sicherheit der drei Passagiere verantwortlich.«

»Ich kann die verfluchte Kiste fliegen.«

Die barsche Erwiderung machte keinen Eindruck auf Gall Hathaway. Gall war der einzige Mensch, vor dem sich Dent überhaupt rechtfertigte, weil Galls Meinung die einzige war, die für ihn zählte. Der alte Mann nagelte ihn mit einem finsteren Blick fest, und er gab klein bei.

»Komm schon, Gall. Würde ich fliegen, wenn ich nicht flugtauglich wäre?«

Gall zögerte ein paar Sekunden, dann zupfte er einen zusammengefalteten Scheck aus der Tasche seines ölfleckigen Overalls und reichte ihn Dent.

»Ein Scheck?«

»Er ist gedeckt. Ich hab schon bei der Bank in Georgetown angerufen.«

Dent faltete den Scheck auf und kontrollierte, dass er unterschrieben, über einen Betrag von zweitausendfünfhundert Dollar und auf ihn ausgestellt war. Alles schien seine Ordnung zu haben. Er steckte den Scheck in seine Brieftasche.

»Ich hab sie mit dreihundertfünfzig Litern aufgetankt«, erklärte Gall ihm. »Den Treibstoff zahlt sie, wenn ihr wieder hier seid.«

Dent sah Gall scharf an.

»Ich traue ihr. Außerdem hat sie mir zur Sicherheit ihre Kreditkarte dagelassen.« Gall zog die mittlere Schublade des Metallschreibtisches auf. Darin lagen Bleistiftstummel, verbogene Briefklammern, verwaiste Schlüssel, ein Filzstift mit aufgespreizter Spitze und eine Platincard von American Express. »Sie hat mir versichert, dass sie gültig ist. Ich hab’s trotzdem überprüft. Sie ist gültig. Noch zwei Jahre. Auf welchem Flugplatz willst du landen? Das überlässt sie dir.«

Dent nannte den, der ihm am liebsten war.

»Weil da das Kerosin am billigsten ist?«, fragte Gall.

»Weil sie da das beste Popcorn haben. Wie kommen sie von dort weiter?«

»Sie hat mich gebeten, eine Limousine zu bestellen, die sie abholt. Ist so gut wie erledigt.«

»Sie warten in dem Escalade?«

»Sie hat gemeint, im Hangar sei es zu heiß und stickig.«

»Sie scheint eindeutig das Sagen zu haben.«

»Könnte man wohl so sagen.« Plötzlich konnte ihm Gall kaum in die Augen sehen. »Der alte Herr ist grässlich krank. Sei nett zu ihnen.«

»Ich bin immer nett.«

Gall schnaubte. »Vergiss nur nicht, dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schaut.«

»Sonst noch was, Mama?« Gall knurrte und wollte etwas sagen, aber Dent kam ihm mit seiner Frage nach dem Kaffee zuvor: »Ist der noch heiß?«

»Ist er das nicht immer?«

»Sag ihnen, ich brauche noch zwanzig Minuten, dann können wir los. Wenn sie noch irgendwas erledigen müssen, aufs Klo gehen, was weiß ich …«

»Ich weiß selbst, wie’s läuft.« Gall murmelte etwas, das Dent nicht verstand, was höchstwahrscheinlich kein Schaden war, dann ermahnte er ihn: »Du solltest dir noch was von diesem Zauberzeugs in die Augen spritzen, bevor du sie begrüßt. Deine Augäpfel sehen aus wie Straßenkarten.«

Dent kehrte in den eigentlichen Hangar zurück und setzte sich an den Tisch mit dem Computer, der mit seiner Lieblings-Wetter-Website verbunden war. Im Moment war der Himmel klar, trotzdem notierte er die Gewitterwarnungen für den Abend.

Er war schon unzählige Male von hier nach Houston Hobby geflogen. Dennoch überprüfte er noch einmal alle Informationen, die er für den eigentlichen Flug sowie für den Zielflugplatz benötigte. Natürlich hatte er ein Navigationsgerät im Cockpit. Das Airport Facilities Directory – ein Flugplatzverzeichnis für jeden Bundesstaat – war zusammen mit den Daten des Zielflugplatzes auf seinem iPad gespeichert, damit er vom Cockpit aus darauf zugreifen konnte. Trotzdem druckte er grundsätzlich sicherheitshalber alle Informationen über die Startbedingungen, den Zielflugplatz und einen Ausweichflugplatz aus. Zuletzt telefonierte er noch mit dem Kontrollzentrum und meldete seinen Flugplan an.

Draußen absolvierte er den Vorflugcheck an seinem Flugzeug, auch wenn er genau wusste, dass Gall ihn bereits vorgenommen hatte. Unter den Tragflächen ließ er aus fünf verschiedenen Auslässen Kerosin ab, und er prüfte die Glasröhre, um sich zu überzeugen, dass sich in den Tanks kein Wasser angesammelt hatte. Es war eine zeitaufwendige Prozedur, aber er hatte einen Kollegen gekannt, der sie für überflüssig gehalten hatte. Er hatte diese Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlen müssen, war abgestürzt und gestorben.

Zufrieden, dass die Maschine flugbereit war, zeigte er Gall den erhobenen Daumen. »Ich bin so weit, wenn sie es sind.« Er verschwand auf die Toilette, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und spülte drei Aspirin mit den letzten Schlucken seines Kaffees hinunter, der keineswegs so heiß gewesen war, wie Gall behauptet hatte, dafür aber doppelt so stark wie gewöhnlicher Kaffee. Und er setzte, wie von Gall empfohlen, die Augentropfen ein, die das Rot aus den Augäpfeln vertrieben. Die Sonnenbrille setzte er dennoch auf.

Als er aus dem Gebäude trat, warteten seine drei Passagiere bereits Schulter an Schulter auf dem Rollfeld.

Wer der Patient war, war auf den ersten Blick zu erkennen. Der Mann war groß und sah vornehm aus, hatte aber den gelblich grauen Teint eines Krebskranken während der Chemotherapie. Er trug eine lockere Baumwollhose und ein Sportsakko, beides ein paar Nummern zu groß. Eine Baseballkappe bedeckte seinen kahlen Schädel.

In der Mitte des Trios stand eine attraktive Frau, die etwas jünger als der Mann, aber immer noch über sechzig zu sein schien. Etwas an ihr …

Dent kam ins Straucheln und blieb wie erstarrt stehen. Er blickte erneut auf den Mann und versuchte, ihn gesund und kräftig vor sich zu sehen. Heilige Scheiße. Das war Howard Lyston.

Ein Irrtum war ausgeschlossen, denn neben ihm stand seine Frau Olivia, die noch genauso adrett aussah wie in Dents Erinnerung. Sie war eine hübsche Frau, die viel Zeit und Mühe darauf verwandte, es zu bleiben. Sie war immer noch schlank, auch wenn sich ihr Gewicht inzwischen anders verteilte und sich etwas mehr um die Körpermitte konzentrierte. Ihr Haar war ein bisschen dünner. Die Haut um ihren Mund und unter ihrem Kinn war schlaffer als vor fast zwei Jahrzehnten. Aber der überhebliche Blick war geblieben.

Dent starrte die drei ein paar Sekunden an und drehte sich dann zum Hangar um. Gall stand in der offenen Tür zu seinem Büro und beobachtete neugierig, was sich hier draußen abspielte. Unter Dents finsterem Blick schlurfte er in sein Büro zurück und schloss die Tür. Dent hatte ihm noch einiges zu sagen, aber das konnte warten.

Er sah wieder nach vorn und musterte die Lystons voller Verachtung. »Soll das ein Witz sein? Wenn ja, dann kapiere ich ihn nicht.«

Olivia drehte den Kopf und sprach die jüngere Frau auf ihrer anderen Seite an. »Ich habe dir doch gesagt, dass das ein schrecklicher Fehler ist.«

Die jüngere Frau machte zwei Schritte auf ihn zu. »Das ist ganz bestimmt kein Witz. Wir müssen nach Houston.«

»Es führt ein Superhighway von hier nach Houston.«

»So weit kann Daddy nicht fahren.«

»Daddy?«

Sie setzte die große dunkle Sonnenbrille ab, die gut ein Drittel ihres Gesichts verdeckt hatte. »Ich bin Bellamy. Erinnerst du dich nicht?«

Klar, natürlich erinnerte er sich an sie, aber konnte das wirklich Bellamy sein? Susans kleine Schwester? Die jedes Mal abgezischt war wie ein verschrecktes Kätzchen, sobald er in Sichtweite gekommen war. Hager, schlaksig, mit Zahnspange und Pickelgesicht. Das sollte sie sein?

Ihr knochiges Gestell hatte seither an genau den richtigen Stellen weiche Rundungen bekommen. Ihr Gesicht war ebenso makellos wie ihre Zähne. Sie war lässig, aber teuer gekleidet, und er konnte keine gespaltenen Spitzen in dem dunklen, seidigen Pferdeschwanz erkennen, der ihr locker über die Schulter hing. Alles in allem ein wirklich nettes Paket.

Aber so kalt, dass auf ihrem Hintern kein Eiswürfel schmelzen würde.

Sie hatte dieselbe hochnäsige Ausstrahlung wie ihre Eltern. Vor allem Denton Carter gegenüber. Olivia schaute ihn an, als hätte er heute Morgen nicht geduscht. Der alte Mann war entweder zu krank oder zu desinteressiert, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Und obwohl sie nur ein paar Worte gewechselt hatten, ging ihm Bellamys herrischer Tonfall schon jetzt gegen den Strich.

Er würde sich von diesen Leuten nicht verarschen lassen. Nicht noch mal.

»Es gibt einen richtigen Passagierflughafen im Südosten«, sagte er zu Bellamy. »Vielleicht hast du schon mal davon gehört? Mit großen, glänzenden Linienmaschinen? Die lassen sie von da aus mehrmals täglich nach Houston fliegen.«

Sie erwiderte seine sarkastische Empfehlung mit einem nicht minder ätzenden Lächeln. »Vielen Dank für den produktiven Vorschlag. Leider wäre der Sicherheitscheck für Daddy eine Zumutung, von den langen Wegen ganz zu schweigen. Wie ich gehört habe«, dabei sah sie an ihm vorbei zum Hangar, in dem Gall immer noch Verstecken spielte, »hast du ein Flugzeug, das man chartern kann. Ich bin auf deine Konditionen eingegangen und habe im Voraus für deine Dienste bezahlt.«

Es gab keinen Ausweg, er brauchte das Geld.

Für die Lystons waren zweieinhalb Riesen nicht mehr als ein Taschengeld. Für ihn bedeuteten sie Strom, Lebensmittel und eine weitere Rate für sein Flugzeug. Er hätte sich einen Tritt in den Hintern verpassen können, dass er nicht mehr verlangt hatte. Und er würde Gall einen noch schmerzhafteren Tritt verpassen, weil er ihm verschwiegen hatte, wer sein Flugzeug chartern wollte. Was dachte sich der alte Knacker eigentlich dabei, ihn derart ins Messer laufen zu lassen?

Und was dachten sich eigentlich die Lystons dabei? Warum hatten sie ausgerechnet ihn gebucht, obwohl sie sich garantiert jede Charterfirma und jeden Privatjet-Service leisten konnten? Dass sie ihn in ihren Freundeskreis aufnehmen wollten, war eher unwahrscheinlich.

Er wollte ganz sicher nichts mit ihnen zu tun haben.

Aber leider hatte Gall mit seiner Bemerkung über geschenkte Gäule nur zu recht. Wenn sie es in seiner Nähe aushielten, hielt er es auch in ihrer aus. Zum Glück war es nicht weit nach Houston.

Dent wandte sich an Howard Lyston und zwang ihn damit, ihn zur Kenntnis zu nehmen. »Wann haben Sie Ihren Termin?«

»Um zwei.«

»Bis dahin schaffen wir es problemlos.«

»Gut«, sagte Bellamy. »Wenn damit alles geklärt wäre, könnten wir dann endlich aufbrechen?«

Um ein Haar hätte ihre bekannt herablassende Art Dent mit den Zähnen knirschen lassen. Stattdessen deutete er lächelnd auf die Stufen, die in die Flugzeugkabine führten. »Nach Ihnen.«

Der Flug verlief problemlos. Das einzige Problem bestand darin, Howard Lyston ins Flugzeug und wieder hinaus zu bugsieren. Zum einen war er so schwach, dass er sich kaum noch rühren konnte, zum anderen sah Dent ihm an, dass er starke Schmerzen hatte. Als er auf den Rücksitz der bei ihrer Landung bereits auf sie wartenden Limousine sank, wirkte er geradezu mitleiderregend erleichtert, dass er überhaupt so weit gekommen war. Olivia, beflissen und fürsorglich wie eh und je, rutschte sofort an seine Seite.

Bellamy blieb neben Dent stehen und schrie gegen die Flugzeugturbinen und den steifen Wind vom Golf her an: »Im Krankenhaus wird es bestimmt wieder länger dauern, ich weiß also nicht, wann wir zurück sind.«

Die undurchsichtige Sonnenbrille saß wieder an Ort und Stelle, aber die untere Hälfte ihres Gesichts wirkte angespannt und straff, was der Sorge um ihren Vater geschuldet sein konnte. Vielleicht hielt sie aber auch genauso wenig von Dent wie ihre Eltern. Weiß der Himmel, was die beiden ihr in den letzten achtzehn Jahren über ihn erzählt hatten.

»Ihr habt mich gebucht, also werde ich hier sein, ganz gleich, wann ihr wieder auftaucht.« Er reichte ihr eine Visitenkarte. »Da steht meine Handynummer drauf. Ruf mich an, sobald ihr das Krankenhaus verlasst, dann ist das Flugzeug startbereit, bis ihr hier ankommt, und wir können gleich losfliegen.«

»Danke.« Sie zögerte kurz, öffnete dann die tiefe Tasche, die über ihrer Schulter hing, zog ein Buch heraus und reichte es ihm. »Hast du das gelesen?«

Er nahm ihr das Buch ab. »Kalter Kuss. Von T. J. David.«

»Auch bekannt als Bellamy Lyston Price. Wusstest du, dass ich ein Buch geschrieben habe?«

»Nein.« Und es ist mir auch völlig egal, hätte er am liebsten angefügt.

Aber da sie mit neugierig schief gelegtem Kopf zu ihm aufsah, verkniff er sich die Bemerkung. Ihre Augen waren hinter den Sonnenbrillengläsern nicht zu erkennen, aber er hatte das Gefühl, dass sie seine Antwort bis ins Detail ausloten würde. »Nein«, wiederholte er. »Ich wusste nicht, dass du jetzt Bücher schreibst. Price, hast du gesagt?«

»Der Name meines Mannes.«

»Und warum T. J. Wasweißich?«

»Den Namen habe ich aus dem Telefonbuch.«

»Und wozu?«

»Bellamy? Kommst du?«, hörte er Olivia aus der offenen Tür der Limousine rufen.

Bellamy sah Dent an. »Vielleicht verkürzt dir das Buch die Zeit bis zu unserer Rückkehr.«

Damit drehte sie ihm den Rücken zu und stieg zu ihren Eltern ins Auto.

Mit finsterer Miene schaute Dent dem wegfahrenden Wagen nach. Noch auf dem Weg ins Flugplatzgebäude zog er sein Handy aus der Tasche und drückte die Kurzwahltaste für Galls Nummer, der sich mit: »Mach’s kurz, ich hab zu tun« meldete.

»Was soll das, Gall?«

»Kannst du es dir etwa leisten, Kunden abzulehnen? In diesen Zeiten?«

»Du solltest es mir überlassen, wen ich fliege. Wenn ich gewusst hätte, wer mich da erwartet, wäre ich im Bett geblieben.«

»Du hast Angst vor ihnen.«

»Warum willst du mich noch wütender machen, als ich ohnehin schon bin?«

»Du hast den Auftrag gebraucht. Es ist gutes Geld. Sag’s mir, wenn ich da falschliege.« Er wartete kurz ab, bevor er nach einem bekräftigenden Grunzen erklärte: »Ich hab zu arbeiten«, und auflegte.

Früher hatte es Dent geliebt, auf Flugplätzen jeder Art herumzuhängen, von internationalen Drehkreuzen bis hin zu Landflugplätzen mit Graspisten, auf denen hauptsächlich landwirtschaftliche Sprühflugzeuge starteten und landeten. Nichts hatte er lieber getan, als mit anderen Piloten zu fachsimpeln.

Jetzt mied er diese Gespräche. Außerdem wollte sowieso niemand mehr mit ihm reden, sobald er verraten hatte, wie er hieß. Er ging nur kurz in die Pilotenlounge, um sich zwei Zeitungen zu holen, und machte es sich dann auf einem Sitz in einer abgelegenen Ecke der Haupthalle gemütlich. Er las die beiden Sportteile. Versuchte, das Kreuzworträtsel zu lösen, ohne dass er dabei weit gekommen wäre. Gelangweilt schaute er ein Fußballspiel auf ESPN, das vor fünf Jahren ausgetragen worden war.

Als es Mittag wurde, holte er sich im Grillrestaurant einen Cheeseburger und ging damit auf die Restaurantterrasse. Während er den Burger aß, schaute er den startenden Flugzeugen zu. Jedes Mal, wenn eines von der Landebahn abhob, spürte er das vertraute kribbelnde Ziehen in der Magengrube. Der Adrenalinstoß eines düsengetriebenen Starts, dieser fast erotische Schub, fehlte ihm genauso wie alles andere, wenn nicht sogar mehr als alles andere. Das war seine Droge gewesen, bis er auf kalten Entzug gegangen war.

Schließlich trieb ihn die schwüle Hitze über Houston zurück in das klimatisierte Gebäude. Er kehrte auf seinen Sitz zurück, schlug aus schierer Langeweile Bellamy Prices Roman auf und begann zu lesen.

Schon nach dem Prolog war er fassungslos. Nach fünf Kapiteln stinkwütend. Und noch bevor er das letzte Kapitel erreicht hatte, sah er rot.