9783548612300.jpg

Das Buch

Raus aus dem alten Leben und mit einem Kopfsprung hinein in ein neues. Ist das mutig? Oder verrückt? Von beidem ein bisschen! Aber wenn vier Frauen aus drei verschiedenen Generationen sich dafür zusammentun, wird es definitiv abenteuerlich:

Claudia ist mit einundfünfzig Jahren angeblich zu alt für ihren Job in einer Hamburger Parfümerie. Ihre Tochter Jule vergräbt sich nur noch zu Hause, nachdem ihr Bein bei einem Reitunfall schwer verletzt wurde, und Claudias beste Freundin Sara will endlich ihrem langweiligen Exmann entkommen. Zusammen ziehen die drei auf einen Apfelhof im Alten Land und bringen das Leben der Einheimischen ganz schön durcheinander: Claudias selbsthergestellte Naturkosmetik stößt auf Skepsis und Saras Flirtversuche auf Gegenwehr. Nur Jule kann mit ihrer großen Tierliebe beim spröden Nachbarn Johann punkten, der Claudia mit seiner ruppigen Art in den Wahnsinn treibt. Erst als Rentnerin Elisabeth auf dem Hof strandet, beruhigen sich die Gemüter. Sie ist es auch, die erkennt, dass Claudia und Johann viel mehr verbindet als ein gepflegter Nachbarschaftsstreit …

Die Autorin

Brigitte Janson heißt eigentlich Brigitte Kanitz und wurde 1957 in Lübeck geboren. Viele Jahre war Hamburg ihre Wahlheimat, wo sie als Journalistin arbeitete. Heute lebt sie in den italienischen Marken.

Von Brigitte Janson sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Tortenbäckerin
Der verbotene Duft

BRIGITTE JANSON

WINTERAPFELGARTEN

ROMAN

Q-Siegel_Titel.png

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de

Q-Siegel_Impressum.png

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN 978-3-8437-0937-8

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Einen Roman über Freundinnen kann ich natürlich nur
meinen Freundinnen widmen:

Gaby und Lola, die zu früh gegangen sind.

Bettina, Claudia, Inge, Marianne, Martina, Micaela, Renate, Sabine, Simona, Sissi L., Sissi S., Tiziana, Ursula und Wally.

Gianni, Massimo und Rainer.
Ihr seid zwar Männer, aber das ist schon okay.

Einige von euch kennen sich nicht untereinander, und ähnlich wie im Buch, gehört ihr verschiedenen Generationen an. Aber das hat uns nie gestört, nicht wahr? Ich danke euch für eure Freundschaft.
Ohne euch wäre mein Leben nur halb so bunt.

1. Kapitel

001.tifClaudia wusste, was er sagen würde. Langsam näherte sie sich seinem Schreibtisch und blickte auf ihn hinab. Auf seiner runden Stirn glänzten Schweißtropfen, an seiner rechten Schläfe pochte eine dicke Ader. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Seine Hand mit den kurzen dicken Fingern bedeutete ihr, sich zu setzen. Ihre watteweichen Knie gaben so schnell nach, dass sie hart auf dem Stuhl aufkam. Erschrocken zuckte er zusammen und starrte sie an. Er schwieg immer noch, obwohl sich seine Lippen bewegten. Oder? Ein Rauschen ging durch ihren Kopf. Claudia rubbelte heftig an ihren Ohren.

Schweigen. Es sei denn, sie war in den letzten paar Minuten taub geworden. Jetzt begann sie, sich gegen den Kopf zu klopfen. Es half nichts. Keine Silbe erreichte sie.

»Geht es Ihnen gut, Frau Konrad?«

Na endlich!

Sein irritierter Blick lag auf ihren Fingerknöcheln, die immer noch gegen ihren Schädel pochten, und sein Oberkörper neigte sich in ihre Richtung, bis die Schreibtischkante sich in seine Schlüsselbeine bohrte.

Prima, dachte Claudia, jetzt werde ich meinem Chef schon unheimlich. Nicht bloß zu alt und faltig für den Job.

Beinahe hätte sie gelacht. Sollte der kleine dicke Bernhard Beeks ruhig ein bisschen Angst vor ihr haben. Sie war schließlich auch einer Panik nahe. Das Rauschen schien noch zuzunehmen, aber drei Worte gingen ihr klar und deutlich durch den Kopf: Verjüngung, Konkurrenz und neue Perspektiven. Die hatten in der kurzen E-Mail gestanden, die Beeks ihr am frühen Morgen geschrieben hatte, zusammen mit der Bitte, im Laufe des Vormittags in seinem Büro zu erscheinen.

»Verjüngung! Ha!«, rief Claudia mit schriller Stimme.

Ihr Chef zuckte zurück.

»Konkurrenz! So ein Blödsinn! Neue Perspektiven! Dass ich nicht lache!«

»Frau Konrad …«

Wut war besser als Verzweiflung. Neue Energie durchströmte sie, verdrängte endlich das unheimliche Rauschen und ließ sie aufspringen. Nun stand sie weit über ihm. Immerhin.

»Sie können mich doch nicht für dumm verkaufen! Ich soll ins Büro abgeschoben werden, oder gleich ins Warenlager. Als Beraterin für die Kunden bin ich Ihnen zu alt und schrumpelig!«

Schrumpelig? Hatte sie wirklich schrumpelig gesagt? Claudia spürte, wie sie dunkelrot anlief.

»Ich muss doch bitten.«

Der kurze Moment der Scham verging, und sie blickte ihn fest von oben herab an. »Seien Sie doch wenigstens ehrlich zu mir. Ich finde, nach dreißig Jahren habe ich mir das verdient.«

Beeks fiel in sich zusammen, woraufhin er kaum noch über die Schreibtischplatte schauen konnte, und nickte.

»Ich bedauere es wirklich sehr, Frau Konrad, doch der Befehl kommt von oberster Stelle. Direkt aus der Konzerndirektion. Ich kann da nichts machen.«

Claudias Wut verpuffte ebenso schnell, wie sie aufgekommen war. Beeks war genau wie sie selbst nur ein kleines Rädchen im Getriebe der Parfümerie Schwan. Ganz oben saßen Menschen, die sie noch nie persönlich kennengelernt hatte. Zu dem Konzern gehörten nicht nur rund fünfzig Filialen in Deutschland und ganz Europa, sondern auch Kosmetikstudios und Fabriken, in denen eigene Pflegeprodukte hergestellt wurden. Begonnen hatte die Firmengeschichte vor einem halben Jahrhundert mit der ersten Parfümerie in bester Lage unter den Hamburger Alsterarkaden. Das Logo war schnell gefunden. Ein goldumrandeter Schwan zierte nicht nur den Eingang, sondern bald auch Feuchtigkeitscremes, Lippenstifte, Körperpuder, Parfums und zahlreiche Artikel mehr, die allesamt der Verschönerung dienten. Die berühmten Alsterschwäne erwiesen sich bald als glückbringende Namensgeber.

Claudia kannte die Erfolgsgeschichte auswendig, und als junge Kosmetikerin war sie stolz gewesen, eine Anstellung in der Parfümerie Schwan zu bekommen. Noch dazu im Hauptgeschäft.

Jetzt war sie nur noch tief verletzt.

»Im letzten Quartal hab ich wieder am besten verkauft«, sagte sie. »Und Sie wissen das. Unsere Stammkundinnen verlassen sich auf meinen Rat.«

Das stimmte, aber Claudia war auch klar, dass sie nicht unersetzlich war. Es gab Kolleginnen, die genauso viel Sachkenntnis wie sie selbst besaßen – und die zehn Jahre jünger waren. Oder fünfzehn.

Bernhard Beeks setzte eine unglückliche Miene auf. »Sehr wohl, liebe Frau Konrad. Und genau diesen Einwand habe ich der Direktion gegenüber auch mit Vehemenz vorgebracht.«

Claudia unterdrückte ein Stöhnen. Wenn der Chef so gedrechselt daherredete, war alles verloren. Sie kannte ihn lange genug. Hinter solch komplizierten Sätzen verbarg er seine eigene Hilflosigkeit. Er war genauso machtlos wie sie selbst.

»Verflucht«, sagte sie laut. Dann musste sie grinsen. Claudia Konrad, gepflegt, elegant und ein vornehmes Beispiel für alle anderen Verkäuferinnen, wurde gewöhnlich. Wie befreiend doch ein einziges Schimpfwort wirken konnte!

Vielleicht sollte sie sich das Vokabular eines Bierkutschers zulegen, genau wie Jule. Endlich verstand sie, warum ihre Tochter neuerdings so gern Zoten riss. Kerzengerade stand sie da, kampfbereit.

»Frau Konrad! Ich muss doch bitten!«, wiederholte Beeks.

»Verflucht!«, rief sie.

Eine Sekunde lang sah er aus, als wollte er laut herauslachen. Aber er tat es nicht. Schade, dachte Claudia. Bernhard Beeks hätte sie nach den vielen gemeinsamen Arbeitsjahren wenigstens ein Mal überraschen können.

»Nehmen Sie es bitte nicht so schwer. Schauen Sie, ich arbeite doch auch nur hinter den Kulissen und bin sehr zufrieden.«

Aber ich bin weder klein noch fett, noch glatzköpfig, dachte sie böse.

Ihr Chef öffnete eine dünne Akte.

»Ich habe den neuen Vertrag bereits aufsetzen lassen. So verlieren wir keine Zeit, nicht wahr? Heute ist Montag, der elfte August. Zum ersten September können Sie Ihre neue Stellung antreten. Sie werden verstehen, dass Ihr Gehalt ein wenig reduziert werden muss. Es handelt sich ja um keine gleichwertige Arbeit. Im Warenlager …«

Kein Wort mehr! Das Rauschen in ihrem Kopf setzte wieder ein, und sie war dankbar dafür.

Sie würde nicht auf den Stuhl zurücksinken. Sie würde ihn nicht um Gnade anflehen. Sie würde einfach gehen. Genau!

»Ich pfeife auf Ihr Warenlager!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Ich kündige!«

Gut so. Nun noch umdrehen und mit drei Schritten die Tür erreichen. Den Kopf dabei hoch erhoben halten, den Rücken durchdrücken, keine Träne vergießen!

Dreißig Jahre lang eine der besten Fachverkäuferinnen der Parfümerie Schwan? Geschenkt!

Zig Prämien und Auszeichnungen bekommen? Egal!

Ihr zweites Zuhause inmitten edler Düfte und Wundercremes? Abgehakt!

Beeks rief ihr etwas nach, sie verstand nichts, lief durch den Flur, erreichte die Hintertür des Verkaufsraumes, betrat die Parfümerie und lächelte eine Kundin an, die ratlos vor einem Regal mit Anti-Falten-Cremes stand.

»Darf ich Ihnen helfen?«

Die Kundin, eine elegante Erscheinung um die sechzig, musterte Claudia von oben bis unten und nickte dann gnädig.

»Ich denke schon. Ich habe etwas über dieses neue Serum von La Pastie gelesen. Mit Hyaluronsäure und Coenzym Q10. Es soll wahre Wunder wirken.«

»Oh, gewiss.«

Ihre Mundwinkel schmerzten, ihr Lächeln fühlte sich an wie einbetoniert. Die letzten paar Minuten ihres Lebens hatte es nie gegeben. Alles war wie immer. Sie musste nur fest daran glauben. Rasch griff Claudia nach dem gewünschten Produkt, einem schmalen dunkelblauen Probefläschchen mit silbernem Verschluss. Sie schraubte ihn auf und ließ eine winzige Menge auf den Handrücken der Kundin tröpfeln.

»Bitte schön, fühlen Sie nur die samtige und zugleich kraftvolle Konsistenz. Ein paar wenige Tropfen am Tag rund um die Augen reichen schon. Das Serum wirkt tatsächlich Wunder, besonders in den Bilanzen des Herstellers.«

Sie bemerkte, wie ihre junge Kollegin Nadine näher kam, in den Augen ein Ausdruck der Verwunderung. Claudia achtete nicht weiter auf sie, sondern konzentrierte sich ganz auf die Kundin.

»Was sagen Sie da?« Die Dame hob zwei perfekt gezupfte Brauen. Ihre Stirn blieb dabei unnatürlich glatt.

»Schmieren Sie sich das Zeug aber lieber nicht da oben hin. Wenn die Substanz auf das viele Botox unter der Haut trifft, können sich kleine Knubbel bilden. Ungefähr erbsengroß, verstehen Sie? Und Erbsen auf der Stirn sehen nicht so hübsch aus.«

Claudia grinste jetzt, und ihre Mundwinkel entspannten sich.

Die Kundin machte vorsichtig zwei Schritte rückwärts. Dann krallte sie sich an Nadines goldfarbenem Kittel fest und stieß einen hellen spitzen Schrei aus, bei dem sämtliche Anwesende im Geschäft herumfuhren.

»Die da!«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf Claudia. »Die ist verrückt! Rufen Sie die Polizei!«

Nadine schaute verwirrt von einer zur anderen. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung zur Parfümeriefachverkäuferin abgeschlossen und sah in Claudia Konrad ihr großes Vorbild.

»Was ist denn los?«

»Die hat gesagt, mir wachsen so verdammte Erbsen auf der Stirn.«

Claudias Grinsen wurde noch breiter. Ganz so vornehm, wie ihre Erscheinung suggerierte, war die Dame wohl doch nicht.

»Erbsen?« Nadine befreite sich aus dem Klammergriff. »Wo denn? Sieht doch alles superglatt aus.«

Weitere Kundinnen und Verkäuferinnen kamen näher und bildeten einen Halbkreis aus goldenen Kitteln und sommerlichen Outfits von Escada, Dior oder Jil Sander.

»Ist was passiert?«, fragte eine Frau leise.

Niemand wusste eine Antwort.

Claudia schloss kurz die Augen. Alles war wie immer. Sie hatte keine Kundin beleidigt, die letzten Minuten mussten gelöscht sein. Doch als sie wieder aufschaute, war sie noch immer eingekreist. Die Luft roch künstlich und schwer, das Atmen wurde plötzlich schwierig. Nichts war wie immer.

Sie öffnete den obersten Knopf an ihrem Kittel. Dann den nächsten und den übernächsten. Schließlich zog sie ihn aus, faltete ihn ordentlich zusammen und reichte ihn Nadine.

»Ich denke, den brauche ich nicht mehr. Bitte geben Sie ihn nachher dem Chef.«

»Frau Konrad, sind Sie krank?«

»Ganz im Gegenteil, ich fühle mich wunderbar.« Sie ließ ihren Blick durch die Parfümerie schweifen. All dieser Luxus, all diese Schönheit. Vorbei. Sie gehörte nicht mehr in die Welt der Düfte, Cremes und Tinkturen. Und während sie nun die Gesichter um sie herum betrachtete, einige bekannte und viele unbekannte, da begriff sie, dass es stimmte, was sie zu Nadine gesagt hatte. Sie fühlte sich tatsächlich wunderbar. Befreit.

Claudia Konrad, einundfünfzig Jahre alt, durfte noch einmal ganz neu anfangen.

»Ich gehe jetzt.«

Niemand hielt sie auf.

In ihrem Rücken begann das Getuschel. Erst als sie schon an der automatischen Tür war, rief jemand ihr nach. »Warte, Claudia! Wir informieren deine Tochter. Die soll dich lieber abholen.«

Sie erstarrte. Wer hatte das gesagt? Vielleicht Christine, ihre liebste Kollegin? Unwichtig.

»Das ist nicht nötig!«, schrie sie. Viel zu laut, viel zu hoch. »Ich brauche wirklich nur ein bisschen frische Luft!« Ihre Stimme überschlug sich. Nicht Jule, nicht hier. In dieser perfekten kleinen Welt gab es keinen Platz für jemanden wie Jule.

Mit einem leisen Surren öffnete sich die Tür. Claudia rannte hinaus, stieß gegen einen Stand mit Eiscreme und kalten Getränken, wäre fast gefallen. Sie entschuldigte sich bei dem Verkäufer, atmete tief durch und lief dann weiter, zwang sich, langsamer zu gehen, lenkte ihre Schritte unter den Arkaden entlang zur Schleusenbrücke, überquerte die Kleine Alster, erreichte den Rathausmarkt – und wusste nicht weiter.

Es war ein sonniger, aber kühler Augusttag, und ein starker Wind fegte von Nordwesten her in die Stadt. Claudia fröstelte in ihrer dünnen Bluse. Sogar ihre Beine zitterten jetzt. Sie schaffte es bis zu einer Bank vor dem mächtigen Rathaus und sank dort in sich zusammen.

Auf einmal fühlte sie sich verloren in einem Leben, das nicht mehr ihres war. Mit beiden Händen rieb sich Claudia über die Schläfen. Verloren? Vor zehn Minuten hatte sie sich noch befreit gefühlt.

»Ich bin arbeitslos«, murmelte sie vor sich hin. Ihr war nach Schreien und Weinen zumute, aber es kam nur ein unterdrücktes Schluchzen aus ihrem Mund.

Wunderbar, dachte Claudia. Eine läppische Kündigung, und ich verliere die Kontrolle. Ob es auffallen würde, wenn sie sich auf der Bank ausstreckte und ein wenig schlief? Sie war so unendlich müde. Um sie herum liefen die Menschen eilig von einem Ort zum anderen. Ein Ballett der Betriebsamkeit und Effizienz beherrschte den Rathausmarkt. Nur diese Bank hier war eine ruhige Insel, ein Ort für Leute, die nicht dazugehörten. Langsam hob Claudia die Füße. Niemand nahm Notiz von ihr. Sie rutschte ein wenig tiefer, streckte die Beine aus und stieß mit dem linken Fuß an ein Hindernis. Da lag eine kleine Plastiktüte, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Claudia wollte die Tüte einfach von der Bank kicken. Schlafen, nur schlafen. Nichts mehr wissen, nichts sehen, nichts fühlen. Schon flatterten ihre Lider. Trotzdem griff sie nach der Tüte und sah hinein. Ein Apfel lag darin.

Claudia schloss kurz die Augen und öffnete sie dann wieder. Tatsächlich, ein Apfel. Sie holte ihn heraus. Er war weder rund noch tiefrot wie die Äpfel, die sie normalerweise kaufte. Vielmehr wies er die Form einer Glocke auf und hatte eine grünlich-gelbe Farbe. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie zum Frühstück nur einen schnellen Espresso getrunken hatte. Claudia frühstückte nie, aß mittags einen Salat mit Putenbrust oder Thunfisch und begnügte sich abends mit gedünstetem Gemüse und Fisch. Dazu trank sie täglich drei Liter stilles Wasser. Wer fast einen Meter achtzig groß war und aus einer kräftigen friesischen Familie stammte, der musste streng auf seine Linie achten, wenn Bauch, Po und Hüften nach dem vierzigsten Geburtstag nicht ihren Umfang verdoppeln sollten. Und wer einen italienischen Feinschmecker zum Freund hatte, der alles essen konnte, ohne je ein Gramm zuzunehmen, der musste dreifach aufpassen. Ganz kurz dachte Claudia an Gianluca. Ach, wenn er jetzt hier bei ihr wäre! Oder nein, bloß nicht. Er liebte das Leben und hasste Probleme. Und sie war die Freundin, die stets ein Lächeln auf den Lippen trug.

Wieder betrachtete sie den Apfel. Es schien ihr plötzlich, als hätte sie diese Sorte schon einmal gesehen. Vielleicht damals bei ihrer Oma in Friesland? Hertha Konrad hatte einen wunderschönen Obstgarten besessen, mit Apfel-, Birn- und Pflaumenbäumen. Aber so sehr Claudia auch ihre Erinnerung bemühte, sie kam nicht darauf. Eines jedoch wusste sie genau: Der Apfel hatte nur fünfzig Kalorien. Das war in Ordnung. Claudia zog die Füße an und biss kräftig in die Frucht. Sie kaute langsam und genoss das säuerliche, erfrischende Aroma. Ihre Müdigkeit verschwand mit einem Schlag, und während sie weitere große Stücke aß, dankte sie im Geiste dem Menschen, der diese bescheidene Mahlzeit hier vergessen hatte. Es musste ein guter Mensch gewesen sein.

»Ja, klar«, sagte sie laut. »Vielleicht war es aber auch Schneewittchens böse Stiefmutter, und der Apfel hier ist vergiftet!«

Sie musste lachen, verschluckte sich an dem Bissen in ihrem Mund und hustete heftig. Sekundenlang befürchtete sie, es könne sie Schneewittchens Schicksal ereilen – ohne die wundersame Rettung am Ende des Märchens.

Jemand schlug ihr zwischen die Schulterblätter.

»Danke«, krächzte Claudia, als sie wieder Luft bekam.

»Gern geschehen«, erwiderte Christine und reichte ihr die Handtasche, die sie in der Parfümerie gelassen hatte. Dann ließ sie sich neben Claudia auf die Bank sinken.

»Ein Glück, dass ich dich noch gefunden habe. Bist du jetzt völlig durchgedreht? Sitzt hier mitten auf dem Rathausmarkt und lachst vor dich hin.«

»Ich habe mir gerade vorgestellt, ich sei Schneewittchen«, erwiderte Claudia wahrheitsgemäß.

»Und ich hatte befürchtet, du bist Leda mit dem Schwan, und wir müssen dich aus der Kleinen Alster fischen.«

Sie klopfte ihr mit dem Fingerknöchel leicht gegen die Stirn. »Hallo? Ist da drin irgendwo meine geschätzte Kollegin verborgen? Die zuverlässige Frau Konrad, Meisterin der Selbstbeherrschung, Vorbild für mehrere Generationen von Kolleginnen und beste Verkäuferin?«

»Klopfen bringt nichts.« Claudia wischte die Hand beiseite. »Habe ich vorhin selbst schon versucht. Werde aber nicht klarer davon. Alles ist irgendwie – durcheinander.«

»Verstehe«, sagte Christine, obwohl ihr anzusehen war, dass sie nicht mehr mitkam.

»Weißt du, was das für ein Apfel ist?«, fragte Claudia. Es erschien ihr auf einmal unglaublich wichtig, die Sorte zu kennen.

»Witzbold.«

»Ich meine es ernst, Christine.«

»Ich auch. Und ich kann leider nicht hellsehen. Wie soll ich eine Apfelsorte am Gehäuse erkennen?«

»Oh. Entschuldigung.«

Claudia ließ die Hand wieder sinken. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Es war das Wichtigste auf der Welt, den Namen des Apfels zu kennen.

2. Kapitel

002.tifAls Sara den dritten Stock erreichte, musste sie stehen bleiben und tief Luft holen.

Mist!, dachte sie, ich bin nicht mehr in Form. Zu viel faules Leben, zu wenig Bewegung. Kein Pfund Übergewicht, aber auch null trainierte Muskeln. Daran musste sie dringend etwas ändern. In Zukunft würde sie noch mehr Zeit für sich selbst haben. Sie konnte jeden Tag einmal um die Außenalster laufen und anschließend ein paar Stunden im Fitnessstudio verbringen. Mit ihrem bequemen Leben als Anwaltsgattin war es ein für alle Mal vorbei. Niemand würde sie vermissen, wenn sie sich ganz dem Sport verschrieb.

Sara ballte die Hände zu Fäusten. Kein guter Gedanke, wenn sie gleich ihre gesamte positive Energie einsetzen wollte.

Noch einmal atmete sie tief durch und klingelte dann an der Wohnungstür. Eine Weile blieb alles still, und sie glaubte schon, es sei niemand zu Hause. Was ein gutes Zeichen gewesen wäre. Doch dann hörte sie schwere unregelmäßige Schritte im Flur. Unwillkürlich fragte sich Sara, wie Jule es nur schaffte, mehrmals täglich diese schmalen, hohen und ausgetretenen Treppen zu steigen. Dritter Stock Altbau in Hamburg-Eppendorf, eine Traumwohnung für junge sportliche Leute, ein Alptraum für jemanden wie Jule.

Die Tür wurde geöffnet. Blass und mit tiefen Ringen unter den Augen stand Jule vor ihr.

»Sara.«

»Hallo, mein Schatz.«

Jule lehnte sich schwer gegen die Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du hättest anrufen sollen, ich muss gleich weg.«

»Wenn ich anrufe, spreche ich seit einiger Zeit nur noch mit deiner Mailbox«, erklärte Sara. Genauer gesagt seit dem zehnten Juni, fügte sie in Gedanken hinzu. Seit Jule aus der Reha entlassen worden war.

»Ich bin eben sehr beschäftigt.«

Ihre stille Frage nach Jules Ausflügen über die Treppe beantwortete sich Sara gleich selbst. Sie sah nicht so aus, als ginge sie viel vor die Tür. Jules Gesichtsfarbe wurde noch einen Ton bleicher. Es musste sie ungeheure Anstrengung kosten, hier so zu stehen. Ganz ohne Krücken.

»Du siehst ja, es geht mir blendend. Also, ciao. Man sieht sich.«

Sara dachte gar nicht daran, sich abwimmeln zu lassen. Es war ihr unangenehm, ihre körperliche Überlegenheit auszuspielen, aber sie tat es einfach. Der Wunsch, bei Jule nach dem Rechten zu sehen, war stärker.

Rasch schlüpfte sie an ihr vorbei und war im Flur, bevor die andere sich auch nur bewegt hatte. Schale, abgestandene Luft waberte um ihren Kopf und ließ sie schwindeln.

Wie zur Verteidigung erklärte sie: »Ich bin deine Patentante, und ich kenne dich, seit du auf die Welt gekommen bist. Du kannst mich nicht aus deinem Leben ausschließen.«

»Welches Leben?«, giftete Jule.

Sara ersparte sich eine Antwort und ging stattdessen ins Wohnzimmer. Dort prallte sie erschrocken zurück, schaute dann in die Küche und ins Schlafzimmer.

»Deine Wohnung ist ein einziger großer Saustall«, stellte sie fest.

»Ja.« Es kam gleichgültig.

»Wann war Dora das letzte Mal hier?« Dora war eine polnische Haushaltshilfe, die Sara für ihre Patentochter engagiert hatte.

»Ich habe sie entlassen. Sie ist mir auf die Nerven gegangen.«

»Warum?«, fragte Sara so ruhig wie möglich. Innerlich kochte sie vor Wut. Jule wollte sich einfach nicht helfen lassen.

»Die hat sich eingebildet, sie wäre studierte Psychologin und nicht bloß die Tochter eines Bauern. Hat mir Tag für Tag damit in den Ohren gelegen, ich solle doch mal rausgehen und andere junge Leute treffen. Wieder Spaß haben, am Leben teilnehmen und so weiter, blabla. So ein Scheiß.«

Sara zuckte zusammen. Diese herablassende Art passte nicht zu Jule. Genauso wenig wie dieses neue Einsiedlerdasein in abgestandener Luft und ohne Schwung. Vor dem Unfall hatte sie keinen Menschen mit einem derart ausgeprägten Bewegungsdrang wie Jule gekannt.

Ein Bild stieg vor ihren Augen auf. Sie selbst, ihre beste Freundin Claudia und die vielleicht fünf- oder sechsjährige Jule an einem strahlenden Sommertag in Hagenbecks Tierpark. Das fröhliche Kind, das niemals ging, sondern immer hopste, und das die Elefanten, Löwen und Giraffen links liegen ließ, weil es nur zu den Ponys wollte. Eine Runde reiten und noch eine Runde. Und dann mehr und mehr, bis der Tag zu Ende ging und bis Jule mit leuchtenden Augen erklärte: »Wenn ich groß bin, werde ich Reiterin.«

»Das ist ein schönes Hobby«, hatte Sara zurückgegeben. Sie war erschöpft gewesen, weil sie sich stundenlang mit Claudia dabei abgewechselt hatte, Jules Lieblingspony im Kreis herumzuführen. In jenem Moment war ihr zum ersten Mal der Verdacht gekommen, sie könnte schwanger sein, so müde war sie. Und zugleich so grenzenlos glücklich, dass sie am liebsten Luftsprünge gemacht hätte. Mit Jule um die Wette.

»Nee! Das wird mein Beruf. Das ist ganz, ganz wichtig«, hatte Jule ernsthaft geantwortet.

Sara und Claudia hatten einen amüsierten Blick getauscht. Wie konnte sich ein kleines Mädchen da so sicher sein? Jule würde heranwachsen und noch ganz andere Berufswünsche entwickeln.

Tja, sie waren beide überrascht worden. Jule wurde tatsächlich Reiterin. Und schon mit Anfang zwanzig war sie auf dem besten Weg, in die Elite der deutschen Dressurreiter aufzusteigen. Sie bekam eine Anstellung bei Heinrich Baron von Schilling, der zu den größten Sponsoren im Dressurreiten gehörte, und wurde von ihm besonders gefördert. So stellte er ihr seinen Hannoveraner-Hengst Salut zur Verfügung, den Jule seitdem auf großen Turnieren ritt. Das Pferd galt in Fachkreisen als hoffnungsvoller Nachfolger des wunderbaren Totilas. Jules Lebenstraum würde sich in nicht allzu ferner Zukunft erfüllen. Daran glaubten alle, die sie kannten und die ihre bisherige Karriere verfolgt hatten. Nicht allein, weil Jule so talentiert war, sondern weil sie einen so starken Charakter besaß. Sie war eine Kämpferin, und sie ließ sich von Rückschlägen niemals unterkriegen. Eher wurde sie noch stärker.

Bis zu dem einen verhängnisvollen Tag. Jule hatte gerade ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, als ihre Zukunftsaussichten zu Staub zerfielen.

Schnell wischte Sara die Erinnerung beiseite. Im Augenblick dachte sie nicht gern an glückliche Zeiten zurück, und das hatte nicht nur mit Jule zu tun.

»Heulst du jetzt vor lauter Mitleid gleich los, Sara? Du weißt genau, dass ich das nicht abkann.«

»Nein. Mir brennen bloß die Augen, weil es hier stinkt wie in einer Pommesbude.«

Sie wandte sich ab, ging zum Fenster und riss es mit einem Ruck auf. Eine frische Brise vertrieb den Mief in der Wohnung.

»Soll ich erfrieren?«

Sara musste lachen. »Erfrieren im August, das könnte in diesen Breitengraden schwierig werden, Süße. Du sollst bloß mal gesunde Luft atmen.«

Sie bekam nur eine Art Schnauben zur Antwort und kümmerte sich nicht weiter darum.

»Und Claudia? Wann hat sie dich zuletzt besucht?« Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ihre Freundin solche Zustände bei ihrer Tochter zuließ.

»Samstag«, gab Jule knapp zur Antwort.

»War sie hier in der Wohnung?«

»Nein. Sie hat im Auto auf mich gewartet, weil sie keinen Parkplatz gekriegt hat. Dann sind wir an die Elbe gefahren und in ein Café gegangen.«

Sara schüttelte den Kopf. Jule schaffte es viel zu leicht, ihre Mutter abzuwimmeln.

»Na, immerhin bist du mal rausgekommen.«

»Ja, und alle haben mich angestarrt wie einen Alien.«

Sara gab es auf, ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen, und machte sich an die Arbeit. Der Sofatisch war zugemüllt mit den Resten ungesunder Mahlzeiten. Offenbar ließ sich Jule von verschiedenen Lieferservices versorgen. Sara schnappte sich zwei leere Pizzakartons, einige ausgetrunkene Colaflaschen und mehrere zerknüllte Chipstüten. Etwas tun war besser als grübeln. Sie fand es bemerkenswert, dass Jule mit so viel Zucker und Fett nicht in die Breite ging. Na ja, abgesehen von einem kleinen Bäuchlein vielleicht, das aber mit gesunder Ernährung schnell wieder verschwinden würde. Jule kam nach ihrem Vater, einem großen hageren Griechen. Claudias friesische Gene hatten sich nicht durchgesetzt. Rasch brachte Sara alles in die Küche und kam zurück, um eine weitere Ladung zu holen. Jule schien protestieren zu wollen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war.

Sara räumte einen Sessel frei. »Du setzt dich jetzt da hin und rührst dich nicht von der Stelle. Ich mach dir einen Eistee und bringe dann deine Wohnung auf Vordermann.«

»Wo sollte ich schon hingehen«, murmelte Jule, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Als Sara ihr wenig später den Tee brachte, war sie fest eingeschlafen. Zwischen ihren Augenbrauen standen zwei tiefe Falten. Der Schmerz verfolgte sie auch in ihre Träume.

Zwei Stunden später hatte Sara die Wohnung in Schuss gebracht. Dreimal war sie mit großen Plastiksäcken zu den Mülltonnen im Hof hinuntergegangen. Sie hatte Staub gesaugt, die Böden gewischt, das Bettzeug gewechselt und gründlich die Küche geputzt. Jetzt lief nebenan die Waschmaschine, und Sara saß erschöpft auf dem Sofa.

Lange betrachtete sie ihre Patentochter. Du dummes, dummes Ding, dachte sie. Vor zwei Monaten ging es dir besser als jetzt. Da gab es noch so etwas wie Hoffnung. Zorn wallte in ihr hoch, und sie rüttelte Jule an der Schulter, bis diese aufwachte.

»Seit wann schwänzt du die Physiotherapie?«

Jule blinzelte verwirrt, schaute sich in ihrem sauberen Wohnzimmer um und richtete ihren Blick dann auf Sara.

»Wow! War Mary Poppins zu Besuch?«

»Lenk nicht ab. Also?«

»Wie kommst du darauf, dass ich schwänze?«

»Glaubst du, ich bin dumm? Du kannst ja kaum noch laufen. Im Juni sind wir im Stadtpark spazieren gegangen.«

Es war ein guter Tag gewesen. Die große blonde Claudia, die kleine Sara mit den wilden roten Locken und die schlanke schwarzhaarige Jule unterwegs zu den Ententeichen. Nicht mehr das lustige Trio von einst, aber noch immer eine Gemeinschaft, die den Wirrnissen des Lebens gemeinsam trotzte. Jule hatte sich zwar schwer auf eine Krücke gestützt, aber sie war guten Mutes gewesen. So als könnte sie jederzeit wieder loshopsen.

Eine leichte Röte überzog jetzt ihr Gesicht. »Laufen tut weh«, erklärte sie leise.

»Mag ja sein. Aber du musst deine Beinmuskeln trainieren. Sonst wird es nie besser.«

»Besser? Scheiße noch mal! Was zum Teufel soll besser werden? Meinst du, das Bein wird über Nacht wieder länger?«

Mit einer schmalen Faust schlug sie auf ihren rechten Oberschenkel.

Sara zuckte zusammen, als fühle sie selbst einen stechenden Schmerz. Komplizierter Trümmerbruch. Verkürzung des Knochens um drei Zentimeter. Verdammt! Sie würde niemals vergessen, wie verzweifelt Claudia geweint hatte, als der Oberarzt ihnen die Diagnose mitgeteilt hatte. Ihre fröhliche, sportliche Jule – ein Krüppel.

»Sag das nie wieder!«, hatte Sara ihre Freundin angeschrien und ihr eine Ohrfeige verpasst. »Jule wird wieder gesund werden! Sie muss kämpfen.«

Nun, vor ihr saß keine Kämpferin, sondern eine junge Frau, die sich aufgegeben hatte. Sara zerriss es das Herz, sie so zu sehen, aber sie war noch nicht fertig.

»Bist du endlich bei dem orthopädischen Schuhmacher gewesen?«

»Sehe ich so aus?«

»Jule!«

»Was denn? Ich habe keinen Bock, mir so einen bescheuerten Schuh anzuziehen, damit alle Leute denken, ich hätte einen Klumpfuß.«

Sara zwang sich, geduldig zu bleiben. »Das ist doch Unsinn. Dieser Schuster vollbringt wahre Wunder. Eine Einlage und eine Verlängerung des Absatzes. Es würde kaum auffallen.«

»Bloß, dass es nicht mit normalen Schuhen geht, schätze ich mal. Es müssen schon diese Gesundheitstreter sein, damit mein Bein ausreichend Halt bekommt. Nee, danke. Muss ich nicht haben. Hab echt keinen Bock, wie eine alte Oma durch die Gegend zu schlurfen.«

Sara wollte anregen, es mit den Reitstiefeln zu versuchen, doch sie ließ es. Bestimmt hatte Jule auch dafür einen Einwand parat. Müde senkte sie den Blick. Einen Moment lang wünschte sie sich, sie wäre nicht hergekommen. Sollte doch Claudia sich um sie kümmern, es war schließlich ihre Tochter. Sollte …

»Ach, Quatsch!«, sagte sie laut.

Sie fühlte sich für Jule verantwortlich, als sei sie ihr leibliches Kind, die Tochter, die sie sich so sehr gewünscht und nie bekommen hatte. Und sie wollte für sie da sein. Zur Not auch gegen ihren Willen. Wozu waren Patentanten sonst gut?

»Was?«

»Nichts, schon gut.«

Sie spürte, dass Jule sie beobachtete, und plötzlich war ihr unwohl unter dem Blick. Die dunklen Augen starrten sie durchdringend an, so als wollten sie ihr tief in die Seele blicken.

»Was hast du denn da?«

Sara schaute auf. »Was meinst du? Sehe ich wieder einmal aus wie der Pumuckl?«

Früher hatte Jule viele Witze über Saras unbändige Locken gerissen. »Jimi Hendrix in Rot« war ihr Lieblingsspruch gewesen. Es gab auch gute Tage, an denen sich Saras Haare in weichen Wellen um den Kopf schmiegten und so verführerisch glänzten, als seien sie mit Photoshop bearbeitet worden. Leider waren solche Tage eher selten. Das hing nicht nur mit der Luftfeuchtigkeit, sondern besonders mit ihrer Stimmung zusammen. Meistens saßen die Haare wie ein umgedrehter Mopp auf ihrem Kopf und verfilzten drei Sekunden nach dem Kämmen. Schon zweimal hatte Sara sich die Haare ganz kurz schneiden lassen, einmal mit neunzehn und einmal, als sie Mitte dreißig gewesen war. Beide Male war der Look ein Reinfall gewesen. Da sie über nahezu unsichtbare weibliche Formen verfügte, ging sie ohne ihre Lockenpracht glatt als Junge durch.

Langsam schüttelte Jule den Kopf. »Nein. Du hast da so ein komisches Zucken unter den Augen. Das sieht echt seltsam aus.«

Einen Moment lang hoffte Sara, ein kleines Stück der alten Jule käme wieder zum Vorschein.

»Du willst mich auf den Arm nehmen.«

»Ehrlich, nein.«

Sara stand auf, ging in den Flur und stellte sich vor den Garderobenspiegel. Dann kehrte sie zu Jule zurück.

»Ich kann nichts erkennen. Das bildest du dir ein.«

»Jetzt ist es weg.«

»Aha.«

»Du hast nervöse Zuckungen, weil du dein Leben versaut hast.«

Wenn Jule es darauf angelegt hatte, sie zu verletzen, so war es ihr gelungen.

»Ich habe mich bloß scheiden lassen. Das tun viele Leute. Und ich bin nicht hergekommen, um über mich zu reden.«

»Nee, logisch. Du bist hier, um für ein paar Stunden die fromme Samariterin zu spielen. Danke, nicht nötig. Ich komme wunderbar allein klar. Denk du lieber mal darüber nach, warum du einen so tollen Mann wie Christian in die Wüste geschickt hast. Ich finde, das war reichlich blöd von dir.«

Sara hatte plötzlich genug. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Jule für sie mehr Freundin denn Patentochter gewesen. Zwar trennten die beiden Frauen ganze dreiundzwanzig Jahre, aber das hatte keine von beiden gestört. Immer öfter hatte Sara erstaunt festgestellt, dass sie nicht nur auf Claudias, sondern auch auf Jules Meinung Wert legte. Und während Claudia manchmal so viel älter wirkte in ihrer täglichen Routine und mit ihren klaren Wertvorstellungen, fand Sara bei der jüngeren Jule einen lebhaften Geist und herzliches Verständnis für ihre Eheprobleme. Seit Jules Unfall war diese Zeit vorbei. Schlagartig waren sie keine ebenbürtigen Freundinnen mehr. Sara wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, die Jüngere noch zusätzlich mit ihren Sorgen zu belasten, und sie gestand sich nicht ein, wie sehr ihr die Freundschaft mit Jule fehlte.

»Wenn du mich nicht mehr brauchst, gehe ich jetzt.« Erneut erhob sie sich und war aus der Tür heraus, bevor Jule auch nur etwas erwidern konnte.

Diesmal flog sie die Treppen hinunter, und erst draußen auf dem Bürgersteig bremste sie ihren Lauf ab. Gerade noch rechtzeitig, bevor sie mit einem lässig gekleideten Mann zusammenstoßen konnte.

»Sara von Stelling, du bist ein Esel!«

»Aber ein hübscher«, erwiderte der Mann. »Und mit so einer schönen roten Mähne.«

Sie starrte ihn an, bis er schnell weiterging. Dann fischte sie ihr Handy aus der Tasche. Sie musste Claudia anrufen und ihr alles erzählen. Dass sie in bester Absicht zu Jule gefahren war und alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Sie war an Jules spitzen Stacheln abgeprallt, war fortgelaufen wie ein beleidigter Teenager, anstatt sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten. Eine Frau, die in drei Jahren fünfzig wurde, durfte auf so etwas nicht hereinfallen. In zweieinhalb Jahren, um genau zu sein.

Claudias Stimme klang merkwürdig, als sie sich meldete. Irgendwie weit weg und sehr leise.

»Es tut mir so leid«, platzte Sara heraus. »Ich hätte erkennen müssen, dass sie mich in Wahrheit um Hilfe anfleht. Dass sie mich nur provoziert hat, um festzustellen, ob ich sie trotz allem noch gern habe. Ich bin so ein Vollidiot.«

Claudia antwortete nicht.

Kein Wunder, dachte Sara, ich rede wirres Zeug.

»Also, es war so«, begann sie noch einmal von vorn.

»Sara, ich kann jetzt nicht«, kam es von weit her. »Ich melde mich später. Oder, warte mal, kennst du einen Apfel, der die Form einer Glocke hat?«

»Was?«

»Er war grün und ein bisschen gelb. Als ich eben Christine fragen wollte, hatte ich ihn schon aufgegessen.«

Sara nahm ihr Handy vom Ohr und starrte es an. Hatte sie irgendeine falsche Taste gedrückt? Warum klang Claudias Stimme, als käme sie vom Mond? Und warum kamen unsinnige Worte bei ihr an?

»Wo bist du, Claudia?«

Sie hoffte, die Freundin würde gleich loslachen und etwas von einer spontanen Party in der Parfümerie erzählen. Ein Gläschen Sekt zu viel, weil der Chef Geburtstag hatte. Es musste eine logische Erklärung geben!

»Auf dem Rathausmarkt«, kam es leise zurück.

»Mit deiner Kollegin Christine?«

»Ja, sag ich doch. Aber sie muss gleich wieder ins Geschäft.«

»Und du?«

»Ich nicht. Nie mehr.«

Sara stöhnte laut auf. Was war da bloß los? Dieser Montag, der ganz normal begonnen hatte, schien im Chaos versinken zu wollen. Am liebsten hätte sie ihr Handy einfach ausgeschaltet. Stattdessen hörte sie sich sagen: »Wir müssen reden, Claudia.«

»Klar. Du kannst ja herkommen. Ist nett hier auf der Bank. In der Zeit googel ich mal diesen Apfel.«

»Schluss jetzt!«, schrie Sara. »Lass mich mit dem blöden Apfel in Frieden. Es geht um deine Tochter!«

»Jule? Was ist mit ihr?«

»Hab ich doch gerade versucht dir zu erklären. Hör mal, bleib, wo du bist. Ich bin gleich da.«

»Bis nachher«, kam es zurück. Die Verbindung wurde unterbrochen, bevor Sara noch etwas sagen konnte. Verwirrt zwirbelte sie eine Haarlocke auf. Vielleicht hätte sie sich diese Kollegin geben lassen sollen. Irgendetwas stimmte nicht mit Claudia. Sollte sie noch einmal hochlaufen und Jule fragen, ob sie etwas wusste? Nein, besser nicht. Kein Grund, Jule aufzuregen.

Als ihr Handy klingelte, nahm sie das Gespräch an, ohne auf das Display zu schauen. Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten dafür geohrfeigt.

»Bist du wieder normal?«, fragte sie.

»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Christian von Stelling, der letzte Mann, mit dem sie je wieder hatte sprechen wollen.

»Ich … äh … dachte, du wärst jemand anderes.«

»Verstehe. Tut mir leid, wenn ich dich enttäusche. Ich bin leider nach wie vor der unromantische, todlangweilige Spießer.«

»So war das nicht gemeint«, murmelte Sara. Warum musste er sich jedes Wort merken, das sie mal im Streit ausgesprochen hatte? »Gibt es was Wichtiges?«

»Nein«, kam es ruhig, beinahe sanft zurück. »Ich dachte nur, ich melde mich mal und höre, wie es dir so geht.«

Sara stutzte. Was war denn plötzlich in ihren Exmann gefahren?

»Ganz wunderbar«, erwiderte Sara und beendete das Gespräch. Dummerweise fühlte sie sich überhaupt nicht wunderbar. In Wahrheit litt sie unter einer neuen Form von Einsamkeit. Aber das würde sie im Leben nicht zugeben. Vor allem nicht Christian gegenüber. Und eher würde sie sich die Zunge abschneiden, bevor sie ihm gestand, dass sie seit einigen Wochen ganz neue, ziemlich unangenehme Gedanken im Kopf herumwälzte. Erst jetzt, da er aus ihrer Villa ausgezogen war, wurde ihr langsam bewusst, dass sie es sich möglicherweise zu leichtgemacht hatte, als sie alle Schuld bei ihm abgeladen hatte.

Verdammt!

Besser nicht länger darüber nachdenken.

Sie lief los zu ihrem Auto, das sie am anderen Ende der Straße geparkt hatte, und ihre Haare standen zu Berge, als hätten sie Feuer gefangen.